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17.

.Ich eilte, so rasch ich konnte, fort und ging zu Hause ruhelos durch die Zimmer; es war so einsam hier, nur Minka schritt hinter mir her und sah mich an, als wollte sie fragen, wo denn ihre Herrin sei?

Ich wäre so gern, so gern drüben geblieben bei seiner Mutter! Und wie die Dunkelheit herabsank, da hielt ich es nicht mehr aus, und wieder lief ich hinüber nach der Villa. Ferras Fenster waren hell erleuchtet. Im Vestibül kam mir Frau von Demphoffs Mädchen die Treppe herab entgegen.

»Wie steht es oben?« fragte ich sie.

»Schlecht, gnädiges Fräulein; sie phantasiert und schreit, daß man es durchs ganze Haus hört; der Herr Doktor bleibt die Nacht hier, und eine Diakonissin sitzt am Bette. Gehen Sie nicht hinauf, Frau Berka hat befohlen. Sie unter keinen Umständen einzulassen.«

Betrübt wandte ich mich um. Sollte ich wieder zurück ins Kloster? Nein, das ging nicht, ich mochte nicht allein bleiben. Und ehe ich recht wußte, was ich that, stand ich in der eleganten Entree zu Ferras Wohnung. Es war warm und behaglich in dem kleinen, hellblau dekorierten Raume; zierliche Sessel standen um ein Marmortischchen, ein dicker, blumendurchwebter Teppich bedeckte den Boden, und die in den Zimmerecken gruppierten prächtigen Blattpflanzen und Azaleen, aus deren üppigem Laube Marmorfiguren ihre weißen Arme emporstreckten, waren übergossen von dem matten Schein der unter der Decke schwebenden Ampel.

Ich machte große Augen. Es war das erste Mal, daß ich Ferras Witwenasyl betrat, das erste Mal, daß ich einen Blick that in die luxuriösen Gemächer einer verwöhnten jungen Modedame. Bei Charlotte sah es so ganz anders aus; so einfach, so mädchenhaft war ihre Wohnstube mit den rosengeblümten Cretonnemöbeln, dem Nähtischchen am Fenster und dem blumengeschmückten Balkon, von dem die kleinen Vögel so zutraulich bis auf die Schwelle des Zimmers hüpften, um sich die dort hingelegten Bröckchen zu holen.

Schüchtern ging ich hinüber und pochte an die Thür, hinter welcher ich Ferra sprechen hörte.

»Mama, es klopft!« rief Kurts Stimme, und im nächsten Augenblicke öffnete ein ungeschicktes Kinderhändchen mühsam die Thür.

»Darf ich eintreten?« fragte ich. Ich meinte, Ferra sitze traurig in der Sofaecke und weine vor Angst um die kranke Mutter, wie ich es gethan vor nicht langer Zeit. Verwirrt blieb ich stehen, es war ein Bild zum Malen da vor mir, aber es paßte nicht in das Haus, in welchem ein Menschenleben mit dem Tode rang. Dort drüben auf der Chaiselongue, die quer vor den Kamin geschoben war, lag Ferra; sie hatte einen weißen Kaschmirschlafrock an und die wundervollen blonden Haare hingen aufgelöst und golden bis auf den grünen Smyrnateppich herab; sie hielt eine Karte hoch empor in der Hand, die weiten Aermel waren zurückgeglitten und der volle Arm erschien so marmorweiß, wie der einer Statue; es lag ein schelmischer Ausdruck auf dem schönen Gesichte und offenbar belustigt sah sie unter den langen Wimpern zu dem jungen Mädchen hinab, das vor ihr kniete und ihr bittend die feinen Hände entgegenstreckte.

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Sie hielt eine Karte hoch in der Hand.

Sie sahen mich nicht, die beiden, denn Ferra rief eben wieder: »Gib dir keine Mühe, Melanie, ich zeige es dir doch nicht; lieber nimm die Proben von Gerson; sieh sie einmal durch und rate mir –«

»Mama, Lena ist da!« unterbrach jetzt der kleine Junge die Scene und zupfte energisch an dem blonden Haar; Ferra fuhr rasch empor und sah mich verwundert an.

