Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV
Die verschwundene Goldsendung

»Aber sind Sie Ihrer Sache auch sicher, Lavertisse?«

»So sicher, wie daß ich Sie sehe, Professor.«

»Sie sind sicher, daß Sie sich nicht verhört haben?«

»Absolut sicher.«

»Daß die Sendung am 20. abgeht?«

»Ja.«

»Daß sie mit der ›Empress of Oceania‹ abgeht?«

»Jawohl.«

»Auf dem Wege nach Alexandria?«

»Auf dem Wege nach Alexandria.«

»Und daß die Personen, die Sie darüber reden hörten, wirklich die sind, für die Sie sie halten?«

»Ebenso sicher, wie daß sie nicht glaubten, daß ich ein Wort von dem verstanden habe, was sie sagten. Ich hatte drei französische Zeitungen in der Hand. Sie fragten mich, ob sie das Fenster aufziehen dürften, und ich stellte mich, als wenn ich nichts verstünde. Dann begannen sie von verschiedenen Dingen zu sprechen – und nach einigen Minuten hatte ich den einen von ihnen aus dem ›Daily Mirror‹ erkannt. Die illustrierten Zeitungen sind doch eine wahre Wohltat.«

»Den einen von ihnen? Welchen?«

»Mr. Hoxton. Seine Photographie stand bei der letzten Lordmayorernennung darin. Sie wird wohl schon öfter darin gewesen sein – ein Mann in seiner Stellung, Professor! –, aber ich erinnere mich gerade von damals daran. Es war sein Freund, der von der Sache zu sprechen anfing. Komischerweise dauerte es nicht lange, so hatte ich auch ihn erkannt.«

»Sir Arthur Wades?«

»Sir Arthur Wades, Professor, bombensicher, Wades vom Ministerium des Äußern. Er war es, der anfing. Er sah auf meine Zeitung – es war der ›Matin‹ –, und da stand auf der Außenseite ein Artikel über die politischen Morde in den Kolonien, Indien und Ägypten – Sie wissen ja! Das brachte ihn wohl auf die Sache. Ich hatte vorher kaum darauf geachtet, was sie miteinander redeten, aber plötzlich hörte ich ihn sagen: ›Und Sie haben keine Angst, daß einer dieser verdammten Nationalisten Wind von der Sache bekommt? Das wäre einmal gehörig viel Geld für ihre Kassen.‹ Wie ich ›viel Geld‹ hörte, spitzte ich natürlich die Ohren. Der andere, Mr. Hoxton, schüttelte den Kopf und sagte: ›Nein, nein, Sir Arthur, es weiß niemand etwas davon außer mir und dem Generaldirektor. Wir haben eben an sie gedacht, an die Nationalisten, und darum nehmen wir eines der gewöhnlichen Schiffe. Ich kann Ihnen sagen, Sir Arthur, das heißt, Sie werden es ja ohnehin wissen, es hat nicht viel gefehlt, so wäre ihnen der Coup gegen das letzte P. & O-Boot gelungen. Ja, Sie wissen es? Glücklicherweise war der Kapitän so vorsichtig gewesen, um Truppenhilfe zu telegraphieren, sonst ... ‹ Sir Arthur unterbrach ihn und sah mich an: ›Zum Teufel, Hoxton, glauben Sie nicht, daß dieses Individuum verstehen kann, was Sie sagen?‹ Ich saß am entgegengesetzten Ende des Coupés, Professor! Mr. Hoxton lachte und sagte: ›Nein, wenn er nicht von den Lippen ablesen kann!‹«

»Sie wußten eben nicht, was für ein Gehör Sie haben, Lavertisse.«

»Nein, das wußten sie nicht, Professor. Dann sagte Sir Arthur: ›Aber er könnte beinahe ein Ägypter sein, Hoxton.‹«

»Na, Lavertisse, finden Sie das schmeichelhaft?«

»Aufrichtig gesagt, nein, Professor. Die einzigen Ägypter, die ich gesehen habe, sind die, die sie im Britischen Museum haben – hol' mich der Teufel, wenn die schön sind!«

»Die Mumien? Nun, es gibt Ägypter neueren Datums. Aber gleichviel, fahren Sie fort! Was sagte Mr. Hoxton dann?«

»Er lachte über Sir Arthur und sagte: ›Ägypter – i wo – ein kleiner französischer Windbeutel, wenn ich mich nicht sehr irre. Vielleicht ein Varietéhupfer, da er sich erlauben kann, erster Klasse zu reisen.‹«

»Zum Teufel, Lavertisse, das konnten Sie ruhig mitanhören?«

»Fürs Geschäft alles, Professor! Man darf nicht empfindlich sein, wenn man solche Ohren hat wie ich, da ist man gezwungen, allerlei Wahrheiten zu hören.«

»Sie sind in Ihrer Art ein großer Philosoph, Lavertisse. Nun?«

»Dann sagte Sir Arthur: ›Ja, Sie haben recht, Hoxton, irgendein kleiner französischer Windbeutel. Also Sie wünschen keine Truppenbedeckung für den Transport zum Schiff?‹ – ›Nein‹, erwiderte Mr. Hoxton, ›das wäre ja so, als wollte man die Sache in die Welt hinausschreien. Wir zählen das Geld und versiegeln es und legen es zu je tausend Pfund in die Schachteln der Bank, aber dann geben wir es in eine gewöhnliche Packkiste mit der Aufschrift: Warenproben. Den Kapitän des Bootes kennen wir seit dreißig Jahren – ein schlauer, alter Bluthund, Sir Arthur, und der kann den Rest besorgen. Seiner bin ich ebenso sicher wie meiner selbst.‹ – ›Aber könnte es nicht auch für ihn eine zu große Verlockung sein, Hoxton? Hunderttausend ... ‹ – ›Nein, Sir Arthur, seine Ehrlichkeit reicht für noch größere Beträge. Er war es doch, der den Cullinandiamanten aus Südafrika herbrachte – wissen Sie noch? Niemand hatte eine Ahnung, wie er nach England kam. Sie können sich denken, daß die Diebe der ganzen Welt dahinter her waren! Kapitän Selby hat sie alle miteinander genarrt. Kapitän Selby, dachte ich, können sie denn nicht den Namen des Schiffes sagen? Aber das taten sie nicht. Und das einzige, was sie dann über die Sache sagten, war: ›Hoffentlich können sich die Banken damit behelfen und verlangen nicht noch mehr. Wir haben ihnen jetzt in einem Jahr ein nettes Sümmchen geschickt.‹ Es war Mr. Hoxton, der das sagte. Und Sir Arthur erwiderte: ›Seien Sie ruhig, Hoxton, die Ernte soll heuer vortrefflich sein – jetzt haben wir ja Sir Williams Deiche.‹ Was glauben Sie, meinte er damit, Professor?«

»Sir Williams Deiche? Sir William Willcox natürlich, Lavertisse. Sie wissen doch, er hat die alten Wasserwerke der Pharaonen im Nil wieder aufgebaut. Das ist ja sonnenklar. Na, und sonst nichts mehr, Lavertisse?«

»Nein, gleich darauf waren wir schon in Clapham Junction, und ich sprang ab, obgleich ich ein Billett bis Victoria hatte. Ich dachte, Sir Arthur hat vielleicht unten an der Station irgendeinen Detektiv und könnte auf die Idee kommen, mich der größeren Sicherheit wegen verhaften zu lassen. Darum schien es mir besser, in Clapham Junction auszusteigen und erst mit dem nächsten Zug weiterzufahren.«

»Sie sind, beim Zeus, eine Perle, Lavertisse, vorsichtig wie Torstenson und feinhörig wie Odin.«

»Wie wer, Professor?«

»Tut nichts zur Sache – eine Erinnerung aus früheren Zeiten. Na, und was machten Sie dann?«

»Dann ging ich direkt in eine der freien Bibliotheken Mr. Carnegies und suchte mir die ›Shipping Times‹. Kapitän Selby und Alexandria – da konnte es doch nicht schwer sein, das Boot zu finden, von dem Mr. Hoxton und Sir Arthur gesprochen hatten. Also, Professor, das Boot ist die ›Empress of Oceania‹, und sie geht am 20. Kleines Schiff, siebentausend Tonnen, legt nur in Gibraltar und La Valette an. In Alexandria am 28., wenn alles gut geht.«

M. Lavertisse verstummte und betrachtete aufmerksam seinen Freund und Arbeitgeber Professor Pelotard, alias (obgleich M. Lavertisse dieses alias nicht bekannt war) Herr Philipp Collin aus Schweden. Sie saßen in dem eleganten Rauchzimmer des Professors; vor ihnen standen eine viereckige Whiskyflasche, umgeben von einigen Flaschen Schweppes, eine große Schachtel de Reszke und eine gehämmerte Silberschale mit Eis.

