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Es ist in dieser Zeit der Beunruhigung und des Friedensverlangens etwas wie lüsterne Neugierde dem Sterben und dem Verwesen zugewandt. Man denkt an Luise Hensel, die nächtlicherweile mit dem Totengräber und der einsamen Fackel hinging, sich das Grab der Katharina Emmerich öffnen zu lassen und der Dahingeschiedenen ins Antlitz blickte: – »Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.«
Alexander von Sternberg hatte seine Frau schwerlich geliebt. Nachdem sie aber gestorben war, ließ er an ihrem Sarg ein Schiebefenster anbringen, durch das er die Leiche von Zeit zu Zeit beobachtete. Und Rahel, deren Namen man ungern und nur mit seelischem Widerstreben in solchem Zusammenhang nennt, hatte die Bestimmung getroffen, daß sie in einen schlichten Sarg mit Glasdeckel oder doch mit kleinen grünen Scheiben gelegt werden solle, der nicht in die Erde zu versenken, sondern in kleinem Gebäude beizusetzen sei. Man forscht nicht nach den Gründen solchen Tuns und solcher Verfügungen; man spürt ein eigenartiges Empfindungsweben; es ist, als wäre dazwischen und etwa der Gepflogenheit Friedrich Wilhelms IV., den Sarg dahingeschiedener Freunde zu küssen, ein gewiß nicht begrifflich zu fassender, doch gefühlsgemäß zu erahnender Zusammenhang.
Nicht ungern hätte sich diese Zeit den Tod verbürgerlicht. Aber er entzog sich solchen Vertraulichkeiten.
Der Tod seinerseits foppte. König Friedrich von Württemberg war einer jener Duodezdespoten, und sein Arzt Froriep, der einzige, der ihn einigermaßen zu nehmen wußte, hatte nun bereits mehrere Nächte am Sterbelager des Potentaten durchwacht. Erschöpft ließ er sich endlich in einen Lehnstuhl sinken – hatte aber kaum das Polster berührt, als das Spielwerk im Sessel: »Blühe, liebes Veilchen« zu intonieren begann und nicht zum Schweigen zu bringen war. So starb das Despötlein unter den Klängen der Spieluhr: »Blühe, liebes Veilchen.«
Wohl war lüsterne Neugierde um Tod und Sterben. An das Grab aber setzte die Zeit in antiker Stilisierung die strenge Säule.
Zwei Gestalten heben sich aus dem dunklen Gedränge. Beide sind, so sagt man, freiwillig den Weg gegangen. Sie werden beide zu Deutern des Empfindens ihrer Zelt –: Heinrich von Kleist und Charlotte Stieglitz.
Wie ein Gewölk, geballt durch entgegengesetzte atmosphärische Strömungen, scheinen Lebensüberdruß und Todesfurcht von früher Jugend an auf Heinrich v. Kleist gelastet zu haben; dazu war etwas wie Selbstmordmanie in seiner nächsten Umgebung gewesen. Immer sah er das Leben in Verbindung mit dem Tode; dadurch bedingt; dahin enteilend. Das frühe und bis zuletzt gewahrte Bewußtsein: »Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war«, stand ihm unmittelbar neben der Selbstbeschwörung: »Ach, es ist nichts ekelhafter als diese Furcht vor dem Tode.« Daraus die für ihn unabweisbare Erkenntnis, daß, wer das Leben mit Sorgfalt liebe, schon tot sei; »denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt.« Freiwillige Aufgabe des Lebens erschien als höchste Lebenskraft, und – darüber darf man sich klar sein – Todesfurcht, um die der Dichter des »Prinzen von Homburg« wußte, wies in dieselbe Bahn. Auch Furcht vor dem Tode vermag in den Tod zu treiben! Und nun hat es den Anschein, als hätte der Gedanke an ein gemeinsames Sterben der Todesfurcht in ihm entgegengewirkt. Tod war für ihn immer und unter allen Umständen derart Ziel des Lebens, daß dieses Ziel die Lebensleistung sowohl bestätigen als auch Lügen strafen konnte; selbstgewählter Tod aber bedeutete ihm unter allen Umständen Bestätigung der Lebensleistung; und selbstgewählter Tod konnte aller Schrecken ledig sein, wenn er ein Gemeinsamkeitshingang war. Zwecklos, in solchen Gefühlswirren logische Begriffe statuieren zu wollen: Doch drängte hier wohl ersichtlich neben dem Lebensabscheu die Todesfurcht zur letzten Tat – die aber doch erst durch Ausschaltung der Todesfurcht verwirklicht werden konnte.
