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Am letzten Junisonntag 1914, dem Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfelde, die den Serben als höchste nationale Erinnerung gilt, wurde zu Serajewo der Erzherzog Franz Ferdinand, der Erbe der Kronen von Österreich und Ungarn, von bosnischen Verschwörern serbischer Herkunft ermordet. Die Fäden der Verschwörung wiesen nach Belgrad, und schon die erste Untersuchung ergab die Mitwisserschaft und Mitwirkung serbischer Offiziere und Beamten.
Als ich am Abend des 28. Juni die Nachricht von der Mordtat erhielt, war ich mir sofort darüber klar, daß dieses Ereignis die unmittelbare Bedrohung des Weltfriedens bedeute. Die gegen den Bestand der Monarchie gerichtete, von den amtlichen Belgrader Kreisen in einer kaum verhüllten Weise unterstützte großserbische Agitation war in Wien seit langem Gegenstand wachsender Beunruhigung. Ich wußte aus dem persönlichen Verkehr mit einflußreichen und maßgebenden Persönlichkeiten der Donaumonarchie, wie ernst man dort die großserbische Bewegung nahm und wie sehr man davon durchdrungen war, daß die serbische Regierung – trotz einer von ihr im März 1909 aus Anlaß der Beilegung der bosnischen Krisis abgegebenen feierlichen Loyalitätserklärung – hinter der großserbischen Propaganda des Wortes und der Tat als treibende Kraft stehe. Ich wußte, wie schwer es gewesen war, bei früheren Gelegenheiten Österreich-Ungarn davon abzuhalten, sich durch einen entscheidenden Streich gegen das Nest der großserbischen Zettelungen endlich stärkere Garantien zu verschaffen als niemals eingehaltene Versprechungen. Die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers und seiner Gemahlin war nach allem, was vorausgegangen war, eine Herausforderung, die kaum mehr irgendeine Hoffnung auf einen gütlichen Ausgleich lassen konnte.
Das Verhalten Serbiens unmittelbar nach der Tat war geeignet, die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Die serbische Presse hielt es nicht für der Mühe wert, die Freude und den Jubel über das Attentat zu unterdrücken; auch Blätter, die der Regierung nahestanden, bezeichneten als Ursache der Mordtat die inneren Verhältnisse Österreich-Ungarns. Der nahe Zerfall der Monarchie und der Serbien zufallende Anteil des Nachlasses wurden lauter denn je besprochen. Die serbische Regierung Selbst tat, während das Fortschreiten der Untersuchung immer neue Beweise für den serbischen Ursprung des Verbrechens ergab, von sich aus keinen Schritt zur Aufklärung des Sachverhalts, sondern spielte in herausfordernder Weise den gänzlich Unbeteiligten.
Der Mord von Serajewo
Wer dagegen die Sprache der österreichisch-ungarischen Blätter verfolgte, konnte nicht zweifeln, daß die Wiener Regierung entschlossen war, auf ausreichende Sühne für die Ermordung des Thronfolgerpaares und auf starke Sicherheiten gegen die Fortsetzung der großserbischen Treibereien auf jede Konsequenz hin zu bestehen.
Es war mir damals schon ein Rätsel und wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie leicht die öffentliche Meinung bei uns in Deutschland – und nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch Persönlichkeiten in Stellungen, die ihnen ein zutreffendes Urteil ermöglichen mußten – damals die Lage nahmen. Die bosnische Krisis von 1908/09, die Marokkokrisis von 1911, die Krisis des Balkankriegs von 1912/13 hatten unsere öffentliche Meinung nicht etwa aufgerüttelt und aufmerksam gemacht; ihre schließlich immer wieder friedliche Beilegung hatte im Gegenteil abstumpfend und einschläfernd gewirkt. Die Überzeugung »Es kommt ja doch nicht zum Krieg« war bei uns in den weitesten Kreisen geradezu ein Dogma geworden, nicht zum wenigsten deshalb, weil wir von der eigenen friedfertigen Gesinnung bis ins Innerste durchdrungen waren.
Der Deutsche Kaiser erhielt die Nachricht von dem Attentat in Kiel, während er an einer Regatta teilnahm. Die Regatta wurde sofort abgebrochen, und der Kaiser reiste alsbald nach Berlin. Damit fand auch der Besuch eines britischen Geschwaders in Kiel ein vorzeitiges Ende.
Deutschlands Bundestreue
Die Stellungnahme der deutschen Regierung zu den Ereignissen war durch die bisherige Politik vorgezeichnet. Wir hatten uns auf die Gefahr, in einen Krieg hineingezogen zu werden, in der bosnischen Krisis und während des Balkankriegs aus Anlaß der südslawischen Bedrohung für alle Welt sichtbar auf die Seite der Donaumonarchie gestellt und wohl gerade durch diese unsere unzweideutige Haltung am meisten zur Vermeidung des Krieges beigetragen. Niemand konnte erwarten, daß dieses Mal unsere Haltung eine andere sein würde, Wohl war gerade in den vorausgegangenen Monaten von Rußland her auf privatem Wege die Andeutung gemacht worden: »Si vous pouviez vous deciderä lächer les Autrichiens, nous pourrions lächer la France;« – aber, ganz abgesehen von der Ungeheuerlichkeit des uns damit angesonnenen Treubruchs: die Überzeugung von der Lebenswichtigkeit des Bündnisses mit der Donaumonarchie und von der Notwendigkeit der Erhaltung eines starken Österreich-Ungarn war bei uns in den maßgebenden Kreisen wie in dem gesamten Volksbewußtsein so unbedingt fest, daß es ein Schwanken über den jetzt einzuschlagenden Weg überhaupt nicht gab. Die Antwort, die Österreich-Ungarn auf seine Anfrage von Deutschland erhielt, ergibt sich aus folgenden Worten des später von der deutschen Regierung über den Kriegsausbruch veröffentlichten Weißbuchs: »Aus vollem Herzen konnten wir unserm Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde.«
Aus dieser Haltung hat die deutsche Regierung niemandem gegenüber ein Hehl gemacht, weder gegenüber der eigenen Öffentlichkeit, noch auch gegenüber den an der weiteren Entwicklung der Dinge interessierten fremden Regierungen. Ich habe in jener Zeit aus Unterhaltungen mit meinen Freunden im Auswärtigen Amt den bestimmtesten Eindruck gewonnen, daß man dort fest davon überzeugt war, in Fortsetzung der bisherigen Politik durch die offene Gewährung voller Rückendeckung an Österreich-Ungarn die erstrebte Lokalisierung des drohenden Konfliktes zwischen der Donaumonarchie und Serbien am sichersten erreichen zu können.
Auf der andern Seite wollte man jede überflüssige Beunruhigung vermeiden. Man sagte sich wohl, daß in solchen Zeiten kritischer Hochspannung Beunruhigung und Mißtrauen sich wechselseitig steigern und schließlich zu positiven Maßnahmen führen können, die gerade jene Entwicklung, die man zu vermeiden wünscht, unvermeidlich machen.
Aus solchen Erwägungen heraus erklärt es sich, daß der Kaiser trotz der noch gänzlich ungeklärten Lage am 6. Juli die Nordlandsreise antrat. Man fürchtete, daß ein Aufgeben der jährlichen Nordlandsreise, für die alle Dispositionen von langer Hand getroffen und bekannt waren, ein Aufsehen erregt haben würde, das die friedliche Entwirrung der Lage hätte erschweren müssen; man nahm ferner an, daß die von der Wiener Regierung eingeleitete Untersuchung der mit dem Attentat von Serajewo zusammenhängenden Vorgänge, auf deren Ergebnis Österreich-Ungarn seine Forderungen an Serbien aufzubauen gedachte, und ebenso die Vorbereitungen, die Österreich-Ungarn treffen mußte, um seinen Forderungen Nachdruck zu geben, einige Zeit erfordern würden; und schließlich rechnete man bei uns mit einer Zuversicht, die ich nach meiner Einschätzung der für die weitere Entwicklung bestimmenden Faktoren nicht ganz zu teilen vermochte, mit einem guten Ausgang, wie er durch unser klares und festes Eintreten für den Bundesgenossen in den früheren ähnlichen Lagen herbeigeführt worden war.
Meine eigne, weniger zuversichtliche Auffassung der Dinge erfuhr in der weiteren Entwicklung durch allerlei Anzeichen, die in der Öffentlichkeit merkwürdig wenig Beachtung fanden, immer mehr ihre Bestätigung. Das große Publikum verharrte noch in einer für mich von Tag zu Tag unbegreiflicheren Sorglosigkeit, als unsere offiziös bediente Presse bereits deutliche Warnungssignale gab, als z. B. die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung'' am 19. Juli in einem sehr ernsten Artikel über Deutschlands Haltung ausführte, nur durch ein rechtzeitiges Einlenken Serbiens könne eine Krisis vermieden werden, deren Lokalisierung im Interesse der europäischen Solidarität erwünscht und geboten sei.
Das österreichisch-ungarische Ultimatum
In meinem Wirkungsbereich, in der Direktion der Deutschen Bank, habe ich schon von den ersten Tagen des Juli an aus meiner Auffassung der Lage die Folgerungen gezogen. Ich habe auf Zurückhaltung im Eingehen neuer Verpflichtungen und auf eine tunlichste Stärkung der flüssigen Mittel der Bank hingewirkt.
Am 23. Juli überreichte der österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad der serbischen Regierung die Forderungen seiner Regierung mit einer ausführlichen Begründung. Zur Beantwortung wurde Serbien eine Frist von achtundvierzig Stunden gelassen.
Das Ultimatum, in Form und Inhalt überraschend schroff, zerriß für die ganze Welt mit einem Schlag alle Nebel, die bisher den Ernst der Lage noch verhüllt hatten. Jetzt war es für jedermann klar, daß Österreich-Ungarn fest entschlossen war, auf jede Eventualität hin Serbien gegenüber durchzugreifen, und daß der Friede Europas davon abhänge, ob Rußland, das Serbiens Treiben bisher so offensichtlich ermutigt hatte, beiseitestehen werde oder nicht. Mit einemmal stand Europa im Zeichen der unmittelbaren Kriegsgefahr.
Es ist später die Frage aufgeworfen und lebhaft erörtert worden, welche Rolle die deutsche Regierung und der Deutsche Kaiser bei jenen Vorgängen gespielt haben.
Die deutsche Regierung hat alsbald nach der Bekanntgabe des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien – bei aller Betonung ihrer Bundestreue gegenüber der Donaumonarchie und ihres Wunsches, den Konflikt zu lokalisieren – Wert darauf gelegt, gegenüber der eigenen Öffentlichkeit und gegenüber den Regierungen der Großmächte festzustellen, daß sie an der Abfassung des Ultimatums nicht beteiligt gewesen sei und von seinen Einzelheiten vorher keine Kenntnis gehabt habe. Das bedeutet, daß die deutsche Billigung der von Österreich-Ungarn für notwendig gehaltenen Aktion, zu der sich die Reichsregierung in ihrem Weißbuch ausdrücklich bekennt, nur die grundsätzliche Bereitschaft enthielt, sich hinter Österreich-Ungarn bei seiner Abwehr der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten großserbischen Bewegung zu stellen; daß aber eine Vereinbarung über die Einzelheiten des von Österreich-Ungarn zu verfolgenden Aktionsprogramms nicht stattgefunden hat.
Deutschland und die Abfassung des Ultimatums
Im Gegensatz zu dieser Bekundung der deutschen Regierung ist von feindlicher Seite, in der Absicht, Deutschland als den Urheber des Krieges hinzustellen, und später auch von gewissen deutschen Seiten die Behauptung aufgestellt worden, die deutsche Regierung habe von Anfang an bei der Abfassung des Ultimatums mitgewirkt und trage die eigentliche Verantwortung für dessen eine friedliche Lösung kaum mehr gestattende Schroffheit. Das Ultimatum wurde in Zusammenhang gebracht mit einem Kronrat, der unter Vorsitz des Deutschen Kaisers und unter Beteiligung österreichisch-ungarischer hoher Militärs – genannt wurden der Erzherzog Friedrich und der Feldmarschall Conrad von Hötzendorff – am 5. Juli 1914 in Potsdam stattgefunden und die Rollen in dem zum Kriege führenden Spiel verteilt haben soll. Auch die bekannte Denkschrift des Fürsten Lichnowsky nimmt auf diesen angeblichen Kronrat Bezug; desgleichen eine später von den Unabhängigen Sozialdemokraten verbreitete und auch im Hauptausschuß des Reichstags zur Sprache gekommene Aufzeichnung des Herrn Dr. Mühion, der zu jener Zeit stellvertretender Direktor bei Krupp war und der sich für seine Darstellung auf Äußerungen bezieht, die ich ihm gegenüber damals in einer vertraulichen Unterhaltung geschäftlichen Charakters gemacht haben soll. Auch ein Bericht des bayrischen Legationsrates Dr. von Schön, den der sozialistische bayrische Ministerpräsident Eisner im November 1918 veröffentlicht hat, ist benutzt worden, um den Kaiser und die deutsche Regierung als Anstifter des österreichisch-ungarischen Ultimatums hinzustellen und die Bekundung, daß die deutsche Regierung an der Abfassung des Ultimatums nicht beteiligt gewesen sei und von seinen Einzelheiten vorher keine Kenntnis gehabt habe, Lügen zu strafen.
