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Zuerst erschienen im Goethe-Jahrbuch 1885.
Als Opitz im siebzehnten Jahrhundert die neue deutsche Prosodik entdeckt und Klopstock im achtzehnten sie angewandt hatte, da glaubte man Trochäen und Jamben und Daktylen zu besitzen wie die Griechen und Römer und sapphische und alkäische Strophen aufbauen zu können wie Horaz. Doch wie sehr täuschte man sich darin! In der antiken Metrik gilt einzig die Quantität der Silben, d. h. ihr äußeres Zeitmaß, bestimmt durch Länge und Kürze des Vokals, und das Zusammentreffen der Konsonanten, die sogenannte Position. Der Vokal ist kurz, wenn die Sprachorgane unmittelbar, nachdem er hörbar geworden, zur Bildung des folgenden Konsonanten übergehen; lang, wenn sie in der Stellung verharren, die dem Vokal Entstehung gab. Das Zeitverhältnis beider wurde von den Alten als einfache Verdoppelung angesehen, und so war z. B. der Daktylus ein grades Maß, mit andern Worten: die beiden Kürzen waren gleich der Länge, und statt des Daktylus oder Anapäst konnte ein Spondeus stehen; der Jambus und Trochäus waren ungerade, und statt des letzteren einen Spondeus setzen, hätte die rhythmische Bewegung aufgehoben. Dazu kam dann noch die Positionslänge: zwei oder mehr Konsonanten, unmittelbar zusammenstoßend, erforderten so viel Zeit, daß die Silbe, deren Schluß sie bildeten, auch wenn sie kurzen Vokal hatte, für lang gerechnet wurde. Auf den Wortton, auf die Bedeutsamkeit kam dabei nichts an; Metrum und Betonung kreuzten sich fortwährend; ein Hexameter konnte beginnen: αὐτὰρ ἔπειτα oder lauten wie folgender: Τὸν δ ἀπαμειβόμενος προσέφη πολύμητις Όδυσσεύς – ebenso konnte ein Substantiv oder Verbum mit dem höchsten Gewicht in der Rede aus zwei kurzen, flüchtigen Silben, ein Ableitungs- und Flexionselement aus einer Reihe langer bestehen, und beiden wurde im Verse nach dieser ihrer sinnlichen Gestalt je das gleiche Recht. So stand es bei den Alten; die modernen Sprachen entwickelten sich nach dem entgegengesetzten Prinzip. Sie ließen die Quantität immer mehr fallen, machten die Vokale gleich und verstärkten in demselben Maße die eine Silbe vor der anderen durch einen Akzent, d. h. durch lebhafteren Druck des Atems und Erhöhung des Tones. So taten nicht bloß die barbarischen Natursprachen des Nordens, sondern auch die sich umgestaltenden und verjüngten Idiome des Südens. Beide bewegten sich einem Ziele entgegen, das ihrem Altertum fernlag, einem inneren historischen Triebe und Gesetze gehorchend. Die Neugriechen z. B. kennen keine Kürze oder Länge des Vokals, nur akzentuierte und nicht akzentuierte Silben, und an die Stelle der homerischen Hexameter und tragischen Trimeter sind bei ihnen sogenannte politische oder bürgerliche Verse getreten. Auch die meisten slawischen Völker haben alle Verschiedenheit der Vokaldauer – die sie in ihrer Urzeit sicherlich besaßen – aufgegeben, und bei Polen wie bei Russen und Kleinrussen waltet in gebundener und ungebundener Rede nur der Akzent. Im Deutschen kommt dann noch ein besonderes Moment hinzu: der Akzent fällt auf den Kern des Wortes, die Stammsilbe, die den allgemeinen Begriff benennt, dessen nähere Bestimmung und Beziehung wird durch tonlose Silben bewirkt. So ist z. B. in dem Worte begünstigen der Begriff Gunst durch den Ton als das zugrunde liegende Subjekt bezeichnet; Attribut wird dieses durch das angehängte unbetonte ig – günstig, dieses wieder durch die Verbalendung und Zusammensetzung mit be, beide tonlos, zum prädikativen und zugleich transitiven Verbum. So hält der Akzent nicht bloß das Wort als Ganzes, als Individuum zusammen, sondern er hebt auch den Begriff aus den mannigfachen Verhältnissen, in die er eingegangen ist, in seiner ursprünglichen, noch bestimmungslosen Allgemeinheit als Herrschendes hervor. Daß dabei auch kein Gesetz der Positionslänge gelten kann, ergibt sich von selbst. Zwar wird der Dichter mit feinerem Gefühl auch der Position einen leisen Einfluß gönnen; sie wird, wie der Wechsel der Vokale, den Vers wohllautend oder übelklingend machen (worüber bei den verschiedenen Völkern je nach dem Bau der Sprachen oder der Gewöhnung der Artikulation das Urteil sehr verschieden ausfällt): auf den Rhythmus selbst aber kann sie nicht bestimmend sein.