»Ich bitte Sie, Lena, was gibt's?« fragte sie. »Ist etwas passiert?« Auch die junge Dame hatte sich erhoben und stand neben der Chaiselongue, mich ebenfalls erstaunt betrachtend. Sie war im knappen Reitkleide, eine schlanke prächtige Figur mit einem regelmäßigen bleichen Gesichte, aus dem ein Paar fast melancholische braune Augen blickten.

»Nichts, Ferra,« stotterte ich; »verzeihen Sie, daß ich störe, aber ich hatte solche Bange allein in dem alten Kloster.«

»Ja, lieber Schatz,« erwiderte Ferra gedehnt, »ich kann Sie doch unmöglich hier einquartieren? Da Tante sich einmal so opferfreudig bei Mama installiert hat, so müssen Sie nun auch sehen, wie es geht.«

»O nein, Ferra!« rief ich und warf den Kopf zurück, »so war es nicht gemeint; ich glaubte, Sie ängstigten sich um Ihre Mutter, und da wollte ich Ihnen ein einsames Stündchen zu vertreiben helfen und auch mir; und wenn ich hier bin, kann ich ja doch öfter fragen, wie es oben steht?«

»Meine Cousine, Magdalene von Demphoff,« berichtete jetzt Ferra auf den fragenden Blick der jungen Dame. »Fräulein von Stelten.«

»Aber, beste Ferra,« warf diese ein, »was bist du für ein wunderliches Menschenkind! Da sprengst du mich in dem Wetter anderthalb Meilen weit her und hast doch die niedlichste Gesellschaft, die man sich wünschen kann! Sieh doch nur, Ferra, ganz der Typus wie Allenbergs Zigeunermädchen, das in der Ausstellung jetzt Furore macht!«

Ferra zuckte ungeduldig die Achseln. »Wenn du hier bleiben willst, Lena, so schließ' wenigstens die Thür, durch die du hereingekommen bist.«

»Nun, freilich bleibt sie hier!« bestimmte Melanie von Stelten. »Kommen Sie, kleines Fräulein von Demphoff, ich muß im Augenblick fort; und du darfst nicht allein sein, Ferra.«

»Willst du wirklich nicht bleiben, Melanie?«

»Sicher nicht; ich habe zu Hause keinem Menschen gesagt, wohin ich geritten bin. Hörst du?« Sie neigte den Kopf zum Fenster; »dort kommt Jean mit den Pferden.« Sie ergriff ein zierliches Filzhütchen, drückte es kokett auf die braunen Flechten und zog eine pelzverbrämte Samtjacke an.

»Leb wohl, Ferra mia,« sagte sie und schlang den Arm um den Nacken der jungen Frau in dem weißen Kaschmirkleide; »sobald ich kann, komme ich wieder nachfragen, wie es deiner Mutter geht; bis dahin wünsche ich von Herzen, daß es sich stündlich zur Besserung wende. Weiß dein Bruder von der Erkrankung? Kommt er?«

»Ja, mein Gott!« rief Ferra und erwiderte den Kuß der frischen Lippen, die flüchtig ihre Stirn berührten. »Ich hatte die Depesche an ihn ja schon fertig, aber da riß der Medizinalrat sie mir förmlich aus der Hand – nun ich wasche meine Hände –; Gerhard wird sehr böse sein.«

»Aengstige dich nicht,« erwiderte Melanie, »der alte Herr kann ja wohl beurteilen, ob und wann Gerhards Gegenwart nötig ist, er wird Rücksicht nehmen wollen auf ihn und auf Charlotte.«

Sie waren bei diesen Worten bis zur Thür gekommen und Melanie von Stelten beugte sich zu Kurt hinunter. »Adieu, mein Junge,« sagte sie und strich über die blonden Locken des Kindes. In der geöffneten Thür blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zurück. »Adieu, Fräulein von Demphoff,« klang es freundlich, »sicher habe ich die Freude, Sie öfter hier zu sehen; und wenn Sie eine Spazierfahrt nach Nissen hinüber machen, so lassen Sie nicht bei uns vorbeifahren.«