Mir ist über den tatsächlichen Hergang folgendes bekannt:
Nach dem Attentat von Serajewo hat die deutsche Regierung sich rückhaltlos auf den von der österreichisch-ungarischen Regierung vertretenen Standpunkt gestellt, daß der Bestand der Donaumonarchie durch die groß-serbische Bewegung bedroht und die österreichisch-ungarische Regierung berechtigt sei, wirksame Maßnahmen gegen diese Bedrohung zu ergreifen. Die deutsche Regierung hat ferner, an dem ersten Grundsatze der Reichspolitik festhaltend, die Erhaltung Österreich-Ungarns als ein eigenes Lebensinteresse angesehen und deshalb auch jetzt wieder der Wiener Regierung die Zusicherung gegeben, daß Deutschland Österreich-Ungarn bei der Wahrung seiner Lebensinteressen zur Seite stehen werde. Der Kaiser hat diese Stellungnahme in den Besprechungen, die zwischen dem Attentat und dem Antritt der Nordlandsreise stattfanden, gutgeheißen. Man war sich klar darüber, daß diese Haltung das Deutsche Reich in einen österreichisch-russischen Konflikt hineinziehen und damit den Weltkrieg heraufbeschwören könne. Aber wie in den Jahren 1908/09 und 1912/13 hoffte man, der Gefahr eines österreichisch-russischen Konflikts durch eine klare und entschiedene Stellungnahme am besten vorbeugen zu können. Das alles konnte damals jedermann hören, der sich im Auswärtigen Amt über den Stand der Dinge unterrichten wollte.
Potsdamer Kronrat
Die Legende von dem Potsdamer Kronrat ist schon im Juli 1914 in Berlin in Umlauf gebracht worden, wie es scheint, durch Erzählungen des Oberkellners eines bekannten Berliner Cafes, der seine Wissenschaft aus einem von ihm bruchstückweise mitangehörten Gespräch hochgestellter Gäste bezogen haben wollte. Die Legende ist offenbar daraus entstanden, daß am 5. Juli der österreichisch-ungarische Botschafter Graf Szögieny dem Deutschen Kaiser ein Handschreiben des Kaisers Franz Joseph überreichte. In diesem Schreiben und einer ihm beigefügten Denkschrift des Wiener Auswärtigen Ministeriums wurden die Gefahren der Lage hervorgehoben und die Aufnahme Bulgariens an Stelle des wankenden Rumänien in den Bund der Mittelmächte angeregt. In der vom Auswärtigen Amt entworfenen Antwort wurde der Heranziehung Bulgariens unter gewissen Vorbehalten zugestimmt; es wurden ferner Bemühungen in Aussicht gestellt, um Rumänien beim Bündnis zu erhalten; zu dem Konflikt mit Serbien wurde eine Stellungnahme abgelehnt, es wurde aber betont, daß Deutschland gemäß dem Bündnis und der alten Freundschaft treu zu Österreich-Ungarn stehen würde Staatssekretär a. D. Zimmermann in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom 28. November 1918..
Ich habe später festzustellen Gelegenheit gehabt, daß weder der Erzherzog Friedrich noch der Feldmarschall Conrad von Hötzendorff damals in Berlin geweilt, geschweige denn an einem Kronrat in Potsdam teilgenommen haben; daß der Kaiser an jenen Tagen überhaupt keine österreichisch-ungarischen Militärpersonen empfangen hat; daß auch ein Kronrat oder eine kronratähnliche Veranstaltung in ausschließlich deutschen Kreisen damals nicht stattgefunden hat, vielmehr der Kaiser sich vor dem Antritt der Nordlandsreise auf die Entgegennahme von Einzelvorträgen, darunter auch des Vortrages des Reichskanzlers über die politische Lage und über die Unzweckmäßigkeit einer Aufgabe der Nordlandsreise, beschränkt hat.
Keine Festlegung der deutschen Politik
Auch abgesehen von jenem nicht stattgefundenen Kronrat sind nähere Vereinbarungen mit der Wiener Regierung über die von dieser zu unternehmende Aktion, wie mir späterhin von den beteiligten Staatsmännern auf das bestimmteste erklärt worden ist, nicht getroffen worden. Was die Wiener Regierung über ihre Absichten mitteilte, hat sich auf allgemeine Richtlinien beschränkt: Untersuchung gegen die der Beteiligung an dem Attentat Verdächtigen unter Mitwirkung österreichisch-ungarischer Organe; Bestrafung der Schuldigen; Sicherheiten für die Zukunft, insbesondere Unterdrückung der gegen den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie gerichteten Propaganda. Für die Ausgestaltung dieser Forderungen im einzelnen und für die Form, in der sie an Serbien gestellt werden sollten, hat weder Wien die Berliner Zustimmung erbeten, noch Berlin österreichische Mitteilungen verlangt. Man hat ein solches Vorgehen angesichts des für das Deutsche Reich ungeheuren Einsatzes als unbegreiflich bezeichnet; es scheint mir jedoch, daß bei einer solchen Kritik nicht genügend gewürdigt wird, daß die deutsche Regierung, indem sie von einer Vereinbarung der Einzelheiten und der Form des österreichisch-ungarischen Vorgehens absah, nicht etwa der Wiener Regierung eine Blankovollmacht ausstellte, sondern im Gegenteil eine Festlegung der deutschen Politik auf die Einzelheiten der österreichisch-ungarischen Aktion vermied und sich damit freie Hand vorbehielt für die Beurteilung dessen, was bei der weiteren Entwicklung der Dinge als notwendig für die Erhaltung des Bestandes der österreichisch-ungarischen Monarchie anzusehen und von Deutschland mitzuvertreten sei. Ich erinnere an die Lage im November 1912, in der der Deutsche Kaiser in seinem oben angeführten Telegramm an den Reichskanzler sich zwar nach wie vor bereit erklärte, für das österreichisch-ungarische Lebensinteresse zu marschieren, nicht aber um einer Laune des Verbündeten willen einen Weltkrieg heraufzubeschwören. Und auch in der Krisis von 1914 hat, wie wir noch sehen werden, die freie Hand, die sich die deutsche Regierung durch die Vermeidung des Festlegens der Einzelheiten der österreichisch-ungarischen Aktion gewahrt hat, dem Kaiser und dem Reichskanzler Gelegenheit gegeben, bei Österreich-Ungarn ein Einlenken in Sachen des Ultimatums durchzusetzen, ein Erfolg, der allerdings in seiner Wirkung durch den entschlossenen Kriegswillen der russischen Kriegspartei vereitelt worden ist.
Noch bis zum Tag der Überreichung des Ultimatums in Belgrad waren meine Freunde im Berliner Auswärtigen Amt im ungewissen, wie das Ultimatum ausfallen werde. Als sein Text unmittelbar vor der Übergabe in Belgrad in Berlin eintraf, war man im Auswärtigen Amt von seiner Schärfe sichtlich überrascht.
Die Wirkung des Ultimatums in Deutschland
Der Kaiser hat mir späterhin, längst ehe die Frage seiner angeblichen Schuld am Kriege in Deutschland eine Rolle spielte, wiederholt von den damaligen Vorgängen erzählt. Er habe sich, um nicht durch unnötige Beunruhigung die Lage zu erschweren, auf den Rat des Kanzlers und des Auswärtigen Amtes entschlossen, die Nordlandsreise anzutreten. Das Auswärtige Amt habe ihm über den weiteren Verlauf der Dinge spärliche und durchaus zuversichtliche Berichte geschickt, auf Grund deren er die Hoffnung gehegt habe, daß sich alles friedlich erledigen werde. Der Wortlaut des österreichisch-ungarischen Ultimatums habe ihn aus dieser Hoffnung herausgerissen. Er habe, alsbald nachdem er Kenntnis von dem Wortlaut erhalten habe, ohne weitere Nachrichten des Auswärtigen Amts abzuwarten, die sofortige Rückkehr nach der Heimat befohlen. »In Berlin eingetroffen,« fügte er hinzu, »habe ich mich sofort an die Telegraphenstrippe gehängt und beim Zaren, beim König von England und beim Kaiser Franz Joseph alles versucht, um das Verhängnis aufzuhalten. Das wäre mir auch gelungen, wenn nicht der unselige Zar sich die Mobilmachungsorder hätte abpressen lassen.«
Ich habe aus meinen eignen Wahrnehmungen in der kritischen Zeit den Eindruck gewonnen, daß den leitenden Kreisen in Deutschland nichts ferner lag, als einen Krieg herbeiführen zu wollen. Wenn der deutschen Politik in jener Zeit ein Vorwurf zu machen ist, so ist es vielmehr der, daß sie die Gefahr des Krieges nicht ernst genug ins Auge faßte, sondern zu sehr von der friedlichen Lösung des Konfliktes überzeugt war, und daß deshalb weder militärisch, noch diplomatisch, noch wirtschaftlich die in Hinblick auf die Möglichkeit des Kriegs erforderlichen Vorbereitungen getroffen worden sind.
In militärischer Beziehung liegt mir hierfür ein merkwürdiges Dokument vor. In einer Sitzung des Hauptausschusses des Reichstages im Jahre 1917 hatte der Unabhängige Sozialdemokrat Dr. Cohn-Nordhausen die Behauptung aufgestellt, im Anschluß an den angeblichen Kronrat vom 5. Juli 1914 seien alsbald militärische Vorkehrungen getroffen, u. a. die sofortige kriegsmäßige Verproviantierung der elsaß-lothringischen Festungen angeordnet worden. Das gab mir Veranlassung, das Kriegsministerium um Feststellung des Tatbestandes zu bitten. Es stellte sich heraus, daß in der Tat wenige Tage nach dem 5. Juli 1914 ein Erlaß über die Verproviantierung der elsässischen Festungen hinausgegangen war. Dieser Erlaß lautete wie folgt:
Armee-Verwaltungs-Departement
237/14 geh. B 2. Berlin, 9. Juli 1914.
Geheim! Zu Nr. 476/14. M. II. Versorgungsfrist für die Festungen Straßburg und Neubreisach.
Dem Antrage auf Hinausschiebung, des kürzesten Verproviantierungstermins für die Festung Straßburg vom 12. auf den 20. und für die Festung Neubreisach vom 8. auf den 15. Mobilmachungstag wird unter den dargelegten Umständen, jedoch nur notgedrungen, vorläufig zugestimmt. Auf Verkürzung dieser Fristen ist daher unausgesetzt und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln hinzuwirken. Zum 1. April 1915 ist zu berichten, ob und unter welchen inzwischen eingetretenen Umständen eine Verkürzung der Fristen zulässig ist.
I. V.
(Unterschrift.)
An die Königl. Intendantur des XV. Armeekorps.
Deutschland glaubt an Erhaltung des Friedens
Das Armee-Verwaltungs-Departement des Preußischen Kriegsministeriums hat also noch elf Tage nach dem Attentat von Sera je wo und vier Tage nach dem angeblichen Kronrat, der den Krieg beschlossen haben soll, die Verproviantierungsfristen der elsässischen Festungen, vorläufig und auf Widerruf um eine Woche verlängert! Ein stärkerer Beweis dafür ist kaum möglich, daß unsern leitenden Kreisen der Gedanke, einen Krieg heraufzubeschwören, gänzlich fernlag, ja daß sie im Vertrauen auf die Erhaltung des Friedens Maßnahmen guthießen, die das Gegenteil der an sich durch die Lage gebotenen Vorbereitungen für die Möglichkeit des Krieges waren.