Blickt man von dieser neuern Art noch einmal auf das Altertum zurück, so offenbart sich auch in diesem Punkt der ganze Gegensatz beider Zeitalter. Die Messung nach der Zeit ist sinnlich, die nach dem Ton gemütlich; aus der ersteren spricht Klarheit der Anschauung und der Gedanken, aus der andern ein Inneres, Gestaltloses, die Empfindung; ein Volk, das sein Ideal in Säulenarchitektur, in Marmor- und Erzbildern äußerlich hinstellte, und dessen Poesie an Tanz und Gesang, an Lyra und Flöte geknüpft war, mußte auch in der Sprache die rhythmische Bewegung nach der Zahl und Wiederkehr gleicher Zeitabschnitte regeln. Als aber das Christentum den Menschen und seine Ansicht der Welt völlig umgewandelt und alles bisher Erstrebte und Gedachte in sein Gegenteil verkehrt hatte, da kündigt sich auch in griechischen und lateinischen Versen der neue Geist an: die Quantität versagt, der Akzent zerstört die grammatischen Formen und bemeistert sich des Rhythmus – bis im Mittelalter in den byzantinischen Kirchengesängen und den lateinischen Sequenzen, Hymnen usw. bloß nach dem Wortton gemessen wird und zugleich der nordische Reim und die aus der Urzeit wieder auferweckte Alliteration den dichterischen Schmuck abgibt und die Zeilen und Strophen gliedert.
Was nun die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines deutschen Hexameters betrifft – wir wenden uns zunächst zu dieser Versart –, so war zu Klopstocks Zeit der Stand der Sache in Wirklichkeit folgender: Man bildete eine Reihe von sechs Hebungen, die durch eine oder zwei tonlose Silben und Senkungen voneinander getrennt waren. Der Vers begann immer mit einer Hebung – denn die Senkung, die Kleist in seinem Frühling seinem sechsfüßigen Verse vorgesetzt hatte, fand, als dem Muster der Alten zuwider, keine Nachfolge; – der letzte Fuß bestand immer nur aus einer Hebung mit nachschlagender Senkung, der vorletzte aus einer betonten und zwei unbetonten Silben – beides dem antiken Hexameter abgesehen. Wo auf eine Hebung nur eine Senkung folgte, nannte man dies einen Spondeus und suchte halb- oder tieftonige Silben, z. B. die eine Hälfte zusammengesetzter Nomina oder Verba, oder bei Ableitungen diejenigen, die ursprünglich Nomina gewesen waren, aber allmählich den Schein der Derivation angenommen hatten, wie heit, tum, schaft, in geringerm Maße auch lich, bar usw., an die zweite Stelle zu bringen; da dies aber nicht immer gelang und die nachfolgende Silbe allzu fühlbar kurz, d. h. tonlos war, so konnte man sich nicht verbergen, daß man statt des antiken Spondeus einen Trochäus gebildet hatte, und so stritt Klopstock ausdrücklich für die Zulassung dieses Fußes im deutschen Hexameter und behauptete zuversichtlich, der Vers des Homer und Vergil habe dadurch an Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit gewonnen. Man verwechselte fortwährend den rhythmischen Iktus, der bei den Alten den Gang des Verses regulierte und das sogenannte gute Taktteil gegen das schlechte hervorhob, mit dem Wortakzent, der, mit dem Sinn untrennbar verbunden, im Deutschen alleinige Geltung hatte; daß man dem Wesen des deutschen Verses widersprach, indem man echte Spondeen bilden wollte – denn da wäre ja die Senkung keine Senkung gewesen –, ahnte man nicht, ebensowenig, daß auf den Unterschied, ob eine oder zwei Senkungen der Hebung folgten, in deutsch-rhythmischer Beziehung so sehr viel nicht ankam, ja unerhört wäre die Behauptung gewesen, man könne im deutschen Hexameter auch drei tonlose Silben zwischen zwei Hebungen schieben (also nach antiker Benennung einen Päon Primus bilden), etwa wie im Goetheschen Hexameter:
Ungerecht bleiben die Männer, und die Zeiten der Liebe vergehen –
welcher Vers aber in der Tat kein unrechter deutscher Hexameter ist – nur müssen die Senkungen, wie hier der Fall ist, das gehörige Maß von Flüchtigkeit und der Hebungston die nötige Kraft haben, sie in der Sphäre seiner Anziehung zu halten Als man Goethe später auf diesen Vers in Hermann und Dorothea, der doch nur einem Schreib- oder Druckfehler seine Gestalt verdankte, aufmerksam machte, war er keineswegs beschämt, sondern ließ, wie er sich ausdrückte, die siebenfüßige Bestie weiterlaufen. Er hatte nämlich die Formalistik der Herren Metriker schon kennen und verachten gelernt, machte keine Hexameter mehr und äußerte über den einst hochverehrten Voß: »Für lauter Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden« (im Jahre 1808, an Zelter, I, 327). Auch mit Bezug auf A. W. Schlegel hatte er schon das Jahr vorher von der »modernen Rhythmik ohne Poesie« gesprochen und sie eine »Krankheit« genannt und vorausgesagt, in zehn Jahren werde »der Dünkel, womit die Rhythmiker von der strengen Observanz sich jetzt vernehmen lassen, höchst lächerlich sein« (an Knebel, 14. März 1807).. Auch das Vorbild des Volkslieds, die Knittelverse in mehreren Gedichten Goethes, die Schillerschen Balladen usw. irrten niemand in der hergebrachten, durch die Antike gebannten Ansicht. Wenn es hieß:
Wer wágt es, Ríttersmann óder Knápp –
(Wo sich auch betonen läßt: Rittersmánn ŏdĕr) oder:
Und áls er kám zu stérben,
Zählt er seine Städt' ím Réich –
(mit drei Senkungen zwischen zählt und Städt') oder:
Ich líebe dich, mich reízt deine schöne Gestált –
(gleichfalls mit drei Senkungen zwischen liebe und reizt)
oder:
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte soeben im Gehen geträumt –
(im ersten Verse vier Jamben, im zweiten eine daktylische katalektische Tetrapodie mit Anakrusis, in Wirklichkeit aber vier Hebungen mit beliebigen Senkungen dazwischen oder davor) –
oder in demselben Gedicht:
Héb doch eínmál das Húfeísen aúf –
oder endlich:
Den Jüngling bríngt keínes wíeder –
(in welchem Verse, wie man ihn auch lese, zwei Hebungen zusammenstoßen) –,
so fragte sich niemand, ob es sich mit dem Hexameter, als einem Verse mit sechs Hebungen, nicht ebenso verhalte, und ob man sich vielleicht nicht selber einige besondere Regeln, die in einer ganz andern Welt als organische Form entsprungen waren, willkürlich auferlegt hatte. Unterdes aber war Voß aufgetreten und suchte den Hexameter Klopstocks der technischen Strenge des griechisch-lateinischen noch mehr zu nähern. Er vermied, soviel er konnte, den Trochäus, schuf sich künstliche Spondeen und Daktylen, setzte fest, welche Silben lang, welche kurz seien, welche als mittelzeitig bald kurz, bald lang sein könnten, und gelangte so zu den Hexametern, wie folgende:
Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer zu Grünau –
Jetzo begann holdselig ihr Lied die melodische Jungfrau,
Und des Gesanges Wohllaut, eindringendem Worte vereinigt,
Wallete hell, dann leise gedämpft, in die Stille des Abends.
