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Paris, den 1. Oktober 1840.
»Haben Sie das Buch Baruch gelesen?« Mit dieser Frage lief einst Lafontaine durch alle Straßen von Paris, jeden seiner Bekannten anhaltend, um ihm die große Neuigkeit mitzuteilen, daß das Buch Baruch wunderschön sei, eine der besten Sachen, die je geschrieben worden. Die Leute sahen ihn verwundert an und lächelten vielleicht in derselben Weise, wie ich Sie lächeln sehe, wenn ich ihnen mit der heutigen Post die wichtige Nachricht mitteile, daß »Tausend und eine Nacht« eines der besten Bücher ist, und gar besonders nützlich und belehrsam in jetziger Zeit . . . Denn aus jenem Buche lernt man den Orient besser kennen als aus den Berichten Lamartine's, Poujoulat's und Konsorten; und wenn auch diese Kenntnis nicht hinreicht, die orientalische Frage zu lösen, so wird sie uns wenigstens ein bißchen aufheitern in unserm occidentalischen Elend! Man fühlt sich so glücklich, während man dies Buch liest! Schon der Rahmen ist kostbarer als die besten Gemälde des Abendlandes. Welch ein prächtiger Kerl ist jener Sultan Schariar, der seine Gattinnen des andern Morgens nach der Brautnacht unverzüglich töten läßt! Welche Tiefe des Gemüts, welche schauerliche Seelenkeuschheit, welche Zartheit des ehelichen Bewußtseins offenbart sich in jener naiven Liebestat, die man bisher als grausam, barbarisch, despotisch verunglimpfte! Der Mann hatte einen Abscheu gegen jede Verunreinigung seiner Gefühle, und er glaubte sie schon verunreinigt durch den bloßen Gedanken, daß die Gattin, die heut an seinem hohen Herzen lag, vielleicht morgen in die Arme eines andern, eines schmutzigen Lumps, hinabsinken könnte – und er tötete sie lieber gleich nach der Brautnacht! Da man so viele verkannte Edle, die das blödsinnige Publikum lange Zeit verlästerte und schmähte, jetzt wieder zu Ehren bringt, so sollte man auch den wackern Sultan Schariar in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren suchen. Ich selbst kann mich in diesem Augenblick einem solchen verdienstlichen Werke nicht unterziehen, da ich schon mit der Rehabilitation des seligen Königs Prokrustes beschäftigt bin; ich werde nämlich beweisen, daß dieser Prokrustes bisher so falsch beurteilt worden, weil er seiner Zeit vorausgeschritten und in einer heroisch aristokratischen Periode die heutigsten Plebejerideen zu verwirklichen suchte. Keiner hat ihn verstanden, als er die Großen verkleinerte und die Kleinen so lange ausreckte, bis sie in sein eisernes Gleichheitsbett paßten.
Der Republikanismus macht in Frankreich täglich bedeutendere Fortschritte, und Robespierre und Marat sind vollständig rehabilitiert. O, edler Schariar und echt demokratischer Prokrustes! Auch ihr werdet nicht lange mehr verkannt bleiben. Erst jetzt versteht man euch. Die Wahrheit siegt am Ende.Statt des obigen Absatzes findet sich in der Augsburger Allgemeinen Zeitung folgende Stelle: »Der Republikanismus macht in Frankreich täglich bedeutendere Fortschritte. Die Niederlage der Bonapartisten ist für die Republikaner vielleicht ebenso großer Gewinn, wie sie ein Mißgeschick für die Anhänger der Orleans'schen Dynastie; zwischen letztern und der Republik gibt es jetzt keine Übergangspartei mehr, und beide werden um so heftiger zusammenstoßen. Die Legitimisten freuen sich ungemein über die bonapartistischen Mißgeschicke, denn Napoleon ist ihnen noch weit verhaßter als die Republik und Ludwig Philipp; auch meinen sie, Heinrich V. sei jetzt der einzige Prätendent. Der Prinz Ludwig Bonaparte ist in der Tat für immer verloren, nicht nur durch den Narrenstreich von Boulogne, sondern durch den größeren Narrenstreich, den er beging, als er den Herrn Berryer, den schlauen Sachwalter der Karlisten, zu seinem Verteidiger wählte!
Hier in Paris herrscht in diesem Augenblick eine griesgrämlich brütende Stimmung. Viele Truppen ziehen durch die Stadt, mit trübem Trommelschlag, und in den Lüften spielt der Telegraf mit beängstigender Hast. Der Prozeß des Prinzen Ludwig wird in wenigen Tagen geendigt sein und beschäftigte keineswegs die Neugier der Menge. Der arme Prinz macht Fiasko, während Madame Lafarge seit ihrer Verurteilung noch leidenschaftlicher als früher besprochen wird.« – Der Herausgeber.