Es sah aus, als ob M. Lavertisses Mitteilung Philipp Collin in tiefe Grübeleien versetzt hätte. Mindestens zehn Minuten vergingen, ohne daß er sich in seinem Sessel rührte; mit den Händen in den Hosentaschen, das Kinn tief auf die Brust gesenkt, so starrte er unverwandt auf ein und denselben Punkt an der Wand ihm gegenüber – eine Originalradierung von Goya ›El Pico d'Oro‹. M. Lavertisse, der seine Gewohnheiten kannte, sah bald ihn, bald die Radierung an – eine der Erinnerungen aus einem gewissen Antiquitätenladen. Plötzlich machte Herr Collin eine Bewegung, er streckte die Hand nach dem Grogglas aus, stürzte den Inhalt hinunter und sank in seine frühere Stellung zurück, nur mit dem Unterschied, daß er die Augen auf sein Bücherregal heftete. Fünf Minuten vergingen, während deren er es prüfend betrachtete, dann sagte er:

»Wissen Sie, wieviel hunderttausend Pfund in Gold wiegen, Lavertisse? Ungefähr?«

M. Lavertisse runzelte gedankenvoll die Stirn.

»Hm, nicht so genau, Professor ... ein-, zweihundert Kilo, nicht?«

»Ein-, zweihundert! – Mindestens sechshundert Kilo! Und da liegt die Schwierigkeit, Lavertisse! Einen Teil des Goldes zu nehmen – Kleinigkeit, nachdem wir wissen, was wir wissen. Alles zu nehmen – auch nicht viel schwerer. Aber alles nehmen und es mit sich führen, wenn man das Fahrzeug verläßt – da, sehen Sie, Lavertisse, liegt der Hund begraben!«

M. Lavertisse grübelte ein paar Augenblicke nach, dann sagte er:

»Nun, und warum müssen wir denn alles nehmen, Professor? Einen Teil – einige Kilo ...«

»Lavertisse!« sagte Herr Collin streng.

»Ja, warum, Professor, ich kann nicht verstehen ...«

»Lavertisse, wenn ein Abenteurer den Standpunkt erreicht hat, den wir erreicht zu haben glauben, dann hat er gewisse Verpflichtungen. Noblesse oblige, Lavertisse. Alles oder nichts. Und darum denke ich nach.«

M. Lavertisse nahm den Grog zu Hilfe, um Herrn Collins Vorwurf hinunterzuspülen, und dieser versank in stumme Betrachtung eines neuen Teiles der Wand.

Es vergingen vielleicht weitere zehn Minuten, während deren seine Blicke ruckweise von der einen Radierung der Wand zur anderen wanderten. Schließlich blieben sie an einer Zeichnung von Guillaume hangen, ›Die Untröstliche‹, eine junge schwarzgekleidete Pariserin, die kokett und tränenüberströmt vor einem gewaltigen Marmordenkmal ihres Gatten kniet – während sie insgeheim nach dem sie umkreisenden Verehrer ausschaut ... Herrn Collins Augen schienen alle Details des frivolen kleinen Meisterwerkes einzusaugen, und plötzlich sprang er mit einem schrillen Lokomotivpfiff: uuuit, uuuit, uuuuit, aus seinem Klubsessel auf.

»Lavertisse! Heureka! Ich hab's! Das Geld ist unser – unser in zehn Tagen!«

M. Lavertisse starrte ihn mit einem Ausdruck an, gemischt aus Zuversicht, Bewunderung und Mißtrauen.

»Wie? Was?« stammelte er.

»Schon gut, Lavertisse! Sie werden es schon später erfahren. Vielleicht kommt noch irgend etwas Unvorhergesehenes dazwischen, und dann hätte ich Ihnen vergebliche Hoffnungen gemacht. Überhaupt – arbeiten Sie besser, wenn Sie nichts wissen.«

Lavertisse nickte, anscheinend ohne sich durch die letzte Behauptung verletzt zu fühlen.

»Und was für eine Arbeit bekomme ich, Professor?«

»Auf Ihr Los fallen zwei Dinge. Zuerst müssen Sie herauskriegen, wie die Kiste aussieht, von der Mr. Hoxton sprach ... Das wird ein bißchen heikel sein, aber mit Geld, Energie und Vorsicht dürfte es Ihnen keine nennenswerten Schwierigkeiten machen. Dann – das ist eigentlich eine Koketterie von mir – müssen Sie in Erfahrung bringen, wie die Schachteln aussehen, in die das Gold verpackt wird. Sie erfreuen sich ja eines vortrefflichen Renommees bei Ihrer Bank – vielleicht können Sie es da erfahren?«

»Hm, ja«, murmelte M. Lavertisse, »das dürfte schon gehen. Und was werden Sie machen, Professor?«

»Sie glauben, daß ich mich auf die faule Haut legen will, Lavertisse? Seien Sie beruhigt! Erst muß ich mich in die Gestalt eines Dieners hüllen und in allem und jedem einem Dockarbeiter ähneln – das bedeutet soviel wie, daß ich um halb vier morgens aufstehen muß, wenn ich Erfolg haben will.«

»Und Sie wollen an Bord der ...?«

»Natürlich, Lavertisse! An Bord der ... Und dann habe ich noch für zwei Dinge zu sorgen: ich muß unseren Freund Graham zum Zug begleiten und ihm eine Fahrkarte nach Neapel kaufen. Dort soll er ..., aber das tut nichts zur Sache! Und dann ist mir noch etwas eingefallen, Lavertisse. Finden Sie nicht, daß wir unseren Seelsorger hier in der Gemeinde schmählich vernachlässigt haben? Ich finde es schon, und übermorgen werde ich den alten Ehrenmann aufsuchen und ihn um Entschuldigung bitten!«

M. Lavertisse starrte seinen langjährigen Freund und Arbeitgeber an, als wenn er ernsthaft anfinge, an seiner gesunden Vernunft zu zweifeln, und Herr Collin schenkte lachend ihm und sich einen neuen Grog ein.

 

Mein Tagebuch an Bord der ›Empress of Oceania‹
20. Oktober.

Mein Tagebuch! Es ist wahrhaftig lange her, seit ich eines führte – und warum fange ich es jetzt an? Ich weiß es nicht. Vielleicht treibt mich meine Nervosität dazu; die Spannung, bevor alles entschieden ist, dasselbe Gefühl, das einen dazu bringt, Zeitungen zu verschlingen und zwecklose Gespräche mit fremden Personen (ja mit sich selbst) zu führen, während man beim Arzt wartet, dessen Urteil man fürchtet.

Aber ich glaube, es ist der Gedanke an die beiden anderen, meine Freunde, der mich zum Schreiben veranlaßt. Ich will, daß sie, wenn nicht direkt von mir (wenn alles gut geht), so indirekt aus diesen Tagebuchblättern (ich kann wohl sicher sein, daß sie veröffentlicht werden, wenn mein Plan mißlingt) – ich will, daß sie in irgendeiner Weise den Verlauf meines Versuches erfahren, die Einzelheiten, meine Gefühle – meine Besorgnisse, meine Furcht.

Ja, Furcht! Es ist lächerlich: ein Mann wie ich, mit einer langjährigen Erfahrung von mehr oder weniger verbrecherischen, mehr oder weniger abenteuerlichen Schwindeleien – mir zittert tatsächlich die Hand bei dieser letzten, die weder schwerer noch riskanter ist als die anderen ... Dieser letzten, habe ich geschrieben. Ist das eine unwillkürliche Prophezeiung, die ich mir selbst mache? Eine Warnung? Fange ich an, für solche Dinge zu alt zu werden? Ich stelle mir diese Frage und ein Dutzend andere, ohne Antwort zu bekommen, ohne mir selbst eine andere Antwort geben zu können, als daß es dumm, lächerlich, absurd ist: nichts an dem Plan, den ich und meine Freunde jetzt ausgedacht haben, ist gefährlicher als bei irgendeinem der zwanzig anderen, die wir schon ausgeheckt und ins Werk gesetzt haben. Und die Belohnung, die uns erwartet, ist um so viel größer! Hunderttausend ... Und doch! ...

Wir sollten um drei Uhr morgens von den Docks absegeln. Es war regnerisch, die Docks sahen grauer und düsterer aus als je, und der Weg hinunter durch Eastend war unheimlicher in seinem nackten Schmutz, als ich ihn je gesehen habe. Ich las einmal einen Ausdruck in irgendeinem Buch oder einer Zeitung, ich weiß nicht mehr, wo: London, durch seine grauen Nebel gesehen, ist wie ein Alptraum von der Ewigkeit ... Ich mußte unwillkürlich daran denken, während ich in meinem Cab hierherfuhr, ein Alptraum von der Ewigkeit – aber genug mit diesen sentimentalen Ergüssen, ich werde doch nicht dieses Tagebuch führen, um mich von L. und G. auslachen zu lassen.