Von hinschmelzendem Halle gesänftiget, lauschten sie ringsum,
Fühlten erstaunt der Natur Hoheit und schwangen sich aufwärts
Über Mond und Gestirne zu Gott und den Seligen Gottes.
Da aber die deutsche Sprache sich gegen solche vollkommene Hexameter sträubte, so mußten Listen und Zwangsmittel angewandt werden, sie willig zu machen. Voß brauchte z. B. Diminutiva, um eine Silbe mehr oder vielleicht gar einen Spondeus zu gewinnen: Söhnlein, wo die Sache den Sohn verlangte; er setzte den Komparativ für den Positiv, wo es sich nicht um eine Vergleichung handelte: der grünere Hain, statt der grüne, behielt das durch den Sprachgebrauch schon ausgestoßene e der Verbalflexion bei, wie wallete besänftiget, beides wegen des Daktylus, und brach die Worte, um Spondeen zu gewinnen, wie drauf antwortetest du, ehrwürdiger – durch welches letztere Verfahren das Grundgesetz von der Geltung des Akzentes umgestoßen ward, da niemand sagt antworten, ehrwürdig. Wirkliche Spondeen sind in der deutschen wie in jeder akzentuierenden Rhythmik unmöglich, ja selbst der Schein solcher, wie beim Daktylus, Jambus usw., läßt sich nicht erregen. Der Grund liegt sehr nahe. Bei den Alten, wo die Länge etwas für sich Bestehendes, durch die Zeit Gemessenes und von dem metrischen Iktus Gesondertes war, konnte auch diejenige Silbe lang sein, die in das sogenannte schlechte Taktteil fiel; im Deutschen, wo die Länge durch Erhebung des Tones ersetzt wird, können zwei Silben, von denen in der Bewegung des Verses nur eine den vollen Ton hat, keinen im Gleichgewicht beider Hälften schwebenden Versfuß bilden Selbst Voß erkannte dies in einer vorübergehenden Bemerkung an, deren Konsequenzen ihm aber entgingen: »Steigende Spondeen«, sagt er S. 127 seiner Zeitmessung der deutschen Sprache, Königsberg 1802, »ahmen den Jambus, sinkende den Trochäus nach.«. Voß half sich auf doppelte Weise, um dennoch Spondeen zu erzwingen, indem er beidemal nach seiner Art gewalttätig und mechanisch verfuhr. Er faßte nämlich entweder zwei wirklich betonte Silben zusammen und sagte:
Der Herrscher im Donnergewölk Zeús –
und:
Faßte, dieweíl Kárl drängte, den Arm des bescheidenen Jünglings –
wo aber die zweite Silbe Zeus, Karl in widersinniger Weise gesprochen werden muß oder beide Silben gleich stark betont werden, folglich aufhören, sich zu der Einheit eines Fußes zu verbinden, und statt des Hexameters eigentlich ein Heptameter entsteht, d. h. ein Vers mit sieben Hebungen. Oder er bildete sogenannte geschleifte Spondeen, indem er die stark betonte Silbe in die Thesis, die schwach betonte in die Arsis brachte und z. B. sagte:
es erfólgt Schwachhéit abstérbendes Alters –
oder:
wer getróst fortgéhet, der kómmt an –
womit abermals der deutschen Wortbetonung Hohn gesprochen ist. Niemand sagt fortgéhet, es müßte denn sein, daß der Gegensatz zum Fortreiten, Fortlaufen, Fortfliegen den Ton auf das Gehen verlegte, und kommt an könnte in einem jambischen Gedicht ohne Anstoß als Jambus gebraucht werden, wie Schwachheit als Trochäus oder als die beiden Anfangssilben eines Daktylus. Auch an Wort- und Versmalerei, d. h. Versinnlichung des jedesmaligen Gegenstandes der Rede durch den Gang des Verses und den Körper der Silben und Worte, ließ es Voß nicht fehlen. Die Stellen des Vergil und Ovid, wo das Galoppieren des Pferdes durch lauter Daktylen, das Fallen der Hämmer durch lauter Spondeen, das Gequäke der Frösche durch ähnliche Sprachlaute ausgedrückt wird, galten ja in jener Zeit für die höchste poetische Schönheit, und so gab Voß in seinen Übersetzungen, wo eine solche Malerei vorzuliegen schien, diese mit Treue, oft sogar übertreibend wieder. Daher sein:
Hurtig mit Donnergepolter entrollte usw.
und
ihn von der Au aufwälzend
(ἄνω ὤϑεσκε ποτὶ λόφον, wo er das Digamma als Anlaut von ὤϑεσκε nicht kannte oder nicht in Betracht zog). Er selbst dichtete:
Als rings her pechschwarz aufstieg graundrohende Sturmnacht.
Homers naiver Gesang weiß von solchen Künsteleien nichts und verfolgt, unbekümmert um den Sinn und Gegenstand, seinen eigenen gleichmäßigen metrischen Gang. Und dies gerade ist die Idee des Verses. Die gebundene Rede besteht eben darin, daß ohne Rücksicht auf den mannigfachen Wechsel der Bilder und Empfindungen immer ein und dieselbe rhythmische Form unabänderlich wiederkehrt. Wäre jene Malerei das Richtige, so müßte ein festes Metrum überhaupt verworfen werden. Das Metrum gerade gibt dem umfassenden epischen Gemälde die ausgleichende Haltung und steht wohl zu dem Ganzen der Dichtung, nicht aber zu jedem Punkte der Bewegung in erkennbarem Verhältnis.
Voß' prosodische Gesetzgebung war ein Sieg der Schule, des Handwerks über den freien Genius der deutschen Sprache. Sein Hexameter ließ sich skandieren und rollte in griechisch-lateinischen Redensarten, Bildern, Wendungen und Wortstellungen so prächtig daher! Je strenger die Forderungen, um so größer der Triumph des Künstlers, der sie erfüllte. Da fast alle damaligen Dichter philologisch gebildet waren und schon als Knaben in der Schule die Eklogen des Vergil und die Metamorphosen des Ovid und später die Satiren und Episteln des Horaz taktmäßig, d. h. mit moderner Betonung hergesagt hatten, so fand Voß bald Anhänger und Nachfolger und allgemeine Zustimmung. Sich des Trochäus ganz zu enthalten, den Voß in der Not noch hatte hin und wieder zulassen müssen, wurde ein Ideal, ein Ziel des Strebens, ja Fried. Aug. Wolf machte den Versuch, ein Stück des Homer von hundert Versen so zu übersetzen, daß Fuß für Fuß, Spondeus mit Spondeus, Daktylus mit Daktylus im Griechischen und im Deutschen übereinstimmten – welches man, wenn es nicht etwa satirisch gemeint war, wohl den Gipfel der Torheit nennen konnte Goethe schrieb damals an Zelter (19. März 1818): »Von den hundert Hexametern mag ich ebensowenig wissen, als von den hundert Tagen der letzten bonapartischen Regierung. Gott behüte mich vor deutscher Rhythmik wie vor französischem Thronwechsel.«. Auch Wilhelm von Humboldt drang auf die Regel, und A.W. Schlegel, der ein um so größerer Wortkünstler sein konnte, je kälter sein Herz war, lieferte kurze Musterstücke, die allerdings durch Feinheit und Geschmack Voß' grobe Schreinerarbeit übertrafen. Sie alle überflügelnd, trat im neunzehnten Jahrhundert der Graf A. von Platen auf, der mit blendender Technik nicht bloß den heroischen und elegischen Vers, sondern auch die künstlichsten lyrischen Maße der Griechen in deutscher Sprache nachbildete. Nur schade, daß in diesen herrlichen Versen, bei denen man oft die alten äolischen und dorischen Kitharöden nach so vielen Jahrhunderten wieder zu vernehmen glaubt, doch der Akzent, also ein Ausbruch der Empfindung, die Länge bestimmt und damit die Plastik des Meißels trübt und ins unbestimmte zieht!