Auf diplomatischem Gebiet muß es jedem tiefer in die Dinge eintretenden Beobachter auffallen, daß bei unserm italienischen Verbündeten vor der Überreichung des Ultimatums in Belgrad offenbar keinerlei Versuche gemacht worden sind, ihn auf eine Mitwirkung oder wenigstens eine wohlwollende Neutralität durch bindende Abmachungen festzulegen. Wenigstens ergibt sich aus den italienischen Veröffentlichungen zur Vorgeschichte des Kriegs dafür nicht nur kein positiver Anhalt; vielmehr läßt sich aus der Beschwerde darüber, daß Italien von den österreichisch-ungarischen Absichten entgegen früheren Zusagen nicht rechtzeitig unterrichtet worden sei, nur der Schluß ziehen, daß die beiden Mittelmächte in der Tat an Italien nicht herangetreten sind. Bei den bekannten Empfindlichkeiten und Aspirationen Italiens wäre, falls die Mittelmächte einen Krieg hätten heraufbeschwören wollen oder falls sie auch nur ernstlich die Möglichkeit des Krieges aus der serbischen Veranlassung heraus ins Auge gefaßt hätten, der Versuch der grundsätzlichen Verständigung mit Italien über das geplante Vorgehen eine elementare Notwendigkeit gewesen. An Kompensationsobjekten fehlte es nicht; man braucht nur an die albanische Frage zu denken. Und der Vorteil eines von vornherein sich klar und unzweideutig auf die Seite der Mittelmächte stellenden Italien wäre, wenn man den Kriegsfall ernstlich ins Auge faßte oder gar den Kriegsfall herbeiführen wollte, eine Kompensation wert gewesen. Es scheint mir hier in der diplomatischen Vorbereitung des Krieges eine Unterlassung vorzuliegen, die nur erklärlich ist aus dem festen Vertrauen der deutschen Staatsmänner in die Erhaltung des Friedens.
Auch wirtschaftlich ist in jener Zeit nichts geschehen, was nach Vorbereitung für einen Krieg ausgesehen hätte. Man hat nichts getan, um unsere Bestände an Nahrungsmitteln und kriegsnotwendigen Rohstoffen, wie Stickstoff, Wolle und Baumwolle, Kupfer, Nickel, Kautschuk usw. aufzufüllen; man hat keinen Finger gerührt, um auch nur die Einfuhr der in Antwerpen und Rotterdam mit Bestimmung für Deutschland lagernden Waren einigermaßen zu beschleunigen. Man hat im Gegenteil geduldet, daß noch kurz vor Kriegsausbruch Nahrungsmittel und kriegswichtige Stoffe unsern Gegnern zugeführt worden sind, insbesondere daß noch im Monat Juli große Quantitäten von Brotgetreide aus dem Reichsgebiet nach Frankreich ausgeführt wurden.
Rußland deckt Serbien
Ist ein solches Verhalten denkbar bei einer Regierung, die einen Krieg herbeiführen will? – Die Frage beantwortet sich von selbst. Nur die felsenfeste Überzeugung, daß es gelingen werde, den Frieden zu erhalten – eine Überzeugung, die jede Absicht, auf den Krieg loszusteuern, unbedingt ausschließt –, läßt das Unterlassen aller militärischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen überhaupt erklärlich erscheinen. –
Die Aufnahme, die das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien bei Rußland fand, mußte sofort erkennen lassen, daß die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens an einem schwachen Faden hing. Die Lokalisierung des österreichisch-serbischen Konflikts war die Voraussetzung aller Friedenshoffnungen. Die russische Regierung ließ jedoch bereits am Tage nach der Überreichung des Ultimatums, am 24. Juli 1914, bekanntgeben, daß der österreichisch-serbische Konflikt Rußland »nicht indifferent lassen« könne. Durch spätere Veröffentlichungen Siehe »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« vom 3. Januar 1915. wissen wir, daß an demselben 24. Juli der russische Minister des Auswärtigen dem serbischen Gesandten in Petersburg erklärte, daß Rußland in keinem Fall aggressive Handlungen Österreich-Ungarns gegen Serbien zulassen werde. Das war eine Ermunterung Serbiens zum Widerstand gegen die österreichisch-ungarischen Forderungen, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Gedeckt durch Rußland gab Serbien auf das Ultimatum am 25. Juli eine Antwort, die bei scheinbar weitem Entgegenkommen in wesentlichen Punkten die österreichisch-ungarischen Forderungen umging oder ablehnte.
Der österreichisch-ungarische Gesandte forderte daraufhin alsbald seine Pässe und verließ Belgrad. Schon vor der Übergabe ihrer Antwortnote hatte die serbische Regierung die Mobilmachung verfügt.
Damit war der bewaffnete Zusammenstoß zwischen Österreich-Ungarn und Serbien so gut wie unabwendbar geworden, der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Rußland war vor aller Welt erklärt.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, alle die Phasen darzustellen, die der russisch-österreichische Konflikt in den acht Tagen bis zum Kriegsausbruch durchlaufen hat. Die Vorgänge sind von den verschiedensten Seiten eingehend geschildert worden, auch von mir in meiner Arbeit über »Die Entstehung des Weltkriegs im Lichte der Veröffentlichungen der Dreiverbandsmächte«. An dieser Stelle steht im Vordergrund, was ich aus persönlichen Wahrnehmungen zur Bestätigung und Aufhellung der Vorgänge beitragen kann.
Rußlands Mißtrauen gegen Deutschland
Es fügte sich, daß ich Gelegenheit hatte, am Abend des 26. Juli, also am Abend nach der Überreichung der von Österreich-Ungarn als Ablehnung behandelten serbischen Antwortnote, mich mit einer russischen Persönlichkeit, die enge Beziehungen zu den maßgebenden Regierungskreisen hatte, über die politische Lage eingehend unterhalten zu können.
Der früher bereits erwähnte Präsident des Direktoriums der Russischen Bank für auswärtigen Handel, Herr Davydoff, teilte telegraphisch mit, daß er am Sonntag, 26. Juli, abends 11 Uhr, für ganz kurzen Aufenthalt in Berlin eintreffen werde und großen Wert darauf lege, meinen Kollegen Mankiewitz, zu dessen Geschäftskreis in der Direktion der Deutschen Bank die russischen Geschäfte gehörten, und mich möglichst bald nach seiner Ankunft zu sprechen. Herr Mankiewitz und ich suchten Herrn Davydoff alsbald nach seiner Ankunft im Hotel Adlon auf. Die Fenster seines Salons gingen nach den Linden. Von der Straße herauf brauste das Gewoge der Volksmenge, die sich, wie schon am Abend vorher, in großer Erregung und vaterländische Lieder singend durch die Hauptstraßen der inneren Stadt bewegte.
Herr Davydoff empfing uns sichtlich beeindruckt durch die Kundgebungen, deren Zeuge er auf der Fahrt vom Bahnhof nach dem Hotel gewesen war. Schon aus seinen ersten Worten ergab sich, daß er nicht in geschäftlichen Angelegenheiten nach Berlin gereist war, sondern zu Zwecken der politischen Orientierung, und zwar mit Wissen und im Auftrag maßgebender russischer Kreise.
Er berief sich auf seine langjährigen Bemühungen um die Herstellung eines guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Rußland und bekannte seine großen Besorgnisse wegen der Weiterentwicklung der serbischen Angelegenheit. Die größte Gefahr liege darin, daß in Petersburg nahezu an allen Stellen die Überzeugung bestehe, daß die deutsche Regierung Österreich-Ungarn zu seinem Vorgehen gegen Serbien aufgestachelt habe und der eigentliche Verfasser des Ultimatums sei; daß die Aktion gegen Serbien nur ein Glied in der Kette unfreundlicher Handlungen Deutschlands gegen Rußland bedeute, und daß, wenn Rußland sich jetzt füge, in kurzer Zeit neue Demütigungen folgen würden. Diese gefährliche Auffassung werde mit Nachdruck und Erfolg von Iswolski vertreten, der mit ihm von Petersburg hierher gereist sei und direkt nach Paris weiterfahre. Er fügte hinzu, daß er von dem Wiedereintreffen Iswolskis in Paris Schlimmes befürchte.
Rußland sucht einen Ausweg
Ich trat der Auffassung, als ob Deutschland Rußlands Demütigung suche, mit Entschiedenheit entgegen. Davydoff, der sich selbst mit dieser Auffassung nicht identifizierte, konnte an Fällen, in denen Deutschland die russischen Wege gekreuzt habe, außer unserem Eintreten für unsern österreichisch-ungarischen Bundesgenossen in den verschiedenen serbischen Konfliktsfällen nur die Angelegenheit der deutschen Militärmission für Konstantinopel nennen, in der doch Deutschland sich schließlich dem bei uns als unberechtigt empfundenen russischen Einspruch gefügt hatte. Auch der Auffassung, als ob die deutsche Regierung Österreich-Ungarn vorgeschoben hätte und der eigentliche Verantwortliche für das Belgrader Ultimatum sei, konnte ich nach meiner eigenen Kenntnis der Vorgänge widersprechen und dabei auf die von den deutschen Botschaftern bei den verschiedenen Regierungen abgegebenen Erklärungen, die Davydoff noch nicht kannte, hinweisen. Davydoff erwartete eine gute Wirkung davon, wenn er die offiziellen Erklärungen durch Berufung auf Mitteilungen von seiner Regierung bekannten Privatpersonen bekräftigen könne. Ich erklärte mich gern damit einverstanden, daß er meine Äußerung in diesem Sinne verwerte. Ich bat ihn jedoch, zur Vermeidung einer jeden Zweideutigkeit hinzuzufügen, daß man in Deutschland, wenn unsre Regierung auch an dem österreichisch-ungarischen Ultimatum nicht mitgewirkt habe, unverrückbar auf dem Standpunkt stehe, daß Österreich-Ungarn in seinem Rechte sei und daß niemand Österreich-Ungarn hindern dürfe, sein Verhältnis zu Serbien nach seinen Lebensinteressen zu ordnen.
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung suchte Davydoff meine Ansicht darüber zu erfahren, ob Österreich-Ungarn durch Deutschland nicht zu einer Milderung seiner Note veranlaßt werden könnte. Als ich dies nach dem Stand der Dinge als unwahrscheinlich bezeichnete, ließ er durchblicken, es komme in dieser Sache weniger darauf an, den Serben entgegenzukommen, als darauf, Rußland einen Ausweg aus der furchtbaren Situation zu zeigen, die sonst unvermeidlich zum Weltkrieg führen müsse. Es gebe, wie mir bekannt sei, in Rußland eine sehr starke und einflußreiche Kriegspartei; wir Deutschen hätten das Interesse, der Friedenspartei und allen denjenigen, die ein dauernd gutes Verhältnis zu Deutschland wünschen, zu helfen und ein Auskunftsmittel zu suchen, das es Rußland möglich mache, ohne Krieg das Gesicht zu wahren.
Ich versprach, mein Bestes zu tun, und behielt mir vor, am nächsten Morgen auf diese Anregung zurückzukommen und vielleicht einen Vorschlag zu machen.
