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Frankreich zeigte, im Gegensatz zu England, in jener Krise eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Diese mag verursacht gewesen sein einmal dadurch, daß man in Paris die mangelhafte Bereitschaft des russischen Bundesgenossen genau kannte; dann aber mag mitgewirkt haben, daß gerade in jener Zeit die deutsche Regierung Verhandlungen mit Frankreich über die Schaffung eines modus vivendi in Marokko einleitete, die am 9. Februar 1909 zu einem Abkommen führten, das man in Frankreich als weitherziges deutsches Entgegenkommen mit Fug und Recht betrachten konnte. Während die französische Regierung erneut die Unabhängigkeit und Integrität des Sultanats Marokko zu respektieren versprach, erkannte die deutsche Regierung die besonderen politischen Interessen Frankreichs an der Festigung des Friedens und der Ordnung im Innern Marokkos an und stellte ausdrücklich fest, daß sie selbst in Marokko lediglich wirtschaftliche Interessen verfolge. Dafür verpflichtete sich die französische Regierung, die kaufmännischen und industriellen Interessen Deutschlands in Marokko nicht zu beeinträchtigen. Schließlich kamen beide Regierungen dahin überein, keinerlei wirtschaftliches Vorzugsrecht in Marokko zu schaffen und dahin zu streben, ihre Staatsangehörigen in den Geschäften, deren Ausführung ihnen übertragen werden könnte, zu gemeinschaftlichem Vorgehen zu verbinden.
Das Abkommen mit Frankreich war, ebenso wie die glückliche Beilegung des österreichisch-russischen Konflikts, im wesentlichen das Werk des Gesandten von Kiderlen-Wächter, der damals in Vertretung des erkrankten Herrn von Schoen das Auswärtige Amt leitete.
Kiderlens Absicht war, die marokkanische Streitfrage in einer für Deutschland erträglichen Weise zu liquidieren, dadurch das deutsch-französische Verhältnis von einer schweren Belastung zu befreien und darüber hinaus ein wirtschaftliches Zusammenarbeiten der beiden Nationen herbeizuführen und so auf einem nicht unwichtigen Gebiet, das bisher Reibungsfläche war, eine Interessensolidarität zu begründen. Es ist dies, in der Anwendung auf den marokkanischen Einzelfall, der Grundgedanke der Politik, die Kiderlen in den folgenden Jahren als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in Übereinstimmung mit dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg verfolgt hat, um die gespannte politische Atmosphäre zu entlasten und den Ring der Einkreisung zu lockern.
Ein nach dieser Richtung gehender Versuch wurde im Jahre 1910 mit Rußland eingeleitet. Die Verhältnisse lagen hier besonders schwierig. Die bosnische Angelegenheit hatte auch nach ihrer formalen Beilegung eine tiefgehende Verstimmung Rußlands gegen Österreich-Ungarn hinterlassen. Das kam symptomatisch zum Ausdruck, als der Zar im Herbst 1909 den König von Italien in Racconigi besuchte und sowohl auf der Hinreise wie auf der Rückreise einen großen Umweg machte, um jede Berührung österreichisch-ungarischen Gebietes zu vermeiden. Die Tatsache dieser Begegnung selbst, an der auch die beiderseitigen Minister teilnahmen und bei der die Fragen des Balkans zweifellos einen wichtigen Gegenstand der Unterhaltungen bildeten, war ein weiteres Anzeichen der Annäherung Italiens an den Dreiverband und der Ausbildung des italienisch-österreichischen Gegensatzes in den Balkanangelegenheiten.
Die Bemühungen der deutschen Regierung, in den Beziehungen zu Rußland eine Entspannung herbeizuführen, hatten schließlich den Erfolg, daß gegen Ende des Jahres 1910 eine Zusammenkunft des Zaren, der von seinem neuen Minister des Auswärtigen, Herrn Ssasonoff, begleitet war, mit Kaiser Wilhelm II. in Potsdam zustande kam. Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den beiderseitigen Staatsmännern war einmal ein solches allgemein-politischer Natur, dann ein Sonderabkommen, das sich auf Persien und die Bagdadbahn bezog.
