Heinrich Heine
Lutetia
Heinrich Heine

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IV.

Paris, den 30. April 1840.

»Erzähle mir, was du heute gesät hast, und ich will dir voraussagen, was du morgen ernten wirst!« An dieses Sprichwort des kernichten Sancho dachte ich dieser Tage, als ich im Faubourg Saint Marceau einige Ateliers besuchte und dort entdeckte, welche Lektüre unter den Ouvriers, dem kräftigsten Teile der untern Klasse, verbreitet wird. Dort fand ich nämlich mehr neue Ausgaben von den Reden des alten Robespierre, auch von Marat's Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte des Cabet, Cormenin's giftige Libelle, Baboeuf's Lehre und Verschwörung von Buonarotti, Schriften, die wie nach Blut rochen; – und Lieder hörte ich singen, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen, und deren Refrains von der wildesten Aufregung zeugten. Nein, von den dämonischen Tönen, die in jenen Liedern walten, kann man sich und unserer zarten Sphäre gar keinen Begriff machen; man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z. B. in jenen ungeheuren Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden, und die halbnackten, trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf dem dröhnenden Amboß. Solches Accompagnement ist vom größten Effekt, sowie auch die Beleuchtung, wenn die zornigen Funken aus der Esse hervorsprühen. Nichts als Leidenschaft und Flamme!

Eine Frucht dieser Saat droht aus Frankreichs Boden früh oder spät die Republik hervorzubrechen. Wir müssen in der Tat solcher Befürchtung Raum geben; aber wir sind zugleich überzeugt, daß jenes republikanische Regiment nimmermehr von langer Dauer sein kann in der Heimat der Koketterie und der Eitelkeit. Und gesetzt auch, der Nationalcharakter der Franzosen wäre mit dem Republikanismus ganz vereinbar, so könnte doch die Republik, wie unsere Radikalen sie träumen, sich nicht lange halten. In dem Lebensprinzip einer solchen Republik liegt schon der Keim ihres frühen Todes; in ihrer Blüte muß sie sterben. Gleichviel von welcher Verfassung ein Staat sei, er erhält sich nicht bloß und allein durch den Gemeinsinn und den Patriotismus der Volksmasse, wie man gewöhnlich glaubt, sondern er erhält sich durch die Geistesmacht der großen Individualitäten, die ihn lenken. Nun aber wissen wir, daß in einer Republik der angedeuteten Art ein eifersüchtiger Gleichheitssinn herrscht, der alle ausgezeichneten Individualitäten immer zurückstößt, ja unmöglich macht, und daß also in Zeiten der Not nur Gevatter Gerber und Wursthändler sich an die Spitze des Gemeinwesens stellen werden. Durch dieses Grundübel ihrer Natur müssen jene Republiken notwendigerweise zugrunde gehen, sobald sie mit energischen und von großen Individualitäten vertretenen Oligarchien und Autokratien in einen entscheidenden Kampf geraten. Daß dieses aber stattfinden muß, sobald in Frankreich die Republik proklamiert würde, unterliegt keinem Zweifel.

Das bedeutendste Organ der Republikaner ist die »Revue du progrès.« Louis Blanc, der Redakteur en chef, ist unstreitig ein ausgezeichneter Kopf, oder vielmehr ein ausgezeichnetes Köpfchen. Von Statur ist er sehr klein, sieht fast aus wie ein Schuljunge, kleine rote Bäckchen, fast gar kein Bart; aber mit dem Geiste überragt er die meisten seiner Parteigenossen, und sein Blick dringt tief in die Abgründe, wo die sozialen Fragen nisten und lauern. Er ist ein Mann, der eine große Zukunft hat, denn er begreift die Vergangenheit. Er ist, wie gesagt, ein ausgezeichneter Kopf, und ich habe mich nicht sehr verwundert, als ich diese Woche von der Dissidenz erfuhr, die zwischen ihm und seinen republikanischen Mitredaktoren ausgebrochen. Louis Blanc hatte nämlich, bei Gelegenheit des »Vautrin« von Balzac, unumwunden erklärt, daß die Theaterzensur notwendig sei. Empört durch solchen greuelhaften Ausspruch, solche antijakobinische Ketzerei, haben sich Felix Pyat und Auguste Luchet von der Redaktion der »Revue du progrès« losgesagt. Beide sind nicht bloß Männer von ehrenvollem Charakter, sondern auch Schriftsteller von großem Talent; vor einigen Jahren schrieben sie gemeinsam ein Drama, welches von der Theaterzensur unterdrückt wurde.