Die Frage der russischen Mobilmachung
Es war inzwischen fast halb zwei Uhr geworden. Im Begriff, mich zu verabschieden, fragte ich Davydoff nach seinen weiteren Dispositionen. Davydoff antwortete, er wolle Dienstag abend abreisen, also Donnerstag in Petersburg zurück sein. Auf meine Bemerkung: »Und Sie glauben, daß bis dahin nichts Entscheidendes und Unwiderrufliches passiert?« antwortete er: »Ich glaube, es wird nichts Entscheidendes geschehen; wir werden wohl einen Teil unserer Armee mobil machen, aber –«
Ich fiel ihm ins Wort: »Sie meinen also, eine russische Mobilmachung sei nichts Entscheidendes? – Da bin ich allerdings anderer Ansicht. Ich bin auf das bestimmteste überzeugt, daß eine russische Mobilmachung die deutsche Mobilmachung zur sofortigen Folge hat.«
Davydoff: »Nun und –? Dann demobilisiert man wieder! Das kostet zwar Geld, braucht aber doch noch kein Blut zu kosten.«
Mir war bekannt, daß unsere Regierung aus zwingenden militärischen Gründen die russische Mobilmachung als gleichbedeutend mit dem Kriegsfall ansah. An demselben 26. Juli, an dessen Abend ich diese Unterredung mit Herrn Davydoff hatte, war unser Botschafter in Petersburg angewiesen worden, der russischen Regierung eine Erklärung abzugeben, in der es hieß:
»Vorbereitende militärische Maßnahmen Rußlands werden uns zu Gegenmaßnahmen zwingen, die in der Mobilisierung der Armee bestehen müssen. Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg. Da uns Frankreichs Verpflichtungen gegenüber Rußland bekannt sind, würde die Mobilmachung gegen Rußland und Frankreich gerichtet sein. Wir können nicht annehmen, daß Rußland einen solchen europäischen Krieg entzünden will.«
Daß diese deutsche Auffassung auch von den Verbündeten Rußlands als ganz selbstverständlich anerkannt wurde, zeigt der Bericht des britischen Gesandten in Petersburg vom 25. Juli (Blaubuch Nr. 17), in dem es heißt:
»I said all I could to impress prudence on the Minister for foreign Affairs, and warned him that, if Russia mobili-sed, Germany would not be content with mere mobilisation, or give Russia time to carry out hers, but would probably declare war at once.« (Ich sagte alles, was ich konnte, um dem Minister des Auswärtigen Vorsicht nahezulegen, und warnte ihn, daß im Falle einer russischen Mobilisation Deutschland sich nicht auf eine bloße Mobilisation beschränken oder Rußland Zeit zur Durchführung der seinigen geben, sondern wahrscheinlich sofort den Krieg erklären werde.)
Daß die leitenden militärischen Kreise in Rußland selbst die eigne Mobilmachung als gleichbedeutend mit der Kriegserklärung an Deutschland ansahen, ist später außer Zweifel gestellt worden durch eine von uns in Polen aufgefundene Anweisung des russischen Kriegsministers vom September 1912, lautend: »Allerhöchst ist befohlen, daß die Verkündigung der Mobilmachung zugleich die Verkündigung des Krieges gegen Deutschland ist.«
Die russische Mobilmachung war also – das war damals auch meine innerste Überzeugung – von allen für den weiteren Verlauf der Dinge zu befürchtenden Komplikationen die verhängnisvollste; sie mußte allen Versuchen, den Frieden zu erhalten, ein kurzes Ende bereiten. Es gab mir damals einen förmlichen Ruck, Herrn Davydoff so leichthin über diese Möglichkeit sprechen zu hören.
»Sie können überzeugt sein,« antwortete ich ihm, »daß die Mobilmachung den sofortigen Krieg bedeutet.«
Davydoff war stark betroffen.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens äußerte er Zweifel. Ich verwies ihn darauf, daß unsere raschere Mobilmachung uns gegenüber der russischen Überzahl einen Vorsprung gebe, der durch kein Zaudern verloren werden dürfe; davon sei Zivil und Militär bei uns durchdrungen. Deshalb sei Mobilisieren und Losschlagen für uns gleichbedeutend.
Davydoff überzeugte sich von dem Ernst der Sache. Er erklärte diesen Punkt für so außerordentlich wichtig, daß er noch in der Nacht darüber nach Petersburg telegraphieren müsse.
Möglichkeit eines Ausweges für Rußland
Am nächsten Vormittag, Montag, 27. Juli, machte ich dem Unterstaatssekretär Zimmermann von der nächtlichen Unterhaltung mit Herrn Davydoff Mitteilung und fragte ihn, welche Andeutungen ich eventuell Herrn Davydoff über einen Ausweg machen könne, der nach seinem Wunsch Rußland ermöglichen solle, »das Gesicht zu wahren«. Das Ergebnis der Besprechung mit Zimmermann war, daß ich Herrn Davydoff als meine persönliche Anregung nachstehenden Gedanken mitteilte:
Österreich-Ungarn hat in seiner Zirkularnote an die Mächte gesagt, daß es das Beweismaterial für den der Note an Serbien zugrundeliegenden Tatbestand zur Verfügung der Regierungen halte. Da die russische Regierung Zweifel in die Richtigkeit der von Österreich-Ungarn behaupteten Tatsachen setze, bleibe vielleicht die Möglichkeit, der Wiener Regierung zu suggerieren: Die österreichisch-ungarische Regierung teilt sua sponte und ohne eine Anfrage der russischen Regierung abzuwarten, dieser ihr Beweismaterial mit. Die russische Regierung könne, wenn es ihr auf einen Ausweg aus der Sackgasse ankomme, diesen freundschaftlichen Schritt benutzen, um sich für überzeugt zu erklären und Österreich-Ungarn freie Hand für ein Vorgehen gegen Serbien zu lassen.
Davydoff griff den Gedanken auf und meinte, Rußland müsse wohl außerdem darüber vergewissert werden, daß die österreichisch-ungarische Aktion keine Verschiebung des Gleichgewichts auf dem Balkan zur Folge haben werde.
Auf meinen Hinweis, daß Österreich-Ungarn bereits feierlich erklärt habe, daß es keine territorialen Ziele verfolge, antwortete er, daß es vielleicht möglich wäre, noch zu präzisieren und zu ergänzen, um dadurch Rußland den Rückzug zu erleichtern.
Österreich-Ungarns Entgegenkommen
Im Einverständnis mit Zimmermann setzte ich mich dann mit dem österreichisch-ungarischen Botschaftsrat Baron Haimerle in Verbindung. Baron Haimerle sagte mir, daß die Beweise für die in der Note an Serbien aufgeführten Tatsachen in Form eines Memoires von der Wiener Regierung den sämtlichen Großmächten in den nächsten Tagen zugestellt werden sollten. Damit werde meiner Anregung in der Sache entsprochen. Darüber hinaus seiner Regierung einen besonderen Schritt gegenüber Rußland zu empfehlen, lehnte er ab, da in der augenblicklichen Lage jeder besondere Schritt Österreich-Ungarns gegenüber Rußland als Schwäche ausgelegt werde und damit die Entwirrung der Lage erschwere.
Ich legte nun – immer im Einverständnis mit dem Unterstaatssekretär Zimmermann – Herrn Davydoff, der mich um eine Formulierung gebeten hatte, die er nach Petersburg telegraphieren könne, folgende Fassung vor:
»Dr. Helfferich glaubt Grund zu der Annahme zu haben, daß die österreichisch-ungarische Regierung spontan der russischen Regierung, und ebenso den Regierungen der übrigen Großmächte, das Material betreffend die Verschwörung gegen das Leben des Erzherzogs Franz Ferdinand und deren Zusammenhang mit der großserbischen Agitation vorlegen wird, um auf diese Weise den Regierungen Gelegenheit zu geben, sich von der Richtigkeit der in der Note an Serbien aufgeführten Tatsachen und von der Berechtigung der Forderungen Österreich-Ungarns zu überzeugen.«
Ich war mir ganz klar darüber, daß dieser Strohhalm äußerst dünn war. Trotzdem äußerte Davydoff, nachdem er die Fassung aufmerksam durchgelesen hatte: »Das ist immerhin schon recht viel.«
Auch am folgenden Tag bezeichnete Davydoff den von mir suggerierten Weg als gangbar und erklärte, daß er in Petersburg dafür eintreten werde, daß man diesen Weg benutze. Er äußerte ferner bei dieser letzten Unterredung, daß er sich ganz besonders viel von einer Initiative des Kaisers gegenüber dem Zaren, der hierfür sehr zugänglich sei, verspreche.
Unmittelbar vor seiner Abreise am Abend des 28. Juli ließ mir Davydoff noch bestellen, er habe in der russischen Botschaft eine hoffnungsvolle Mitteilung über die letzte Unterhaltung zwischen Ssasonoff und dem Grafen Pourtales gesehen. Beide Staatsmänner hätten sich gegenseitig zugesagt, daß beiderseits zunächst keine weiteren militärischen Vorbereitungen getroffen werden sollten.
Zimmermann war von einem solchen Austausch von Zusagen über ein beiderseitiges Unterlassen militärischer Vorbereitungen nichts bekannt. Vom Grafen Pourtales liege kein Bericht vor, der auf etwas Derartiges schließen lasse; im Gegenteil, es häuften sich die Nachrichten, daß die Russen auch an unserer Grenze mobil machten. Auf meine Mitteilung der Anregung Davydoffs, ob der Kaiser dem Zaren gegenüber nicht eine Initiative ergreifen wolle, sagte mir Zimmermann, daß der Kaiser aus eigenem Antrieb bereits einen sehr herzlichen Friedensappell an den Zaren gerichtet habe.
Die russische Kriegspartei
In der Tat war die russische Friedenspartei, die sich wohl hauptsächlich um Kokowzoff gruppierte und in deren Auftrag Davydoff – wie ich ohne weiteres annehme, guten Glaubens und mit dem besten Willen – sich betätigte, zu schwach, um die Partie gegen die übermächtig gewordene russische Kriegspartei durchzuhalten. Der Minister des Auswärtigen, Herr Ssasonoff, besorgte, wie später aus den verschiedenen amtlichen Veröffentlichungen und vor allem auch aus den Aussagen im Ssuchomlinoff-Prozeß einwandfrei bekannt geworden ist, zusammen mit dem Kriegsminister Ssuchomlinoff und dem Generalstabschef Januschkewitsch unbeirrbar die Geschäfte der Kriegspartei. Schon am 24. Juli, dem Tag nach der Übergabe des Ultimatums, hatte er den Botschaftern Englands und Frankreichs erklärt, daß Rußland die Mobilmachung, über die ein Kronrat am nächsten Tage beschließen werde, unter allen Umständen durchführen werde. Ein solcher Beschluß ist in der Tat am 25. Juli gefaßt worden, und zwar mindestens für die südlichen und südöstlichen Gouvernements. Der Beschluß wurde vor Deutschland und Österreich-Ungarn zunächst geheimgehalten. Ebenso wie Davydoff mir am 28. Juli abends Mitteilung von einer angeblich in Petersburg erfolgten Verständigung darüber machen ließ, daß weitere militärische Vorbereitungen unterbleiben sollten, hatte schon am 27. Juli der russische Kriegsminister dem deutschen Militärattache beruhigende Versicherungen gegeben. In Wirklichkeit wurde am 29. Juli der Welt die Mobilisierung der Korps von Odessa, Kiew, Moskau und Kasan als vollzogene Tatsache mitgeteilt, und die Nachrichten, daß die Mobilisierung in den an Deutschland angrenzenden Gouvernements in vollem Gange sei, wurden immer zahlreicher und bestimmter.
Die Hoffnung auf ein Dazwischentreten des Zaren konnte bei der bekannten Willensschwäche dieses Herrschers nicht allzu hoch veranschlagt werden. Sein erstes Antworttelegramm an unsern Kaiser bestätigte diese Auffassung.
So gab es nur noch eines, was die russische Kriegspartei von der Entfesselung des Krieges abhalten konnte: ein starker Druck Frankreichs und Englands zugunsten des Friedens.
Österreich-Ungarn hatte einer solchen Einflußnahme Frankreichs und Englands die Wege geebnet durch seine alsbald nach Überreichung des Ultimatums abgegebene Erklärung, daß es weder eine territoriale Vergrößerung noch eine Beeinträchtigung der Integrität Serbiens, sondern nur seine eigene Sicherheit erstrebe. Als aber der deutsche Botschafter unter Hinweis auf diese Erklärung an die französische Regierung herantrat, um dieser anheimzustellen, bei der russischen Regierung im Interesse des Friedens zu intervenieren (26. Juli), da lehnte die französische Regierung diese Anregung mit der Begründung ab, Rußland habe keinen Anlaß zu Zweifeln an seiner Mäßigung gegeben; aber Deutschland möge bei seinem Bundesgenossen intervenieren, um ihn von militärischen Operationen gegen Serbien abzuhalten. Aus keinem der zahlreichen von den Ententeregierungen über den Ursprung des Krieges veröffentlichten Dokumenten ergibt sich ein Anhalt dafür, daß die französische Regierung in irgendeinem Stadium der Krisis auch nur den kleinen Finger gerührt habe, um auf Rußland in versöhnlichem Geiste einzuwirken und es von den mit ihrer Kenntnis eingeleiteten militärischen Maßnahmen, die den Krieg bringen mußten, zurückzuhalten. Das ganze Bestreben der französischen Regierung in jener Zeit war darauf gerichtet, von der britischen Regierung formelle und bindende Zusicherungen darüber zu erhalten, daß England im Falle des Kriegsausbruchs sofort auf der Seite Frankreichs und Rußlands eingreifen werde.