Über das allgemeine politische Ergebnis teilte Herr von Bethmann Hollweg am l0. Dezember 1910 im Reichstag mit:
»Als Resultat der letzten Entrevue möchte ich bezeichnen, daß von neuem festgestellt wurde, daß sich beide Regierungen in keinerlei Kombination einlassen, die eine aggressive Spitze gegen den andern Teil haben könnte. In diesem Sinne haben wir insbesondere Gelegenheit gehabt zu konstatieren, daß Deutschland und Rußland ein gleichmäßiges Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo am Balkan und überhaupt im nahen Orient haben und daher keinerlei Politik unterstützen werden – von welcher Seite sie auch kommen könnte –, welche auf Störung jenes Status quo gerichtet wäre.«
Das in Potsdam vereinbarte Sonderabkommen enthielt von deutscher Seite die Anerkennung der politischen Sonderstellung Rußlands in Nordpersien unter Vorbehalt der Gleichberechtigung des Handels aller Nationen. Während Deutschland sich am Bau von Eisenbahnen und sonstigen Verkehrsanlagen in Persien nördlich einer gewissen Linie desinteressierte, übernahm es Rußland, das persische Eisenbahnnetz auszubauen. Rußland sagte ferner zu, dem Ausbau der Bagdadbahn, den es bisher nach Kräften zu hindern versucht hatte, nicht weiter entgegen sein zu wollen und den auf persischen Boden fallenden Teil einer Verbindungsbahn Bagdad–Teheran innerhalb einer bestimmten Zeit herzustellen; wenn diese Verpflichtung nach Ablauf der Frist nicht erfüllt sei, sollte russischerseits der Ausführung auch des persischen Teils der Verbindungsbahn durch Deutschland nicht widersprochen werden.
Wenn die allgemein-politische Vereinbarung von russischer Seite ehrlich gemeint und im weiteren Verlauf der Dinge ehrlich durchgeführt worden wäre, so wäre sie eine für die weitere Entwicklung der Völkergeschichte hochbedeutsame Entschärfung der gegen den Zweibund Deutschland-Österreich-Ungarn gerichteten Tendenzen des Dreiverbandes gewesen.
Das Sonderabkommen stellte für Rußland eine Ergänzung zu dem Abkommen mit England vom Jahre 1907 dar. Die deutsche Politik verfolgte mit dem Abkommen das Ziel, durch Zugeständnisse an Rußland in Persien die Streitfragen der Bagdadbahn zwischen Rußland und Deutschland zu begleichen und in der in Aussicht genommenen Verbindung zwischen dem russisch-persischen und dem deutsch-türkischen Eisenbahnnetz in ähnlicher Weise eine Grundlage für solidarische Interessen zu schaffen, wie es gegenüber Frankreich in dem Marokko-Abkommen vom Februar 1909 versucht worden war.
Französische Quertreibereien
In England und namentlich in Frankreich war die Erregung über die deutsch-russische Aussprache groß. Es setzte sofort der stärkste diplomatische und publizistische Druck auf Rußland ein, um die Potsdamer Verständigung abzuschwächen oder unwirksam zu machen. Die Haltung der russischen Regierung zeigte bald, daß dieser Druck nicht ohne Einfluß blieb. Die Mitteilungen des deutschen Reichskanzlers über den allgemein-politischen Teil der Potsdamer Verständigung wurden von russischer Seite niemals klar und präzis bestätigt, freilich auch nicht abgestritten. Die von Deutschland gewünschte schriftliche Fixierung des allgemein-politischen Ergebnisses der Potsdamer Aussprache wurde von der russischen Regierung nicht beliebt. Auch die schriftliche Festlegung des Sonderabkommens verzögerte sich, nicht zum wenigsten unter der Einwirkung französischer Quertreibereien, um eine Anzahl von Monaten; es wurde erst am 19. August 1911 in Petersburg unterzeichnet.