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Landschaft

»Es kommt einem immer vor, als hingen die Schicksale des Lebens, die einem an einem Orte begegnen, an den Umrissen der Gegend, die ihn umgibt. Das ist überall wahr.« Mit diesen Worten Wilhelm von Humboldts (1817) ist die Schicksalverbundenheit des Menschen mit der Landschaft ausgesprochen. Und das ist das eine.

Im Jahre 1796 hatte Samuel Gottlieb von Vogel auf die Benutzung der Seebäder zu Heilzwecken als erster hingewiesen, allmählich war, was lange verabsäumt worden war, das Baden im Freien wieder aufgekommen. Dabei nun machten die Menschen auch ihre seelischen Erfahrungen. Caroline von Humboldt erahnte eine Verwandtschaft mit dem Element, die so tief reichte, daß nur ein Dasein nach dem Tode dem dunklen Empfinden Erklärung geben könne, und Schleiermacher erfühlte nicht nur in jedem Seebade eine Erneuerung der Taufe, gemeinsames Baden wurde ihm auch zu sonderlicher Gemeinschaft mit der Frau, die er liebte, er erspürte sowohl in physischem Wohlbehagen wie in Ideenspiel, badend, die Verbundenheit mit dem Element. Das Landschaftsempfinden griff damit auch auf das physische über, es gewann in der Unterströmung des Bewußtseins elementarische Kraft. Und das ist das andere.

Dieser Zeit ersteht ein neues Naturgefühl. Indem es sich entwickelt, vollzieht sich das Seltsame: es scheiden sich die Geister. Der religiöse Abstand macht sich geltend. Andere seelische Heimat sucht sich der Katholik, andere der Protestant. Es erweist sich auch darin, wie weit die konfessionellen Gegensätze über dogmatische Fragen hinausreichen, und daß sie in Wesensveranlagung und seelischer Aufnahmefähigkeit begründet sind.

Ein Briefwort von Dorothea Schlegel wird in dieser Hinsicht bis ins letzte aufschlußreich. Sie schreibt im Jahre 1808 aus Koblenz: »Ich bekam die herrlichen Ufer immer lieber und fühlte es ganz bestimmt, daß ich sie nicht auf lebenslang zu verlassen glauben kann. Gerade diese Ufer, die Hügel und diese Felsen sind es, die mir immer als Phantasie vorschwebten, als ich noch trostlos auf immer an Berlin geschmiedet zu sein wähnte. Mag immerhin mein Körper zufällig in jener Wüste geformt sein, meine ganze Seele bekennt die Ufer des Rheins zu ihrem Vaterlande. Und ist mir noch ein Wunsch vergönnt, so ist es der, hier die letzten Lebenstage zu atmen und hier zu sterben.« Wirklich; in diesen Worten erschließt sich das katholische Landschaftsempfinden der Zeit, zwiefach kennzeichnend, weil es als Herzensbeichte einer Konvertitin und Berlinerin zur Aussprache drängt. Dem katholischen Deutschland dieser Zeit wird die Rheingegend zu seiner seelischen Landschaft. Man könnte sagen, auch im Hinblick auf das Landschaftsempfinden wird der Ausbau des Kölner Doms zu zeitgefordertem Symbol.

Der Rhein mit seinen waldigen Hügeln und dem Ufergestein, mit den Bergen und Burgen, mit den Nymphen im Strom und der Lorelei auf dem Felsen: Man braucht das nur zu vergegenwärtigen, um sich inmitten romantischer Landschaft zu fühlen. Recht eigentlich Eroberer dieses Naturgebiets wurde Clemens Brentano, der Katholik, in seinen Gedichten wie in seinen breit ausgesponnenen Rheinmärchen – aber er eroberte überkommenen Besitz. Man könnte sagen, er erkannte die »romantische Landschaft«, die der Zeit als durchaus bestimmte und bis in alle Einzelzüge festgelegte Anschauung vorschwebte, in der Rheinlandschaft wieder. Er sah nicht mit neuerschlossenem Blick; er bestätigte kraft der Brille der Romantik. Er hatte sich auch nicht individuelle Ausdrucksformen zu schaffen; er taufte die altvertrauten Nixen und Nymphen nur eben auf sein Stromgebiet. Und bestätigte damit und auch in solcher Weise die Aufgabe, die dem Katholizismus in dieser Zeitspanne protestantischer Kulturentwicklung gesetzt war: das angestammte Gut zu wahren, aus der Überlieferung heraus zu bereichern.

Dem Protestanten wurde die niederdeutsche Ebene, insonderheit das Havelland, zur Heimat. Es war aber die Mark wirklich von allen Musen und Grazien verlassen, es wäre auch völlig fruchtlos gewesen, ihnen da Lauben zu bauen oder heilige Haine zu pflanzen. Ganz anders die Aufgabe hier: es galt, mit den Augen des modernen Menschen zu sehen. Es galt, Blick zu gewinnen für Schönheiten, an denen noch jedes vergangene Jahrhundert achtlos vorübergegangen war. Es galt, selbstgeschaffenen Ausdruck für jung Empfundenes zu finden. Und diese Aufgabe wurde gelöst.

Von Pionieren landschaftlichen Empfindens ist hier zu reden. Die sich zu Worte meldeten, waren denn auch immer einigermaßen über ihre eigene Wahrnehmung erstaunt. Auch ist es immer wieder derselbe kleine Kreis seelisch und geistig sehr Wacher, der gleichsam am Auslug der Zeitwarte steht, und so auch hier sehen lehrt.