Noch ehe ich danken konnte, hatte sich die Thür hinter den beiden schlanken Gestalten geschlossen, denen sich der Kleine eilig nachdrängte, und ich stand allein in dem Salon der jungen Frau. Ueberall tiefes, dunkles Grün, wohin man sah, wie weicher Waldesgrund; riesige Farnkräuter durchwoben den Teppich, der das ganze Zimmer bedeckte; zierliche Tischchen hie und da neben einem schwellenden Sessel; dort ein trauliches Sofaplätzchen für zwei in einer wahrhaft südlichen Palmengruppe, daneben ein Schreibtisch mit tausend zierlichen Nippes, und darüber die lebensgroße Photographie eines stattlichen Offiziers in geschnitztem Goldrahmen. In der gegenüberliegenden Ecke aber prangte auf einer Staffelei aus dunklem Holze Joachims Porträt.

Ich trat hinzu und betrachtete das schöne Gesicht, aber als ich näher hinsah, fiel mir wieder der wüste, leere Ausdruck der schwarzen Augen auf, und leise, wie mißbilligend, schüttelte ich den Kopf.

»Nun?« fragte Ferras Stimme hinter mir.

Ich wandte mich um. »Ich gehe gleich,« sagte ich trotzig, »ich wollte nur erst Fräulein von Stelten fortlassen –«

»Mein Gott, weshalb denn so eilig? Trinken Sie doch den Thee mit mir, ich habe ihn um acht Uhr bestellt; ich bin natürlich müde von der Reise. – Apropos, wie gefiel Ihnen denn Melanie von Stelten?« Sie sprach das leichthin und führte ihren Knaben sorglich an der Hand bis zum Nebenzimmer, dessen Thür sie öffnete.

»Mademoiselle!« rief sie mit ihrer klingenden Stimme, »Kurt ist müde, bringen Sie ihn zu Bette,« und flüchtig das Kind küssend, kam sie zurück. »Ist sie nicht allerliebst?« vollendete sie.

»Ja, ich finde sie reizend, so einfach und so freundlich,« stimmte ich bei.

Ferra nickte. »Gewiß,« sagte sie nachlässig. »Sie ist auch die einzige, die ich gern als Schwägerin nehme, wenn es denn nun einmal eine Schwägerin sein muß

Hatte ich denn recht gehört? Meine Hand fuhr plötzlich nach dem Herzen; es war ja, als ob sich dort ein scharfes, spitziges Eisen hineingebohrt hätte; nie hatte ich verstanden, mich zu verstellen, und den beiden großen Augen, die so durchdringend unter den langen Wimpern hervorsahen, konnte es unmöglich entgehen, daß ich, wie von einem Schwindel erfaßt, gleichsam in einen bodenlosen Abgrund schaute, der sich so urplötzlich zu meinen Füßen aufgethan.

»Sie sehen ja ganz konsterniert aus, Lena? Ja, unverhofft kommt oft, und Italien zeitigt Früchte, die hier nie und nimmer zur Reife gekommen wären. Melanie war sechs Wochen in Venedig und Rom mit ihrer Tante, und fast täglich mit Gerhard und Lottchen zusammen; hat Ihnen Charlotte nichts davon geschrieben?« schaltete sie fragend ein. »Nein? Das ist recht, man muß auch vorher nie zu viel von solchen Dingen sprechen.«

Wie aus weiter Ferne klangen diese Worte an mein Ohr; es war so still auf einmal in mir geworden, daß ich fast vor meiner eigenen Stimme erschrak, die so eigentümlich fremd durch das Gemach klang.

»Ich freue mich sehr, daß Gerhard eine so hübsche, liebe Frau – –« Das letzte Wort wollte nicht mehr über die Lippen; ich biß die Zähne zusammen wie bei heftigen körperlichen Schmerzen, und schwieg.

