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In seinem Hause, das, vom Dorf eine halbe Stunde entfernt, mit Garten und Gehöft, völlig für sich allein im Ausschnitt eines Kiefernwaldes lag, saß an einem Abend gegen Oktoberende der Dr. Wislizenus vor seinem Tische und las. Sein Dienstmädchen, ein junges, gegen den ortsfremden und in vielen Stücken absonderlichen Herrn noch immer scheues Kind von wenig über fünfzehn Jahren, öffnete die Tür und gab ihre abendliche Meldung ab: »Herr Doktor, ich gehe jetzt.« – »Schön«, sagte er und erhob sich, um nach seiner Gewohnheit hinter dem Mädchen sogleich die Haustür abzuschließen. Er war ein Mann am Ausgang der dreißiger Jahre, mittelgroß und breitschultrig, mit tiefen, trägen und melancholischen Augen in einem Gesicht, dessen luftgesunde Farbe zu seinen überfeinen Zügen in demselben Gegensatz stand wie der kurzgehaltene, aber dichte, braune Bart um Wangen und Kinn; die scharf gezeichnete und dabei nervöse Oberlippe war rasiert.
Er streifte das neben ihm gehende Kind mit einem flüchtigen Blick; ein zarter Busen, ein hübscher Mund, dachte er, und sagte: »Bringen Sie uns morgen einen Liter Milch extra heraus!« Er hatte fast jeden Abend einen Wunsch ähnlicher Art, um nur die Leerheit und Verlegenheit des gleichgültigen Abschiedes in etwas zu mildern. Als sie gegangen war, trat er über die Schwelle, stieg die drei breiten und niedrigen Stufen zum Hof hinab , fröstelte, nahm den ausgestirnten Himmel wahr und fühlte an Brauen und Bart den dichten Nebel, der über dem Erdboden floß. Er ging in das Haus zurück und drehte den Schlüssel in dem elegant und weich federnden Schloß, das er im Sommer hatte anbringen lassen, mit Genuß herum. Zwei winzige Lampen mit offenen, gegen den Luftzug durch kelchartige kleine Gläser geschützten Flämmchen erhellten den Flur mit einem schwachen Schein, der in einem zum Dachgeschoß führenden Treppenschacht bis zur völligen Ohnmacht aufgebraucht wurde. Wislizenus sah gedankenlos aufmerksam in das Glutklümpchen der einen Lampe hinein; je kleiner das Licht, um so mehr Geister zieht es heran. Er durchschritt das Eßzimmer und kam wieder zu seinem mit Büchern und Schriftstücken gedeckten Lesetisch. Er wollte sich setzen, da überkam ihn das Gefühl der Stille.
Er hatte auch vorher die Magd in ihrer Küche nicht gehört, und in die Zimmer kam sie nur auf seinen seltenen Ruf. Doch schien es jetzt, als ob ihre unbehilfliche, stumme, dumpfe Gegenwart sich doch immer wie ein Lärm durch die Mauer geschwungen hätte; nun sie weg war, kreuzte keine Welle von außen in seine Seele hinein. Die Stille schien sich um das Gerüst des Hauses wie eine ungeheure Schwärze dicht zu drängen, dann wegzusinken, und immer weiter weg, so daß das Haus in einem Kreise von etwas stand, was noch geheimnisvoller als Stille war und jenseits erst wieder an sie grenzte. Und dennoch war sie, die magisch weggebannte Stille, unerklärlich wie, in das Zimmer gedrungen, siedete in den dunklen Ecken und suchte in den konzentrischen Kreisen, die über der Lampe an der Decke zitterten, noch eine Verwandlung, noch ein Geheimnis zu erleiden. Die Möbel, ein birkenes Klavier, Kommode und Schrank vom selben Holz, schimmerten wie die Politur alter Italienergeigen. Wislizenus sah sich unwillkürlich um, ob die Fensterläden geschlossen wären.