Also, wir fuhren um drei Uhr ab ... eine Reihe von Umständen, die ich nicht voraussehen konnte, hatten mich verhindert, bei den ›Drei Matrosen‹ zu sein, wo L. mich erwarten sollte, um mir Bescheid zu geben, ob das Erwartete wirklich an Bord gekommen war. Mein Cab hatte eine ungewöhnlich miserable Schindmähre und einen nicht viel besseren Kutscher. In Nile End Road glitt das Pferd richtig im Straßendreck aus und stürzte, und alle Anstrengungen des Kutschers konnten es nicht wieder auf die Beine bringen. Ein anderer Cab war natürlich in einer solchen Gegend weit und breit nicht zu sehen, und es war wirklich noch Glück im Unglück, daß es mir schließlich gelang, ein uraltes Taxi aufzugabeln und überhaupt noch zum Abgang des Schiffes zurechtzukommen. Es fehlten kaum mehr als zehn Minuten, und ich hatte absolut keine Zeit, zu den ›Drei Matrosen‹ zu gehen. L. mußte jedoch irgendwie erraten haben, daß etwas passiert war, denn im letzten Augenblick kam er angelaufen, als Dockarbeiter verkleidet, und fand mich heraus. Ich stand natürlich auf dem Verdeck und lugte nach ihm aus. Er kam gerade, als man den Landungssteg einzog, und machte mir eine Grimasse und eine Geste, deren Bedeutung ich verstand: All right. Das Erwartete ist gekommen und wartet nur auf Sie ... Ich nickte rasch zurück und ging in meine Kajüte, wo ich jetzt sitze und dies schreibe.

Noch habe ich keine Zeit gehabt, das Terrain zu rekognoszieren, damit muß ich bis morgen warten, und es hat ja auch keine Eile.

Hol's der Teufel! Ich zünde mir eine Pfeife an und gehe aufs Deck! Ich bin zu nervös – es ist lächerlich, mehr als lächerlich. Hunderttausend und kein besonderes Risiko.

20. Oktober, 12 Uhr Mitternacht. Ich habe mit den übrigen Passagieren erster Klasse und dem Kapitän Bekanntschaft gemacht. Ich habe gegessen, Whisky getrunken und mit dem Pastor aus Malta Schach gespielt. Ich bin nicht mehr so nervös, aber ich bin auch nicht schläfrig, und um mir die Zeit zu vertreiben ...

Der Pastor aus Malta! Ja, das ist ein gelungener Kauz! Oder was soll man von einem weißhaarigen alten Geistlichen sagen, der die Schwindsucht hat und an allen Gliedern zittert, wenn es von einer Türe zieht, und nun nach Malta fährt, um sich begraben zu lassen! Ja, tatsächlich, um sich begraben zu lassen – er hat den Grabstein mit an Bord! Ein Mordsklotz, sagte der Kapitän, wiegt einen halben Zentner oder mehr. Er will zwar noch sehen, was das Klima für ihn tun kann, und hofft, daß es Wunder wirken wird, aber sein Neffe, der mit ihm ist, scheint keine Hoffnung zu haben. Jedesmal, wenn der alte Pfarrer von der Luft spricht und dem wunderbaren Einfluß, den sie auf Personen gehabt hat, die er kennt, schüttelt der Neffe nur verstohlen den Kopf, wenn er auch versucht, so hoffnungsvoll als möglich auszusehen, sowie der Alte ihn ansieht. Aber während dieser noch so vom Klima und allem anderen spricht, bekommt er plötzlich wieder einen Hustenanfall, und wenn er vorüber ist, keucht er:

»Georgie, mein Junge, es war doch das beste, daß ich den Grabstein gekauft habe!«

»Ach, Onkel, sprich nicht so –«

»Ja, Georgie, wir müssen alle auf das vorbereitet sein, was uns erwartet, müssen jederzeit dem Tod ins Auge sehen können!«

Und dann, bevor man ihn noch recht bedauern oder protestieren kann, schlägt der Alte um und wird so übermütig wie ein Junge, erzählt Geschichten – wirklich auf Ehre, amüsante Geschichten – und ist wie ein Sonnenstrahl. Die Damen vergöttern ihn natürlich schon (die wenigen, die an Bord sind), obwohl sie finden, daß der Grabstein gräßlich unheimlich ist. Aber in diesem Fall duldet der Alte keine Einwände.

»Meine lieben Kinder«, sagt er und lächelt ihnen sanft zu, »laßt einem alten Mann doch seine letzte Freude im Leben. Und es ist doch eine recht unschuldige Freude, nicht wahr? Seinen eigenen Grabstein kann man sich doch wählen. Der meine ist in meinem geliebten Cornwall gehauen, wo ich geboren bin. Auf diese Weise werde ich doch immer die Erde meiner Heimat über mir haben – ihren Stein wenigstens.«

Für mich scheint der Alte eine Vorliebe gefaßt zu haben. Er knüpfte ein paarmal bei Tische eine Unterhaltung mit mir an, ganz unschuldig, in seiner gewöhnlichen, liebenswürdigen Art, aber doch recht schlau – er unterzog mich beinahe in aller Harmlosigkeit einem kleinen Kreuzverhör. Ich habe mich als Gutsbesitzer aus Tanbridge in Kent eingetragen (einem Ort, an dem ich wirklich einmal vor langer Zeit gewesen bin), und das Pech wollte es, daß der Alte da mehrere Jahre als Pastor gewirkt hat und den Platz so gut kennt wie seine Westentasche. Ich zog mich, so gut ich konnte, aus der Affäre, indem ich sagte, daß ich lange auf Reisen gewesen sei und das liebe, alte Tanbridge beinahe vergessen habe – aber es war mir doch einige Sekunden recht unbehaglich, und ich glaube beinahe, der Alte hätte Verdacht schöpfen können, wenn er nicht gerade in das Schälen einer Banane vertieft gewesen wäre und überdies die ganze Zeit selbst geplaudert hätte. Dann nach dem Kaffee kam er auf mich zu und schlug mir eine Partie Schach vor (ich hatte zufällig erwähnt, daß ich es spiele). Ich spielte ein ganz feines Königin-Gambit, aber er erwiderte so schlau als nur möglich. Mittendrin bekam er einen Hustenanfall, und dann sagte er:

»Ah, ich glaube, ich errate Ihren Plan! Haha, haha! Nein, den müssen wir verhindern! Schach!«

Und wirklich, ehe ich mich noch von einem plötzlichen unbehaglichen Gefühl bei seinen Worten erholt hatte (verdammte Nervosität!), hatte mich der Alte schon matt gemacht! Dann sagte er mit seinem schönsten Lächeln: »Gute Nacht!« und humpelte am Arm seines Neffen hinaus.

Armer alter Mann – doch, wer weiß? Er ist vielleicht glücklicher als ich bei seinem schlichten, einförmigen Leben, einige Fuß breit vom Grabe. Er hat ein Gesicht wie ein Engel ...

Nein, jetzt krieche ich aber in die Koje. Der morgige Tag gehört großen Plänen. Hunderttausend! Wenn Kapitän Selby wüßte ...!

22. Oktober. Die ›Empress of Oceania‹ hat etliche Seemeilen hinter sich gelassen, seit ich zuletzt in dieses Tagebuch kritzelte. Sie hat die Biskayabucht durchkreuzt – und einen erklecklichen Teil meiner Hoffnungen. Nun, nicht ganz und gar, aber immerhin ...

Gestern morgen machte ich die schmerzliche Entdeckung: Hoxton hat seine Pläne geändert, Hoxton oder Kapitän Selby.

Zuerst war ich durch diese Entdeckung so betäubt, daß ich mich kaum über die Art wunderte, wie sie mir mitgeteilt wurde: G. ist an Bord! G., den ich hundert Meilen weit weg glaubte, ist als Matrose an Bord, und er war es, der mir die Sache mitteilte.

Ich war in die untere Abteilung gegangen, wo das Lastgut transportiert wird. Ich habe ja mein Aussehen für mich, für den Fall, daß ich überrascht werden sollte, während ich unten rekognosziere – wer sollte einen sonnverbrannten englischen Sportsmann und Landjunker solcher Pläne verdächtigen wie die meinen? Überdies habe ich etwas Gepäck dort unten, das meine Anwesenheit im Notfall rechtfertigen kann. Ich war kaum die Treppe hinuntergekommen, als jemand meine Schultern berührte. Ich drehte mich mit einem Lächeln um, bereit, meine Erklärungen abzugeben – natürlich glaubte ich, daß es irgendein Schiffsoffizier sei. Aber es war G.!

