Moritz Heimann
Wintergespinst
Moritz Heimann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Der Abend war schon weit vorgerückt. Vor den unverhüllten Fenstern lag das dichteste Dunkel. Eine Weile schon waren keine Gäste mehr gekommen; ein schläfriges Unbehagen, dem einige Lust von der Trägheit, die den Entschluß zum Heimgang nicht fassen konnte, beigemischt war, war in den Dunst der Trinkstube versponnen. Da ging doch wieder die Tür, und ein Mann kam herein, der über der Schulter an einem Bindfaden zwei graue Steinflaschen trug. Er hatte einen schweren Gang und ein schlimmfreundliches Gesicht, das er geneigt hielt. Er trat an den Schanktisch, hob das Flaschenpaar von der Schulter und stellte es dem Wirt hin. Der Wirt fragte: »Willst du die Grauen voll?« »Jawohl«, antwortete der Mann, »aber es hat Zeit.« Er riß ein Streichholz an und brachte seine Pfeife in lebhafteren Brand. Aus dem Paffen heraus drehte er sein Gesicht dem Ofen zu und sagte: »Guten Abend, Kaps.«

Das war des Wartenden Mann, Barleben, auf dessen Hof der Junge war geschlagen worden.

Kaps erwiderte den Gruß nicht; er erhob sich und sprach aufgeregt auf Barleben ein: »Der Schneider, August, der Schneider – will mir an die Gurgel fahren – weil ich ihm sage – daß er zu Jakoben soll – sich Arbeit suchen! – Braucht er sich zu schämen, daß er ein Schneider ist? Ich kenne sehr anständige Leute, die Schneider sind. Siehst du, August, so pellt er die Kartoffeln. Wer so ausholt, ist allemal ein Schneider.«

»Mann Gottes«, rief der Handwerksbursch herüber, »wenn Sie nicht gleich stille sind, dann setz' ich Sie noch mal auf den Hintern.« Kaps ging auf seinen Platz. Ein paar von den Anwesenden lachten, und Kaps lachte mit, stand wieder auf und trat wieder auf Barleben zu. »Was sagst du dazu, August! Es ist ein Schneider. Kann ich ihm helfen? Aber soviel kannst du mir glauben, Angst habe ich nicht vor ihm. Was, August, wir haben keine Angst -« und er schlug den Mann nervös auf die Schulter, sah aber zu dem Schneider hinüber: »Jawohl, Sie, wir haben auch noch keine Angst. Wir haben dem König von Preußen gedient. Wir haben Österreich und Frankreich mitgemacht; was, August?« Der Angeredete aber schnitt ein höhnisches Gesicht und bog die Schulter so, daß die auf ihr ruhende Hand niederfiel.

Kaps begann zu schlucken und hörbar zu atmen und blies zuweilen langsam die geschlossenen Lippen auf. »Gib mir noch einen Schnaps«, sagte er und sah den Wirt an, als ob er durch ihn hindurchsähe, so daß dieser das Zögern vergaß und einschenkte. Kaps trank und wischte sich den Schnauzbart, und plötzlich fing er ein Lied halb zu singen und halb zu lachen an: »Bei Sedan, auf den Höhen, da stand nach blutiger Schlacht -.« Die Gäste stimmten ein. Sowie der Gesang aus den vereinzelt einfallenden Stimmen fest gesammelt war, hörte Kaps auf zu singen und fragte: »Warum singst denn du nicht mit, August?« Der knirschte dem Frager ein Schimpfwort ins Gesicht.

Nun brach Kaps los. Er stellte sich in die Mitte des Zimmers, und indem er in ein erregtes, taumelndes Tanzen verfiel, sagte er zu den Anwesenden, die wieder schwiegen: »He! Haltet mal alle den Mund! Ob ihr von Sedan singt oder die Katze! Seid ihr bei Sedan gewesen? Ich bin bei Sedan gewesen, und August, wir beide. Da haben wir Wache gestanden bei einem umgefallenen Bahnzug. Derweilen ist die große Schlacht gegangen; und als wir von Wache abkommandiert wurden, da haben wir gemacht: marsch, marsch, und sind noch zur rechten Zeit gekommen, vor Abend, und Puhlmanns Karl, dem haben sie dort durch den Kopf geschossen!« Er lachte: »Eisenbahnzug! Umgefallener Eisenbahnzug! Wenn ihr wissen wollt, was aus ihm geworden ist, wir haben keine Kenntnis davon, wir haben das Eiserne Kreuz! Wenn ihr das wissen wollt, müßt ihr Augusten fragen, der hat so lange Wache gestanden bei dem umgefallenen Eisenbahnzug, daß er nachher man kaum seine Kompanie fand. Am Abend, verstanden, als Hahn in Ruh war.«

Die Erzählung war den Leuten nicht mehr neu; ob sie ganz richtig war, blieb ihnen immer ungewiß, und nur das wußten sie, daß etwas dran war und daß Barleben schon in Verlegenheit und Wut geriet, wenn ein boshaftes oder unbedachtes Wort nur von weitem an sein unrühmliches Verhalten rührte.