In diesem Schweigen wurde ihm die Seele leer, nur daß er die Leerheit noch als eine Spannung aus Beängstigung und Ungeduld durch seinen ganzen Körper bis zur Bitterkeit verspürte. Seine Gedanken und Empfindungen, die längst durch jeden Zeugen ihm so unerträglich ins Oberflächliche, Absichtliche und Lügnerische verkehrt wurden, daß er, um sich nicht für immer zu verlieren, Stadt und Menschen hatte fliehen müssen, hier in der Einsamkeit ohne Zeugen getrauten sie sich auf andere Weise nicht ins klare und blieben wesenlos und furchtsam wie Gespenster. Gespenster fürchten den Menschen tiefer als der Mensch sie; und Wislizenus fühlte sich diesen Abend, wie jeden, fast eher gemieden als einsam. Vor einem Menschen hätte er sogleich seine gewohnte Fassung wiedergewonnen; aber wenn er das weiße Fensterkreuz so lange anstarrte, bis es zu einem unbegreifliche Grade vorhanden und sinnlos war, dann überkam ihn ein Verlangen nach etwas, das ihn hier sähe und ihm möglich machte, zu verzweifeln. Kein Mensch und doch ein Zeuge – ohne einen Zeugen lohnte es sich nicht, das Gesicht zu senken und in Tränen auszubrechen.
Er schreckte zusammen, er hörte den letzten Hall eines langen Klirrens vom Flur; immer wieder nur den letzten Hall, sobald er den Kopf aufmerksam zur Seite wandte. Es war eine Täuschung, denn genau entsann er sich, daß er die beiden kleinen Flurlämpchen nicht auf die Steinfliesen geschmettert hatte; erst jetzt, nachträglich, merkte er das Gelüst dazu in seiner tödlichen Ungeduld.
Er atmete sich zweimal tief zur Ruhe und setzte sich, griff zu seinem Buche, einer mathematisch-philosophischen Abhandlung aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Er war kein guter Leser mehr; Stellen, von denen seine eigenen Gedanken sich bestätigt glaubten, erfüllten ihn mit einer so großen Genugtuung, daß er nicht dazu kam, sie auf ihre Wahrheit zu untersuchen, sie fielen dadurch aus ihrem Zusammenhang. Sein auf diese Weise abwechselnd taubes und allzu hellhöriges Verständnis zerriß die ruhige Deduktion des ehrwürdigen Schweizer Gelehrten, und indem seine Art zu lesen nichts mehr von Arbeit an sich hatte, half sie ihm auch nicht die Zeit flüssiger und leichter machen.
Eine Stunde ließ er vorbei, dann ging er an das Abendessen, das im Speisezimmer von der Magd sauber für ihn vorbereitet war: Brot, kaltes Fleisch, in einem geflochtenen, dunklen Korb die ländlich spröden, aber einen ganzen Herbst duftenden Äpfel, und eine Flasche roter Meersburger.
Eben als er sich zum zweitenmal eingoß, glaubte er einen Wagen klappern zu hören; der Weg zu seinem Hause war eine Sackgasse, und wer immer kam, mußte zu ihm wollen. Wirklich hielt das Gefährt vor seiner Tür, und durch das Geknarre des noch ein paarmal träge anratternden Fuhrwerks und den derben Zuruf des Kutschers hindurch erkannte sein empfindlicher Sinn die Stimme seines Freundes, des Dichter Wohlgethan.
Es wurde ihm fast schwach von einer jähen, kalten Wut. Ein Dichter, das war das letzte, was er sich im Bereiche seiner Hände, seiner Stimme und, vor allem, seiner Ohren gewünscht hätte. Aber verurteilt, sich selbst zu beobachten, merkte er im selben Augenblick, daß seine Wut, so echt sie war, doch auch ein wenig gespielt war. Es war da in ihm eine Freude über den Besuch, die er verdecken wollte, eine Freude über die Störung seiner Einsamkeit, eine Befriedigung, daß ein geheimer, beschämender Wunsch ihm erfüllt wurde und er noch obenein darüber grollen durfte.