Während die Friedenszeit, deren wir jetzt genießen, sehr günstig ist für die Verbreitung der republikanischen Lehren, löst sie unter den Republikanern selbst alle Bande der Einigkeit; der argwöhnische Geist dieser Leute muß durch die Tat beschäftigt werden, sonst gerät er in spitzfindige Diskussionen und Zwistreden, die in bittere Feindschaften ausarten. Sie haben wenig Liebe für ihre Freunde und sehr viel Haß für diejenigen, die durch Gewalt des fortschreitenden Nachdenkens sich einer entgegengesetzten Ansicht zuneigen. Mit einer Beschuldigung des Ehrgeizes, wo nicht gar der Bestechlichkeit, sind sie alsdann sehr freigebig. In ihrer Beschränktheit pflegen sie nie zu begreifen, daß ihre früheren Bundesgenossen manchmal durch Meinungsverschiedenheiten gezwungen werden, sich von ihnen zu entfernen. Unfähig, die rationellen Gründe solcher Entfernung zu ahnen, schreien sie gleich über pekuniäre Motive. Dieses Geschrei ist charakteristisch. Die Republikaner haben sich nun einmal mit dem Gelde aufs feindseligste überworfen; alles, was ihnen Schlimmes begegnet, wird dem Einfluß des Geldes zugeschrieben; und in der Tat, das Geld dient ihren Gegnern als Barrikade, als Schutz und Wehr, ja das Geld ist vielleicht ihr eigentlicher Gegner, der heutige Pitt, der heutige Koburg, und sie schimpfen darauf in altsanskulottischer Weise. Im Grunde leitet sie ein richtiger Instinkt. Von jener neuen Doktrin, die alle sozialen Fragen von einem höheren Gesichtspunkte betrachtet und von dem banalen Republikanismus sich ebenso glänzend unterscheidet, wie ein kaiserliches Purpurgewand von einem grauen Gleichheitskittel, davon haben unsere Republikaner wenig zu fürchten; denn wie sie selber, ist auch die große Menge noch entfernt von jener Doktrin. Die große Menge, der höhere und niedere Plebs, der edle Bürgerstand, der bürgerliche Adel, sämtliche Honoratioren der lieben Mittelmäßigkeit, begreifen ganz gut den Republikanismus – eine Lehre, wozu nicht viel Vorkenntnisse gehören, die zugleich allen ihren Kleingefühlen und Verflachungsgedanken zusagt, und die sie auch öffentlich bekennen würden, gerieten sie nicht dadurch in einen Konflikt – mit dem Gelde. Jeder Taler ist ein tapferer Bekämpfer des Republikanismus, und jeder Dukaten ein Achilles. Ein Republikaner haßt daher das Geld mit großem Recht, und wird er dieses Feindes habhaft, ach! so ist der Sieg noch schlimmer als eine Niederlage; der Republikaner, der sich des Geldes bemächtigte, hat aufgehört, ein Republikaner zu sein! Er gleicht dann jenem österreichischen Soldaten, welcher ausrief: »Herr Korporal, ich habe einen Gefangenen gemacht!« aber, als der Korporal ihn seinen Gefangenen herbeiführen hieß, die Antwort gab: »Ich kann nicht, denn er läßt mich nicht los.«

Wie die Sympathie, die der Republikanismus erregt, dennoch durch die Geldinteressen beständig niedergehalten wird, bemerkte ich dieser Tage im Gespräche mit einem sehr aufgeklärten Bankier, der im größten Eifer zu mir sagte: »Wer bestreitet denn die Vorzüge der republikanischen Verfassung? Ich selber bin manchmal ganz Republikaner. Sehen sie, stecke ich die Hand in die rechte Hosentasche, worin mein Geld ist, so macht die Berührung mit dem kalten Metall mich zittern, ich fürchte für mein Eigentum, und ich fühle mich monarchisch gesinnt, stecke ich hingegen die Hand in die linke Hosentasche, welche leer ist, dann schwindet gleich alle Furcht, und ich pfeife lustig die Marseillaise, und ich stimme für die Republik!« – Der aufgeklärte Bankier, der mir dieses sagte, ist weder der große Baron von Rothschild, noch der kleine Herr Königswarter; kaum bedürfte es noch dieser besondern Bemerkung, da ersterer, wie jeder weiß, so viel Geld hat, daß seine beiden Taschen davon voll sind, während der andere zu wenig Geist hat, als daß er irgend zu erklären wüßte, warum er zwanzig Mal des Tags abwechselnd Royalist und Republikaner ist.