Am Schilowsee hat das Bauernhäuschen mit dem geflochtenen Weidenzaun gestanden, in dem der alte Zelter seine Kindheit verlebt hatte. Das sucht er als gereifter und berühmt gewordener Mann wieder auf, und nun vermittelt Erinnerung zwischen ihm und der märkischen Heimat. Im Jahre 1827 schreibt er an Goethe: »Nach und nach fange ich an, unseren leichten, seichten Spreestrom zu würdigen und das wohlangelegte Havelland, des blauer Strom den Schiffer an jedes Ufer trägt.« Ganz ähnlich ergeht es Wilhelm v. Humboldt. Auch er entschuldigt zunächst (1790) seine Vorliebe für Tegel damit, daß seine Jugenderinnerungen hier haften, meint freilich alsbald, die Gegend habe in der Tat »etwas Romantisches«. Dann beginnt ihm, als er in einem kleinen Akazienwäldchen verweilt, der Sternenhimmel über seinem Tegel zu sprechen, dann erlebt er die Landschaft im Sturm – »ich ritt aus in der Abenddämmerung. Die Wellen der Spree rollten so dunkel ans Ufer. In den Wipfeln der Tannen brauste fürchterlich der Sturm. Da ward mir besser« – dann glaubt er sich losgelöst von ihr und muß es gewahren, wie tief er ihr verpflichtet ist, und es ergeht die Bitte an die Geliebte – »ach! sei ihnen hold! Begrüße freundlich den See und die kleinen Eilande und die hohen, schwarzen Fichten am Ufer!« – heimgekehrt und gealtert, ist er in dieser Landschaft zutiefst beheimatet. Schleiermacher macht (1798) einen Ausflug nach Potsdam und entdeckt sich da am Heiligen See eine Landschaft, die, »wenn man auf Gebirge renonciert«, nicht schöner gefunden werden könne. Schinkel besucht (1821) Rügen, findet die Denkmäler der nordischen Vorzeit formlos, hat aber Blick dafür, daß sie mit der gesamten Natur so in Harmonie treten, daß »das Ganze doch gewissermaßen als ein sonderbares, aber großartiges Kunstwerk« wirke und die Stimmung aufs Gemüt nicht verfehle. Rahel gelangt (1808) auch ihrerseits nach Potsdam; Havel und Artischockenfelder tun es ihr an, und seltsamerweise beeindruckt sie die Chaussee als solche, durch das Sicherheitsgefühl, das sie vermittelt. Ganz im Vordertreffen aber steht auch als Pionier märkischer Landschaft Alexander v. d. Marwitz, der jung und klanglos Dahingeschiedene, der nichts ist als eben Exponent der Zeit; das aber in unvergleichlicher Weise. Auf ihn wirkt die Flachlandschaft durch ihre Mannigfaltigkeit. Seine Empfindung begleitet den sich schlängelnden Bach. Sein Blick wandert mit den Wolken und ruht auf frischen Grasstücken. Ein heller, sonniger Mittag in Sanssouci spricht ihm vom Naturgeist, den er alsbald den Geist Gottes nennt. Ein sparsames Gehölz, die weidenden Schafe, ein Glockenklang über der Flachlandschaft stimmen ihn heiter und fromm. In diesem jungen Bekenner landschaftlichen Empfindens ist aber auch ein Urgrund rousseauschen Heimwehs. Die Zeit nimmt von der Vergangenheit, um zwiefach an die Zukunft abzugeben. Es kann kein Zweifel darüber bestehn, trotzdem es kaum beachtet worden ist: In dieser Epoche zwischen den Revolutionen ist protestantischerseits die Empfindung angebahnt worden, der Leistikow und Fontane mehr als fünfzig Jahre später den vollen künstlerischen Ausdruck sichern sollten.

Merkwürdiger noch: Auch für das, was man Stadtlandschaft nennen mag, ersteht ein Organ. Es ist Varnhagen, der sich solcherart als ein Erster zu Worte meldet, und als er einmal spät am Abend im Mondschein von seiner Mauerstraßenwohnung zum nahen Wilhelmplatz hinübergegangen ist, verweilt er dort bei den Statuen, und Vergangenes vergegenwärtigt sich ihm: »Der ganze Platz hat mir von jeher etwas Besonderes, Ahndungsvolles, und gibt mir stets eine aufregende Stimmung.« Ihm wird denn auch das Erforschen der geschichtlichen Örtlichkeiten Berlins zu einer lieben Beschäftigung, den ersten Wanderer durch Berlin hat man in ihm zu grüßen, und so sehr ist ihm das alles Herzenssache geworden, daß er's vermeidet, darüber zu schreiben, um »nicht auch diese Spaziergänge wieder in Amts- und Pflichtwege zu verwandeln«. Die künstlerische Erfüllung solcher Erahnung der Stadtlandschaft aber wird noch derselben Zeit zuteil. Sie geht auf Schinkels Namen.

Man hatte die Unterschiedlichkeit katholischen und protestantischen Landschaftsempfindens zu vergegenwärtigen. Es darf darüber nicht vergessen werden, daß der Epoche zugleich das Goethewort zu seelischer Aufgabe gesetzt war: »Nord und südliches Gelände ruht im Frieden deiner Hände.« Zweck aller Gegensätze ist es, die höhere Einheit zu erschließen.

 

Bestimmend für das breite Zeitempfinden wird, was wir heute »romantische Landschaft« nennen. Wesentliche Motive sind: das Waldesdunkel; der nackte Fels; der reißende Wassersturz; der gebietende Baum; die Ruine. Eindrücke aus Italien, dem deutschen Mittelgebirge, der Rheinlandschaft werden in phantastischer Schau aneinandergerückt.