»Kommen Sie mit mir«, flüsterte er und runzelte heftig die Augenbrauen. »Hier ist es gefährlich, und hier haben wir nichts zu tun.«

Ich starrte ihn an und wiederholte verständnislos: »Hier haben wir nichts zu tun? Wie meinen Sie das, G.?«

Er schüttelte nur ungeduldig den Kopf und zog mich hastig eine Treppe hinauf. Noch war ich über seine Art und Weise so verblüfft, daß ich mir kaum Zeit nahm, über seine Anwesenheit an Bord nachzudenken. Erst als wir eine Treppe höher gekommen waren, kam mir dies zum Bewußtsein.

»G.«, sagte ich, »was in aller Welt tun Sie ...?«

»Still«, sagte er ungeduldig, »wir haben Eile. Ich bin an Bord. Das genügt. Ich fürchtete, daß Sie allein die Geschichte nicht deichseln könnten ..., daß sich Schwierigkeiten ergeben könnten«, verbesserte er sich, als er mein Gesicht sah. »Und es ist auch gut, daß ich mitgekommen bin. Die Pläne sind geändert!«

»Entweder Selby oder Hoxton hat es sich überlegt«, fuhr er fort, »weiß der Teufel warum, aber eine verdammte Enttäuschung für uns! Die Sache wurde gar nicht in dem Lastraum untergebracht, wie wir dachten, und wenn wir dort danach suchen wollten, könnten wir bis Alexandria weitersuchen. Sie ist dort oben!«

»Dort oben?« sagte ich mechanisch. »Wo denn, G.?«

»Na, im Himmel nicht!« brüllte er. »Was haben Sie denn, Sie sehen ja aus, als ob Sie auf Ihrer ersten Expedition wären? Kapieren Sie denn nicht? In dem kleinen Laderaum dort oben, direkt unter dem Verdeck. In dem Raum, wo sie Kostbarkeiten und heikle Dinge verwahren – nicht gerade Juwelen, aber Sachen, auf die aufgepaßt werden muß. Da ist die Sache, wegen der Sie und ich an Bord sind. Und jetzt handelt es sich für uns darum, uns auszudenken, wie wir sie von dort herauskriegen.«

Endlich war es mir gelungen, die Herrschaft über mich wiederzuerlangen. Ich nahm G. am Arm und sagte:

»Führen Sie mich hin, wenn wir ohne Risiko hingehen können. Es ist am besten, wenn wir keine Zeit verlieren.«

G. nickte mürrisch und zeigte mir den Weg zu einem Korridor direkt unter Deck. Ich konnte das Trampeln der Matrosen über unseren Köpfen hören. Vor einer mächtigen, grau gestrichenen eisernen Türe, die mit schweren Riegeln versehen war, blieb er stehen.

»Hier ist es«, sagte er. »Drinnen liegen die Hunderttausend und warten darauf, in unsere Taschen zu wandern. Doppeltüren aus Stahl – nicht gerade ein Kassenschrank, aber nicht weit davon.«

Ich unterbrach ihn.

»Was ist in dem Raume daneben?«

»Auf dieser Seite vorne sind die Eisschränke und Kühlanlagen«, sagte er. »Da ist unmöglich etwas zu machen. Der Raum auf der anderen Seite ist augenblicklich unbenutzt. Nur der Doktor hat seine Sachen da. Übrigens wird er, glaube ich, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, als Quarantäneraum verwendet.«

»Und wird vor dem Kassenraum Wache gehalten?«

»Vorderhand nicht, aber vermutlich ... Look out!« flüsterte G. hastig. »Den Maschinenraum, Sir? Ich weiß nicht, ob ich ihn zeigen darf, aber diesen Weg, Sir!«

Ich drehte mich um, rasch genug, um zu sehen, wie der erste Steuermann den Korridor hinunterkam und fand mich sofort in G.s Rolle.

»So, Sie wissen nicht, ob Sie können? Aber es wäre so interessant für mich, ich habe nämlich noch nie ...«

»All right. Sir! Dort hinunter, Sir! Sie gestatten, Sir?« Er salutierte rasch, indem er sich an den ersten Steuermann wendete, der einen forschenden Blick auf uns geworfen hatte und jetzt zustimmend nickte.

Wir eilten die Stufen zu dem dröhnenden, klirrenden Maschinenraum hinab. Auf dem Wege beugte sich G. zu mir vor und schrie durch das Getöse:

»Was ich bald vergessen hätte! Da ist ein kurioser alter Kauz an Bord – ein Pfaff oder Missionär oder so etwas! Kennen Sie ihn?«

Ich nickte.

»Na. Den hätten Sie sehen sollen. Hat ein Kollo mit, so groß wie der Turm von Babel – seinen Grabstein, behauptet der alte Hund. Grabstein! Hol' mich der und jener ...«

Ich fiel ihm ins Wort.

»Nein, bitte, G., sagen Sie nichts über den Pastor. Das ist einer der entzückendsten Menschen, die ich je getroffen habe. Er fährt nach Malta, um seine Lunge zu kurieren und hat sich daheim in England einen Grabstein hauen lassen, für den Fall, daß er sterben sollte. Warum sprechen Sie von ihm, G.?«

»Warum? Nur, weil sein Grabstein zufällig in dem Kassenraum liegt, den wir uns eben angesehen haben. Neben unserem eigenen kleinen Kollo«, schrie er mir ins Ohr. »Irren Sie sich nur nicht, wenn's zum Klappen kommt!«

»Ich weiß, daß er sehr besorgt darum ist«, sagte ich, ohne G.s Frechheit zu beachten. »Aber wie konnte man ihn in den Kassenraum bringen, wie Sie sich ausdrücken?«

»Es ist eine Luke im Dach, direkt auf dem Verdeck. Aber auf diesem Wege können wir unser Gepäck nicht hinausbefördern. Da ist Tag und Nacht Verkehr. Sie müssen sich schon gefälligst etwas anderes ausdenken«, rief G. »Und jetzt gehen Sie wieder hinauf! Es ist nicht gut, wenn Sie zu lange mit mir gesehen werden.«

Ich tat, wie er sagte. Und jetzt sind seitdem sechsunddreißig Stunden vergangen, und ich habe mir noch immer keinen Plan ausgedacht. Doppelte Eisentüren davor, unmöglich von seitwärts zu erreichen und oberhalb den ganzen Tag Verkehr! Gar nicht davon zu reden, daß im Korridor die ganze Nacht eine Wache auf und ab geht.

In drei Tagen oder so sind wir in Gibraltar und fünf oder sechs Tage später in Alexandria!

24. Oktober. Ich setze mich wieder zu meinem Tagebuch – es sieht aus, als sollte es recht einförmig werden. Nichts Neues ist passiert. Nichts, das meine Pläne auch nur einen Schritt vorwärtsgebracht hätte. Eher etwas, das sie einen Schritt zurückgeworfen hat, wenn das nun überhaupt möglich war. Und dieses Etwas hat keine andere Ursache als den armen alten Pastor aus Malta.