Wie die Republikaner sind auch die Legitimisten beschäftigt, die jetzige Friedenszeit zur Aussaat zu benutzen, und besonders in den stillen Boden der Provinz streuen sie den Samen, woraus ihr Heil erblühen soll. Das meiste erwartet sie von der Propaganda, die durch Erziehungsanstalten und Bearbeitung des Landvolks die Autorität der Kirche wieder herzustellen trachtet. Mit dem Glauben der Väter sollen auch die Rechte der Väter wieder zu Ansehen kommen. Man sieht daher Frauen von der adligsten Geburt, die gleichsam als Ladies patronesses der Religion ihre devoten Gesinnungen zur Schau tragen, überall Seelen für den Himmel anwerben, und durch ihr elegantes Beispiel die ganze vornehme Welt in die Kirchen locken. Auch waren die Kirchen nie voller als letzte Ostern. Besonders nach Saint-Roche und Notre Dame de Lorette drängte sich die geputzte Andacht; hier glänzten die schwärmerisch schönsten Toiletten, hier reichte der fromme Dandy das Weihwasser mit weißen Glacéhandschuhen, hier beteten die Grazien. Wird dies lange währen? Wird diese Religiosität, wenn sie die Vogue der Mode gewinnt, nicht auch dem schnellen Wechsel der Mode unterworfen sein? Ist diese Röte ein Zeichen der Gesundheit? . . . Der liebe Gott hat heute viel' Besuche, sagte ich vorigen Sonntag zu einem Freunde, als ich den Zudrang nach den Kirchen bemerkte. »Es sind Abschiedsvisiten« – erwiderte der Ungläubige.

Die Drachenzähne, welche von Republikanern und Legitimisten gesäet werden, kennen wir jetzt, und es wird uns nicht überraschen, wenn sie einst als geharnischte Kämpen aus dem Boden hervorstürmen und sich untereinander würgen, oder auch miteinander fraternisieren. Ja, letzteres ist möglich; gibt es doch hier einen entsetzlichen Priester, der durch seine blutdürstigen Glaubensworte die Männer des Scheiterhaufens mit den Männern der Guillotine zu verbinden hofft.

Unterdessen sind alle Augen auf das Schauspiel gerichtet, das auf Frankreichs Oberfläche durch mehr oder minder oberflächliche Akteure tragiert wird. Ich spreche von der Kammer und dem Ministerium. Die Stimmung der ersteren sowie die Erhaltung des letzteren ist gewiß von der größten Wichtigkeit, denn der Hader in der Kammer könnte eine Katastrophe beschleunigen, die bald näher, bald ferner zu treten scheint. Einem solchen Ausbruch so lange als möglich vorzubeugen, ist die Aufgabe unserer jetzigen Staatslenker. Daß sie nichts anders wollen, nichts anders hoffen, daß sie die endliche »Götterdämmerung« voraussehen, verrät sich in allen ihren Handlungen, in allen ihren Worten. Mit fast naiver Ehrlichkeit gestand Thiers in einer seiner letzten Reden, wie wenig er der nächsten Zukunft traue, und wie man von Tag zu Tag sich hinfristen müsse; er hat ein feines Ohr und hört schon das Geheul des Wolfes Fenris, der das Reich der Hela verkündigt. Wird ihn die Verzweiflung über das Unabwendbare nicht mal plötzlich zu einer allzu heftigen Handlung hinreißen? Seine Gegner flüstern sich dergleichen ins Ohr. Hingegen seine Freunde bemerken an ihm eine täglich zunehmende Milde. Der Mann lebt im Gefühl seiner ernsthaften Pflichten, seiner Verantwortlichkeit gegen Mitwelt und Nachwelt, und er wird dem Tumult der Tagesleidenschaften immer die kluge Ruhe des Staatsmannes entgegensetzen.


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