Moritz Heimann
Wintergespinst
Moritz Heimann

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6

Als er am nächsten Tag aus der Schule kam, empfing ihn die Mutter triumphierend mit der Nachricht von der Entdeckung des Diebes. Ihr Wesen war ganz aufgefrischt, und sie kostete ihre Genugtuung bis auf den Grund aus, mit immer wiederholten Beschimpfungen gegen das feindliche Haus. Franz mußte im Laufe des Gesprächs gestehen, daß er die Nachricht schon gestern abend gehabt habe. Die Mutter war unwillig über sein Schweigen und gab ihm ihren Zorn zu verstehen und zu kosten.

Franz fühlte sich gänzlich abgesetzt. Stolz, Eitelkeit, der Wunsch, geliebt und umsorgt zu werden, die Auszeichnung des Leidens: alles dieses wurde ihm genommen: die verzauberte, verhexte Welt trat in ihre Ordnung zurück; und Franz hatte keinen Drang, sich ihr anzubequemen.

Die neue Führung der Wirtschaft machte sich, wenn auch natürlich noch nicht in ihrem letzten Segen, so doch in allen unmittelbaren Wirkungen kund; sogar der Alte entzog sich ihr nicht. Gustav hatte wieder, gleich den andern Fuhrwerksbesitzern, das Abfahren von Bauholz übernommen. Die Pferde verlangten ihr Recht, die Zeit maß sich wieder nach den Stunden der Arbeit. Der klingende Wagen fuhr am Morgen mit Gustav und dem Vater weg und kam am Abend und jetzt im Schritt zurück. Dann wurde gegessen, und der Alte humpelte ins Wirtshaus.

Franz bewunderte den Bruder, dessen kleiner Schnurrbart weiß und zierlich die schweigsame Lippe schmückte, dessen Scheitel immer gerade und unverzaust war. Aber er, der sich sonst immer fröhlich auch zu Arbeiten gedrängt hatte, für die er noch zu jung war, nahm jetzt keinen Teil an dem tüchtigeren Wesen des Hauses. Er war unlustig, und das Schmerzen des Wachstums in den Beinen machte ihn oft bis zur Erbitterung ungeduldig. Eine Gärung, als stiege schon der Frühlingssaft in den Bäumen, trübte ihn; und bisweilen wachte er auf, so lange er im Bette lag: mit der Gewißheit, etwas Wundersames geträumt zu haben. Was es gewesen sein könnte, bekam er nicht zu fassen; wenn er sich im Bett aufrichtete, schwand die Qual seines Suchens zu einem ärgerlichen Punkt zusammen; und verließ er das Bett, so war nichts da als der nüchterne, kalte, irdene Tag, der ihn nicht brauchte.

An einem Sonnabend, als er vom Konfirmandenunterricht aus dem Pfarrdorf kam, war das Wetter, so dumpf es schien, voll besonderer, heimlicher Ruhe. Die heimkehrenden Knaben schwatzten weniger als sonst; einige gingen paarweise ganz stumm nebeneinander, unter diesen Franz. Die Kälte stieg ihm von innen ins rechte Auge, es blinkte feucht und tat ihm lustig weh. Er sah oft verstohlen um sich und bemerkte etwas, was er so noch nie bemerkt hatte und freilich auch jetzt nicht verstand: daß es schön sei, über diese Erde zu gehen. Der Horizont war an den freien Stellen verschleiert und an den mit Wald gesäumten von einem seltsam lebensvollen, seelenvollen, farbigen Schwarz. Die kahlen Bäume, an denen der Blick vorbei mußte, der sich zum Himmelsrand verlieren wollte, hinderten und lockten die Augen und standen wie aus Metall getrieben, ruhig und sinnvoll in ihrer Gestalt da.

Als er nach Hause kam, waren Gehöft, Haus und Zimmer gleichfalls aus ihrer Nüchternheit und Sachlichkeit erlöst, und Franz wurde von Zärtlichkeit erfüllt. Er ging der Mutter in die Küche nach und bat, sie solle Kartoffelkuchen backen; die esse Gustav so gern, und er wolle sie ihm in den Wald bringen. Die Mutter lachte und wies ihn ab. Da wurde er ganz stürmisch und bat so eigen, mit einem Lächeln so blank wie ein Spaten, der täglich arbeitet, daß die Mutter ganz außer Zeit und Ordnung ihm willfahrte. Sie sagte nur: »Dann mußt du aber die Kartoffeln reiben.« Eifrig versprach es der Knabe. Die Mutter wusch, indes Franz geschäftig hin und her lief, die Kartoffeln, schälte sie und gab sie ihm mit einem Reibeisen in der Schüssel auf die Knie.