England sucht zu vermitteln
Bei dieser Sachlage hielt England die Entscheidung in den Händen. Die britische Regierung hatte die Wahl, entweder durch eine Aufmunterung an Frankreich und Rußland, vielleicht auch schon durch ein passives Gewährenlassen, den Krieg zu entzünden, oder durch eine nachdrückliche Bekundung, daß sie wegen der österreichisch-serbischen Angelegenheit nicht in den Krieg gehen werde, den Brand im Keime zu ersticken.
Die Nachrichten, die in jenen Tagen aus London herüberkamen, amtliche und private, ließen zunächst einige Hoffnung, daß die britische Regierung, insbesondere Sir Edward Grey, sich ernstlich im Interesse des Friedens bemühen werde. Es sickerte durch, daß England dem Drängen Rußlands und Frankreichs nach einer sofortigen Solidaritätserklärung einigen Widerstand entgegengesetzt hatte. In der Tat billigte Sir Edward Grey ausdrücklich die am 24. Juli von Sir George Buchanan in Petersburg gegenüber Ssasonoff gemachten Ausführungen, daß die britische öffentliche Meinung einen Krieg wegen der serbischen Streitfrage nicht sanktionieren werde. Allerdings sprach er sich auf der andern Seite scharf mißbilligend über das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien aus und betonte, daß die serbische Antwort der Wiener Regierung hätte genügen müssen; desgleichen legte er dem deutschen Botschafter nahe, daß die deutsche Regierung im Sinne des Friedens auf Wien Einfluß nehmen müsse.
Letzteres ist von deutscher Seite geschehen, nachdem die deutsche Regierung den Vorschlag Greys, die österreichisch-serbische Angelegenheit einer Konferenz, bestehend aus Grey als Vorsitzendem und den Botschaftern Frankreichs, Deutschlands und Italiens, zu unterbreiten, mit dem Hinweis darauf abgelehnt hatte, daß nach Petersburger Nachrichten Herr Ssasonoff einen direkten Meinungsaustausch mit dem Grafen Berchtold beabsichtige, dessen Ergebnis zweckmäßigerweise zunächst abgewartet werden müsse. Sir Edward Grey hat diesen Hinweis als berechtigt anerkannt; er telegraphierte am 28. Juli an den britischen Botschafter in Berlin, daß er jeden andern Vorschlag suspendieren wolle, da der direkte Meinungsaustausch den Vorzug vor allen andern Methoden verdiene.
Aber ehe noch dieser direkte Meinungsaustausch in Fluß kam und ehe eine deutsche Einwirkung auf Wien sich zeigen konnte, hatte die englische Regierung Schritte getan, die nur als direkte Aufmunterung Rußlands und Frankreichs wirken konnten. Ich erwähne die am 28. Juli erfolgte Bekanntgabe der Aufrechterhaltung des mobilen Zustandes der zu Manöverzwecken in Portland konzentrierten Nordseeflotte, ferner die Unterhaltung Sir Edward Greys mit dem französischen Botschafter am Vormittag des 29. Juli, in der Sir Edward Grey Herrn Cambon eröffnete: er habe die Absicht, dem deutschen Botschafter zu sagen, daß er sich durch den freundschaftlichen Ton der bisherigen Unterhaltung nicht irreführen lassen dürfe zu irgendeinem Gefühl falscher Sicherheit, daß England beiseite stehen werde, wenn alle Anstrengungen, den Frieden zu erhalten, die England jetzt in Gemeinschaft mit Deutschland mache, scheitern sollten.
Waffenbündnis der Triple-Entente
Mit dieser Eröffnung Greys an Paul Cambon waren die Würfel zugunsten des Krieges gefallen. Jetzt glaubte der französische Botschafter über das sofortige Eingreifen Englands in den Krieg an der Seite Frankreichs und Rußlands vergewissert zu sein. Noch am Abend desselben Tages konnte die russische Regierung Herrn Iswolski beauftragen, der französischen Regierung die aufrichtige Erkenntlichkeit der russischen Regierung für die Erklärung der unbedingten Waffenhilfe auszudrücken (russ. Orangebuch Nr. 58). Schon am 25. Juli hatte Ssasonoff dem englischen Botschafter erklärt: »Wenn Rußland der Hilfe Frankreichs sicher ist, wird es alle Risiken des Krieges auf sich nehmen« (engl. Blaubuch Nr. 17). Jetzt hatte Herr Ssasonoff diese Sicherheit von der französischen Regierung erhalten, nachdem diese am Morgen des gleichen Tags durch die Eröffnung Greys an Paul Cambon über die englische Hilfe vergewissert war.
Einvernehmen mit Sir Edward Grey in Wien eingeleitete Aktion
In Berlin traf der Bericht über die Unterhaltung zwischen Sir Edward Grey und dem Fürsten Lichnowsky in der Nacht auf den 30. Juli ein. Der Inhalt deckte sich mit der Ankündung Greys an Cambon. Ich gewann, als ich am Vormittag des 30. Juli das Auswärtige Amt besuchte, den Eindruck, daß auch die Optimisten, die bisher immer noch an »russischen Bluff« geglaubt hatten, jetzt zur Erkenntnis des ganzen Ernstes der Lage gekommen waren. Man setzte jetzt den schwachen Rest von Hoffnungen, die man noch für die Erhaltung des Friedens hatte, auf die im Einvernehmen mit Sir Edward Grey in Wien eingeleitete Aktion.
Deutscher Druck auf Wien
Schon am 28. Juli hatte der Deutsche Kaiser an den Zaren telegraphiert, er setze seinen ganzen Einfluß ein, um Österreich-Ungarn dazu zu bestimmen, eine offene und befriedigende Verständigung mit Rußland anzustreben. Die deutsche Regierung beschränkte sich gegenüber der österreichisch-ungarischen nicht auf allgemeine Ratschläge zur Mäßigung; sie bestand vielmehr nachdrücklich auf der Einleitung direkter Besprechungen mit Rußland, zu denen Herr Ssasonoff sich bereit erklärt hatte, und sie gab als Grundlage für diese Besprechungen einen Vermittlungsvorschlag nach Wien weiter, den Sir Edward Grey gemacht hatte. Graf Berchtold erklärte sich zur sofortigen Aufnahme der direkten Besprechungen mit der russischen Regierung bereit. Als der Reichskanzler am Abend des 29. Juli aus Petersburg die Nachricht erhielt, daß die Aufnahme der Besprechungen von dem österreichisch-ungarischen Botschafter abgelehnt worden sei, ließ er eine Instruktion an den Botschafter nach Wien telegraphieren, in der es hieß:
»... Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es in Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustauschs mit St. Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsre Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Österreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unsrer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Euer Exzellenz wollen sich gegen Grafen Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst in diesem Sinne aussprechen.«
Der Reichskanzler hat seinem Schritt bei der Wiener Regierung durch ein zweites Telegramm folgenden Inhalts noch einen besonderen Nachdruck gegeben:
»Falls die österreichisch-ungarische Regierung jede Vermittlung ablehnt, stehen wir vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien allen Anzeichen nach nicht mit uns gehen würden, so daß wir mit Österreich-Ungarn drei Großmächten gegenüberständen. Deutschland würde infolge der Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zufallen. Das politische Prestige Österreich-Ungarns, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten Ansprüche gegen Serbien könnten durch die Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden (das entsprach dem Vorschlag Greys). Wir müssen daher dem Wiener Kabinett dringend und nachdrücklich zur Erwägung stellen, die Vermittlung zu den angebotenen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich-Ungarn und uns eine ungemein schwere.«
Die deutsche Regierung hat also von der Bewegungsfreiheit, die sie sich durch ihre Nichtbeteiligung an der Festlegung der Einzelheiten der österreichisch-ungarischen Aktion gewahrt hatte, im entscheidenden Augenblick Gebrauch gemacht, um im Sinne des Friedens auf die Wiener Regierung einen Druck auszuüben, und zwar – wie der Reichskanzler von Bethmann Hollweg später mit Recht sagte – »in Formen, welche bis an das Äußerste dessen gehen, was mit unserm Bundesverhältnis verträglich ist«. Jedenfalls haben die französischen und englischen Staatsmänner diesem deutschen Druck auf Österreich-Ungarn keinerlei auch nur entfernt ähnlich geartete Aktion bei der russischen Regierung zur Seite zu stellen.
Wirkung des Wiener Nachgebens
Der Erfolg des deutschen Druckes auf Wien war, daß der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg alsbald Weisung bekam, die infolge eines russischen Mißverständnisses bisher unterbliebene Konversation mit Herrn Ssasonoff sofort aufzunehmen, und zwar auch, was die Wiener Regierung bisher hartnäckig verweigert hatte, über den materiellen Inhalt des Ultimatums; daß ferner Graf Berchtold die deutsche Regierung wissen ließ, er sei bereit, dem Vermittlungsvorschlag Greys näherzutreten; daß schließlich noch am Nachmittag des 30. Juli eine Unterredung zwischen dem Grafen Berchtold und dem russischen Botschafter in Wien, Herrn Schebeko, stattfand, die alle einer direkten Aussprache zwischen Wien und Petersburg noch entgegenstehenden Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. Der französische Botschafter in Wien, der ebenso wie sein englischer Kollege von Herrn Schebeko alsbald über den Verlauf dieser Unterredung unterrichtet wurde, telegraphierte nach Paris, daß er nun wieder eine Hoffnung auf Lokalisierung des Konfliktes sehe. Sir Edward Grey telegraphierte am folgenden Tag an den britischen Botschafter in Petersburg, daß er mit großer Genugtuung von dieser Wiederaufnahme der direkten Aussprache zwischen Österreich-Ungarn und Rußland Kenntnis genommen habe.
Es war also der Bemühung Deutschlands am Nachmittag des 30. Juli gelungen, die Wiener Regierung zu einem Schritt des Entgegenkommens zu veranlassen, der den bereits verschlossen scheinenden Weg zum Frieden wieder öffnete.
In Berlin sah man mit der größten Spannung der Wirkung der österreichisch-ungarischen Nachgiebigkeit auf Rußland und die Westmächte entgegen. Die Meinungen über den Erfolg gingen am Freitag (31. Juli) im Auswärtigen Amt auseinander. Während die einen neue Hoffnung zeigten, sagte mir Herr von Stumm am Freitag (31. Juli) vormittag, er sehe keine Hoffnung mehr, England vom Krieg zurückzuhalten. Churchill und die City wollten den Krieg, und sie seien die Stärkeren. Während ich mit Herrn von Stumm sprach, kam die Nachricht, daß die Bank von England ihren Diskontsatz auf acht Prozent erhöht habe. Sturmsignal! Ferner die Nachricht, daß Asquith im Unterhaus die Vertagung der Diskussion über Homerule verlangt habe, »da England eine geschlossene Front zeigen müsse«. Aus Petersburg keine Nachricht über die Aufnahme des Wiener Nachgebens; dagegen Berichte, daß trotz des von dem russischen Generalstabschef dem deutschen Militärbevollmächtigten gegebenen Ehrenwortes die Mobilisation der russischen Truppen auch gegen Deutschland unentwegt ihren Fortgang nehme. Unsere leitenden Militärs, die sich den für das Schicksal Deutschlands wesentlichen Vorteil unserer rascheren Mobilisation durch die russischen Vorbereitungen entgleiten sahen, wurden ungeduldig und drängten auf eine Entscheidung. Die Erregung der Berliner Bevölkerung war ungeheuer; sie war tags zuvor schon auf das äußerste gesteigert worden durch eine sofort dementierte Falschmeldung des »Lokalanzeigers«, der Mobilmachungsbefehl sei ergangen.
Russische Generalmobilmachung
Da kam um die Mittagszeit des 31. Juli aus Petersburg die Meldung, daß der Zar die Mobilmachung der gesamten russischen Armee und Flotte befohlen habe.
Die Generalmobilmachung war also Rußlands Antwort auf die durch den Druck Deutschlands herbeigeführte Nachgiebigkeit der österreichisch-ungarischen Regierung! Die Generalmobilmachung, die nach dem russischen Erlaß vom September 1912 für das russische Heer als Kriegserklärung an Deutschland zu gelten hatte und die nach Kenntnis der Regierungen Rußlands und aller Großmächte auch für Deutschland den sofortigen Krieg mit Rußland bedeutete.