In E. T. A. Hoffmanns Briefen findet sich einmal eine eingehende Naturschilderung, sie stammt aus seiner Reise ins Riesengebirge (1798) und erzählt vom Zackenfall zwischen Felsenklüften und Tannengebüsch – »das furchtbar Schöne des Anblicks kann ich nicht beschreiben« –. Sie kehrt an bezeichnender Stelle in den »Elixieren des Teufels« wieder. Man hat Sinn für das Gruselige in der Natur. Eichendorff findet in seinem Italien hinter den Weingeländen und duftenden Gärten plötzlich die Nacht mit ihren Trümmern und zerbrochenen Säulen »wie ein Buch der Vergangenheit, dessen Anfangsbuchstaben der Mond rätselhaft vergoldet«. Aber selbst wenn man eine so lichte Natur wie Schinkel auf seinen Reisen durch Italien begleitet – es sind dieselben Eindrücke, die ihn magisch anziehn. Eine Höhle im Tal von Prediama, das er auch zeichnerisch festhält – »man tritt nach dem schauerlichen Übergang des unterirdischen Flusses in den zweiten großen Raum der Höhle, der mit noch weit sonderbareren Gestalten von Tropfstein mannigfach wechselt«; das tiefe Felsental bei Ronciglione mit reißendem Bach und laubumzogenen, katakombenähnlichen Schlupfwinkeln; Piazza in Sizilien – »eine glühende Abendbeleuchtung ließ uns auf einer Anhöhe ein ›Theater‹ überschaun, welches die schauerlichste Wirkung machte: Ein ungeheurer Fels erhebt sich aus einer Ebene, um die sich gigantische Gebirge stürzen«; die Simplonlandschaft, in der es die reißenden Ströme und zerrissenen Abgründe sind, die zu seiner Einbildungskraft sprechen. Der fromme Ludwig Richter wandert durch Franken, und »das romantischste Bild, was man sich denken kann«, zeigt sich ihm da: »ein altes gotisches Kirchlein, an einem steilen, bebuschten Felsen klebend; in der schwindelnden Tiefe ein stilles Wasser, sonderbar gestaltete Felswände, an welchen eine große mächtige Höhle das Tageslicht angähnte.«

Der Zug der Zeit zur Kirchhofslandschaft steht damit in Zusammenhang. Denn dieser Kirchhof liegt auf Bergesabhang, und auf den zerfallenen Denksteinen spielt das Licht des Mondes. Zu mitternächtlicher Stunde geigt der Heine des »Buchs der Lieder« die sentimental-ironischen Gespenster aus ihren Gräbern.

Man könnte das alles die Nachtschau der romantischen Landschaft nennen. Die hat aber auch ihr Sonnengesicht, und dafür sind Grimms Märchen und das Volkslied seelisch entscheidend geworden.

In seinem Gedicht »Auf einer Burg« hat Eichendorff einmal die beiden Vergegenwärtigungen der Landschaft, die ihm am Herzen lagen, kontrastiert: In der Felsenklause sitzt versteinert der alte Ritter; unten aber auf dem sonnigen Rhein (das katholische Landschaftsempfinden!) fährt eine fröhliche Hochzeit mit munterem Musikantenspiel (»Und die schöne Braut, die weinet«). Und ganz bewußt, aus innerem Drang heraus, hat Ludwig Richter den Landschaftsmaler zum Studium der Volkssagen, Lieder und Märchen seiner Nation aufgerufen. Denn nun entsteht in ehelicher Anpassung an die Zeitstimmung der Freiheitskriege der Begriff der »deutschen« Landschaft: » Deutsche Natur zu einem Ideal, zu edler Größe zu erheben, damit sie nicht wie bisher den untergeordneten Rang der Idylle behält, sondern zum Epischen sich erhebt. Meine Helden sind die Elemente in ihren lieblich geeinten oder feindlich entzweiten Wirkungen.« Es überflog da freilich bei Ludwig Richter der Wunsch das Können; aber man begreift nunmehr den innerlichen Widerstand Richters gegen einen Caspar David Friedrich, der denn freilich die deutsche Landschaft aus solcher konventionellen Romantik durch seine Gedanklichkeit und seine Erfassung des Wesentlichen erlöste. Nur eben zeichnerisch war es Richter gegeben, die Tagesschau der romantischen Landschaft zum Ausdruck zu bringen: Nun wandern die Kinder am brüchigen Holzzaun entlang, zum Baum mit den Früchten, und die Älteste hat das Kleinste auf dem Arm, und das langt nach den »ersten Kirschen«. Das ganze Blatt ist gezeichnetes Volkslied.

Man wird zur romantischen Landschaft in Nacht- und Sonnenschau zurückzufinden haben, denn ihr geheimstes Wesen ist – in Grauen und Lieblichkeit – Musikalität.

Aus dem romantischen Rheingebirge war die »Lore Ley« erwachsen.

 

In dieser Zeit bildet sich der Begriff der »Waldeinsamkeit«, und es ist etwas von seelischem Zufluchtsuchen darin zu spüren.

Der Begriff stammt aus Tiecks Märchen »Der blonde Eckbert«, und wenn man durchs Waldesdunkel mit den stürzenden Wassern und drohenden Felsen geschritten ist, schließlich auch das liebliche Tal mit den hellen Birken hinter sich gelassen hat, gelangt man zur Hütte der Alten, und hier singt der wunderliche Vogel im Käfig: »Waldeinsamkeit, / Die mich erfreut, / So morgen wie heut, / In ew'ger Zeit, / Oh, wie mich freut / Waldeinsamkeit.« In dem Tieckschen Märchen nun wird Waldeinsamkeit zu einem Noviziat der Seele, das schlecht bestanden wird.