Wenn die Distichen des Orakels im Triumph der Empfindsamkeit nicht schon der ersten Gestalt dieses Dramas vom Jahre 1777 angehören, so scheint Goethe die Form des Hexameters zum ersten Male in dem kleinen Gedicht »Physiognomische Reisen« (unter Epigrammatisch) versucht zu haben. Es kann nicht früher als in das Jahr 1778 fallen, da das gleichnamige Buch von Musäus in den Jahren 1778-79 in Altenburg erschien; aber auch nicht viel später, da Lavaters physiognomische Lehre darin mit warmen Worten in Schutz genommen wird, auch das Interesse an Musäus und dessen Angriff bald erlöschen mußte. Dann finden sich in den »Vögeln«, vom Sommer 1780, vier Hexameter eingeschaltet, mit denen Treufreund die versammelten Vögel über den Anfang der Anfänge belehrt, und die er einem lächerlichen Dichter Periplektomenes (der Verwickelte, Umwundene) entnommen haben will. Im Herbst desselben Jahres übersetzte der Dichter einige Zeilen aus den sogenannten goldenen Sprüchen des Pythagoras und schickte sie der Freundin (an Frau v. Stein, 8. Sept. 1780). Darauf, im Frühling 1782, als ihm einige Epigramme der griechischen Anthologie in der Übersetzung bekanntgeworden waren, fand er sich zu ähnlichen kleinen Gebilden angeregt, in elegischem Maß und meist im Gewande griechischer Mythologie, seiner verstohlenen Liebe und den Felsen und Ruheplätzen gewidmet (unter »Antiker Form« sich nähernd). Die Behandlung des Verses war die Klopstockische, und sie ging ihm leicht von der Hand; die eigentlich elegisch-hexametrische Zeit war noch nicht gekommen, und so sind die Blumen dieses Vorfrühlings wohl hin und wieder artig, doch etwas schüchtern und dürftig. Als dann Herder im Jahre 1784 eine Nachdichtung erlesener Stücke derselben Anthologie unternommen hatte (sie erschienen gedruckt in den »Zerstreuten Blättern« 1785 und 1786) und sie Goethe mitteilte, erwiderte dieser zwar mit Dank und lebhafter Anerkennung, aber seine Dichtung fand sich durch die Gabe nicht unmittelbar befruchtet; nur diese und jene unfreiwillige Gelegenheit verwandelte sie in einen leichten elegischen Schmetterling, so die Distichen auf den Tod des in der Oder ertrunkenen Herzogs Leopold von Braunschweig, des Bruders der Herzogin-Mutter, oder die warmen Verse in das Stammbuch seines Zöglings Fritz von Stein, oder die schalkhaften in das gleiche der Gräfin Tina Brühl usw. Und wieder vergingen einige Jahre, der Dichter war in Italien gewesen, er hatte viel gewonnen, viel genossen, aber als ein Befriedigter kehrte er nicht wieder, so manches Leid trübte den Blick – bis die Mißstimmung plötzlich, noch im Jahre 1788, in Glück und Heiterkeit sich auflöste und nun in den Römischen Elegien und Epigrammen (den venezianischen, den schlesischen, dem auf die Sakontala Die im ersten Rausch der Freude gedichteten zwei Distichen auf die Sakontala überschätzen übrigens dies indische Drama bei weitem. das Distichon wieder auftauchte und in den beiden Episteln auch der bloße Hexameter, wie in den gleichnamigen Gedichten des Horaz. Dann kam ihm der Reineke Fuchs in die Hand (in der Gottschedischen prosaischen Übersetzung) – auf den er sich schon vor Jahren »kindisch gefreut« hatte –, und er brachte ihn in ein großes Homerisches Epos, um sich, wie er später äußerte, im Hexameter zu üben. Es folgten