An einem Fortleben nach dem Tode hat Kleist sicher nicht gezweifelt. Ihm war der Tod ein Aus-dem-einen-Zimmer-in-das-andere-Gehen. Vor der Geburt stand ihm die Fülle bereits gelebter Leben; hinter dem Tode eine Fortentwicklung auf andern Sternen. Auf dieser Welt, »wo alles mit dem Tode endigt«, nach etwas zu streben, schien dem auch an sich selber tief Enttäuschten, dem Dionysischen und ganz auf die Eingebung der Stunde Angewiesenen, glückloses Unterfangen zu sein. Selbst in gehobener Stimmung galt ihm: »Kurz, ich habe keinen anderen Wunsch als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schönes Gedicht und eine große Tat. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann.«
Noch aber stand dem Dichter der »Penthesilea« vor dem Tode die enge Pforte des Zum-Tode-reif-Seins.
Bereits im Frühjahr oder Sommer 1803 scheint Kleist seiner Freundin Karoline von Schlieben den Vorschlag gemeinsamen Aus-dem-Leben-Gehens gemacht zu haben. Die Ereignisse des Jahres 1806 hatten ihn tiefer daniedergebeugt, ohne ihm doch die tröstliche Möglichkeit des Gemeinsamkeitstodes zu bringen. In Henriette Vogel, der durch schweres Krebsleiden vom Tode Gezeichneten, fand er die langersehnte, die schicksalsvermählte Gefährtin. Durch die Berührung seiner Seele mit der ihren – es sind das nahezu seine eigenen Worte – fühlte er sich zum Tode ganz reif geworden. Vor solchem seelischen Sich-nahe-Sein zerstob die Todesfurcht. Wurde Sterben zu seelischer Wollust. Gewann das Leben, in der Aufopferung, Ziel. Wurde die Persönlichkeit, erhöht, erhabeneren Sphären zugetragen. Wurde eine Liebes- und Glücksmöglichkeit gesichert, die diese Erde noch immer versagt hatte und stets versagen mußte.
Man hat von Kleists »Liebes- und Opfertod« gesprochen. Im Hinblick auf sein eigenes Empfinden, gewiß zu Recht. Daß schwerer Gemütsdruck, zum Teil durch äußere Umstände verursacht, zum Teil eingeboren, entscheidend einwirkte, bleibt dadurch unberührt.
Rahel schrieb ihm zum Gedächtnis: »Es ging streng in ihm her, er war wahrhaft und litt viel.« Sich über seine Tat nicht zu wundern, war die Begräbnisfeier für ihn, zu der sie sich verpflichtet fühlte. Marwitz, den man den Beobachter der Zeitgenossen nennen könnte, hatte gelegentlich gemeint, daß Kleists Augen ihm keine Sicherheit gegeben hätten.
War für Kleists Todesgang die Mystik des Novalis in ihrer Verbrüderung des Thanatos und des Eros, des Todes und der Liebe, entscheidend gewesen, so sollte auf Charlotte Stieglitz die pietistische Einwirkung auf ihre Jugendzeit den nachhaltigen und folgenschweren Einfluß ausüben.
Man weiß, wie Charlotte Stieglitz gestorben ist. Sie hatte ihren Mann, den über alles zu lieben sie sich vermaß, ihren »Dichter«, dessen Muse zu sein sie begehrte, zeitig ins Konzert geschickt, die Magd auf Besorgungen ausgesandt, sich rein und weiß angekleidet, den Dolch, von dem man sich wunders viel erzählt hatte, von der Wand genommen, sich selbst ins Bett gelegt, sich den Dolch ins Herz gestoßen, ihn aus der Brust herausgezogen, sich dann die Wunde mit der Hand zugehalten, damit das Blut ihr nicht Lager oder Kleid verunreinige: – Sie war bereits gestorben, als ihr Mann, dem sie ihr Leben zum Opfer zu bringen meinte, nach Haus heimkehrte.