»Und nebenbei eine halbe Million, und das ist die Hauptsache, mein Kind –«

»Nein, Ferra!« rief ich jetzt, »für Gerhard sicher nicht!«

Sie lachte hell auf. »Sie Närrchen,« sagte sie dann, »glauben Sie, Gerhard würde so thöricht sein und seinem Etat noch eine arme Frau aufbürden? Denken Sie doch, was da alles lebt und gefüttert sein will auf Wendhusen? Da wohnt Mama, die ihr Privateinkommen an Joachims Extravaganzen verschwendet hat; da bin ich, deren Kapital längst nicht mehr existiert, als höchstens noch in einigen Schuldscheinen, auf die ich doch nichts bekommen würde, selbst wenn ich die Herren Kameraden Riedingens mahnen wollte. – Pfui!« sagte sie, sich schüttelnd; »da ist Kurt und Tante Edith, da ist ferner ein ganzes Heer armer Verwandter, die sich an Gerhard hängen wie die Kletten – was soll er machen, der Aermste? Nicht einmal ledig zu bleiben gestattet ihm seine pekuniäre Lage, enfin – er sucht sich eine reiche Frau; Gott sei Dank, daß es wenigstens Melanie ist!«

»Er liebt sie nicht, Ferra!« stammelte ich.

»Kind, Liebe? Natürlich liebt er sie, jedermann thut es ja selbstverständlich brennend, wenn er um ein schönes, reiches Mädchen wirbt, und wie gesagt, reich muß sie sein! Oder meinen Sie, Kind,« – sie nahm einen Brief vom Tische und reichte ihn mir herüber – »daß der tiefste Brunnen nicht endlich leer wird, wenn man auf diese Weise aus ihm schöpft?«

Ich warf einen unsichern Blick auf das Papier, aber dann hafteten meine Augen fest auf einer Stelle; es war ein Schreiben meines Vormundes an Gerhard, die Bitte enthaltend, hundertundfünfzig Thaler, die sich meine Mutter während ihrer letzten Lebenstage von ihrem Hauswirt geliehen, zurückzuerstatten; der Mann sei nicht in der Lage, das kleine Kapital länger entbehren zu können.

»Ferra – entschuldigen Sie, wenn ich gehe,« sagte ich mühsam und wandte mich der Thür zu; das Zimmer und alles, was drinnen, tanzte im wirbelnden Kreise vor meinen Augen; wie taumelnd schritt ich über den weichen Teppich, und so ging ich in der kalten Abendluft durch die dunklen Parkwege. Ueber mir rauschte der Sturm und schlug die Zweige zusammen, er nahm das Tuch, das ich über den Kopf geschlagen, ich merkte es nicht; noch heute weiß ich nicht, wie ich in mein Zimmer gelangte und mich im Dunkeln bis zu meinem Bette tastete. Und dort lag ich nun in der tiefen Stille und kam mir so elend, so verlassen vor, wie noch nie in meinem Leben.

Das erste klare Gefühl war eine brennende Scham über meine thörichten Träume, in die ich mich gewiegt; wie war es auch nur möglich gewesen, Vetter Gerhards Mitleid für etwas anderes zu halten? Die schöne Dame in dem knappen Reitkleide tauchte vor meinen Augen auf und daneben das kleine, braune, kaum erwachsen scheinende Mädchen; o, wie ich mich schämte! Er mußte ja aus jeder Zeile meines Briefes herausgelesen haben, daß ich nur an ihn gedacht!

Deshalb schrieb er auch nicht, wie er versprochen; er mochte gar keine Zeit, keine Gedanken gehabt haben an etwas anderes; erst jetzt, nun sie wieder in Deutschland war, hatte er Sehnsucht nach Wendhusen. Und dann sah ich seine Augen, hörte ich seine weiche Stimme, hatte er doch selbst Tante die Sorge für mein Wohl auf die Seele gebunden! Alles nur Mitleid mit der Waise, die ihm zur Last gefallen! Er war ja so gutmütig, wie Ferra sagte.

Und wenn er sie nicht liebte? Wenn er wirklich nur um sie freite, weil er eine reiche Frau –? Entsetzlich! Und Georg und ich, wir halfen noch dazu durch unsere kostspielige Gegenwart. Und dann die Schulden von Mama – o, ich konnte mir es wohl denken, wie es gekommen. Sie hatte so lange nicht arbeiten können, der Winter war vor der Thür, da mußten Kohlen gekauft werden und Holz; ja, ja, so war es. O, Mutter, Mutter, hätten wir doch lieber gefroren, als heute, jetzt diesen Brief in Ferras Händen, die nie gewußt, was es heißt, frieren oder hungrig zu Bette gehen! Und wie oft hatte meine arme Mutter dies gethan. Wenn sie wüßte, daß jetzt doch die Wendhusener helfen mußten, weil sie nicht anders konnten; sie, die lieber gedarbt, ehe sie an dieser Stelle gebeten hätte!