in den nächsten Jahren einige Idyllen, Alexis und Dora, Euphrosyne, Amyntas, der neue Pausias, die Xenien und die friedlichen Epigramme, mitten darunter auch ein hexametrisches Epos in neun Gesängen, Hermann und Dorothea, und als letzter Nachklang dieser antiken Periode und ihrer Formen – die etwa zehn Jahre gedauert hatte, ebensolange wie von 1776 bis 1786 die frühere weimarische Zeit – der erste Gesang einer Achilleïs. Noch im Jahre 1806 gedachte er, wie uns die Annalen zu diesem Jahre berichten, sein episches Gedicht Wilhelm Tell in Hexametern zu schreiben, aber die angstvolle und stürmische politische Lage vereitelte den Plan, und mit »dieser herrlichen Versart« war es für immer dahin Wäre das Gedicht zustande gekommen – welch ein beliebtes Thema für deutsche Aufsätze in den Schulen: »Vergleichung des dramatischen Tell von Schiller mit dem epischen von Goethe!«. Durch Goethes Beispiel ermutigt, begann auch Schiller seit der Herausgabe der Horen, also seit 1795, in gedankenvollen Gedichten sich des Maßes der alten Elegiker zu bedienen, und wie man gestehen muß, gleich anfangs mit Glück und Meisterschaft. Aber beide Dichter waren keine eigentlichen Techniker; eben als Dichter vor allem um die Wahrheit des Ausdrucks bemüht, behandelten sie die metrische Form sorglos, diese gleichsam von innen, aus dem Inhalt selbst hervorbildend. Damit aber gaben sie denen, die sich nach der neuen deutsch-lateinischen Doktrin in Lang und Kurz geübt hatten, fortwährenden Anstoß. Voß selbst, der mit jedem Jahre strenger wurde, d. h. sich immer weiter von dem alten Sänger, den er wiedergeben wollte, entfernte – fühlte sich hoch erhaben über die stümperhaften Versuche der beiden Herrscher über den deutschen Parnaß und wagte es, sie in einem Distichon also zu verspotten:
In Jena und Weimar macht man Hexameter wie der,
Aber die Pentameter sind noch viel vortrefflicher.
Auch A. W. Schlegel überwand in diesem Punkte seine Abneigung gegen Voß und erklärte schon im Jahre 1801, Voß sei unstreitig als »der zweite Erfinder« der antiken Silbenmaße, besonders des Hexameters, im Deutschen anzusehen und sein Verdienst dabei »unermeßlich groß«. Noch in seinen späteren Lebensjahren, als ihm der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe bekanntgeworden war, wo er mitunter übel wegkommt, schoß er als Großmeister poetischer Formalistik Pfeile gegen die Duumvirn wegen ihrer angeblich unvollkommenen Hexameter ab:
Eure Hexameter sind der natürlichste Naturalismus,
Nimmer begriff eu'r Ohr jenes hellenische Maß –
(wo eur Ohr erst recht das Ohr beleidigt) und:
Hexameter zu machen,
die weder hinken noch krachen,
das sind nicht jedermanns Sachen –
(richtiger deutsch: das ist nicht jedermanns Sache, was aber ärgerlicherweise der Reim nicht zuließ). Der stolze Schiller ließ sich durch die Pedanten nicht irren
Unter den Xenien, die er gegen die Schlegel richtete (sie taten, als ob sie nichts merkten, empfanden aber den Stachel tief), deuten wir eins auf August Wilhelms metrische Grübeleien (wie Schiller sie ansah, in den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache und in der Rezension von Voß' Homer):
Rezension:
Sehet wie artig der Frosch nicht hüpft! doch find' ich die hintern Füße um vieles zu lang, sowie die vordern zu kurz.