Landschaftlich geht man in Novalis' »Heinrich von Ofterdingen« einmal ganz ähnlichen Weg. In tiefen Gedanken legt ihn der Pilgrim zurück. Ziel ist ein großer Stein unter einem alten Baum, der nur unten noch grün, oben aber dürr und abgebrochen ist.

Vergegenwärtigt Schwind in seinen »Sieben Raben« oder in seiner »Melusine« solche Waldeinsamkeit, so lebt bei ihm die landschaftliche Stimmung in einem Baum auf. Mag er hohl sein und der Geflüchteten Unterschlupf gewähren – bestimmend für den Eindruck werden die dürren und abgestorbenen, wild gereckten, knorrig gewinkelten Äste zwischen dem Blättergrün und die Baumwurzeln, in denen das haftende, das erdverwachsene, das schollentrotzige Wesen des Baums zum Ausdruck kommt. Das ist's, was in der Waldeinsamkeit erfreut: daß Zeit in Ewigkeit entgleitet.

Auch Börne hat sich einmal darüber ausgesprochen, daß es eigentliches Einsamkeitsgefühl in der Natur nicht gebe; im Kölner Dom möge man sich vereinsamt fühlen, aber in menschenverlassener Landschaft sei man nie allein. Und nun betrachte man daraufhin die Gemälde Caspar David Friedrichs, den man den Einsamkeitsmaler dieser und vieler Jahrzehnte nennen könnte –: Dieser steinige Strand am Meer; dieser Felsendurchblick auf den Gletscher; dies Gestein im Gebirge; dieses Kreuz auf dem Felsen – ein Einsamkeitsgefühl kommt nirgends auf. Vielmehr spricht da etwas Seelengebietendes. Diese Landschaften sind menschenverlassen: gegenwärtig ist Gott.

Es war denn auch nicht das Gefühl der Vereinsamung, nein, das war es gewiß nicht, was den Begriff der Waldeinsamkeit damals so sehnsüchtig umschmeichelte. Es war eine ernstere Stimme, die rief.

Eichendorff hat sie gedeutet. Der Wald als solcher erhält bei ihm eine ethische Sendung: »Da steht im Wald geschrieben / Ein stilles, ernstes Wort / Von rechtem Tun und Lieben / Und was des Menschen Hort.« Waldeinsamkeit wird zu einer Stätte des Sichbesinnens auf sich selbst. Die Stimmen der Bäume mahnen, und Text ist dein unsterblich Teil. Irgendwie ist der verwurzelte Baum Ewigkeitszeuge. Katholisch gewendet – und das ist abermals ein Eichendorffsches Gedicht – bedeckt die Mutter Gottes mit ihrem Sternenmantel die Waldeinsamkeit.

Man wird sich klar über den für diese Zeit wichtigen Begriff der »Waldeinsamkeit«, und es ist dies auch die letzte Deutung des Tieckschen Märchens: »Waldeinsamkeit« ist in landschaftlicher Versenkung und bildhafter Auferstehung: die Vergegenwärtigung des Gewissens der Zeit.

 

»Die Bäume, hohe stattliche Bäume, auch die jugendlichen, erst vor zehn oder zwanzig Jahren gepflanzten – die umhalste, herzte und streichelte er wie seine Lieblinge und bewahrheitete in der eigenen Person gleichsam die von ihm angespielte Fabelsage, daß die ersten Menschen auf und aus den Bäumen gewachsen seien. Wie oft sind wir an einem Apfelbaum, an einer Lärche oder Tanne unter solchen Zärtlichkeitsanwandlungen seßhaft geworden! wobei er denn zu erzählen pflegte, wie er als kleiner Knabe dabeigewesen, als die selige Mutter und Schwester Marianne sie haben pflanzen lassen« –: Das ist es, was Ernst Moritz Arndt vom Freiherrn vom Stein berichtet. Es erweist sich damit nur wieder, wie sehr große Menschen das Empfindungsleben ihres Zeitalters in allen Tiefen ausschöpfen; sie sind es, die das im Unterbewußtsein des Volks Schlummernde zu wachem Dasein ans Licht heben –: Dieser Zeit bedeutet der Baum die sichtbar gewordene Seele der Landschaft.

Humboldt hat einmal geschrieben, ein einzelner Baum, wo er auch stehen möge, wenn er nur groß und reich an Zweigen, sei wie eine kleine Welt, und Bettina, die jeder aufflatternden Empfindung mit dem Schmetterlingsnetz nachjubelt, verfehlt nicht, ihre Dithyrambe auf den Baum zu dichten. Die klingt in die Worte aus: »Begegne dir nichts, was dich beleidigt, o Baum! den keiner der Unsterblichen umwandelt. Ich zwar träume den Frühling in deinem Schatten, und mir deucht, von Unvernehmbarem widerhallen zu hören, rings, die Wälder und die Hügel.« Damit sind Wälder und Hügel, ist Landschaft schlechtweg in die schützende Erscheinung des Baums ganz innig einbezogen. Das Merkwürdigste aber und zu tiefst das Zeitempfinden Offenbarende: Katharina Emmerich erfindet sich in ihren Visionen Bäume. Sie sieht Bäume mit geschuppten Stämmen und ungeheuer großen Blättern; auch pyramidenförmige mit sehr großen schönen Blumen; den Baum des Paradieses, dessen Früchte, meist zu fünf, um die Spitze der Zweige herumhängen; Bäume, die eine Laube bilden; wieder Bäume, deren Zweige sich zur Erde niedersenken, dort wurzeln, wieder Bäume emportreiben, die desgleichen tun. Was das alles bedeutet? Heilige Landschaft.