Mit Todesgedanken hatte auch sie sich von früh auf getragen. Schon als Braut hatte sie der Gedanke heimgesucht, sich Stieglitz durch den Tod zu entziehen, um ihm seine Dichterfreiheit nicht anzutasten. Sie hatte versucht, der Ottilie der »Wahlverwandtschaften« durch Nahrungsverweigerung nachzusterben. Dabei war auch ihr der Glaube an ein Leben über den Tod hinaus seelische Gewißheit. In ihrem Tagebuch finden sich einmal die Worte: »Daß wir fortleben, glaub' ich, weiß ich. – Wie wir fortleben? Gewiß auf wunderbar geistige Weise. Und ich seh' so viele Wunder hier, daß ich noch größere dort glaube.«
Ihre Ehe mit Stieglitz hatte von allem Anbeginn an unter seelischer Überhitzung gelitten. Das ganze Leben wurde auf »Poesie« gestellt. Er war der Dichter, und mußte es sein; sie die Dichtersfrau; »lieber Dichter«, ihre Anrede an ihn; ein Zitat aus seinen Gedichten (sie dichtete aber selbstverständlich auch) ihr Argument ihm gegenüber. Und nun ging Stieglitz, schwachbrüstig, wie er ohnehin war, darüber der Atem aus. Er gab seine Ämter auf, um ganz seinem Schaffen zu leben, und wurde auch dadurch unschöpferischer. Er erlag gleichsam seiner eigenen Ohnmacht. Kam körperlich herunter, siechte in Mißstimmung hin, drohte, ihrem Empfinden nach, dem Wahnsinn zu verfallen. Und nun flüsterte ihr immer wieder und rastlos erneut Zeit ihren Opfergedanken zu, diesen Opfergedanken, der nach den Freiheitskriegen zu gespenstern begann. Sterben, um ihm im Übermaß des Leids die Dichterweihe zu sichern! Ihre letzten Worte an ihn: »Unglücklicher konntest Du nicht werden, Vielgeliebter! Wohl aber glücklich in wahrhaftem Unglück. In dem Unglücklichsein liegt oft ein wunderbarer Segen, er wird sicher über Dich kommen!!! ... Wir werden uns einst wiederbegegnen freier, gelöster! Du aber wirst noch hier Dich herausleben, und mußt Dich noch tüchtig in der Welt herumtummeln.«
Hatte diese Ehe in ihrem ganzen Bestand etwas von geistigem Inzest, so war sie in anderer Beziehung vielleicht noch verhängnisvoller gewesen. Schon zu Beginn der Flitterwochen hatte sich, Charlottens eigenem Wort zufolge, etwas wie »Herzerstarrung vor der Wirklichkeit« eingestellt. Die Gatten hatten dann, nach Theodor Mundts, des Vertrauten, einwandfreiem und wiederholtem Zeugnis, »lebhafte Gemeinsamkeit bei fast gänzlicher Entsagung aller anderen Beziehungen der Ehe« gepflogen. So kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß in Charlottens Opfertod verdrängte Erotik war. Die Wahl der Mordwaffe als solche scheint bezeichnend. Bereits im Jahre 1828 waren ihr in einem Brief an ihren Mann die verräterischen Worte entschlüpft: »Dabei seh' ich meinen schwarzen wilden Dolchschwinger (ihren Mann) funkelnden Auges vor mir.«
Körperliche Erschöpfung, üble Nachwirkung einer Brunnenkur, die Furcht, selbst schwer zu erkranken, wirkten mit ein. Die Sucht, eine Rolle zu spielen, ein wenig Schauspielertum – ein paar Tage vor der Tat war sie im schwarzen Schleier um den Hut ausgegangen – hatten ihren Anteil. Ins Wesen ihres Hingangs trifft doch ihr eigenes Briefwort aus dem letzten Jahr ihres Lebens: »Zu große Fülle übersinnlicher Liebe.« Und wenn auch die seelischen Regungen andere sind, die Bedeutung des ethischen Gebots dort, die des erotischen Moments hier stärker in den Vordergrund tritt – »Liebes- und Opfertod« ist es bei Charlotte Stieglitz nicht anders als bei Kleist. Und damit rührt man an den Vorhang zur Mysterienbühne der Zeit.
Es ist für das Empfinden der Epoche charakteristisch, daß Schleiermacher in seinen »Reden über die Religion« auf die vielen hatte hinweisen müssen, die nur deshalb zugrunde gingen, weil sie sich selbst zu groß seien; »ein Überfluß an Kraft und Trieb, der sie nicht einmal zu einem Werk kommen läßt«; und daß Goethe (1812) von den jungen Leuten zu sprechen hatte, die mehr von sich forderten, als billig sei; Vernunft und tapferes Wollen seien uns gegeben, »damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten«.