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Ich setzte mich hoch im Bette auf. »Nein,« sagte ich halblaut, »es geht nicht so, lieber unter wildfremden Menschen, nur fort von hier; ich kann selbst für mich sorgen, Mademoiselle bei Ferra ist auch nicht stärker als ich und ist es ebenfalls im stande. Hier kann ich nicht bleiben, es drückt mich tot. – So gut auch Gerhard ist, ich will sein Mitleid nicht, ich brauche es nicht.«

Mit vor Aufregung bebenden Händen zündete ich Licht an und ging in Tantes Zimmer hinüber, schlug die Zeitung auseinander und suchte unter den Annoncen. Ein finsterer Trotz war über mich gekommen; ohne eine Thräne überflog mein Auge die Spalten. Meistens waren es Damen, welche eine Stelle suchten: »Eine alleinstehende, gebildete Dame sucht Stellung als Repräsentantin«; »Eine christliche Jungfrau wünscht sich der Krankenpflege zu widmen«; »Ein älteres, erfahrenes Mädchen als Stütze der Hausfrau«; – so ging es weiter. Welch eine Ueberfülle von solchen, die hinaus mußten, um sich im täglichen Kampf ihr Brot zu erwerben!

Mutlos wollte ich das Blatt zurückschieben, da fiel mein Blick auf die letzte der Annoncen: »Gesucht wird zum 1. April für zwei Kinder von fünf und sechs Jahren ein junges Mädchen, das sich gern mit solchen beschäftigt. Es muß der französischen Sprache mächtig sein und so viel musikalische Bildung besitzen, um den ersten Unterricht erteilen zu können. Offerten unter etc.«

Zum 1. April! Das paßte; und ohne mich zu besinnen, holte ich Feder und Tinte und schrieb. Die Buchstaben wurden schlecht und krakelig, in der Aufregung verschrieb ich mich öfter und strich aus, es war kein empfehlenswerter Brief, der da vor mir lag. Aber trotzdem schloß ich ihn, schrieb die Chiffre auf das Couvert und barg ihn in meiner Kommode, denn draußen rauschte jetzt ein mächtiger Regen hernieder und machte den Gang zur Post in der Dunkelheit unmöglich; und Jette durfte den Brief nicht sehen.

In bitterer, trotziger Stimmung ging ich zu Bett, gedemütigt in tiefstem Herzen. Schlaflos, mit glühendem Kopfe lag ich unter dem alten Betthimmel und schaute in die Dunkelheit; stürmisch klopfte das Blut in meinen Adern und die Hände falteten sich fest ineinander. Ich dachte daran, wie ich hergekommen, wie ich zum erstenmal in diesem Bett gelegen, und wie sich ein liebes, altes Frauengesicht so oft zu mir niedergebeugt hatte, um mir den Gutenachtkuß zu geben. – Alles zog vor meinen Augen vorüber: Charlottes süße Freundlichkeit und seine Güte, der liebe, einsame Klostergarten – und nun sollte die Zeit nicht fern sein, wo ich dies alles verlassen mußte!

O, ich wußte, Tante Edith würde traurig sein, wenn ich fortginge, und Charlotte würde weinen; und Gerhard –? Ich meinte seine Stimme zu hören: »Sie sind eine kleine Thörin, Lena, Sie bleiben –« Aber dann würde mein Herz schreien: »Ich will kein Mitleid, wo ich an etwas anderes glaubte; ich kann nicht hier bleiben, weil ich dachte, du habest mich lieb, Gerhard! Ich kann dich nicht sehen neben ihr, neben jener Melanie, die ja tausendmal besser und würdiger ist als ich! Ich müßte sterben, wolltest du das verlangen.«

Aber mein Mund muß schweigen, und ich würde hinausgehen aus diesem Hause, ein störrisches, trotziges, undankbares Geschöpf, nicht wert, daß eine Hand sich ausstreckt, sie zu halten. Nein, es war besser, ich ging, ehe er wiederkam und ehe ich Charlotte gesehen.