So mag man denn nun auch mit E. T. A. Hoffmanns Studenten Anselmus (»Der goldene Topf«) unter den Holunderbusch unfern des Linkeschen Bades bei Dresden treten, diesen Holunderbusch, um dessen Zweige die drei in grünem Gold erglänzenden Schlänglein spielen. Er ist gleichsam Torwart des Märchens, und alle zauberischen Ereignisse nehmen aus seinem Geäst ihren Ausgang. Aufs Wesentliche hin angesehn aber darf dieser Holunderbusch noch ganz andere Geltung beanspruchen: Er ist die lebendige Verkörperung der Dresdener Landschaft. Die Seele der Landschaft wird sichtbar im Baum.

Diese Empfindung, deren sich vielleicht niemand bewußt war und die doch aller Ahnungsleben erfüllte, bestimmt die Landschaftsmalerei der Zeit. Alle Gefühlsschwingungen suchen etwas wie Echo im Baum.

Man könnte sagen, der Baum sei bei Ludwig Richter häuslich und zu einer Art Familienmitglied geworden. Georg Philipp Schmidt malt in zwei Bildern des Heidelberger Museums »Ausblick in die Ebene« und »Im Karmeliterwäldchen« ein Frauenleben ganz im Sinn der Zeit: In lichten Buchen ist der Traum des Mädchens; der helle Laubgang vergegenwärtigt das umfriedete Dasein der Frau mit dem Kind im Schoß. – Hochaufragende Eichenstämme; im Moos gelagert oder Posten stehend, die Körner, Friesen, Hartmann: so verbildlicht Georg Friedrich Kersting die Freiheitskriege. Die »Birke im Sturm« malt Joh. Chr. Cl. Dahl, und es ist, als zitterte das geängstigte Zeitbewußtsein durch die gepeitschten Blätter, aber als reckte sich auch die Zuversicht der Zeit in dem Stamm der Birke auf. Recht eigentlich zu Deutern der Zeitseele durch das Medium des Baums aber werden Caspar David Friedrich und Schinkel.

Es ist bereits die Rede davon gewesen, daß Caspar David Friedrich »demokratische« Bäume, wurzelfeste Baumproletarier, gemalt hat. Er gibt in seinem Bild »Einsamer Baum« diesen kronenlosen Baumproletarier aber auch derart, daß ethische Kraft von ihm ausgeht. Er stellt in »Kommender Frühling« den Entzweigten so neben den reich Umästeten, daß es wie Botschaft von Tod und Leben ist. Er wandelt in »Zwei Männer in Betrachtung des Mondes« den blattlosen Baum, dessen Wurzeln wie Äste und dessen Äste wie Wurzeln sind, in den Magier, der die Kräfte des Mondes beschwört. Er legt in seinem berühmten Bild »Kreuz im Gebirge« alles Emporschauen zu Gott in Tannengrün und Tannenandacht. – Schinkel stellt den gotischen Dom mit der lichten Kuppel auf seinem Gemälde so hinter bewegtes Baumgrün, daß es ist, als klänge in der zarten Architektur das Gebet der Bäume zum Himmel auf; er läßt in »Dom hinter Bäumen« das Blattwerk zu sichtbarem Echo des Orgelspiels werden. Er malt in »Landschaft mit Trauerweide« den mittelalterlichen Kaiser auf Reiserast derart unter das Baumdach, daß dies gleichsam zu kaiserlichem Gezelt und zu naturhafter Beglaubigung des Gottesgnadentums wird. In seinem Wandbild »Abend« ragt die windgezauste Fichte so über die Kehre der Landstraße, daß der Sturm in ihrem Gezweig nichts anderes als der Atem der Landschaft selbst ist, daß deren gesamte Ausdruckskraft in dieser Fichte aufschießt. Er gibt in seinem »Morgen« jedwedes bräutliche Glück im Aneinanderneigen zweier Bäume.

In ihrem gesamten Empfindungsleben fand sich die Zeit im Baume wieder. Das wird darum bedeutungsvoll, weil im Baum nicht nur die erdgebundene Gestalt, sondern zugleich auch immer die Stimme aus den Lüften ist. Im Hinblick auf diese Zeit, und das hat sich noch zu erweisen, könnte man den Baum das Orgelwerk der Landschaft nennen.

 

Die Landschaft war Ziel menschlicher Arbeit gewesen: So hatte »Faust« dem Meer Land abgewonnen, so hatten die Freunde der »Wahlverwandtschaften« dem Park des Gutes neue Weganlagen zu neuen Ausblicken geschaffen. Im Humanitätszeitalter hatte der Tatwille des Menschen über der Landschaft geherrscht.

In dieser Zeit der schöpferischen und der nachwirkenden Romantik wird die Landschaft zu einer Zufluchtsstätte. Das Friedensbedürfnis hält bei ihr Einkehr. Romantik heißt Sehnsucht. Die Sehnsucht aber schweift, und so kann es nicht wundernehmen, daß neue Landschaftsbezirke den Künsten gewonnen werden, die Künste auch zugleich im Landschaftlichen sich neue Ausdrucksmöglichkeiten sichern.