Die Männer schwiegen ernsthaft stille, und ihre Mienen drückten eine Art Bekümmernis aus, etwa wie ein unfreiwilliges, aber gerechtes Tribunal. Das reizte Barleben mehr als die Stichelei seines Gegners; er trat ihm nahe und hielt ihm seine mächtige, blaue, gequollene Faust unter die Nase. »Schlumps du«, sprach er, nicht laut. »Willst du Leute fexieren? Daß du Soldat gewesen bist, das wissen wir nicht mehr, und wir haben dir bescheinigt, daß wir nichts mehr davon wissen wollen: wir haben dich aus dem Kriegerverein geschmissen, du bist kein Soldat gewesen.«

Kaps, in seinem empfindlichsten Gram getroffen, knickte zusammen. Die Wolke der Trunkenheit lüftete sich, er sprach nun auch leise und zitterte dabei mit der rechten Hand hin und her: »Habt ihr mich 'rausgeschmissen? Aus dem Kriegerverein? Ich bin ein ehrlicher Mann. Sag' du's man dem Vorstand, August, daß sie ja keinen Spitzbuben 'rausschmeißen. Sonst wer weiß, am Ende wer 'rankommt. Wie sie Schönebecken den gedroschenen Hafer aus der Scheune geholt haben, diesen Herbst, bei der Nacht, hat da ein Mensch im ganzen Dorf gesagt: ›Das war Kaps!?‹ Willst du auftreten und sagen, daß mir einer was nachreden kann?« Einer der Gäste rief dazwischen: »Nein, Albert, was Unreelles kann dir kein Mensch nachsagen; nur ein Saufsack bist du und haust deine Frau.« Und die Reihe zusammenzuschrecken war an Barleben. Er wandte sich ab, kam wieder und sagte, ruhig und voll Hohn: »Tu nicht so groß, Albert. Es heißt ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Na, und was den Apfel angeht, das sehe ich dir ja schon den ganzen Abend an, daß du's weißt, daß mir dein Junge zwei Taler aus der Kommode gestohlen hat.«

Kaps sah ihn groß an. Sein Gesicht verzerrte sich so gewaltsam, daß Tränen aus seinen Augen drangen. Ehe es sich jemand versah, sprang er den Feind an und umspannte seine Gurgel. Den Schwung, wie der sich wehrte, glücklich benutzend, hieb Kaps ihn in die Hölle am Ofen hinein, kniete auf ihm und würgte ihn, indes ihm die Tränen eine nach der andern über das Gesicht liefen. Barleben, der viel stärker war, konnte sich doch nicht von dem grimmigen Alp freimachen. Er war an der Brust und an den Schultern beengt, so daß er weder aus dem Grunde atmen noch die Kraft seiner Arme lösen konnte. Erbittert fuhr er dem auf ihm Knieenden ins Gesicht, ergriff ihn bei den Ohren und riß sie, daß sie bluteten. Es hätte schlimm für ihn enden können, wenn sich nicht schließlich der Wirt eingemischt und Kaps am Kragen gefaßt hätte. Sobald dieser die fremde Faust im Nacken fühlte, erlahmten ihm die Finger, und er lockerte den Griff. Dem Gegner gelang es, sich emporzuschnellen und ihn zurückzustoßen. Ehe der Kampf zum zweiten Male auskam, nahm der Wirt mit einer Hand Kaps an der Brust fest und wehrte mit der anderen Barleben ab. »Ruhig, Barleben, ruhig!« sagte er, schob Kaps zur Tür und setzte ihn mit einem geschickten Stoß hinaus. Schnell drehte er den Schlüssel um. Kaps blieb eine Weile an der Tür stehen, stieß mit dem Fuß und rüttelte. Dann ging er die Treppe hinunter und taumelte in dem breiten, gefrorenen Weg der Dorfstraße einher. Er begann zu toben und schimpfte: »Gauner, Spitzbube«, doch vorerst so, als ob er sich niemand vorstellte, an den er die übeln Worte richtete, und unversehens fand er sich auf dem Weg nach Hause. Da aber kehrte er um und trug, so schnell er gehen konnte, die Beschimpfungen dorthin, wohin er sie haben wollte. Wie eine Flut schäumte es ihm über den Mund. Er stürmte die Treppe in die Höhe, aber die Tür war noch verschlossen. Er sah durch einen Spalt im Vorhang und tobte, solange niemand im Bereich seiner Blicke war. Dann ging Barleben an seinen Augen vorüber, mit der scheinbar übertriebenen Schnelligkeit einer Erscheinung, die unversehens auftaucht und gleich verschwindet. Kaps verstummte, und wieder ging er hinunter. Und jetzt zum ersten Male brannte der Haß in ihm hoch, der männliche, klare, wahre Haß. Nun begehrte er nicht mehr zu lärmen, und sein ganzes Gefühl bäumte sich wollüstig gegen den einen Mann auf, der ihn beleidigt hatte. Jener eigentümliche Stolz, der in Familien nistet und sie einigt, die verwahrlosen und deren Glieder, wenn sie nicht von außen bedroht sind, kalt, ja feindselig gegeneinander stehen, griff ihn mit Schmerz an.

Noch einmal näherte er sich dem Haus, und diesmal lautlos und mit einer Miene, als sähen ihn die Menschen auf seinem Wege und er müßte sie durch Unbefangenheit täuschen. Es war, als ob er das Türschloß überreden wollte, geöffnet zu sein, wenn er käme.

Aber sein ungleicher Schritt verriet ihn, und die Tür gab weder seinem ersten leisen Klingen noch seiner wieder ausbrechenden Wut nach. Er schrie in die Wirtsstube hinein und häufte den Schimpf auf Barlebens Haupt. Der saß drinnen, griente und ward bleich. Auch schwiegen alle, die um ihn saßen, und gaben keine Antwort, wenn sein Gesicht sich ihnen zuwandte.

Dann kehrte Kaps sich ab und ging nach Hause.


 << zurück weiter >>