Streng richtet Tod in dieser bürgerlichen Zeit die Gefühlsrevolutionäre; oder vielmehr: Diese seine Opfer haben der Zeit, bei aller bürgerlichen Bindung, zu Vertiefung der seelischen Kultur zu verhelfen. Irgendwo mußte Überschwang sein; denn nur über Abgründigkeit ist Ausgleich, nur über Gefühlsverwirrung Befriedung.
Noch fehlt der Zeit die Erkenntnis, daß Selbstmord nichts anderes ist als anderes Sterben auch. Wie Tod den zerschmetternden Ziegel vom Dach löst, wie er Krankheitsstoff in die Eingeweide sät, ganz so bewaffnet er auch die Hand gegen die eigene Brust und das eigene Hirn. Es ist da kein Unterschied. Jene Zeit aber meinte, ihn doch betonen zu müssen, und es ist bewußte Auflehnung in Rahels Sich-nicht-Wundern über Kleists Hingang, wie sie schon sehr viel früher (1800) in bewußtem Trotz die Worte in ihr Tagebuch geschrieben hatte: »Einen gepackten Reisewagen und einen Dolch sollte ein jeder haben; daß, wenn er sich fühlt, er gleich abreisen kann.« Wie denn andererseits unter den vielen Sich-Wundern darüber war, daß Napoleon, in die Gefangenschaft geraten, sich nicht das Leben genommen hatte. Bis zu Napoleon selbst war die Frage vorgedrungen. Er habe, meinte er darauf, dem Tod sich oft genug ausgesetzt; es habe nicht sein sollen; es sei sein Schicksal, fortzuleben.
Aber die Zeit wußte auch noch in anderer Weise von Liebes- und Opfertod. Wie Novalis gemeint hatte, seiner Sophie nur eben durch Verzicht auf das Leben nachsterben zu können, so ergreift derselbe Gedanke von einem so klaren Kopf, wie Wilhelm v. Humboldt es war, Besitz. Es ist, als trüge Zeit solchen Samen in ihrem Winde. 1790 spricht er seiner Caroline davon, dann wieder 1813; und 1816 meint er: »Allein die Sehnsucht über das Leben hinaus, die, versöhnt mit allem auf Erden, nur zu etwas anderem und Höherem übergehen möchte, ist ein Streben, das sich in jeder Natur deutlich ausspricht und nur dem Menschen nicht immer einzeln klar wird. Dieser Sehnsucht schreibe ich viel eher die Kraft zu, sich selbst ihre Erfüllung zu erringen und dem Leben sanft und gewaltlos zu entrücken.«
Diese Zeit setzte die strenge, die antik stilisierte Säule ans Grab. Hier und dort war aber auch zärtliches Blumengewinde um das Medaillon auf dem Säulenschaft.
Den Liebes- und Opfertod, nur eben in anderer seelischer Abwandlung, hatte auch Königin Luise in der Empfindung der Mitlebenden auf sich genommen: den Liebestod der zärtlichsten Gattin; den Opfertod in Vaterlandsnöten. Sie, die Mütterliche, nun im Heimgang wieder Bräutliche.
Wie sie dem Frauenideal der Zeit bestimmenden Zug verliehen hatte, so wird Königin Luise nun auch zur Führerin ins Reich der Abgeschiedenen. Das aber ist nicht die Frage nach einer so oder anders beschaffenen Persönlichkeit, sondern nach der von der Kunst Verklärten.
Schon Marwitz war an dem Porträt der Königin Luise von Ternite aufgefallen, daß in den Augen der Tod ausgedrückt sei, und Rahel hatte hinzugefügt, »der ganze Horror des Todes ohne seinen Ekel; sanft und schrecklich«. Die schöpferische Tat aber war Rauch vorbehalten gewesen, als er die im Tode Ruhende in den Marmor meißelte. Sie ruht. Die letzte Ermüdung scheint von ihr gewichen zu sein. Das andere Dasein hält sie umfangen. Das zerstört nicht, sondern befriedet; es raubt nichts, es offenbart. Dieser Ruhenden zu Angesicht empfindet man ein letztes Mal das Ineinander von Antike und Christentum, und so wird Preußens Königin, gestorben, verklärt zu einer anderen Iphigenie, und jedweder Orest, von Unterweltsschauern gepackt, wird durch sie besänftigt. Die Heimat ist gefunden; die letzte Sehnsucht scheint gestillt.