Am selben Abend, an dem ich meine letzten Aufzeichnungen machte, spielten wir wie gewöhnlich Schach, er und ich, während der Neffe neben ihm saß und die Damen der ›Empress of Oceania‹ in einem Apostelkreis zu seinen Füßen saßen (bildlich gesprochen). Der Alte war in vortrefflicher Laune und plauderte mit uns allen zugleich, während er seine Züge machte. Wie gewöhnlich hatte er die Oberhand – ich bin gerade kein schlechter Spieler, eher umgekehrt, habe ich mich doch einmal sogar gegen Lasker gehalten (als er achtzehn Partien zugleich spielte) – aber gegen den alten Pastor scheint es nun einmal vorausbestimmt zu sein, daß ich immer verlieren soll. Na, die Freude gönne ich ihm gerne. Genug, gerade als wir mitten im besten Spiel waren und der Alte nach rechts und links lächelte und schäkerte, bekam er den entsetzlichsten Hustenanfall, den ich je gehört habe. Man mußte glauben, daß er auf der Stelle sterben würde. Er wurde förmlich in seinem Sessel hin und her geworfen, die Hände hatte er vors Gesicht gepreßt, und wenn die eine Attacke vorüber war und er eben röchelnd nach Luft rang, kam eine neue, die noch ärger zu sein schien. Der Neffe tat natürlich, was er konnte, und wir anderen auch, obwohl wir eigentlich kaum wußten, was wir anfangen sollten. Endlich ließ der Anfall ein wenig nach, und der arme Alte sank in seinen Sessel zurück, das Taschentuch krampfhaft in der Hand zerknüllend, die Augen ganz erstorben: das Taschentuch war blutgetränkt. Endlich konnte sich der Neffe aus seinem Entsetzen aufraffen und rief dem Steward, der hereingeeilt war, zu: »Sie müssen das Krankenzimmer des Doktors in Ordnung bringen. Es geht nicht, daß mein Onkel länger aufbleibt.« »Aber nein, nein«, murmelte der alte Geistliche, »was fällt dir ein, Georgie, mein Junge, ich erhole mich schon. Machen Sie doch meinethalben keine Umstände, Steward!« Aber der Steward, der natürlich so wie alle anderen den liebenswürdigen Alten vergöttert, war schon fortgeeilt, um den Befehl des Neffen auszuführen, und eine halbe Stunde später lag der Alte sorglich gebettet im Krankenzimmer des Doktors. Der Doktor selbst war natürlich von unseren Beschreibungen des Hustenanfalls sehr unangenehm berührt und wollte den Pastor untersuchen, aber das gab weder er noch der Neffe zu. »Es hat keinen Zweck, Doktor«, flüsterte der Alte. »Kein Arzt auf Erden kann mehr für mich etwas tun. Kann mich die Luft auf Malta heilen, dann ... Sonst bin ich bereit, Rechenschaft über mein Leben vor Ihm abzulegen, der es mir geschenkt hat. Aber ich danke für Ihre Freundlichkeit, Doktor!« Der Doktor nickte düster, denn er sagte sich natürlich selbst, daß der Alte recht hatte, und das einzige, was er versuchen wollte, war, ihn am Leben zu erhalten, bis wir nach La Valette kamen. Er reichte ihm ein Beruhigungsmittel und ließ Kapitän Selby Order geben, daß es so still als möglich in dem Korridor vor dem Krankenzimmer und dem Verdeck darüber sein sollte: tatsächlich ist es allen außer dem Doktor streng untersagt, den Alten zu stören. Und auch er tut es nur zwei- bis dreimal am Tage, um zu sehen, ob er noch am Leben ist, und ihm ein beruhigendes Mittel zu geben. Der Neffe wacht Tag und Nacht bei ihm.

Ja, armer alter Pastor, wenn du wüßtest, wie gründlich du die Pläne durchkreuzt hast, die ich auf eine gewisse Packkiste in Kapitän Selbys Verwahrungsraum für heikle Waren hatte! Wie du daliegst und mit dem Tode ringst, läßt du dir nicht träumen, daß im Raume neben dir Geld genug verwahrt ist, um mein Leben und das mehrerer anderer für den Rest unserer Existenz zu sichern! Verwahrt in einer gewöhnlichen Packkiste – neben deinem Grabstein!

Ich fürchte, ich fürchte, dieser Grabstein wird der Grabstein meiner Hoffnungen!

Der 24. Oktober, etwas später. Wieder bei der Schreiberei. Was soll man auch sonst anfangen?

Wir haben Gibraltar angelaufen und es zwei Stunden später wieder verlassen. Das Wetter ist milder und wärmer geworden, seit wir ins Mittelmeer gekommen sind. Die Sonne schien den ganzen Tag, und der Sonnenuntergang gehörte zu dem Schönsten, was ich je gesehen habe – ich mußte an ein paar unsterbliche Zeilen von Browning denken. Große, goldene, rote, purpurne Wellen, die hinter den Klippen aufwallten, es war wie ein vulkanischer Farbenausbruch, wie ... Aber ich verliere mich in Naturschwärmereien, und das paßt weder zu meiner angenommenen Rolle eines englischen Landjunkers, noch zu meiner wirklichen eines Hochstaplers und Gesellschaftsfeindes, augenblicklich auf der Jagd nach einer gewissen Goldsendung von 100 000 Pfund ...

Nun ja, ob es nun zur Rolle paßt, kommt, streng genommen, auf eins heraus. Denn diese Rolle scheint sich zu der verpfuschtesten von allen zu gestalten, die ich in den kleinen Dramen meines Lebens innegehabt habe. Noch nicht einen Schritt näher dem Ziel! Alles in der Nähe des Krankenzimmers muß so still und ungestört sein, daß sogar die Nachtwache Order bekommen hat, sich an dem einen Ende des Korridors zu halten, um den Kranken nicht zu stören. Heute nachmittag war der Neffe auf dem Verdeck. Er sah blaß und angestrengt aus und hatte hektische Flecken auf den Wangen. Ich stellte ihm ein paar höfliche Fragen nach dem Pastor – als ich dazu kam, denn die Damen des Schiffes umschwärmten ihn wie Bienen den Honig. Er drückte mir die Hand und murmelte etwas Unhörbares, dann riß er sich los und eilte wieder zu seinem kranken Onkel hinunter.

Kapitän Selby war heute abend auf Besuch beim Pastor und blieb vielleicht eine Viertelstunde dort. Als er wieder heraufkam, hatte er große Tränen in den Augen – ja, wahrhaftig, der alte braungebrannte Seebär weinte. Er sah, daß ich ihn anstarrte und kam auf mich zu.

»Ja«, sagte er, »ich weine und schäme mich dessen nicht, Sir! Dieser Mann ist ein Heiliger, Sir, ein Heiliger, und wer das Gegenteil sagt, den will ich ...«

Er beendete den Satz nicht, sondern ging auf die Kommandobrücke.

Herrgott, ich sage ja nicht das Gegenteil. Ich stimme sogar aus vollstem Herzen bei. Aber wenn der Pastor auch ein Heiliger ist, so gibt es eben auch Augenblicke, wo Heilige sehr im Wege sein können.

Zum Beispiel, wenn man auf dem Auslug nach 100 000 Pfund in gemünztem Gold ist und besagter Heiliger sich gerade den Raum neben ihrem Verwahrungsort zum Krankenzimmer aussucht ...

25. Oktober (oder 26., ich weiß kaum mehr welcher). Nein, ich weiß es kaum, weiß kaum, ob ich bei Sinnen oder verrückt bin, ob ich schlafe oder wache. Ich habe eine Gespenstererscheinung gesehen, und habe ich keine Gespenstererscheinung gesehen, dann muß ich das Delirium haben. Meine Hand zittert, so daß ich dies kaum schreiben kann, und ich schreibe es nur, um zu versuchen, mich etwas zu beruhigen, mein Whisky ist ausgegangen.

Ich stieß heute abend mit G. zusammen, das war der Anfang meiner Erlebnisse. Mit G., den ich seit unserer ersten Begegnung nicht mehr gesehen hatte und der heute abend womöglich noch schroffer und unangenehmer war als damals. Er kam geradewegs auf mich zu, ohne sich darum zu kümmern, ob uns jemand sehen konnte.

»Nette Lustreise, das«, begann er. »Hat Ihnen die Seeluft gut getan? Und das Essen an Bord schmeckt Ihnen? Nette, verflucht nette Lustreise!«

»Hören Sie, G.«, sagte ich.

»Ich höre auf dem Ohr überhaupt nicht«, brüllte er. »Wozu sind Sie an Bord? Um mit den Damen zu flirten und Schach zu spielen – oder aus anderen Gründen? Haben Sie ...«

»G.«, sagte ich noch einmal und fixierte ihn, »nicht diesen Ton, wenn ich bitten darf! Sind Sie der Führer oder ich? Antworten Sie! Und was meinen Sie mit Ihren Bezichtigungen? Flirt und Schachspiel? Weiß Gott, Flirt interessiert mich weniger als irgend etwas auf der Welt, und Schach – mißgönnen Sie mir ein paar Partien mit dem alten Geistlichen? Der jetzt im Sterben liegt.«

»Ja, im Zimmer neben unserem Geld«, rief G. »Haben Sie da keine Gelegenheit, so will ich gehängt werden! Die Wache geht nicht mehr da, niemand geht mehr da, die Luft ist rein – und Sie, Sie tun nichts!«

Ich starrte ihn an. Wahrhaftig, daran hatte ich nicht gedacht! Ich hatte die Besitzergreifung des Krankenzimmers durch den Pastor immer als Hindernis betrachtet. Aber G. hatte recht, daran war nicht zu zweifeln! Es brauchte kein Hindernis zu sein, im Gegenteil! Im Gegenteil!