O, jetzt verstand ich sie alle, Tante Edith und Charlotte und da drüben jene kranke, fiebernde Frau, sie alle hatten zu leiden gehabt in ihrer Liebe; jetzt verstand ich die jahrelange Bitterkeit von Gerhards Mutter, begriff, daß sie die Frau nicht sehen mochte, die glücklicher liebte als sie. War nicht Charlotte im Vergleich mit mir tausendmal zu beneiden?

Erst gegen Morgen schlief ich eine kurze Zeit und wachte auf von einem Geräusch in Tantes Schlafstube. – Es lag wie ein Alp auf mir, ich konnte mich nicht besinnen, was es sei; da kam mit einem Schlage die Erinnerung, und mit ihr die ganze Bitterkeit zurück.

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Ich saß hoch im Bette und strich mir die wirren Haare aus der Stirn, als sich Tante Ediths bleiches, überwachtes Gesicht um die Thür bog. »Nun, Lena, heute muß ich dich schelten,« sagte sie ernst, »du hast nicht einmal die Katzen gefüttert, die Tiere fielen ja förmlich über mich her; wo hast du deine Gedanken, Kind?« Sie war währenddem an mein Bett gekommen und sah mich an.

»Bist du krank?« fragte sie erschreckt und faßte meine heiße Hand.

Ich schüttelte den Kopf. »O, nein, ganz gesund, Tantchen;« aber dabei fühlte ich eine bleierne Schwere in meinen Gliedern, ich hatte nicht Lust, mich zu rühren.

»Drüben geht es sehr schlecht, Magdalene,« berichtete Tante Edith, mich noch immer mit besorgtem Blicke betrachtend; »ich kam nur her, um ein bequemeres Kleid anzuziehen, ich bin die Nacht nicht einen Augenblick zur Ruhe gekommen; sie sprach und schrie stundenlang; Tine und die Schwester Agnes konnten sie kaum im Bett halten, sie will beständig zu Robert.« Tante Edith wischte sich ein paar große Tropfen aus den Augen. »Nun gebe nur der Himmel, daß du nicht auch krank wirst, mein Liebling. – Mein Gott, wenn nur ihre Kräfte aushalten, bis Gerhard kommt; die Depesche ist fort schon seit dem Morgengrauen.«

»Die Depesche? Gerhard kommt?« schrie ich und wie elektrisiert war ich aus dem Bette gesprungen.

»Lena! Lena! Du bist krank,« behauptete Tante Edith und half meinen zitternden Händen die Kleider anlegen.

»Nein, nein, Tante! Wann kann er hier sein?«

»Uebermorgen abend, Kind.«

»Uebermorgen abend!« Erleichtert atmete ich auf. »Ich bin ganz wohl, Tante,« beruhigte ich die alte Dame, »verlaß dich darauf und ängstige dich nicht; geh hinüber, ich komme ab und zu und frage, wie es steht?«

Sie ging. Grübelnd saß ich in meinem Zimmer. Minka kam herüber geschlichen und sah mich miauend an und rieb sich an meinen Kleidern; sie trug es mir nicht nach, daß ich sie hungern ließ. Ein paar arme Frauen kamen und holten sich die wöchentliche Geldunterstützung. Mit einem halben Seitenblick meinte die eine: »Se grämen seck woll um de gnädige Fru, dat is jo immer noch Tid taun gesund werden; aber gistern hat sek dat schwant bi eer, der Speigel war von'n Nagel fullen.« Und die andere bestätigte kopfnickend: »Ja, un open Hofe schrigt dat Leikenhuhn det Abends kaum taun Uthollen; damals bi den seligen Herrn war dat ok so west. Gottslohn un gode Besserung!«

Mir ist so alles in Erinnerung geblieben aus jenen Tagen, sogar diese kleine Scene.