Franz begann zu reiben; nach kurzer Zeit aber stellte er die Schüssel in die Ecke und lief hinaus in die Scheune, drängte sich durch das hintere Scheunentor, das in seinen beiden Hälften klaffte, und lief über den Garten zum See hin. - -

Es mochte eine Viertelstunde vergangen sein, da kam mit seinem schweren Schritt, aber eilender, als sonst, der Nachbar – der Fischer – über den Hof. Frau Kaps kam aus dem Stall. »Na, was bringen Sie Gutes?« fragte sie den Fischer. Er, mit einer versteckten Hast, fragte dagegen: »Wo sind denn Eure Leute alle?« »Na«, sagte sie verwundert: »Vater und Gustav sind in der Heide, und Franz reibt Kartoffeln in der Küche. Ich sollte ihm ja durchaus Plinze backen für Gustav.« Eben tappte Otto heraus. »Na, das ist man gut«, sagte der Fischer mit einem Ton von Erleichterung und doch sich umsehend, als suche er etwas und glaube die Auskunft der Frau nicht. »Was ist denn?« fragte Frau Kaps ängstlich. »Na, es ist ja nichts, es ist ja gut«, antwortete er; »ich brachte vorhin Netze an den See, wir wollen zu Eise fischen, und da war es mir so, als ob ich bei euch unten einen auf dem See gesehen hätte. Es war mir so, als ob er schlidderte, und mit einemmal war er weg.«

Die Frau wurde totenblaß. »Jesus Christus!« sagte sie: »Franz!« Als es nicht antwortete, fing sie zu zittern an und hielt sich an der Wand. Die Schwäche war so groß, daß sie gleich weinte.

Der Fischer sah sie ernst an, und obgleich er schon vom See gekommen war und nicht mehr zweifelte, ging er ins Haus, schaute in die Küche und in die Stube. Er kam zurück. »Es wird ja nichts sein«, sagte er, »das Eis ist einen halben Fuß stark, lauter trockener Frost, man kann mit einem Heuwagen darüber fahren. Wo ich Löcher gehauen habe, stecken Strohwische. Wenn er man bloß nicht bis zum Fließ hingeschliddert ist, das ist noch offen, und da nahebei ist das Eis dünn.« Er verließ eilends das Gehöft. Der kleine Otto greinte; Wasser, der Hund, strich mit eingezogenem Schwanz um das Haus. »Sei still, Junge!« schrie die Frau überlaut und drückte das Kind auf die Erde nieder. Dann lief sie um das Haus herum in die Scheune, öffnete die Scheunentore weit und rannte zum See. Über das Eis her kamen mit Haken und Stangen der Fischer und sein Sohn.

Wieder rannte die Frau zurück. Wie eine Schwalbe, die Junge in einem Nest im Stall hat, von Menschen, die hereinkommen, aufgescheucht wegfliegt, gleich wieder zurückkommt, wieder wegfliegt und wieder ängstlich und mutig zurückkehrt, so lief sie vom Haus zum See ein paarmal.

Nach einer langen, langen Weile brachten der Fischer und sein Sohn mit vorsichtigem Schritt den ertrunkenen Knaben daher. Die Mutter sah sie und trat von der Schwelle wie zu einem Ansprung zurück.

Sie trugen ihn über die Schwelle, da wurden die Dielen naß; sie legten ihn aufs Bett.

Dann gingen sie, nach spärlichen, stockenden Trostesworten; der Alte mit unbeweglichem Gesicht, nur daß die Falten alle sich tiefer eingegraben hatten; der Junge, den Kopf aufgeworfen, trotzig und wie einer, der den geringsten Angriff mit einem Faustschlag erwidern will.

Die Mutter setzte sich zu Füßen des Toten auf das Bett. Tränenlos starrte sie in das vorschnell sich verdunkelnde Zimmer. Immer wilder werdende Herzschläge, sichtbar wie eines Vogels Puls, erschütterten sie, und eine immer wildere Kraft erfüllte sie, fast bis zum Jubel. Erst als ihr Mann und Gustav, verstört von der Nachricht, laufend, redend, heimkamen, brach sie zusammen.

Aber am nächsten Tage ging sie zum Erstaunen aller in die Kirche, weil sie sich zum Abendmahl angemeldet hatte. Aufrecht ging sie mit ihrer zierlichen Gestalt, das schwarze Umschlagetuch um die Schultern und die Augen groß und rund. Die Glocken klangen nicht klar.

In der Nähe der Kirche trat eine große, wankend ungefüge Frauengestalt auf sie zu – Frau Barleben. Schüchtern reichte sie der Trauernden die Hand hin und sagte: »Verzeih mir auch, was ich an dir getan habe. Der arme Junge!« Frau Kaps antwortete: »Deine Hand fasse ich nicht mehr im Leben und im Sterben. Und wenn du jetzt mit mir zum Abendmahl kommst, ich stoß' dich von der Bank, bevor du trinken kannst.«

Da duckte die große Frau sich, wehrte sich nicht und ging nach Hause.

Während sie in der Kirche waren, begann es zu schneien. Die ersten, zitternden, kristallenen Flocken lösten sich gequält, wie abgesprengt aus der Luft; dann wurde das Gestöber dichter, die Flocken größer, das Licht verlosch in weiter, weiter Dämmerung, und die weiche Last sank unaufhörlich auf die Erde nieder. Es schneite Tag und Nacht und wieder Tag und Nacht. Am Dienstag wurde der Knabe begraben.

Und wenn ein Wanderer draußen gegangen wäre auf den ungetrennten Feldern, so hätte er den Gesang des Chorals »Jesus, meine Zuversicht« wie durch verhüllte Ohren gehört. Aber die Glockenklänge hätte er vernommen, als seien sie vom Ort ihres Ursprungs kräftig und lebendig aufgesprungen, dann aber, von der daunendicken Luft gehemmt, gleichsam noch bevor sie das Ohr erreicht, kraftlos niedergesunken in den Schnee.

Der Wanderer erreicht die Heerstraße und kommt an Häusern vorbei. Er biegt ab und kommt durch Dörfer. Die Wege sprießen allerorten hin, wahr, gesetzmäßig und unregelmäßig wie Baumgezweige. Und überall sind Dörfer, und an allen Straßen stehen Häuser.


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