Als er dann aber hinausging, verwandelte jeder Schritt ihn ins Bürgerliche zurück, so daß er mit der schicklichen Eilfertigkeit den Gast zu empfangen strebte. Er traf ihn eben, als er den Kutscher ablohnte. Die Wagenlaterne hing unter der Deichsel, und von dem braunen, winterzottigen Pferde sah man nur vier Beine und den Leib, und dieses phantastische Ungeheuer ohne Rücken, Hals und Kopf kehrte, mit dem schattenhaften Wagen hinter sich, um und fuhr in die Nacht zurück. Unwillkürlich zeigte Wislizenus mit dem Finger auf die Erscheinung. Wohlgethan, der es bemerkte, fragte, was es gebe. »Toller Spuk«, lautete die Antwort, ohne daß der Dichter gleich wußte, was gemeint war. Dann fesselte der Anblick der immer kleiner werdenden Wolke von Lichtdunst auch ihn, er machte eine Bemerkung darüber, aber seine Ungeduld war nicht mißzuverstehen, und Wislizenus führte ihn ins Haus, indem er ihm nach einem kleinen Kampfe die Reisetasche abzwang. Nur ein Etui aus gelbem, glänzendem Leder und von der Größe eines Lexikons gab er nicht aus der Hand; und als sie im Speisezimmer einander zur erneuten Begrüßung gegenüberstanden, wog er es in der linken Hand dem Freund vor der Nase.
»Ein Manuskript?« fragte Wislizenus.
»Weiser Mann!« rief Wohlgethan heiter, und ahnte nicht, wieviel Besorgnis sich hinter dem erratenden Wort versteckte. »Aber sage mir einmal erst: du bist hier ohne Bedienung, wie ich sehe; und ich mache dir Umstände?« Wislizenus wies jeden Versuch, ihn zu entlasten, sogleich herzlich und bestimmt zurück, und es wurde ihm davon mit einem Schlage wärmer und wohler. »Soll ich uns einen Tee brauen?« fragte er, »wie in alten Zeiten, mit Rotwein und einem Schuß Mandarinenarrak?«
Wohlgethan ließ es sich gefallen, und während der Freund aus einem großen eichenen Eckschrank, ab und zu gehend, das Gerät und aus der Küche Wasser auf den Tisch holte, knotete er schon an seinem Lederetui. »Du kannst dir denken«, hub er an, »daß ich dich mit etwas Zweideutigem, Fragwürdigem überfalle. Würde ich dich sonst überfallen? Ich brauche deinen Rat; mehr noch: deinen Zuspruch.«
»Wie, wenn es aber ein Abspruch wird?« warf Wislizenus ein und regulierte die Flamme am Spirituskocher.
»Nun, dann werde ich, wie immer, auf dich hören – oder nicht. Ich bin nämlich vor allem besorgt um die Originalität meiner Arbeit. Ich bin in der Hölle, im Fegefeuer und im Paradies gewesen und schreibe ein Epos darüber, nichts Geringeres, mein Lieber.«
»Ich nehme an, du spricht von einer modernen Hölle nebst den weiteren Stationen, und also von einem modernen Epos?«
»Das versteht sich; nichtsdestoweniger wird mir die Kritik, vielleicht auch schon die frühere Instanz, den Dante vorhalten!«
»Den Dante – - so so! Aber darum keine Sorge, lieber Wohlgethan: auch Dante ist nicht an einem Tage vom Himmel gefallen, auch er hatte Vorgänger, auch er war ein Plagiator.«
Wohlgethan rückte sich befriedigt die Weste zurecht, und nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, drängte er förmlich ins Nebenzimmer.
Der Dichter begann seine Vorlesung, anfänglich mit den kleinen Störungen und Unterbrechungen, die bei jedem natürlich sind, der einen leiblichen, bürgerlichen Menschen in eine Phantasiewelt führt und sich bald vor dieser, bald vor jenem ein wenig schämt. Dann wurde er fester, und die harte Fassung seiner Strophen und die Schärfe des Ausdrucks beschwichtigten seinen Argwohn, daß man seine Begeisterung vielleicht für gelegentlich und seinen mystischen Flug für Spielerei halten könnte.