»Morgen oder übermorgen«, fuhr G. in derselben unerträglichen Weise fort, »sind wir in Malta. Da soll der Alte ans Land, und dann kommt wieder die Wache, darauf können Sie Gift nehmen. Jetzt ist seit vier Tagen keine Wache gegangen, aber Sie ...«

»Schweigen Sie, G.«, rief ich, ernstlich durch die Frechheit seines Auftretens gereizt. »Sie können überzeugt sein, daß ich die Sache schon erwogen habe ... Und heute abend noch wird ein Besuch im Zimmer neben dem Pastor gemacht werden.«

Damit wendete ich mich ab, um mich nicht weiter zu ärgern. Und heute nacht gegen ein Uhr (also vor einer Stunde, glaube ich) begab ich mich auf meine Expedition. Ich war so angekleidet wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten, dunkler Pyjama und Filzpantoffeln, es ist dies ein Kostüm, das keine Aufmerksamkeit erregt und in dem man in neun Fällen von zehn unbemerkt vorbeischlüpfen kann.

Mit einiger Vorsicht gelang es mir auch, alle Begegnungen auf dem Wege zum Korridor zu vermeiden, wo der Verwahrungsraum sich befindet. Wie G. schon gesagt hatte, war alles in diesem Teil des Schiffes so still und ausgestorben, daß man beinahe Angst bekam und eine Falle fürchtete. Der Wächter schaute, unmittelbar bevor ich hineinschlüpfte, in den Korridor, aber machte keine Runde. Der Sicherheit halber, um zu erfahren, wie oft er hineinzusehen pflegte, versteckte ich mich in einem kleinen Verschlag zu Anfang des Korridors, wo der Steward oder eine der Aufwärterinnen ihre Besen und Schaufeln aufbewahrten.

Es war kein besonders bequemes Versteck, das gebe ich zu; aber ich habe in meinem Leben schon schlimmere gehabt, zum Beispiel damals, als ich im Zwischenboden der Dresdner Bank lag und ..., aber das tut nichts zur Sache. Die Hauptsache bei solchen Gelegenheiten ist, daß man nur das beobachtet, was sich rings um einen zuträgt, die Gedanken nicht abschweifen läßt und vor allem nicht an das denkt, was man unmittelbar vorhat – denn sonst macht man Dummheiten. Es gelang mir auch trotz der unbequemen Stellung recht gut – ich wurde sogar die Nervosität los, die mich, seit ich an Bord gekommen war, gequält hatte. Das heißt: ich hatte sie schon am Abend zu kurieren gesucht, das gebe ich zu, beim Steward, der einen ausgezeichneten amerikanischen Rye-Whisky hat. Ob es nun dieser war oder die Spannung, das lasse ich dahingestellt, aber tatsächlich war meine Nervosität verschwunden. Es verging eine gute halbe Stunde, dann hörte ich wieder den Schritt der Wache. Bis dahin war alles stumm gewesen und nichts anderes zu hören als das Hämmern der Maschinen und hier und da ein Schritt auf dem Verdeck.

Dann hörte ich, wie gesagt, die Wache herankommen und guckte durch ein rundes Loch, das in die Türe des Verschlags gebohrt ist, hinaus. Der Wachtposten – ein junger Skandinavier, glaubte ich, blond, blauäugig – blieb ganz weit draußen stehen, drehte von dort, wo er stand, mit einem Schalter das elektrische Licht im ganzen Korridor auf und warf einen Blick hinein. Natürlich war nichts zu sehen, aber plötzlich war etwas zu hören – ein entsetzlicher Husten aus dem Krankenzimmer, ein Husten, der gar nicht aufhören wollte. Es war herzzerreißend. Auch ich erzitterte in meinem Versteck und fühlte, wie eine heiße Welle des Mitleids mit dem Alten, der dort drinnen mit dem Tode rang, in mir aufstieg. Der Wächter löschte die Lampe, die er angezündet hatte, aber vorher sah ich noch, wie seine Augenlider zitterten, offenbar hatte auch er den alten Pastor gesehen und war von ihm bezaubert worden. Dann verschwand er.

Ich ließ drei oder vier Minuten vergehen, um sicher zu sein, daß er außer Hörweite war; dann richtete ich mich auf und schlich mich so leise als möglich durch die Kehrbesen und das übrige Gerümpel in dem Kämmerchen durch. Ohne jedes Geräusch erreichte ich die Türklinke, drückte sie nieder und öffnete einen Spalt die Türe. Ich wollte sie eben ganz aufmachen, als sich das Unheimlichste, das ich je in meinem Leben mitgemacht habe, ereignete.

Die schwere Eisentür des Kassenraumes öffnete sich langsam und lautlos, so, als hätte eine Geisterhand sie bewegt. Das Licht war trübe, nachdem der Wächter ausgelöscht hatte, aber doch genügend, damit ich sah, wie jemand unendlich langsam über die Schwelle trat. Plötzlich, während ich noch starr vor Staunen in das Dunkel des Korridors starrte, wendete sich die Gestalt mir zu: ich fiel rücklings zu Boden, und ich weiß nicht, ob ich aufgeschrien habe oder nicht. Tat ich es nicht, so war es, weil meine Kehle vor Grauen wie zugeschnürt war.

Denn dort im Korridor auf der Schwelle zum Kassenraum sah ich mit einem eigentümlichen weißen Phosphorschimmer um die Konturen des Körpers und Gesichtes niemand andern als mich selbst!

Aus dem Krankenzimmer ertönte ein furchtbarer Hustenanfall.

Ich weiß nicht, was sich dann zutrug, weiß nicht, wie lange Zeit verstrich, bis ich überhaupt wieder denken konnte. Vielleicht waren es Stunden, vielleicht auch nur Minuten. Plötzlich fand ich mich den Korridor entlang laufend, der zu meiner eigenen Kajüte führte, laufend ohne jeden Gedanken an Vorsicht, und die Tür zur Kajüte aufreißend. Meine Hände tasteten nach einer kleinen Flasche, die ich in einer meiner Laden wußte – tasteten stundenlang, schien es mir: endlich hatte ich sie in den Händen und goß den brennenden Whisky in langen Zügen hinab. So allmählich wich das Grauen von mir und kehrte nur noch stoßweise jede fünfte oder zehnte Minute zurück; ich sah die Szene wieder vor mir; die halb geöffnete schwere Tür, die trübe Gestalt, das Phosphorlicht, mein Gesicht, alles ... Ein neuer Schluck aus der Whiskyflasche und eine neue Pause, während der mein Gehirn versuchte, die tausend Fragen zu beantworten, die es sich selbst stellte ... Und dann plötzlich eine neue Vision des Geschehenen ...

Bin ich toll? War ich damals toll? Sah ich nur fehl? Aber nein, es ist unmöglich, ich sah nicht fehl; ich sah alles ebenso deutlich, wie ich jetzt diese leere Whiskyflasche vor mir sehe. Ja, ich sah recht.

Und dann?

Tod und Teufel! Nicht einmal jetzt, wo ich all dies zu Papier gebracht habe, will der Schrecken sich legen. Wer doch noch Whisky hätte!

27. Oktober. Ein unfreundlicher Tag. Mein Kopf schmerzt noch von dem vielen starken Whisky, den ich ihm gestern zumutete, damit er vergesse ..., nein, ich will gar nicht erst niederschreiben, was ... Ich vergesse es ja doch nie und nimmer. Wir haben Malta angelaufen und es vor zwei Stunden wieder verlassen, unmittelbar vor Einbruch der Dämmerung. Es regnete, und die wenigen Dinge, die das Schiff in Malta zu besorgen hatte, wurden so rasch als möglich erledigt. Niemand ging an Land.

Niemand außer dem Pastor und seinem Neffen! Kann man sich einen solchen alten Mann denken?

Gestern morgen schien er sich etwas besser zu fühlen. Der Neffe kam nach dem Lunch auf Deck, ganz strahlend, und erzählte, daß die Nacht gut gewesen war (ich weiß einen, für den die Nacht nicht gut war!), daß der Alte mit Appetit gegessen hatte, und behauptete, deutlich zu fühlen, wie die Luft schon auf ihn zu wirken anfing. Ich muß nicht erst sagen, daß die Freude darüber groß war, namentlich unter den Damen. Am Nachmittag gab es eine allgemeine Wallfahrt hinunter ins Krankenzimmer natürlich nur auf ein Viertelstündchen oder so, und der Alte wurde mehr verhätschelt, als selbst für einen so engelguten Mann wie ihn zuträglich sein kann. Der Neffe leuchtete vor Zufriedenheit, und wer nicht weniger strahlte, war Kapitän Selby. Er stand da und sah den alten Geistlichen unverwandt an, als wäre er sein Vater, und sagte einmal ums andere:

»Wenn ich nach Malta komme, dann suche ich Sie auf, Herr Pastor! Ganz bestimmt, und dann bringe ich Ihnen ein paar kleine Heiden aus Indien mit, die können Sie taufen!«

»Tun Sie das, tun Sie das!« sagte der Alte und lächelte, ohne im geringsten böse zu werden. »Tun Sie das, Kapitän Selby. Sie sind immer willkommen.«

»Und ich?« erklang es sofort im Chor von den Damen.

