Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

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2

Der erste Gesang dieses neuen Epos enthielt die Schilderung einer Pest, die eine kleine Fürstenstadt mit ihrer stinkenden Geißel zerschlägt. Der Dichter begann mit einer allgemeinen Anrufung an die Urfeindin der Menschheit in einem apokalyptischen Stil, ging allmählich ins einzelne über, zeigte das verheerte Land, die verödeten Dörfer, die brennenden Scheiterhaufen, und behandelte dann den ersten Pestfall in der Residenz als ein grausig tragisches Idyll, indem er die Seuche zuerst in der Vorstadt einen alten Handelsgärtner mitten in der Versorgung seiner Beete und Glashäuser befallen ließ. Die schöne, jugendliche Tochter des Gärtners, von ihrer Mutter früh verwaist, sieht den Alten dahinsinken, sie eilt zu ihm, hebt ihn mit der Kraft der erbarmungsvollsten Güte auf ihre Arme, um ihn in das Haus zu tragen. Vor der Schwelle bricht sie unter ihrer Last, aber noch nicht von der Krankheit zusammen. Der Alte liegt zerkrampft am Boden, seine rechte Hand hält die langen Stiele zweier Rosen, so, daß die Blüten auf seinem Munde liegen und sein Atem in die roten Blätter bläst. Auf den Schreckensruf der Tochter kommen zwei Gehilfen aus dem Gewächshaus, aber wie sie die beiden Niedergebrochenen sehen, heben sie im Entsetzen ihre vier Hände abwehrend gegen sie, suchen sich vergeblich aus der Erstarrung zu schütteln und wagen sich nicht näher. Das Mädchen mißt sie mit Blicken, beide haben ihr in Morgen- und Abendstunden zur Liebe nachgestellt; sie ruft sie um Hilfe an, aber sie schütteln nur immer die Hände und die Köpfe. Da nimmt sie dem Alten die Rosen aus der Faust, faßt sie wie eine Rute, tritt vor die beiden Männer hin und schlägt ihnen mit der Rosenrute rasch hintereinander in die blassen Gesichter. Entsetzt rasen sie davon. Der eine von ihnen wohnt in der Stadt bei einer Witfrau zur Miete; noch zitternd vor Schrecken kommt er in seiner Stube an, um sein Bündel für die Wanderschaft zu schnüren; aber schon hat ihn die Krankheit erfaßt.

Und so schildert nun der Dichter, wie das Übel Haus vor Haus und Straße vor Straße sich in das Herz der Stadt hineinfrißt. Die Beschreibung der Seuche mit ihren medizinischen Besonderheiten spart er sich bis zur Erkrankung des Adjutanten am fürstlichen Hofe auf, nachdem er vorher seine glänzende Erscheinung, seine Lasterhaftigkeit und Grausamkeit geschildert hat.

Ungefähr dieses war der Inhalt des ersten Gesanges. Wislizenus hörte mit der intensiven Aufmerksamkeit zu, die dem Vorlesenden das Wort leicht vom Munde nimmt; so daß Wohlgethan in eine immer wachsende Sicherheit geriet und sich in allen Stücken gebilligt, ja bewundert glaubte. In Wirklichkeit wurde er von Wislizenus mehr als einmal um ein paar Dutzend Verse betrogen, und nicht die reine, dumpfe Freude, zu nehmen, was gegeben wurde, hörte ihm zu, sondern die Überwachheit eines Sachverständigen. Wislizenus ließ sich von keinem Zug der Komposition überraschen, sondern erkannte sogleich seinen Zweck und fühlte also jede Willkür der Bindung mit doppelter Klarheit. In solchen Augenblicken verlor er, ohne es an seiner Miene merken zu lassen, die Aufmerksamkeit und fühlte, wie auch bei jedem Fehler und jeder Schwäche anderer Art, eine Verwerfung und Geringschätzung gegen den Dichter, der er immer versucht war, nachzusinnen, so daß er sich mit Willen zum Hören erst wieder zurückleiten mußte. Bei allem Hochmut dieser Regungen waren sie doch von Selbstverachtung nicht frei, denn als guter Kenner seiner Selbst spürte er eine Schadenfreude darin, deren Bewußtsein ihn demütigte.

Als der Vorlesende nach der Beendigung des ersten Gesanges aufsah, nickte Wislizenus: »Es ist sehr gut! sehr gut, sehr stark.«

Wohlgethan erwiderte eifrig: »Das war nicht mehr als ein Vorspiel. Jetzt erst beginnt das Gedicht. Ist es dir recht, wenn ich gleich weiterlese?«

Wislizenus bat darum, aber Wohlgethan zögerte noch und bemerkte: »Das, was nun kommt, bedarf allerdings noch überall der Feile. Du mußt es dich nicht stören lassen, wenn die Einzelheiten ungenügend erscheinen.«

Wislizenus beruhigte ihn: »Du weißt, daß ich auch das Unfertige recht zu hören verstehe, und ein Werk wie dieses wird noch lange ein stete Arbeit von dir wollen. Du wirst noch für die zehnte Auflage Korrekturen einfügen, das prophezeie ich dir.«

Wohlgethan errötete: »Prophezeist du zehn Auflagen?«

»Auch das«, sagte Wislizenus.

Der Dichter wurde glücklich über die ganze Haut. »Du hast recht«, sagte er, »es muß verbessert werden, solange es lebt! Ein solches Werk muß seine Form haben wie einen glasharten Überguß, wie der Stahl von Geldschränken, von dem jeder Meißel abflitzt.«

Er begann den zweiten Gesang zu lesen. Das Land und die Stadt sind verödet. Die Pest, die nichts mehr zu morden hat, liegt wie ein gelblicher Nebelschwaden unbeweglich über der Erde. Und in diesem Schwaden hocken auf Hecken, Gemäuer, Baumästen und Zäunen die Seelen der Toten als weibliche Kugeln von verwestem Licht. Sie schaukeln leise hin und her und können sich nicht aufwärts in den reinen Luftraum lösen. Mit einer schnellen Verwandlung ließ der Dichter die Wolke der Seuche gleichnisartig zu einer Wolke der menschlichen Leidenschaften werden und verteilte auch in diesem Luftpfuhl die schwankenden Seelen phantastisch, doch mit beginnender Ordnung.

Während dieser Stellen geschah es, daß Wislizenus tief erblaßte und sich so stark in seinen Sessel zurücklegte, daß der ohnedies etwas unsicher gewordene Dichter es merkte und fragend aufsah.

»Verzeih«, sagte Wislizenus und strich sich über die Stirn: »Es gibt keine Phantasie über unser Leben nach dem Tode, die ich nicht, und sei es auf einen Augenblick, auf eine Stunde, eine Nacht, so manchmal auf eine ganze Woche glaubte. Es gibt nichts so Absurdes, daß ich es nicht einmal, und nichts so Gewisses, daß ich es immer glaubte. Das Irrsinnige hat keinen gänzlich irren Sinn für mich, und die reine Wahrheit keinen gänzlich reinen. Doch du sollst dich nicht stören lassen, Wohlgethan, für dich war das ja ein Triumph.«

Wohlgethan fuhr fort; aber das Bewußtsein, so wörtlich genommen zu sein, beunruhigte ihn, er fühlte sich stellenweise verzagt und mußte sich dabei ertappen, zuweilen selbst nicht zu verstehen, was er las, sondern die Worte nur wie einen betäubenden Druck im Gehirn zu spüren, wobei er doch sicher war, richtig und mit Ausdruck zu lesen.


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