Mittags ging ich hinüber in die Villa, aber auf Umwegen; ich nahm meinen Weg über den Wirtschaftshof und durch das Dorf. Einen Augenblick zögerte ich am Briefkasten, dann glitt das verhängnisvolle Schreiben hinein. Meine Adresse hatte ich in demselben nicht genannt, sondern die von Christiane; ich war wohl nicht mehr hier, wenn die Antwort anlangte.

Als ich durch die Allee schritt, die direkt zu der Villa führt, sah ich auf dem Kiesplatze zwei Pferde umherführen; das eine trug einen Damensattel, und der kleine Jockey, der zwischen den Tieren ging, warf mitunter scheue Blicke zu den Fenstern des oberen Stockes empor.

Da zuckte es wieder schmerzlich auf in meinem Herzen, sicher war Melanie Stelten hier, um sich nach der schwer erkrankten Mutter Gerhards, ihres Gerhard, zu erkundigen; und als ich eben unter den Bäumen hervortrat, da kam sie mit Ferra langsam um den Rasenplatz gegangen, Arm in Arm; und während Ferra den blonden Kopf gesenkt hielt, schien Melanie ihr freundlich zuzusprechen; der grüne Schleier ihres Hütchens umflatterte mutwillig das feine Gesicht, das heute so rosig wie eine Apfelblüte aussah.

»Nur nicht den Mut verlieren, liebste Ferra,« tönte ihre klare Stimme bis zu mir herüber, »der liebe Gott kann im letzten Augenblick noch helfen.«

Ich verfolgte den Weg auf der andern Seite des Rundells und gelangte, ohne sie bemerken zu müssen, in das Haus. Auf meine Frage: wie es gehe? hieß es: »schlecht, sogar bedenklich!« – Ich ging wieder, was sollte ich hier? Aber ich schritt zu der gegenüberliegenden Thür hinaus. Hier stand im Sommer die Orangerie um das kleine Marmorbecken vor der Freitreppe und auf diesen Platz sahen Charlottes Fenster. Weit schweifte der Blick von dort oben über die Bäume des Parkes hinweg zu den Bergen hinaus, in deren Schoß Haus Fölkerode lag. Ich blieb stehen; was würde wohl aus jenen beiden werden? Wie würden sie nur weiterleben mit der ewigen Sehnsucht im Herzen? – Aber sie wußten es doch wenigstens, daß sie sich liebten; sie hatten es sich aus den Augen gelesen, ihr Mund hatte es ausgesprochen – und ich?

»So in Gedanken, Fräulein von Demphoff?« fragte da eine klare Stimme. Ich fuhr empor; dort stand sie ja, das reizende Gesicht sah mich so freundlich an: »Wissen Sie, daß eben Antwort kam von Ihrem Vetter? er denkt morgen hier zu sein, es ist doch unglaublich rasch; Ferra trägt eben die Depesche hinauf, um sie Frau Berka zu übermitteln. – Gott sei Dank, daß er kommt, denn Ferra hätte sicher den Kopf verloren, wäre das Schlimmste geschehen!« Sie sah betrübt aus bei diesen Worten und die Augen schimmerten feucht. »Ich habe sie hoch verehrt, die arme, kranke Frau dort oben,« fügte sie hinzu, »so barsch und streng sie war, so abweisend sie sich gegen alle verhielt, die sich ihr nähern wollten, die ursprüngliche Herzensgüte schimmerte doch immer durch; sie hat denselben goldechten, ehrlichen Charakter wie Gerhard Demphoff.«

»Ja, Gerhard ist sehr gut,« gab ich leise zu.

Sie lächelte. »Nur gut?« wiederholte sie; »mehr wie das, Fräulein von Demphoff, tausendmal mehr; ich kenne ihn schon so lange als ich denken kann. Er ist ein Mann, wie es wenige gibt, gerade, ehrlich, ein Edelmann, wie er sein soll, und dabei von einer Zartheit und einer Milde – hätten Sie ihn doch neben Charlotte gesehen in Italien.«

»O, ich weiß es, Fräulein von Stelten,« unterbrach ich sie; »niemand hat wohl mehr Grund, seine Güte zu rühmen, wie mein kleiner Bruder und ich – –«

Die junge Dame sah sonderbar scheu zu mir herüber, ich hatte die Worte wohl in einem sie befremdenden Tone gesprochen; sie antwortete nicht und stieß wie spielend ein Steinchen mit der Reitpeitsche von den Granitstufen der Treppe. »Freuen Sie sich nicht, daß Charlotte wiederkommt?« fragte sie dann.