»Und ihr? Meine lieben Kinder! Natürlich alle, alle seid ihr willkommen!«

Dann wendete er sich an mich. »Und Sie, werden Sie auch manchmal an Ihren armen alten Freund, den Pastor aus Malta denken? Und an unsere Schachpartien?«

Ich beeilte mich, es ihm zu versichern.

»Das ist nett von Ihnen«, sagte er mit seiner liebenswürdigsten Stimme und lachte. »Denn Sie wissen ja, ich habe Sie immer schachmatt gemacht!«

Heute, als die Insel in Sicht kam (gleich nach dem Lunch), kam er sogar auf Deck. Die Sonne schien ja noch, und er war sehr warm eingehüllt. Aber sowie wir angelegt hatten, begann es kühler zu werden (nach zwanzig Minuten fing es an zu regnen), und der Neffe brachte den Alten in einem Tragsessel ans Land. Vorher nahmen natürlich alle von ihm Abschied, Kapitän Selby zuallerletzt, und der Kapitän sagte:

»Nun, nehmen Sie also Ihren Grabstein mit, Pastor?«

»Meinen Grabstein? Natürlich, Kapitän Selby!«

»Aber Sie fühlen sich doch besser?«

»Ach, Kapitän, wer weiß heute, was morgen geschehen kann! Sie sehen ja, die Luft ist schon schlechter geworden, es regnet!«

»Kommen Sie mit mir nach Alexandria, Pastor! Dort ist die Luft ausgezeichnet.«

Der alte Geistliche lachte.

»Diesmal nicht. Das nächste Mal, Kapitän.«

Der Kapitän sah aus, als dächte er: dieses nächste Mal wird wohl nie kommen, und als wollte er es nicht zeigen. Es schüttelte dem Pastor stumm die Hand, dieser wurde in seinem Tragsessel fortgebracht, und man begann die Ausladung des Raumes, der mich so sehr interessiert hat.

Es gelang mir, einen Platz zu finden, von wo ich zusehen konnte. Der Grabstein des Pastors – in einer mächtigen Kiste wurde durch Kräne gehoben und auf den Kai niedergelassen, und während man mit dieser Arbeit beschäftigt war, konnte ich durch die Luke auf dem Verdeck einen Blick in den Raum werfen.

Es waren nicht mehr als vier oder fünf Kolli darin, und es konnte kein Zweifel bestehen, welches von ihnen das unsere war, wie G. sagt. Es stand in der einen Ecke, eine gewöhnliche braune Packkiste mit Querrippen und einigen Bleiplomben und Siegeln. Ich nahm eine Gehirnphotographie des Lastenraumes auf und ging meiner Wege, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen.

Eine Stunde später verließen wir bei strömendem Regen La Valette, dessen Hafen ganz leer war, bis auf einige Fischerboote und eine Jacht ›Vorwärts‹ mit englischer Flagge. ›Vorwärts‹ – das ist ein Wort, das jetzt meine Losung werden muß! G. wird es mir im Notfall in die Ohren tuten – aber das wird nicht nötig sein. Vorwärts heute abend, ohne vorhergehenden Whisky! Vorwärts zu der braunen Packkiste im Kassenraum und ihrem goldenen Inhalt! Vorwärts, ohne sich um Hindernisse – oder Gespenster zu kümmern!

 

Ein Himmel ohne Wolken, ein Meer wie Samt. Eine laue Vormittagsbrise, die auf dem Land in den dunkelgrünen Pinienhainen spielt und draußen auf dem Wasser an den Wimpeln und weißen Segeln der Jacht ›Vorwärts‹ zerrt.

Die Jacht ›Vorwärts‹ verläßt bei einer leichten Vormittagsbrise den Hafen in Ajaccio auf Korsika. Auf ihrer kleinen Kommandobrücke steht ein gebräunter Seebär, der für ihren Kurs sorgt; und unten in der Kajüte sitzen drei Herren um eine Flasche Champagner und eine Nummer der ›Daily Mail‹. Andere Zeitungen liegen um sie verstreut.

Der eine der drei Herren – zwei von ihnen sehen einander übrigens ähnlich – sitzt stumm da, mit einem Lächeln um den Mund, und blickt zum Kajütenfenster hinaus, während die beiden andern in eifrigen Ausrufen zu ihm sprechen.

»Ach, Professor, Sie sind märchenhaft!«

»Aber ich bitte Sie, Graham!«

»Hunderttausend Pfund, Professor, und der andere festgenommen! Nein, wirklich, wenn das ...«

»Lavertisse, Lavertisse! Der andre tut mir wirklich leid. Ich glaube, es war ein ordentlicher Mensch, der nur auf Abwege gekommen ist. Homo homini lupus. Des einen Brot, des andern Tod. Und ich habe ihm doch eine Warnung zukommen lassen, unbewußt! Das geht doch aus dem Tagebuch hervor.«

»Das Tagebuch, ja, das ist, by Jove, die herzerquickendste Lektüre, die ich seit langem gehabt habe. Diable, wie er erschrocken zu sein scheint, als er sich selbst aus dem Kassenraum treten sah.«

»Armer Kerl, ja, Lavertisse, und Ihren Husten aus meinem Krankenzimmer hörte. Sie haben, auf Ehre, außerordentlich gehustet.«

»Nichts gegen Sie, Professor! Ich vergesse nie Ihren Hustenanfall, bevor Sie in das Krankenzimmer getragen wurden, das Blut und überhaupt das Ganze. Es war wunderbar. Sie hatten als der alte Pastor aus Malta das ganze Schiff auf Ihrer Seite. Die hätten nicht an Ihre Schuld geglaubt, und wenn Sie auf frischer Tat im Kassenraum ertappt worden wären. Das ist eine Rolle, die Sie öfter spielen müssen, Professor; ein Meisterwerk, by Jove!«

»Ach, Lavertisse, Sie sind zu enthusiastisch – und wenn Sie auch recht haben sollten, so wissen Sie doch, daß die größten Meisterwerke immer nur in einem Exemplar vorhanden sind. Das ist mein erster und letzter Schritt auf der priesterlichen Bahn. Aber lesen Sie den Artikel noch einmal, Lavertisse. Ich bin eitel. Und es freut mich, wie jener deutsche Fürst sagen zu können, als er den Jahresbericht des Reiches sah: ›Potz Donnerwetter, haben wir das alles getan!‹«

M. Lavertisse nahm die ›Daily Mail‹ und las zum drittenmal:

»Das mysteriöseste Verbrechen des Jahrhunderts!!! Eine Goldsendung in Bleiklumpen verwandelt! Ein Mann im Begriff, das Blei zu stehlen! Das unerklärlichste Verbrechen, sagt die Polizei, das sie je gesehen hat.

Privattelegramm der ›Daily Mail‹:

Der Dampfer ›Empress of Oceania‹, Kapitän Selby, traf am 29. Oktober vormittags in Alexandria (Ägypten) ein. Sofort nach seiner Ankunft wurden alle Zugänge gesperrt, und die Polizei, die durch drahtloses Telegramm vom Kapitän alarmiert worden war, begab sich an Bord.

Was war die Ursache?

Eines der mysteriösesten Verbrechen, ein Verbrechen, das kein Gegenstück in den Kriminalprotokollen haben dürfte, war an Bord verübt worden. Es genügt nicht, zu sagen, daß es die Polizei verblüfft hat, es verblüfft die gesunde Vernunft, und bis auf weiteres war es den kühnsten Vermutungen ebenso unmöglich, einen Schlüssel zu dem Problem zu finden, wie den polizeilichen Untersuchungen.

Der Dampfer ging am 20. von London ab. Er führte außer nicht sehr zahlreichen Passagieren und ziemlich viel Lastgut eine Goldsendung von 100 000 Pfund an die Banken in Alexandria, abgesandt von der Bank von England. In Schachteln zu je 1000 Pfund, kontrollgezählt von keinem Geringeren als dem Direktor der Bank, Mr. James Hoxton, war die Sendung in eine gewöhnliche braune Kiste gepackt und von dem Direktor mit zahlreichen Siegeln verschlossen worden. Man wollte (aus gewissen politischen Gründen) jedes Aufsehen beim Transport vermeiden. Diese Warenkiste wurde in möglichst diskreter Weise auf den erwähnten Dampfer gebracht, wo sie von Kapitän Selby in Empfang genommen und in dem speziellen Verwahrungsraum des Dampfers für heiklere Sendungen untergebracht wurde. Dieser Raum ist mit doppelten Eisentüren versehen, er ist von den Seiten unzugänglich und ist Tag und Nacht von einer besonderen Wache bewacht worden. Kapitän Selby (wir fügen das für jene hinzu, die es noch nicht wissen) ist einer der bekanntesten Befehlshaber der englischen Handelsmarine, ein Mann, der ebenso hoch über jedem Verdacht steht wie der Direktor der Bank von England.