Brentano, seinem Wesen nach mehr Improvisator als Dichter, bietet ein ganzes Heer von Nixen und Nymphen, Hexen und Käuzen auf, seine Rheinlandschaft zu bevölkern, er schildert aus romantischer Überlieferung heraus, aber er gewinnt für diese besondere Landschaft den besonderen Stimmungsausdruck; seine Verse plätschern mit den Wellen der Flüsse, zu spielenden Lichtern auf Fels und Wasser werden seine Reime, in der »Lore Ley« erschafft er seiner Landschaft den lebendigen Mythos. Heinrich Heine erobert sich die Nordsee. Auch er ruft Gestalten der Mythologie auf, aber er gibt ihnen modernes Gesicht. Sie werden ironischen Diensten gefügig gemacht. Die Ironie des Poeten erkennt sich selbst in der See, als dem ironischen, wankelmütigen, launischen Element der Landschaft, wieder. Zugleich ersteht, ganz modern erfaßt, dem ironischen Spiel Tiefe der Auffassung gewährleistend, das Symbol: denn nun wandelt der Heiland der Welt über Land und Meer im wallend weißen Gewande, und als Herz in der Brust trägt er die rote, flammende Sonne. Lenau singt seine Schilflieder, und wenn sein Teich, der regungslose, von der nordischen Landschaft der märkischen Protestanten auch fernab liegt, seine Weise mußte doch auch am Havelufer gehört werden und durfte ihrerseits dazu beitragen, den stillen Seen um Berlin herum Atmosphäre zu geben. Ganz aus romantischem Geist heraus schafft sich E. T. A. Hoffmann seine Stadtlandschaft, sein Berlin. Hier aber ist nicht mehr von Übernahme irgendwelcher romantischen Mythologie die Rede. Wohl lebt die Vergangenheit inmitten der Gegenwart der Stadt, aber in scharfgeschnittenen Abenteurervisagen, in seßhaft angesiedeltem Alchimistenpack. Es ist, als zöge der Romantiker inmitten der durchaus realistisch gesehenen Stadt magische Kreise, in denen Spuk sein darf. Der aber ist so gestaltet, daß Gegenwart und Vergangenheit durcheinanderkichern, und überall, sei es nun »An den Zelten«, sei es am Alten Rathaus, in ihrer Mischung von Rationalismus und Phantastik die trüb-kühle, ganz eigentümlich berlinische Luft entsteht.

Die romantisierte Stadtlandschaft geht durch Spitzweg in die Malerei über, aber das Wesentliche seines Werks entsteht erst in späterer Zeit, aus abermals neu erwachter Sehnsucht. Für die romantische Landschaft der Epoche werden Gemälde wie »Wanderers Sturmlied« von Johann Christian Reinhart, J. A. Kochs »Opfer Noahs« und »Berner Oberland«, K. Ph. Fohrs »Romantische Landschaft«, Ludwig Richters »Tal bei Amalfi«, Schinkels »Dekoration zur Alkeste« kennzeichnend. Vielfach sind diese Bilder aus der italienischen Landschaftsszenerie heraus stilisiert; neben dem Baum wird der nackte Fels zu bestimmendem Motiv; der Sturzbach oder ein schlafendes Wasser sammelt die Stimmung; oftmals überspannt der Regenbogen den Himmel. Malerisch aber ist die Zeitstimmung in ihrer Tiefe in Caspar David Friedrichs Werk offenbart. Alle äußere Romantik ist hier abgefallen. In ihrer tiefsten Einsamkeit, im Auf und Ab gebietender Linien sucht Friedrich die Natur. Aus ihrer Einsamkeit gewinnt sie ihm Stimme. Aber diese Stimme spricht nicht mehr ausschließlich zum Menschen, sondern auch zu Gott. Sucht auch hier noch die Sehnsucht Zuflucht, so mag sie sie finden; nicht aber in müdem Sicheinbetten, sondern im gebieterischen Aufblick zum Schöpfer. Es ist, als wenn aus Friedrichs Mund der Protestantismus der katholisierenden romantischen Landschaftsauffassung die kampfbewußte, die sittlich ernste Antwort gegeben hätte.

Schinkel, der mit den Augen des Romantikers Italien bereist hatte, entdeckte in sich selber an der Havellandschaft den Realisten. Gelegentlich freilich, wie in seinem Bild »Der Heilige See bei Potsdam«, romantisiert er auch Havelland. Aber er findet doch auch die Möglichkeit, auf romantische Requisiten Verzicht zu leisten, dies Flachland mit dem Fluß und den bewaldeten Ufern gibt seiner Sehnsucht in sich Genüge, es scheint fürder keines Wunders mehr zu bedürfen als etwa der im Flammenrot untergehenden Sonne.

In »Landschaft mit Pilger« (um 1813) hat Schinkel die Havellandschaft (oder eine ihr durchaus entsprechende) gemalt, im Hintergrund, über den Wipfeln der Bäume, ragt die Kuppel der Kirche auf. Vergleicht man diese Kuppel mit der von Schinkel erbauten Nikolaikirche in Potsdam, so fällt eine eigentümliche Ähnlichkeit auf – unwiderleglicher Beweis dafür, wie sehr sich Schinkel in seinen Bauten von seinem Landschaftsempfinden bestimmen ließ.

Und das ist ein Großes in Schinkel, und er wird dadurch zur lebendigen Stimme der Zeit: Seine Bauten erstehen, einem Organischen vergleichbar, aus der Landschaft. Das ist – gleichgültig, welche Formensprache im Einzelfall übernommen sein mag – sein Stil.

Es scheinen sonderliche Überlegungen zwischen Schinkel und Pückler-Muskau gepflogen worden zu sein, offenbar im Hinblick darauf notiert der Fürst: »In hohem Grade wichtig ist es, daß Gebäude immer im Charakter der Landschaft erscheinen, mit der sie verwebt sind.« Er fordert daraufhin bei Parkgebäuden Unregelmäßigkeit. Er will von Gotik unter Fichten und lombardischen Pappeln nichts wissen, bei Eichen und Buchen sei sie am Platze.