In Brentanos »Kantate auf den Tod der Königin Luise« heißt es: »Über den Toten ruhet ein Traum.«
Goethes »Wahlverwandtschaften« waren in den Satz ausgeklungen: »So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.« Noch ist die Geistigkeit der Epoche stark genug, den Menschen die Gewißheit eines Fortbestehens der Seele ganz fest ins Herz zu geben.
Den Glauben an die ewige Fortdauer hatte Fichte, seiner aus Vaterlandsnöten neuerstandenen Zuversicht getreu, an die ewige Fortdauer des Volkes geknüpft. Caspar David Friedrich hatte gefordert: »Um ewig einst zu leben, muß man sich oft dem Tod ergeben.« Humboldt, der schon in wirkenskräftigen Tagen den Ausdruck: » è passato all'altra vita« (»er ging ins andere Leben hinüber«) geliebt hatte, sagte auf seinem Sterbebett: »Ihr seid alle so liebevoll gegen mich und so tätig, ich könnte gar nicht besser besorgt sein ... Alexander glaubt nun, daß wir selbst nach dem Tode nicht mehr von der ewigen Weltordnung erfahren werden, ich aber glaube, daß der Geist doch das Höchste ist und nicht untergehen kann.« (Auf die Frage: Und mit Bewußtsein von diesem Leben?) »Jawohl. Ich glaube auch, daß die wahre Liebe zusammenhält und daß sie wieder vereinigt und daß man nicht getrennt werden kann.« Und wenn Schleiermacher kein Freund von dem ewigen Fragen nach dem Jenseits war, so doch nur deshalb, weil ihm das »Im-einen-und-allen-zu-Leben« schon Diesseitsaufgabe war.
Aus dem faustischen Drang der Zeit heraus hat auch hier Goethe das letzte Wort gesprochen. In einem Brief an Zelter aus dem Jahre 1827 heißt es: »Wirken wir fort, bis wir, vor- oder nacheinander, vom Weltgeist gerufen, in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog, in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen.« Das ist denn freilich mehr als Rausch eines Liebes- und Opfertodes; es ist in Nüchternheit und Männlichkeit erarbeiteter und arbeitender Tod.
Immer aber wird Tod zum Führer. Das ist ein Wesenszug der Zeit.
So starben Ottilie und Eduard der »Wahlverwandtschaften«, und das Von-sich-Weisen jedweder Nahrung wurde zu tiefstem Symbol: Im Drange nach Vergeistigung der Materie absagend, lösen sich die Seelen aus der Körperhaft.
Der faustische Drang suchte sich ins Einvernehmen mit dem Tode zu setzen. Schleiermacher findet es 1803 zum mindesten wesentlich, in welchem Verhältnis sich der Mensch bei seinem Tode zu seiner Bestimmung befinde, Humboldt kennzeichnet (1826) seine Empfindung als ein zugleich Nach-Ruhe-Verlangen, zugleich Ins-Unendliche-Streben, und in der Inschrift, die Fürst Pückler für seine Familiengruft bestimmte, ist Weiterschaffen, Weiterbildung geradezu eine Vorbedingung für die Unsterblichkeit geworden. Tod darf dem Tätigkeitsdrang nicht Grenze setzen! In einer jüngeren, mehr ästhetisch als ethisch eingestellten Generation aber kommt eine wesentlich andere Stimmung zum Ausdruck. »Nur die Jugend nicht überleben! Recht früh sterben!« fordert Bettina. Was freilich in der Überzeugung, der Clemens Brentano bereits in den nämlichen Jugendtagen das Wort lieh, die notwendige Ergänzung findet; denn Tod ist ihm in Leben, wie Leben in Tod; und »also liegt der Tod in der Ewigkeit, und Leben ist nichts als die Ewigkeit, die wir uns zueignen dadurch, daß wir ein Stückchen von ihr mir einem hinten vorgehaltenen Tod auffangen.«
Sterben wird, und darin erweist diese Zeit wieder ihren sittlichen Ernst und ihre gute Bürgerlichkeit, als eine Aufgabe menschlicher Bildung begriffen. Dem gealterten Humboldt sind dafür die Augen aufgegangen. Er wohnt (1824) dem Sterben irgendeines Hüttenmeisters bei und billigt ihm jene Bildung zu, an die die Bildung der gebildet Genannten nicht hinanreichen könne. Und auch bei anderer Gelegenheit wird's ihm bewußt, daß der aufs letzte leidende Mensch aus der Menschheit als solcher Kraft gewinne. Tod macht die Unbedeutenden bedeutend. Nach Dorothea Schlegels Wort gehört zum Sterben, daß man sich selber kenne, daß man gebildet sei; selbst dem Tode nahe, bekennt und wiederholt sie, daß ihr das Sterben ausgezeichneter Menschen interessanter sei als deren Leben. Es steht damit in Zusammenhang, wenn Rahel begehrte, den ihr eingeborenen, aus ihren Übeln hervorgegangenen Tod zu sterben; es paßte ihr nicht, an irgendwelcher Seuche einzugehn.