In der Nacht vom 27. Oktober, während der Dampfer sich auf dem Weg von Malta nach Alexandria befand, wurde der Kapitän plötzlich vom Ersten Steuermann alarmiert. Die Wache vor dem erwähnten Verwahrungsraum hatte plötzlich, ohne vorher das geringste bemerkt zu haben, gesehen, wie die Türe aufgerissen wurde und ein Mann unter wahnsinnigem Gelächter herausgelaufen kam. Unter Hilferufen stürzte sich der Wachtposten auf ihn, übermannte ihn und ließ, wie gesagt, den Kapitän holen. Kapitän Selby, der sich augenblicklich einfand, hatte keine Schwierigkeit, den betreffenden Mann zu identifizieren, es war ein Mr. Lewis Grossmith, Passagier erster Klasse mit Privatkajüte, und nach seiner Angabe Gutsbesitzer aus Kent – eine Angabe, die sich natürlich als falsch herausstellte. Auf Kapitän Selbys Fragen antwortete er mit keiner Silbe, und so eilte der Kapitän, gefolgt vom Schiffsarzt und dem ersten Steuermann, in den Raum, aus dem der Mann herausgestürzt war und wo die gewaltige Goldsendung verwahrt wurde. Er fand die Kiste, in die sie verpackt war, erbrochen, aber die Schachteln, in die man das Gold gelegt hatte, schienen noch immer darin zu liegen, und der Kapitän wollte sich eben mit einem Stoßseufzer der Dankbarkeit entfernen, als sein Blick auf ein paar Gegenstände auf dem Fußboden fiel. Es waren drei oder vier der erwähnten Schachteln, offenbar von Grossmith aus der Kiste genommen, und der Kapitän beeilte sich, sie aufzuheben, um sie wieder zurückzulegen.

Man denke sich sein Erstaunen, als er sie eröffnet findet, anstatt Gold Bleiklumpen enthaltend, und bei einer rasch vorgenommenen Untersuchung der übrigen Schachteln in der Kiste stellt es sich heraus, daß sich der Inhalt bei sämtlichen aus Goldmünzen in Blei verwandelt hat!!!

Wir geben an anderer Stelle des Blattes die zunächst folgenden Verhöre mit Grossmith wieder, die zu keinem wie immer gearteten Resultat geführt haben, er scheint so ziemlich stumpfsinnig zu sein. Hier begnügen wir uns damit, festzustellen:

1. daß das Gold von Mr. James Hoxton, Direktor der Bank von England, verpackt wurde,

2. daß die Kiste, in der es abgesandt wurde, absolut keinem anderen Attentat ausgesetzt war als dem Grossmiths – Sachverständige bestätigen das unter Eid,

3. daß der Kapitän die Kiste und die speziellen Schachteln der Bank (Sachverständige sind bereit, ihre Echtheit zu beschwören) anstatt mit Gold mit Bleiklumpen gefüllt fand,

4. verweisen wir noch einmal auf das, was wir oben über den Raum gesagt haben, in dem die Kiste auf der ›Empress of Oceania‹ verwahrt wurde.

Außerdem teilen wir folgendes kuriose ›Tagebuch‹ mit, das sich in Grossmiths Kajüte vorgefunden hat und aus dem hervorzugehen scheint, daß er einen Mitschuldigen an Bord hatte; man hat noch nicht volle Klarheit über dessen Identität erlangt. Möglicherweise ist dieses Tagebuch auch nur ein Bluff.

Aber kann jemand dieses unbegreifliche Ereignis erklären? Eine Kiste, versiegelt mit den Siegeln der Bank von England, gefüllt mit den speziellen Schachteln der Bank, wird mit einem außerordentlich vertrauenswürdigen Kapitän abgesendet, sie wird auf das sorgsamste bewacht, und als sie geöffnet wird (allerdings von einem Einbrecher, aber er kann kaum mehr als eine Viertelstunde im Verwahrungsraum zugebracht haben) – finden sich unter den Siegeln in den Schachteln nur Bleiklumpen vor.

Sherlock Holmes an die Front.«

M. Lavertisse unterbrach seine Lektüre und starrte wieder mit einem Ausdruck der lebhaftesten Bewunderung Philipp Collin an, der ruhig lächelnd sein Champagnerglas leerte.

»Das schwerste«, sagte er dann, »nachdem ich die Idee mit dem Grabstein hatte, war der Austausch mit der Goldsendung. Wie ich Ihnen schon sagte, Lavertisse, es wäre eine Kleinigkeit gewesen, einen Teil des Goldes zu nehmen – das scheint ja auch Mr. Grossmiths Absicht gewesen zu sein. Alles zu nehmen, da lag der Haken. Der Grabstein gab mir eine Gelegenheit, aber der Austausch machte mir Kopfzerbrechen – namentlich solange ich glaubte, daß die Kiste in der gewöhnlichen Güterabteilung transportiert werden würde. Darum machte ich ein paar kleine Streifzüge durch die Docks in der Nähe der ›Empress of Oceania‹, so daß Kapitän Selby mich sah. Und deshalb ließ er die Kiste in dem Raume unterbringen, wo ich sie haben wollte. Ich entdeckte diesen Raum, als ich als Verlader an Bord des Dampfers Dienst machte.«

»Aber verzeihen Sie, Professor, warum ließ Kapitän Selby die Kiste dort unterbringen – weil er Sie sah?«

»Ja, wissen Sie, Graham, er sah mich eben in einem besonderen Kostüm. Ich hatte mich als Ägypter gekleidet.«

Mr. Graham stieß einen Pfiff aus.

»Und da glaubte er, daß ...«

»Ja, da glaubte er, daß die Nationalisten vielleicht danach spionierten, und beschloß, die Kiste an einem sichereren Orte unterzubringen als im Laderaum. Das Resultat sehen wir in der ›Daily Mail.‹

»Und als Sie das Krankenzimmer neben dem anderen Räume sahen, kam Ihnen die Idee mit dem Pastor?«

Herr Collin nickte.

»Mit seiner Krankheit, ja. Dann war das andere ja sonnenklar. Lavertisse hatte ja dafür gesorgt, daß wir genau wußten, wie die Kiste und die Schachteln aussahen. Es handelte sich dann nur darum, das Blei in die falschen Schachteln zu packen – eine kleine Koketterie, wie ich Ihnen sagte, Lavertisse – und die Schachteln in die falsche Kiste und sie zu versiegeln. Sich Siegel zu verschaffen, ist ja gottlob keine Kunst. Und ebenso selbstverständlich war es, daß die falsche Kiste mit dem Titel: Grabstein für den Pastor aus Malta in eine größere verpackt wurde. Das schlimmste war, die echte Kiste und den falschen Grabstein im Verwahrungsraum miteinander zu vertauschen. Gott sei Dank war ja die Wache aus dem Wege, und Lavertisse hustete, indes ich arbeitete, wie ein ganzes Sanatorium.«

»Nun aber der andere, Grossmith? Wie, glauben Sie, hatte er von der Sendung erfahren, Professor?«

»Ach, es ist nahezu unmöglich, eine solche Sendung geheimzuhalten Herrn Collins Worte fanden eine glänzende Bestätigung durch die Perlhalsbandgeschichte 1913!. Das ist Tatsache. Vielleicht hatte er Verbindungen mit der Bank – wir werden es wohl nie erfahren. Aber ich hatte ihn gleich im Verdacht. Ein lichtscheues Individuum ... Ich legte seine Züge und diese Gespenstermaske zum Spaß an – Seeleute sind ja immer abergläubisch ... Mein Gott, wie ich sagte, ein ganz ordentlicher Mensch, der auf Abwege geraten ist ...«

Herr Collin sah gedankenvoll vor sich hin.

»Nun, und was werden Sie jetzt tun, Professor?«

»Wir fahren wieder nach England zurück, Lavertisse, mit der Jacht, die Graham uns verschafft hat. Und da will ich eine Schenkung machen.«

»Eine Schenkung, Professor?«

»Ja, Lavertisse, ein Akt der Dankbarkeit! Tausend Pfund für die Geistlichkeit in Malta.«


 << zurück weiter >>