Grisebach stellt Schinkel in Gegensatz zu dem Barock: »Schinkel war in eine Zeit hineingeboren, die aus einem grundsätzlich anderen, sentimentalisch sich hingebenden Verhältnis zur Natur die Umgebung eines Hauses nicht mehr streng gegen die Landschaft abzusondern, vielmehr aus Haus, Garten und Park eine ideale landschaftliche Szenerie, gleichsam ein lebendig sich entwickelndes Landschaftsbild, zu gestalten trachtete.« Und nun vergegenwärtige man sich, als ein Beispiel für viele, unter solchem Gesichtspunkt die Gartenfront des Schlößchens Tegel, das Schinkel für Humboldt ausgebaut hat. Die zu beiden Seiten überragenden Bäume, das in den Vorbau eingeschmiegte Buschwerk ziehen den klassizistischen Bau derart in die grüne Umgebung hinein, daß er trotz der fremden Formensprache zum Künder märkischen Landschaftsempfindens wird. Und das gilt in dem gleichen Maße von der Innenarchitektur: Die mattgrünen, mattrosa und lichtblauen Zimmer halten Zwiesprache mit dem Grün der Bäume und der Rasenflächen.

Mit der gleichen Instinktsicherheit fügt Schinkel seine Gebäude in die Stadtlandschaft ein. Man könnte auf den Museumsbau am Spreeufer deuten, auf die Neue Wache – monumentales Beispiel aber ist doch die Einstellung des Schauspielhauses zwischen die Kuppeln der beiden Kirchen. Nicht nur, daß der Platz dadurch seinen Charakter erhält – in dieser Einstellung als solcher ist musikalische Wirkung, die architektonisch fragwürdige Freitreppe wird geradezu zu musikalischem Motiv. Dieser mit Steinen gepflasterte, von Mauerwerk umstellte Platz wird durch die architektonische Eingliederung des Schauspielhauses zu »Landschaft«. Und noch ruht ein romantischer Hauch darüber.

Was aber Schinkel im großen geleistet hatte, das wurde im Biedermeierhaus zu Allgemeingut. Das Gelb des Anstrichs verschwistert sich dem Grün der Bäume. Jene »Unregelmäßigkeit«, die Pückler-Muskau für Parkgebäude gefordert hatte, ist hier so selbstverständlich geworden, daß der scheinbar willkürliche Bau, in die Stadtlandschaft versetzt, die Erinnerung an den Garten weckt, und mehr als nur Erinnerung, denn in dem Hof ist ja der Baum stehengeblieben, und zu der Galerie klettert wilder Wein empor. Das architektonisch willkürlich eingesetzte, die Ausmaße des Baus nicht respektierende Fenster wird durch das Blumenbrett und die paar blühenden Töpfe darauf zu einem Wahrzeichen der Naturverbundenheit. Und vielleicht konnte das Tonnengewölbe des vorderen Eingangs zu dem jenseits des kleinen Hofes nur deshalb nicht auf gleicher Achse liegen, weil sich ja der Baum dazwischen befand und seine Rechte gegen das aufzuführende Mauerwerk geltend machte. Im Biedermeierhaus ist fast überall Pakt mit dem Boden, auf den es gestellt wurde, Pakt mit der Landschaft, deren Nähe es der Stadt vermittelt. Die Sehnsucht baut mit an der Architektur der Zeit.

 

»In der Ferne im Tiergarten blies ein Horn recht artig eine dem Kuhreigen sehr ähnliche Melodie; das versetzte mich in unsere Schweizerreise«, schreibt Schleiermacher einmal an seine Frau; und in den »Wahlverwandtschaften« heißt es gelegentlich: »Waldhörner ließen sich in diesem Augenblick vom Schloß herüber vernehmen, bejahten gleichsam und bekräftigten die guten Gesinnungen und Wünsche der beisammen verweilenden Freunde.« Den Menschen dieser Zeit wird durch musikalische Klänge die Empfindung für die Landschaft geweckt, gestärkt, verinnerlicht.

Und mehr als das: Das Naturgefühl setzt sich unmittelbar in musikalische Eindrücke um, es wird zu Seelenmusik.

Da der Student Anselmus in E. T. A. Hoffmanns »Goldenem Topf« sich recht inniglich in den Anblick des Holunderbusches versenkt, ist es plötzlich wie ein »Dreiklang heller Kristallglocken« um ihn, und alsbald hebt ein Gelispel, Geflüster, Geklingel an –: »Zwischendurch – zwischenein – zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüten, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns – Schwesterlein – Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer – schnell, schnell herauf – herab – Abendsonne schießt Strahlen« –: und dies Gelispel, Geflüster, Geklingel ist Musik. Jean Paul schildert in den »Flegeljahren« eine Fußreise: Zunächst hört der Wanderer aus dem Tal herauf den Ton der Flöte; »er hörte die Flöte, die gleichsam aus dem Herzen der stummen Nachtigallen sprach«; dann pfeift er frei vor sich hin Choräle und alte Volksmelodien; »immer betrunkener und glücklicher wurde Walt, als er auf dieser ersten Schäferpfeife, auf diesem ersten Alphorn fortblies, dem Morgenwinde entgegen, der die Töne in die Brust zurückwehte«; dann umfängt ihn Schweigen, und in dem Schweigen ist Andacht zu Gott und damit neuer Gesang; endlich tönt ihm der Glockengruß aus mehreren Dörfern; »hier kehrte er um vor dem lauten Wehen; er fand die Welt sonderbar still um sich, nur das Geläute klang allein und leise wie Schalmeien der Kindheit, und er wurde sehr bewegt.« Auf dem Gang in die Waldeinsamkeit im »Ofterdingen« des Novalis läßt sich ein Wind in der Luft verspüren, »und seine dumpfe wunderliche Musik verlor sich in ungewisse Fernen«. In den Nachtwachen des Bonaventura heißt es: »Das ist eine wunderliche Nacht ... Ganz in der Ferne ist leise, kaum vernehmbare Musik, wie wenn Mücken summen oder Koch zur Nacht auf der Mundharmonika phantasiert.« Überall der nämliche Vorgang: Der landschaftliche Eindruck weckt musikalische Klänge, Musik deutet die Landschaft und führt sie dem Herzen zu. Es sind aber Weisen der Sehnsucht, die da vom Tal zum Hügel und über die Wipfel der Bäume tönen.