Schon vor der Aufhellung der inneren russischen Vorgänge durch den Ssuchomlinow-Prozeß ließ dieser Schritt Rußlands, der über alle Friedensbemühungen hinweg den Krieg entfesselte, nur eine Erklärung zu: »Die in jenem Augenblick in Rußland entscheidenden Persönlichkeiten wollten angesichts der auf deutsches Betreiben zutagetretenden Nachgiebigkeit der österreichisch-ungarischen Regierung alle Brücken zum Frieden abbrechen und den Krieg unvermeidlich machen.« Siehe meine »Entstehung des Weltkriegs«, S. 25.
Die Aussagen im Ssuchomlinow-Prozeß haben diese Erklärung bestätigt.
Wir wissen heute, daß der Zar am 30. Juli den Mobilmachungsbefehl bereits unterzeichnet hatte und daß am Nachmittag des 30. Juli die Generalmobilmachung in vollen Gang gesetzt wurde; daß am Abend des 30. Juli der Zar, stark beeindruckt durch die inzwischen eingegangenen Nachrichten, insbesondere das Telegramm des Deutschen Kaisers von 1 Uhr nachmittags, in dem dieser den Zaren nochmals eindringlich auf »die Gefahren und schweren Konsequenzen einer Mobilisation« hinwies, seinem Generalstabschef Januschkewitsch und seinem Kriegsminister Ssuchomlinow telephonisch den Befehl zur Einstellung der Mobilisation gab; daß Ssuchomlinow dem General Januschkewitsch auf dessen Frage, was er auf diesen Befehl des Zaren veranlassen solle, die klassische Antwort gab: »Tun Sie nichts!«; daß der Mobilmachungsbefehl noch in der Nacht amtlich veröffentlicht wurde, und daß dem Zaren am nächsten Tag, wie Ssuchomlinow sagte, »eine andere Überzeugung beigebracht wurde«.
Wir wissen ferner, daß diesen Verbrechern der Rücken gestärkt war durch die am 29. Juli abends erlangte Sicherheit der französischen und britischen Waffenhilfe. Am 29. Juli vormittags hatte, wie ich oben dargestellt habe, Grey an Cambon jene Mitteilung über seine geplante Eröffnung an den Fürsten Lichnowsky gemacht, die Cambon nicht anders denn als Zusage des sofortigen britischen Eingreifens an der Seite Frankreichs und Rußlands auffassen konnte; und am Abend desselben Tags hatte Herr Ssasonoff Herrn Iswolski beauftragt, der französischen Regierung für die Zusage der unbedingten Waffenhilfe zu danken. Tags darauf wurde dem Zaren der Mobilmachungsbefehl entlockt und dann die Mobilmachung ohne Rücksicht auf den Gegenbefehl des Zaren durchgeführt.
Deutschland zögert zu mobilisieren
Wer diesen Zusammenhang bezweifelt, lese nach, was der belgische Geschäftsträger in Petersburg, Herr de l'Escaille, am 30. Juli 1914 an seinen Minister in Brüssel berichtet hat:
»Unbestreitbar bleibt nur, daß Deutschland sich hier, ebenso sehr wie in Wien, bemüht hat, irgendeinen Weg zu finden, um einen allgemeinen Konflikt zu vermeiden . . . England hat zuerst zu verstehen gegeben, daß es sich nicht in einen Konflikt hineinziehen lassen wolle. Sir George Buchanan sagte das offen. Heute (30. Juli) hat man in Petersburg die feste Überzeugung, ja man hat die Zusicherung empfangen, daß England an der Seite Frankreichs mitgehen wird. Dieser Beistand ist hier von entscheidender Wichtigkeit; er hat nicht wenig zum Sieg der Kriegspartei beigetragen.«
So liegen die Verantwortlichkeiten!
Aber auch jetzt noch machte die deutsche Politik einen letzten Versuch, das unabwendbar Gewordene abzuwenden.
Bisher schon hatte Deutschland gegenüber den russischen militärischen Maßnahmen eine nur durch den aufrichtigsten Friedenswillen erklärbare Langmut gezeigt. »Vorbereitende militärische Maßnahmen Rußlands werden uns zu Gegenmaßnahmen zwingen, die in der Mobilisierung der Armee bestehen müssen. Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg« – so hatte es in der am 26. Juli an den Grafen Pourtales telegraphierten Instruktion geheißen. Trotzdem hatte man davon abgesehen, die von der russischen Regierung plump abgeleugneten, aber durch zahlreiche zuverlässige Berichte und Einzelheiten bestätigten »vorbereitenden militärischen Maßnahmen« Rußlands durch Gegenmaßnahmen zu beantworten; ja man hatte davon abgesehen, auf die am 28. Juli verfügte Mobilmachung in den Gouvernements Moskau, Kiew, Kasan und Odessa mit Mobilmachungsmaßnahmen zu reagieren. Und sogar jetzt noch, wo der Befehl des Zaren zur Mobilisierung der gesamten russischen Streitkräfte zu Land und zu Wasser amtlich bekanntgemacht worden war, zögerte man in Berlin mit der Mobilmachungsorder. Man begnügte sich damit, den »Zustand der drohenden Kriegsgefahr« zu verkündigen und mit der Bekanntgabe dieser Verkündigung an die russische Regierung die Mitteilung zu richten, daß dem Zustand der drohenden Kriegsgefahr, die noch nicht Mobilmachung sei, die Mobilmachung folgen müsse, wenn Rußland nicht binnen 24 Stunden seine militärischen Maßnahmen gegen die beiden Mittelmächte einstelle und Deutschland davon in Kenntnis setze. Gleichzeitig erhielt der deutsche Botschafter in Paris die Weisung, an die französische Regierung die binnen 18 Stunden zu beantwortende Anfrage zu richten, ob sie im Falle eines Krieges mit Rußland neutral bleiben wolle.
Deutschland sah also noch immer, trotz der unmittelbaren Bedrohung durch die russische Generalmobilmachung, von dem äußersten Schritt ab, auf die Gefahr hin, dadurch kostbare und uneinbringliche Zeit zu verlieren, lediglich um noch einen letzten Spielraum für Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens zu lassen.
England und die belgische Neutralität
Wenn überhaupt noch eine letzte Möglichkeit bestand, das Verhängnis abzuwenden, so lag sie in den Händen der britischen Regierung. Deutschland hatte Österreich-Ungarn auf den von Sir Edward Grey gewünschten Weg gebracht. Sir Edward Grey hielt mit dem Ausdruck seiner Genugtuung über diesen Erfolg nicht zurück. Wie würde er sich zu der russischen Generalmobilmachung stellen, die diesen Erfolg und jede Aussicht auf die Erhaltung des Friedens brutal zunichte machte?
Die deutsche Regierung konzentrierte alle ihre Anstrengungen darauf, das britische Kabinett zu einer Haltung zu bestimmen, die im letzten Augenblick die Katastrophe noch hätte verhindern oder wenigstens einschränken können, und setzte, um diesem letzten Versuch noch Raum zu geben, gegen das Drängen der verantwortlichen militärischen Instanzen beim Kaiser noch einen letzten Aufschub durch.
Aber ihre Bemühungen in London schlugen fehl.
Die von der britischen Regierung veröffentlichten Dokumente enthalten auch nicht die Spur einer Andeutung irgendeines Versuchs der Einwirkung auf Rußland, um eine Aufschiebung der Mobilmachung oder eine befriedigende Aufklärung an Deutschland zu erlangen. Sir Edward Grey beschränkte sich vielmehr darauf, durch den Berliner Botschafter an die deutsche Regierung die von vornherein aussichtslose und auch alsbald zurückgewiesene Zumutung zu stellen, Deutschland möge im mobilen Zustand stillhalten und weiterverhandeln. Ferner warf Sir Edward Grey jetzt, am 31. Juli, in der durchsichtigen Absicht, einen für die britische öffentliche Meinung plausibeln Kriegsgrund zu gewinnen, die Frage der belgischen Neutralität auf.
Der deutsche Botschafter in London stellte zunächst die Gegenfrage, ob im Falle einer Verpflichtung Deutschlands zur Achtung der belgischen Neutralität England sich seinerseits zur Neutralität verpflichten wolle. Grey antwortete gewunden, aber doch mit dem Schlußergebnis, daß England allein auf Grund dieser Bedingung seine Neutralität nicht zusagen könne. Darauf stellte Fürst Lichnowsky die dringende Frage, ob Grey nicht die Bedingungen formulieren könne, unter denen England zur Neutralität bereit sei; seinerseits bot er die Garantie der Integrität Frankreichs und seiner Kolonien an. Ja, die deutsche Regierung ging noch weiter: sie erklärte, daß die deutsche Flotte, solange England sich neutral verhalte, die Nordküste Frankreichs nicht angreifen und im Falle der Gegenseitigkeit, keine feindlichen Operationen gegen die französische Handelsschiffahrt vornehmen werde. Aber Sir Edward Grey hatte auf alles nur die Antwort: er müsse endgültig jedes Neutralitätsversprechen auf Grund solcher Bedingungen ablehnen und könne nur sagen, daß England seine Hände frei zu halten wünsche (englisches Blaubuch Nr. 123). –
Englands Wille zum Kriege
Deutschland hat also für die Neutralität Englands, die nicht nur die Lokalisierung, sondern wahrscheinlich in letzter Stunde noch die Verhinderung des Krieges bedeutet hätte, die Integrität Belgiens und Frankreichs einschließlich seiner Kolonien, außerdem den Verzicht auf jede Flottenaktion gegen die französische Küste und die französische Handelsschiffahrt angeboten; aber nicht einmal um diesen Preis, und auch nicht um irgendeinen andern, war die britische Neutralität zu haben. Das Wort Sir Edward Greys vom i. August: »England will seine Hände frei halten«, das so genau mit dem Ausklang der Haldane-Verhandlungen vom Frühjahr 1912 übereinstimmt, hieß nichts anderes als: England ist entschlossen, den Krieg nicht zu verhindern und im Krieg gegen Deutschland einzugreifen.
Die Nachrichten über diesen Verlauf des letzten Versuchs trafen im Laufe des 1. August in Berlin ein, während dort der Kaiser mit seinen ersten Ratgebern über die letzte Entscheidung beriet. Die Rußland und Frankreich gestellten Fristen näherten sich ihrem Ablauf, ohne daß Antworten vorlagen. Da schien sich noch einmal ein Lichtblick zu zeigen: ein Telegramm des Fürsten Lichnowsky, Sir Edward Grey habe telephonisch bei ihm anfragen lassen, ob Deutschland, wenn Frankreich neutral bliebe, es nicht angreifen werde. Der Fürst hatte sich für ermächtigt gehalten, zu antworten, er glaube das zusichern zu können, falls England mit Heer und Flotte diese Neutralität garantiere. In Berlin wirkte diese neue Friedensaussicht wie eine Befreiung vom stärksten Druck. Aber alsbald folgte ein weiteres Telegramm des Fürsten Lichnowsky, das die neue Aussicht zunichte machte: Sir Edward Grey erklärte, seine telephonische Anfrage sei mißverstanden worden Die aus Anlaß dieses »Mißverständnisses« von der deutschen Regierung eingenommene Haltung zeigt, wie fern der deutschen Regierung Angriffsabsichten auf Frankreich lagen. Der französische Minister des Auswärtigen hat das Gegenteil zu beweisen versucht durch die Veröffentlichung eines Chiffretelegramms, enthaltend eine Instruktion des Reichskanzlers an den deutschen Botschafter in Paris, Baron von Schoen, nach der dieser von Frankreich als Sicherheit für den Fall der französischen Neutralitätserklärung die Ausuferung der Festungen Toul und Verdun verlangen sollte. Die Instruktion ist nicht praktisch geworden, da Frankreich die Erklärung seiner Neutralität verweigerte. Hervorgegangen war sie aus der militärischen Notwendigkeit einer unbedingten Rückendeckung nach Westen für den Fall des Aufmarsches unseres Gesamtheeres gegen Osten. Das »Mißverständnis« vom 1. August hat bewiesen, daß die deutsche Regierung, falls Frankreich überhaupt zur Neutralität bereit gewesen wäre, sich statt der militärischen Sicherung durch Auslieferung der Grenzfestungen sich mit der diplomatischen Sicherung durch die Garantie Englands für die französische Neutralität begnügt hätte..