So steht man denn Angesicht zu Angesicht dem Tode, den die Zeit begriff. Den Bewahrer des Edlen und Hohen im Menschen nennt ihn Humboldt und erkennt in ihm den Festiger der Treue: Man könne wohl Lebenden, nicht Toten die Treue brechen. Als den Mahner, der Vertrauen ins Schicksal zu setzen lehre, grüßt er ihn. Nach Hegel soll es Gesamtauffassung des Abendlandes sein, daß der Tod nicht nur verjünge, sondern erhöhe, verkläre. »Wer mir durch den dunklen Mutterschoß half,« heißt es bei Rahel, »bringt mich auch durch die dunkle Erde«, und, im Einvernehmen mit dem bürgerlichen Zug der Zeit: »Bin ich doch gut und vernunftbedürftig: Wie muß sich das bei höheren Geistern steigern: Ich unterwerfe mich in Neugierde – im höchsten Sinne – und im Mangel des Vorstellungsvermögens.«
Aus dem Bewußtsein des Eingebettetseins in Ewigkeiten schuf sich diese Zeit ihre Lebenskultur. Ihr war das Goethische »Stirb und werde!« gesprochen. Es ist ein Tönen in der Luft von Himmel zu Erde.
In der Augustinerkirche zu Wien befindet sich das Christinendenkmal des Canova, das für die Menschen dieser Zeit so überaus beredt wurde. An die Kirchenwand lehnt sich der Schnitt der Pyramide, Stufen am Fuß führen zu dem dunklen Eingang hinan. Zur Rechten auf den Stufen der Genius an den Löwen geschmiegt, zur Linken die Gestalten der Gebeugten. Sie kommen und schreiten, voran das junge Mädchen, Trägerin des Kranzes; die Frau dann mit der Urne; auf müden Stab gestützt, der Greis. Sie kommen und schreiten gebeugten Hauptes, und es ist, als nähmen sie ihren Lebensrhythmus mit auf den letzten Gang. Sie kommen und schreiten, und dieser ihr Lebensrhythmus trägt schon in sich die Gewähr der Ruhe.
Rauch, damals (1809) noch jugendlich, war erkrankt, und Humboldt tröstete sich, daß, wenn er sterben müsse, das doch wenigstens in Rom geschehe, und das sei unendlich viel. Ihm selber war es Beruhigung, daß ihm der Sohn unfern des Albaner Sees gestorben war. »Ich bleibe dabei, in einem anderen Lande hätte der Schmerz etwas Düsteres und Zerreißenderes gehabt ... Aber hier ist wieder die Sehnsucht unendlicher.«
Und das ist das Letzte: Tod wird in dieser Zeit als ein in die Landschaft Eingeborenes empfunden.
Es ist etwas wie Friedhofslandschaft in den »Wahlverwandtschaften«. Das »Ganz-sich-eins-Fühlen« mit der Natur hatte Schleiermacher in seinen »Reden über die Religion« als das große und einzige Beruhigungsmittel in dem Wechsel zwischen Leben und Tod gepriesen. Wenn Eichendorff das Lied auf seines Kindes Tod singt, dann läßt er die Erde, die Mutter, »so schön und so bleich«, es küssen und herzinnig in ihren Schoß ziehen. So hatte Philipp Otto Runge das nackte, auf dem Rücken liegende Kind, wie Blume auf der Erde, in die blühende Wiese eingemalt. So trinkt auch der sterbende Schwan bei Eichendorff noch ein letztes Mal der Erde Glut, im feurigen Sonnenuntergang ist Sterben.
War Leben ein Klang zwischen Diesseits- und Jenseits-Klängen, so mußte ihn auch die Landschaft melodisch widertönen.
Der Tod als solcher wird der Zeit zu einer Lorelei.