Dies musikalische Landschaftsempfinden wird zu Lyrik und heißt nun: Eichendorff.

Wo immer man Eichendorffs Gedichte aufschlägt, da musiziert die Natur, zumal der Wald. Die Frösche bringen tapfer ihre Ständchen, die Fledermaus schwirrt leise, man hört das Gähnen des alten Wassermanns, der wilde Jäger fährt durch die Wipfel. Es singen die wandernden Gesellen, es singen ihnen die Stimmen im Grund. Die Bäume im Garten rauschen Heimweh. »Da rauschten Bäume, sprangen / Vom Fels die Bäche drein, / Und tausend Stimmen klangen / Verwirrend aus und ein.« Und nun lockt, lustig wie traurig, das Waldhorn. Die alte Waldkapelle läutet fort und fort hinab zum Tal. Der Hirt bläst seine Weise, es fällt ein Schuß. »Übern Garten durch die Lüfte / Hör' ich Wandervögel ziehn.« Ein Flüstern wird zu geheimem Singen und zieht jedweden in seinen Bann. Von einer Frau, die die Laute rührt, dunkelt die Weise das Tal entlang. »Denn ein wunderbares Singen wohnte lange in dem Tale.« Der gesamte Natureindruck vom Frühlingswerden zum Herbsteswehen, von Sonnenaufgang zu Nachtbefangenheit ist bei Eichendorff Musik, und wenn es in der Prosa seines »Marmorbilds« einmal heißt: – »als sänge die ganze Gegend leise«, so ist das nur lakonischer Bericht für seine gesamte Landschaftsverdichtung.

Aber auch bei Brentano heißt es, um nur ein Beispiel zu geben: »Hörst du, wie die Brunnen rauschen? / Hörst du, wie die Grille zirpt? ... / Selig, wen die Wolken wiegen, / Wenn der Mond ein Schlaflied singt.« Und in Lenaus Schilfliedern: »Und ich mein', ich höre wehen / Leise deiner Stimme Klang / Und im Weiher untergehen / Deinen lieblichen Gesang.« Im Schlachtlärm der Winde über Heines »Nordsee« sind auch lockende Harfenlaute und sehnsuchtswilder Gesang; gelegentlich nennt er die Sterne, Goethes Sonnenaufgang-Hymnus sentimentalisierend, »Sonnen-Nachtigallen«.

Die Malerei der Zeit gibt gleiche Antwort. Als Philipp Otto Runge (1803) seine Landschaftszeichnungen zum erstenmal Tieck vorlegt, ist der bestürzt; eine eigene Kunstahnung ist ihm darin ausgesprochen; der »Zusammenhang der Mathematik, Musik und Farben stehe hier sichtbar in großen Blumen, Figuren und Linien hingeschrieben«. Wenn J. E. Hummel in »Grotte bei Teplitz« Landschaft malt, dann setzt er zwei Frauen mit Saiteninstrumenten in den Vordergrund, damit gleichsam Klang über der Ebene und den fernen Hügelrücken sei, er stellt in »Osteria« die Frau mit der Laute und das Mädchen mit dem Becken ganz vorn ins Bild und gibt in schwingender Schaukel, auf der Frauen in wehender Gewandung und mit wehendem Schleier sitzen, der stummen Melodie den bildkräftigen Ausdruck. Franz Krüger malt die Fürstin von Liegnitz hoch zu Pferd derart ins Baum- und Strauchgrün, daß der Wind im Gezweig und das Faltenspiel im weiten und sehr langen Reitgewand zu musikalischem Widerspiel werden.

Erfüller aber wird auch hier Caspar David Friedrich. Gemalte Musik könnte man seine Landschaften nennen, und Hummels äußerliche Klanggebung kommt daneben fürder nicht mehr in Betracht. Denn nun ist der Klang ein rein seelischer geworden. Er ist zugleich musikalisch derart nuanciert, daß Justi, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, die »Mondnacht am Meeresufer« Beethovens »Mondscheinsonate«, das unvollendete Gemälde »Nordlicht« der »Pathétique« vergleichen darf. Vielleicht aber wird keins der Friedrichschen Gemälde in musikalischer Einstimmung so klangreich wie sein »Hochgebirge«. Nichts als ein Gletscher zwischen zwei toten, aufragenden Felsbergen. Das Ganze aber ist Orgelklang. Aus dunkler Melodik aufjauchzend helle Töne. Es ist aber zugleich in den vielfältigen Rissen im Auf und Ab des Gesteins innerhalb der großzügigen Linien der Konturen überall Ton, und diese Töne vermählen sich zum Choral, und den singt diese Landschaft Gott. Eichendorff weit überholend, macht Friedrich die Landschaft, die er bis in jede Einzelheit musikalisch durchdringt, die er mit rein malerischen Mitteln überall und individuell instrumentiert, zum symphonischen Kunstwerk. Bei Eichendorff sang die Landschaft; bei Friedrich ist sie seelische Musik geworden.

Und eben damit wird Friedrich zum Deuter seiner Zeit.

Wieder blickt man der Lorelei in die Augen. Sie ist die singende Landschaft. Mit ihrem Liede lockt sie in den Tod. Das aber hat eine so »wundersame, gewaltige Melodei«, daß es den Tod mit dem Leben versöhnt, und Friede wird; der tiefersehnte Friede.


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