Deutschland hatte alle Mittel erschöpft, um die Weltkatastrophe des Kriegs zu verhindern. Die russischen Heeresmassen rollten unaufhaltsam nach den deutschen Grenzen, Die Antworten auf die befristeten deutschen Anfragen in Petersburg und Paris blieben immer noch aus. Vor dem Berliner Schloß, in dem jetzt die Entscheidung fallen mußte, wartete das Volk in atemloser Spannung. Am Nachmittag verbreitete sich plötzlich das Gerücht, Rußland habe seine Mobilmachung eingestellt. Aber ebenso rasch war festgestellt, daß immer noch keine Nachricht vorliege. Um halb sechs Uhr riefen Generalstabsoffiziere, vom Schlosse über die Linden fahrend, aus ihren Autos: »Mobilmachung!«
Schon vorher, um 3 Uhr 40 Minuten nachmittags, hatte die französische Regierung die allgemeine Mobilmachung verfügt.
Kriegserklärungen an Frankreich und Rußland
Das Rad des Schicksals war jetzt im unaufhaltbaren Rollen. Ein Zurück gab es nicht mehr. In allen beteiligten Ländern standen die Entschlüsse fest. Alles, was jetzt noch geschah, war Taktik und Formalität.
So sehr ich auch heute noch, nach dem unglücklichen Verlauf des Krieges, überzeugt bin, daß uns in der Sache keine andere Wahl blieb, daß unsere Feinde den Krieg gewollt und uns den Weg des Krieges vorgeschrieben haben, ebenso sehr war ich damals schon als nicht unmittelbar beteiligter Zuschauer und Beobachter der Meinung, daß in den Fragen der Taktik und der Formalitäten unsere Gegner uns überlegen waren. Ich habe z. B. damals schon die förmlichen Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich als einen überflüssigen und schädlichen Ausfluß übertriebener formalistischer Gewissenhaftigkeit angesehen. Wir wußten, daß Rußland den Krieg unter allen Umständen wollte und durch nichts – außer durch den nicht einsetzenden englischen Gegendruck – zu halten war. In der Tat haben russische Truppen und Banden die ostpreußische Grenze bereits vor Ablauf der von uns am 31. Juli gestellten Frist und vor der Überreichung unserer Kriegserklärung überschritten und damit den Kriegszustand herbeigeführt. Wozu hatten wir es nötig, durch eine förmliche Kriegserklärung uns auch nur rein formell in die schlechtere Position des Angreifers zu bringen? – Wir wußten, daß Frankreich Rußland gegenüber zur Waffenhilfe verpflichtet und entschlossen war. Wozu mußten wir durch eine formelle Kriegserklärung der französischen Regierung den Nachteil der Vorhand abnehmen? – Nach meinem Gefühl wäre es richtiger gewesen, nach dem Wort eines klugen Franzosen zu verfahren: »Il ne faut jamais mettre les points sur les I's!« Durch unsern formalistischen Eifer haben wir das Spiel der Gegner gespielt und den äußeren Anschein der tatsächlichen Vorgänge zu unsern Ungunsten verschoben.–Dasselbe gilt nach meiner Ansicht für unsre Behandlung der belgischen Neutralitätsfrage. Auch hier haben wir uns formal ins Unrecht gesetzt, wie mir später erklärt worden ist, um der belgischen Regierung eine goldne Brücke zur Nichtbeteiligung am Krieg zu bauen, Belgien hat diese Brücke nicht betreten, während das von uns selbst anerkannte Unrecht an uns haften blieb.
Die Frage der Vorherrschaft in Europa
Dagegen hat der Hauptspieler in unserm diplomatischen Gegenspiel, das britische Foreign Office, gerade die belgische Neutralitätsfrage, in der es selbst so schwer durch die seit dem Jahre 1906 eingeleitete militärische Zusammenarbeit mit Belgien belastet war, in virtuoser Technik zum Angelpunkt seiner diplomatischen Aufmachung des Krieges ausgestaltet.
Die serbische Sache' war in sich zu schlecht, um gegenüber der englischen öffentlichen Meinung und gegenüber der Welt als Ausgangspunkt für Englands Eintritt in den Krieg dienen zu können. Die pazifistische Bewegung war auch in England zu stark geworden und zählte gerade in der herrschenden liberalen Partei zu viele Anhänger, ja sie hatte selbst im britischen Kabinett einen zu starken Einfluß, als daß sich die serbische Angelegenheit zu einer wirksamen Kriegsparole hätte machen lassen. Ich erinnere daran, daß Sir George Buchanan am 24. Juli 1914 Herrn Ssasonoff gegenüber die von diesem verlangte Solidaritätserklärung abgelehnt hatte mit der tags darauf von Sir Edward Grey ausdrücklich gebilligten Begründung, nicht etwa: es sei ein Verbrechen an der Menschheit, wegen der schlechten serbischen Sache einen Weltkrieg heraufzubeschwören–solche »Sentimentalität« lag der britischen Politik fern –, sondern mit der Begründung: »die direkten britischen Interessen in Serbien seien gleich Null und ein Krieg wegen dieses Landes werde niemals durch die englische öffentliche Meinung gebilligt werden.«
Noch in jener verhängnisvollen Unterhaltung, die Sir Edward Grey am Vormittag des 29. Juli mit Paul Cambon hatte, wies der britische Staatsmann, so sehr er die britische Bereitschaft zur Waffenhilfe durchblicken ließ, darauf hin, daß die serbisch-österreichische Frage und selbst ein russischdeutscher Konflikt für England kein geeigneter Ausgangspunkt zum Eintreten in den Krieg sei. Herr Cambon antwortete auf diese Bemerkung nach Sir Edwards eigener Mitteilung an den großbritannischen Botschafter in Paris: »Er verstehe, daß England keinen Beruf fühle, in einen Balkanstreit oder auch in einen Kampf um die Vorherrschaft zwischen Deutschen und Slawen einzugreifen; wenn aber andere Ausgangspunkte entstehen und Deutschland und Frankreich hineinverwickelt werden sollten, so daß der Fall zur Frage der Hegemonie über Europa werde, so werde England zu entscheiden haben, was es zu tun habe.« – Mit andern Worten, Herr Cambon verstand, und Sir Edward widersprach nicht nur nicht, sondern gab selbst das Stichwort an seinen Pariser Botschafter weiter: die serbisch-österreichische und auch eine deutsch-russische Frage genügen für uns nicht, um England in den Krieg zu führen; wenn ihr aber aus der serbisch-österreichischen oder deutsch-russischen Frage etwa eine deutsch-französische und damit eine Frage der Vorherrschaft in Europa macht, dann habe ich den Ausgangspunkt, den ich brauche.
Diesen Ausgangspunkt zu schaffen, lag in Frankreichs Hand: Frankreich brauchte nur seine unbedingte Solidarität mit Rußland zu erklären, was, wie ich oben gezeigt habe, noch an demselben 29. Juli geschah.
Daß Sir Edward Grey hier eine starkklingende Saite anschlug, zeigt der Brief, den die Führer der konservativen Opposition in den beiden Kammern, Mr. Bonar Law und Lord Lansdowne, am 2. August an den Premierminister richteten; sie betonten in diesem Brief, es würde »verhängnisvoll für die Ehre und Sicherheit des Vereinigten Königreichs sein, mit der Unterstützung Frankreichs und Rußlands in der gegenwärtigen Krisis zu zögern«; falls das Kabinett diese Unterstützung gewähre, böten sie ihm die rückhaltlose Unterstützung der Opposition an.
England sucht geeigneten Kriegsgrund
Aber im liberalen Kabinett selbst gab es Leute, und erst recht in der liberalen Partei und der Arbeiterpartei, sowohl im Parlament wie im Lande, die auch mit dieser Parole sich nicht blindlings in den Krieg führen lassen wollten. Darunter, wenn unwidersprochen gebliebene Mitteilungen englischer Blätter Z. B. »Latour Leader« vom 18. März 1913. 220 stimmen, sogar Lloyd George.
Noch am 30. Juli mußte Grey dem französischen Botschafter mitteilen, das Kabinett sei zu dem Schluß gekommen, es könne im gegenwärtigen Moment keine Verpflichtung übernehmen. Diese Mitteilung war nicht nur Herrn Cambon, sondern sichtlich auch Sir Edward, dessen Eröffnungen vom Tage vorher an Herrn Cambon durch das Kabinett gewissermaßen desavouiert waren, sehr unangenehm. Sir Edward beeilte sich, tröstend hinzuzufügen, weitere Entwicklungen könnten die Lage ändern und Regierung und Parlament von der Berechtigung einer britischen Intervention überzeugen; die Neutralität Belgiens könne, wenn nicht ein entscheidender, so doch mindestens ein wichtiger Faktor für die Bestimmung der Haltung Englands sein. Und Sir Arthur Nicolson, der Vater der britisch-russischen Entente, der wohl von allen britischen Staatsmännern mit dem größten Zielbewußtsein auf den Koalitionskrieg gegen Deutschland hinarbeitete, gab Herrn Cambon, als dieser ihm beim Verlassen des Kabinetts des Staatssekretärs begegnete, vertraulich zu verstehen – so berichtete Herr Cambon nach Paris –, daß der Staatssekretär nicht verfehlen werde, die Diskussion im Kabinett wiederaufzunehmen.
In all dem kann niemand auch nur die Spur eines Bemühens nach Verhinderung des Krieges finden; was klar und unverhüllt zutagetritt, ist das Suchen nach einem für das britische Kabinett und die britische öffentliche Meinung genügend zugkräftigen Kriegsgrund. Man stelle das Verhalten Sir Edward Greys gegenüber dem französischen Botschafter und gegenüber dem deutschen Botschafter in Vergleich: In seinen Unterhaltungen mit dem Fürsten Lichnowsky lehnte er jede Andeutung über die Bedingungen ab, unter denen es für England möglich sei, dem Kriege fernzubleiben. Dagegen erörterten seine Gespräche mit Herrn Cambon fast ausschließlich die Frage nach einem geeigneten Ausgangspunkt für ein sofortiges Eingreifen Englands in den Krieg. Dieser Unterschied zeigt das wahre Gesicht der jedenfalls in jenem Stadium auf den Krieg gerichteten britischen Politik.
Nachdem auch der »Kampf um die Hegemonie in Europa« als Kriegsparole keinen unbedingten Erfolg versprach, griff Sir Edward Grey die Frage der belgischen Neutralität auf. Er operierte gegenüber den Zögernden mit der ungenügenden, weil ausweichenden Antwort, die der Staatssekretär von Jagow auf die erste Anfrage des britischen Botschafters in Berlin am 31. Juli gegeben hatte. Als ihm dann der Fürst Lichnowsky am 1. August die Gegenfrage stellte, ob England bereit sei, im Fall der Respektierung der belgischen Neutralität durch Deutschland selbst neutral zu bleiben, enthielt Grey seinem Kabinett das in dieser Gegenfrage liegende, von ihm alsbald abgelehnte Angebot vor, das der britischen Regierung die Sicherung der belgischen Neutralität um den Preis der eignen Neutralität ermöglicht hätte; ebenso wie er dem Kabinett das deutsche Angebot vorenthielt-, gegen Zusicherung der Neutralität Englands von jedem Angriff auf die atlantische Küste und Schiffahrt Frankreichs abzusehen und die Integrität Frankreichs und seiner Kolonien zu gewährleisten. Vgl. die Anfrage Keir Hardies im Unterhaus am 27. August 1914.
Deutscher Einmarsch in Belgien
Am Abend des 4. August stellte der britische Botschafter in Berlin dem Reichskanzler jene bis Mitternacht befristete Anfrage, ob Deutschland sich verpflichte, die belgische Neutralität zu respektieren. Damals hatten deutsche Truppen die belgische Grenze schon überschritten. Das britische Kabinett hatte seinen Kriegsvorwand und seine Kriegsparole.
Wie stark die militärische Notwendigkeit war, selbst auf die Gefahr hin, England einen wirksamen Kriegsvorwand und eine zugkräftige Kriegsparole zu liefern, die belgische Neutralität außer acht zu lassen, vermag ich nicht zu beurteilen. Unsere moralische Berechtigung, durch Belgien zu marschieren, steht für mich nach allem, was vorausgegangen war, außer Zweifel. Ebenso außer Zweifel steht für mich, daß auch die peinlichste Respektierung der belgischen Neutralität England nicht vermocht hätte, dem Kriege als unser Gegner fernzubleiben.