Madame Lafarge wird seit ihrer Verurteilung noch leidenschaftlicher als früher besprochen. Die öffentliche Meinung ist ganz zu ihren Gunsten, seitdem Herr Raspail, der unbescholtenste Mann Frankreichs, sein Gutachten in die Wagschale geworfen. Bedenkt man einerseits, daß hier ein strenger Republikaner gegen seine eigenen Parteiinteressen auftritt und durch seine Behauptungen eins der volkstümlichen Institute des neuen Frankreichs, die Jury, unmittelbar kompromittiert; und bedenkt man andrerseits, daß der Mann, auf dessen Ausspruch die Jury das Verdammungsurteil basierte, ein berüchtigter Intrigant und Scharlatan ist, eine Klette am Kleide der Großen, ein Dorn im Fleische der Unterdrückten, schmeichelnd nach oben, schmähsüchtig nach unten, falsch im Reden wie im Singen: o Himmel! dann zweifelt man nicht länger, daß Marie Capelle unschuldig ist, und an ihrer Statt der berühmte Toxologe, welcher Dekan der medizinischen Fakultät von Paris, nämlich Herr Orfila, auf dem Marktplatz von Tulle an den Pranger gestellt werden sollte! Wer aus näherer Beobachtung die Umtriebe jenes eiteln Selbstsüchtlings nur einigermaßen kennt, ist in tiefster Seele überzeugt, daß ihm kein Mittel zu schlecht ist, wo er eine Gelegenheit findet, sich in seiner wissenschaftlichen Spezialität wichtig zu machen und überhaupt den Glanz seiner Berühmtheit zu fördern! In der Tat, dieser schlechte Sänger, der, wenn er in den Soireen von Paris seine schlechten Romanzen meckert, kein menschliches Ohr schont und jeden töten möchte, der ihn auslacht: er würde auch kein Bedenken tragen, ein Menschenleben zu opfern, wo es galt, das versammelte Publikum glauben zu machen, niemand sei so geschickt wie er, jedes verborgene Gift an den Tag zu bringen! Die öffentliche Meinung geht dahin, daß im Leichnam des Lafarge gar kein Gift, desto mehr hingegen im Herzen des Herrn Orfila vorhanden war. Diejenigen, welche dem Urteil der Jury von Tulle beistimmen, bilden seine sehr kleine Minorität und gebärden sich nicht mehr mit der frühern Sicherheit. Unter ihnen gibt es Leute, welche zwar an Vergiftung glauben, dieses Verbrechen aber als eine Art Notwehr betrachten und gewissermaßen justifizieren. Lafarge, sagen sie, sei einer größern Untat anklagbar; er habe, um sich durch ein Heiratsgut vom Bankrott zu retten, mit betrügerischen Vorspiegelungen das edle Weib gleichsam gestohlen und sie nach seiner öden Diebeshöhle geschleppt, wo, umgeben von der rohen Sippschaft, unter moralischen Martern und tödlichen Entbehrungen, die arme, verzärtelte, an tausend geistige Bedürfnisse gewöhnte Pariserin, wie ein Fisch außer dem Wasser, wie ein Vogel unter Fledermäusen, wie eine Blume unter limousinischen Bestien elendlich dahinsterben und vermodern mußte! Ist das nicht ein Meuchelmord, und war hier nicht Notwehr zu entschuldigen? – So sagen die Verteidiger, und sie setzen hinzu: Als das unglückliche Weib sah, daß sie gefangen war, eingekerkert in der wüsten Karthause, welche Glandier heißt, bewacht von der alten Diebesmutter, ohne gesetzliche Rettungshilfe, ja gefesselt durch die Gesetze selbst – da verlor sie den Kopf, und zu den tollen Befreiungsmitteln, die sie zuerst versuchte, gehört jener famöse Brief, worin sie dem rohen Gatten vorlog, sie liebe einen andern, sie könne ihn nicht lieben, er möge sie also loslassen, sie wolle nach Asien fliehen, und er möge ihr Heiratsgut behalten. Die holde Närrin! In ihrem Wahnsinn glaubte sie, ein Mann könne mit einem Weibe nicht leben, welches ihn nicht liebe, daran stürbe er, das sei der Tod . . . Da sie aber sah, daß der Mann auch ohne Liebe leben konnte, daß ihn Lieblosigkeit nicht tötete, da griff sie zu purem Arsenik . . . Rattengift für eine Ratte! – Die Männer der Jury von Tulle scheinen ähnliches gefühlt zu haben, denn sonst wäre es nicht zu begreifen, weshalb sie in ihrem Verdikt von Milderungsgründen sprachen. So viel ist aber gewiß, daß der Prozeß der Dame von Glandier ein wichtiges Aktenstück ist, wenn man sich mit der großen Frauenfrage beschäftigt, von deren Lösung das ganze gesellschaftliche Leben Frankreichs abhängt. Die außerordentliche Teilnahme, die jener Prozeß erregt, entspringt aus dem Bewußtsein eignen Leids. Ihr armen Frauen, ihr seid wahrhaftig übel dran. Die Juden in ihren Gebeten danken täglich dem lieben Gott, daß er sie nicht als Frauenzimmer zur Welt kommen ließ. Naives Gebet von Menschen, die eben durch Geburt nicht glücklich sind, aber ein weibliches Geschöpf zu sein für das schrecklichste Unglück halten! Sie haben recht, selbst in Frankreich, wo das weibliche Elend mit so vielen Rosen bedeckt wird.