»O gewiß, wenn nur die Veranlassung eine weniger traurige wäre. Sie thut mir so leid; mit welcher Angst mögen sie jetzt fahren?«

»Es lastet schwer auf Wendhusen,« sagte Melanie von Stelten, »jahrelang ist hier keine Freude gewesen; o, ich habe es alles so miterlebt! – Erst der Tod des alten Herrn, dann Gerhards lange, lange Krankheit, Ferras unglückliche Ehe mit Riedingen und sein jähes Ende, das schreckliche Unglück mit Joachim,« – jetzt liefen wirklich große Tropfen aus den braunen Augen – »und heute oder morgen kann die Mutter sterben.«

Sie setzte sich auf einen der breiten Blöcke, die gleichsam das Geländer der Treppe bildeten und im Sommer die Kübel der Orangen- und Granatbäume trugen, und die feinen Nasenflügel bebten in verhaltenem Schmerz.

»Sie liebt ihn!« klang es in meinem Herzen, und ich schritt die Stufen hinunter an ihr vorüber; es that mir so weh in der Brust, ich mußte allein sein. An der Biegung des Weges wandte ich mich um; sie saß dort und schaute mir nach, unbeschreiblich reizend sah sie aus mit der lieblichen Wendung des feinen Kopfes. Sie kann ja nicht dafür. »Pfui, Lena, wie häßlich du bist!« schalt ich mich selbst und ging zu ihr zurück.

.

»Verzeihen Sie, Fräulein von Stelten, ich war unartig und vergaß, adieu zu sagen.« Sie ergriff meine dargebotene Hand und hielt sie fest in der ihren.

»Adieu, Fräulein Magdalena! Es ist nur zu natürlich, daß man in solchen Stunden für die alltäglichen Dinge keinen Sinn hat; auch ich muß heim, aber gegen Abend komme ich wieder, es ist ja so nahe.«

Ich ging, aber nicht nach Hause, immer tiefer hinein in den Park; es war ja heute ein Frühlingstag, so warm und goldig, so wolkenlos und blau, daß man meinen konnte, alle die Knospen der Bäume müßten sich mit einemmal öffnen und sich wie ein grüner Schleier über den Wald breiten. Hoch oben in der blauen Luft flog ein Raubvogel, immer höher und höher zog er seine Kreise, daß er zuletzt wie ein Pünktchen in dem Aether schwamm.

Da flog ein wilder Falke
Hoch über mir dahin,

tönte es in mein Ohr, Charlottes Lied! Da war sie noch glücklich, als sie es sang. Und das Glück war fortgeflogen wie der Falke, es wollte nichts wissen von Wendhusen und den Menschen, die dort wohnten. Leuchtend grün schimmerten die Rasenplätze hervor, und unter Bäumen da wuchs schon allerhand lustiges wildes Zeug, Blätter vom Sauerklee, Anemonen und die weißen Blüten der wilden Schneeglöckchen mit den goldgelben Spitzen. Wie wundervoll mußte hier ein Frühling sein!

Ob wohl Georg noch manchmal kommen durfte, wenn ich fort war? O, gewiß; ich wollte Gerhard bitten, schriftlich; er war ja so gut. Wie aber kam ich fort, ehe er zurückkehrte, morgen – übermorgen? Zu Christiane wollte ich gehen; soviel das Reisegeld betrug, war wohl noch in meinem Koffer – aber wie den weiten Weg nach der Bahnstation? – Gottlieb? – Er führe mich hin, er thäte es vielleicht; ich wollte ihn bitten. Ich konnte ja irgend etwas erfinden, Georg sei krank. – Behüte ihn Gott! widerrief ich leise meine sündhafte Lüge; nein, ich wußte noch nicht was, aber es mußte sich finden, nur fort von hier um jeden Preis.


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