Dies wird gelegentlich von englischer Seite selbst offen zugegeben. Schon im Dezember 1914 schrieb der »Spectator«:
»Wenn Deutschland beschlossen hätte, zu versuchen, auf dem direkten Weg statt auf dem Weg über Belgien in Frankreich einzudringen, so hätten wir trotzdem unter einer tiefen Verpflichtung gestanden, Frankreich und Rußland zu helfen . . . Alle unsere Abmachungen mit Frankreich – unsere Sanktion der Linie seiner Politik, unsere militärischen »Konversationen« mit seinem Stab, unsere endgültige Assoziation mit seinen Handlungen draußen – hatten uns seine Sache anvertraut, so klar wie wenn wir eine bindende Allianz mit Frankreich abgeschlossen hätten. Und was wahr ist für unser Einvernehmen mit Frankreich, ist kaum weniger wahr für unser Einvernehmen mit Rußland.«
Und ein Leitartikel der »Times« vom 19. März 1915 bekannte, daß England durch seine Ehre und sein Interesse gezwungen worden wäre, an Frankreichs und Rußlands Seite zu treten, »auch wenn Deutschland die Rechte seines kleinen Nachbars gewissenhaft geachtet und sich den Weg nach Frankreich hinein durch die französischen Ostfestungen gebahnt hätte«. – Der Artikel fährt fort: »Weshalb verbürgten wir uns für die Neutralität Belgiens? Wegen eines gebieterischen Grundes des Selbstinteresses, aus dem wir von jeher verhinderten, daß eine Großmacht sich unserer Ostküste gegenüber festsetzte, wegen des Grundes, der uns bewog, die Niederlande gegen Spanien und gegen das Frankreich der Augenblick an England und Deutschland sich im Kriegszustand befinden würden.« (Franz. Gelbbuch Nr. 143.)
Letzteres ergibt sich aus der ganzen langen Vorgeschichte des Krieges, in der England die treibende Kraft war; aus den Besprechungen zwischen dem Foreign Office und Herrn Cambon, die sich schließlich nur noch um die Frage des Ausgangspunktes für das britische Eingreifen drehten; und schließlich aus folgendem wichtigen Umstand:
Am 2. August, ehe ein deutscher Soldat auf belgischem Boden stand und ehe die erst am Abend dieses Tages in Brüssel gestellte deutsche Anfrage wegen des Durchmarsches vorlag, bestätigte Sir Edward Grey auf Grund eines Kabinettsbeschlusses dem französischen Botschafter eine Eröffnung, die er ihm tags zuvor schon auf eigne Verantwortung gemacht hatte. Nach dem von Herrn Cambon nach Paris erstatteten Bericht lautete diese Eröffnung:
»Falls das deutsche Geschwader in den Kanal einfahren oder die Nordsee passieren sollte, um die britischen Inseln zu umschiffen, in der Absicht, die französischen Küsten oder die französische Kriegsflotte anzugreifen und die französische Handelsflotte zu beunruhigen (!), würde die britische Flotte eingreifen, um der französischen Marine ihren Schutz zu gewähren, in der Art, daß von diesem Bourbonen und Napoleons zu verteidigen . . . Wir spielen nicht den internationalen Don Quichotte, der zu jeder Zeit jedes Unrecht bekämpft, auch wenn es ihm keinen Schaden zufügt. Herr von Bethmann hat ganz recht, selbst wenn Deutschland nicht in Belgien eingefallen wäre, hätten Ehre und Interesse uns an Frankreich gebunden . . . Wir kehrten zu unserer traditionellen Politik des Gleichgewichts zurück, aus demselben Grund, aus dem unsere Ahnen sie angenommen hatten. Gefühlsgründe gab es weder für unsere Väter, noch gibt es sie für uns. Es handelt sich um in sich selbst begründete, um selbstische Gründe ... für England und seinen Herrschaftskreis kämpfen und bluten seine Söhne.«
Englands Entschlossenheit zum Krieg
Das war die Entschlossenheit zum Krieg, unabhängig von der Verletzung der belgischen Neutralität, für einen bestimmten Fall, der bei einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich der Natur der Dinge nach sich einstellen mußte. Das britische Kabinett hatte sich gegen den Widerstand seiner friedensfreundlichen Mitglieder zu dieser Erklärung entschließen müssen, weil auf Grund der dem Kabinett seit 1911 bekannten militärischen und maritimen Abmachungen mit Frankreich die französische Flotte im Mittelmeer konzentriert war und infolgedessen für England die moralische Verpflichtung bestand, die atlantische Küste und Schiffahrt Frankreichs zu schützen.
Aber dieser casus belli wurde nicht praktisch. Die britische Politik behielt den Vorteil der in der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität enthaltenen Kriegsparole.
Am Abend des 4. August stand fest, daß Deutschland durch einen unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod mit einer überlegenen Koalition werde gehen müssen. Durch das ganze deutsche Volk ging eine grimmige Entschlossenheit, den uns aufgezwungenen Krieg aufzunehmen und durchzuführen. Vor dem Schloß in Berlin staute sich die Menge und huldigte dem Kaiser, der seinem Volke sechsundzwanzig Jahre lang den Frieden erhalten hatte und der es jetzt in Worten, die jedem zu Herzen gingen, aufrief zum Kampf um Hof und Herd, um das Recht auf Leben und Arbeit.
Gespräch mit Kaiser Wilhelm
Wenige Wochen später, am 28. August, sah ich den Kaiser im Schloß zu Koblenz. Der Aufmarsch unsrer Heere war in glänzender Weise durchgeführt; die französischen Armeen und das britische Hilfskorps waren geschlagen; unsere Truppen waren überall im Westen in siegreichem Vormarsch; aus dem Osten kamen die ersten Nachrichten von Hindenburgs gewaltigem Sieg bei Tannenberg. Es schien alles über Erwarten gut zu gehen, und die Hoffnungsfreudigen glaubten an ein rasches und glückliches Ende des Krieges.
Der Kaiser ging nach dem Frühstück länger als eine Stunde mit mir im Park auf und ab und sprach sich über die gewaltigen Ereignisse der letzten Wochen in der rückhaltlosesten Weise aus. Ich hatte von ihm den Eindruck eines Mannes, der, trotzdem das Glück seiner Sache günstig zu sein schien, innerlich auf das tiefste erschüttert war und schwer an der Verantwortung für seine Entschlüsse trug. Er schilderte mir in der ihm eigenen Lebhaftigkeit die Vorgänge, die zum Krieg geführt hatten, und seine persönlichen Bemühungen, den Krieg abzuwenden. Er rief Gott zum Zeugen dafür an, daß er in seiner ganzen Regierungszeit keinen höheren und heiligeren Wunsch gekannt habe, als seinem Volke den Frieden zu erhalten und es durch friedliche Arbeit zu besseren und glücklicheren Lebensbedingungen zu führen. Er erinnerte an sein letztes Zusammensein mit seinen Vettern, dem Zaren und dem König von England, im Schlosse von Berlin bei Gelegenheit der Hochzeit seiner Tochter mit dem Herzog von Braunschweig im Jahre 1913, an die Beruhigung, die er damals über die friedlichen Absichten Rußlands und Englands gewonnen zu haben glaubte. Er habe sich gar nicht an den Gedanken gewöhnen können, daß alle die Freundschafts- und Friedensversicherungen nur Lug und Trug gewesen seien; und doch habe er sich aus dem Gang der Dinge überzeugen müssen, daß damals unter seinem eignen Dach seine Gäste die Verschwörung gegen Deutschland bereits im Herzen trugen. Er habe von dem Augenblick an, in dem ihm der Ernst der Lage zum Bewußtsein gekommen sei, den König von England und den Zaren beschworen und gebeten, ihm zu helfen, das Unheil des Krieges von der Welt abzuwenden, er habe seinerseits bis zur Grenze des Möglichen auf den Kaiser Franz Joseph gedrückt, so schwer es ihm geworden sei, dem Verbündeten beim Durchfechten seiner gerechten Sache in den Weg zu treten; aber er habe vom König Georg und dem Zaren nur kaltes Achselzucken und leere Ausflüchte zur Antwort bekommen. Er habe den Zaren noch in der letzten Stunde geradezu angefleht, die Mobilmachung zu unterlassen, die uns in unsrer geographischen und politischen Lage zum sofortigen Losschlagen zwingen müsse. Er habe nach der russischen Mobilmachung gegen alle Beschwörungen seiner eignen Militärs noch einmal den Russen eine Frist gegeben. Alles sei umsonst gewesen. Dreimal habe er die Feder wieder aus der Hand gelegt, ehe er die Mobilmachungsorder unterschrieben habe. Die Verantwortung für das eigene Volk habe ihm schließlich keine andere Wahl gelassen. Jetzt stehe unser Schicksal in Gottes Hand.
In derselben Unterhaltung sprach sich der Kaiser darüber aus, wie er sich die künftige Gestaltung der Dinge denke, wenn uns der Sieg beschieden sei. Das Wichtigste sei für ihn, daß aus dem Krieg der durch die gesunde Vernunft und die Natur der Dinge gebotene friedliche Zusammenschluß der Völker des europäischen Kontinents hervorgehe. Das sei bisher infolge des deutsch-französischen Gegensatzes nicht möglich gewesen. Der Friede müsse so geschlossen werden, daß dieses Ziel erreichbar werde. Die Franzosen seien stets eine ritterliche Nation mit einem hohen Ehrbegriff gewesen, vor der er stets Achtung gehabt und deren Versöhnung mit Deutschland er stets gewünscht habe. Er verstehe, daß es dieser Nation schwer geworden sei, sich der Entscheidung von 1870 ohne den Versuch eines neuen Appells an das Glück der Waffen zu fügen. Er hoffe, daß nach diesem Krieg auch der Franzose das Gefühl haben werde, daß der Ehre Genüge geschehen sei und daß sich beim Friedensschluß die Grundlagen für ein freies und ehrliches Zusammenwirken der beiden großen europäischen Kulturvölker in Politik und Wirtschaft werden schaffen lassen.
Deutschland wollte den Frieden
Das ist der Mann, den heute unsre Feinde und – was schlimmer ist – Leute unsres eignen Blutes zum Urheber des Krieges, zu einem blutdürstigen Eroberer und Unterdrücker stempeln möchten. Ich bin im Innersten überzeugt
– und das Bekenntnis glaube ich dem Kaiser zu schulden
– daß Wilhelm II. kein höheres Ziel gekannt hat, als dem deutschen Volk und der Welt den Frieden zu erhalten, daß er seinen Ruhm nur darin gesucht hat, Deutschland in den Werken friedlicher Arbeit fortschreiten zu sehen. Niemand, der ihn näher kannte, wird sich durch seine im Hohenzollernblut steckende Freude an soldatischem Wesen oder durch den Überschwang des ihm leicht zur Verfügung stehenden Wortes über den Kern seines Wesens täuschen lassen. Ebensowenig, wie Kenner des deutschen Volkscharakters sich durch Unebenheiten und Schroffheiten, die schließlich ihre Begründung in unsrer vielhundertjährigen Leidensgeschichte haben, dazu verleiten lassen, das deutsche Volk für kriegslustig, gewalttätig und eroberungssüchtig zu halten.
Der Deutsche Kaiser und das deutsche Volk wollten den Frieden und sahen in der friedlichen Arbeit ihre Zukunft. Wo die Kräfte, die den größten Krieg der Weltgeschichte heraufbeschworen haben, ihren Sitz hatten, glaube ich in den vorstehenden Blättern gezeigt zu haben.
Großbritannien hat wieder einmal sein Ziel erreicht. Die stärkste Kontinentalmacht, sein stärkster Wettbewerber auf den Märkten der Welt liegt am Boden, wie vordem Spanien, die Niederlande und Frankreich. Unsere Kraft ist gebrochen in einem Krieg, den England so wenig unmittelbar entzündet hat wie etwa den Spanischen Erbfolgekrieg, den Siebenjährigen Krieg und die Napoleonischen Kriege; den es aber, genau wie jene großen Koalitionskriege, mit unübertrefflicher diplomatischer Kunst aus dritter Ursache duldend und fördernd hat entstehen lassen, um dann einzugreifen und seinen stärksten Rivalen zur Mehrung seiner eigenen Macht und Herrlichkeit niederzuwerfen.
So werden die unbestechlichen und unbeirrbaren Augen der Geschichte die Entstehung des Krieges sehen.