Auf denselben und im besonderen auf sein Gedicht Pygmalion (im Schillerschen Musen-Almanach für 1797) geht wohl auch die Xenie »Ein deutsches Meisterstück«:
Alles an diesem Gedicht ist vollkommen, Sprache, Gedanke,
Rhythmus; das Einzige nur fehlt noch, es ist kein Gedicht. und tat wohl daran. Goethe, weich und bildsam auch hierin, suchte von seinen Gegnern zu lernen und ging sein neues episches Gedicht mit Humboldt durch, um aus demselben, kurz gesagt, möglichst viel Trochäen und, wo es sich um einen Daktylus handelte, möglichst viel zusammengesetzte Substantive wegzuschaffen. Nach unserem Urteil wurde aber das schöne, gleichmäßig fließende Gedicht dadurch nur geschädigt. Wenn es z. B. heißt:
Die Gesinnung ist löblich und wahr ist auch die Geschichte,
Mütterchen, die du erzählst. Denn so ist alles geschehen –
so mußte statt Mütterchen vielmehr Mutter stehen, denn so und nicht mit dem Diminutiv redet der Mann die Frau an, wie sie zu ihm in dem Gedicht zu wiederholten Malen Vater sagt. So war wohl auch Voß daran schuld, wenn schon früher ein Vers in Alexis und Dora lautete:
Und das Mütterchen ging feierlich neben dir her –
wo die Mutter zwar zwei sogenannte Trochäen ergeben hätte, aber viel angemessener gewesen wäre, schon mit Rücksicht auf das Folgende feierlich. Ganz so verhält es sich mit der oder die Krankende statt Kranke in den zwei Versen:
Wenn der Säugling die Krankende weckt und Nahrung begehrt –
und:
Doch der Krankende fühlt auch schmerzlich die leise Berührung –
offenbar, um beide Male den Ditrochäus zu vermeiden.
In dem Verse:
Tretet herein in den hinteren Raum, in das kühlere Sälchen –
ist Sälchen für Saal ein ganz Vossischer Notbehelf, der der Rede etwas Spielendes gibt, und auch der gleich folgende, etwas kostbare Genitiv:
Sorgsam brachte die Mutter des klaren herrlichen Weines,
der hinzugefügte Spondeus sorgsam – da die Sorgsamkeit hier keinen wesentlichen Zug bildet –, endlich die ganze zu niederländische Schilderung der geschliffenen Flasche, der grünlichen Gläser, des glänzend gebohnten Tisches usw. – alles dies erinnert nicht angenehm an den Dichter der Luise. So auch das imperativisch gebrauchte passive Partizipium:
Frisch, Herr Nachbar, getrunken!
oder im Proömium:
Noch einmal getrunken!
– denn dies war eine Lieblingswendung des groben Vossischen Stiles, die sich für den Kutscher (Vorgesehen!) oder den Fronvogt (Nicht lange gefeiert!) oder den Schulmeister unter seinen Jungen (das Maul gehalten!) schicken mag, aber mitten in der Grazie der Goetheschen Rede wie ein fremder Zusatz auffällt. Einige Male begegnen in Hermann und Dorothea auch die geschleiften Spondeen, das neueste und höchste Kunststück der Schule: aúf halbwáhren Worten ertappt, sélbst hingíng nach Paris, die hochhérzig ein Mädchen vollbrachte, dáß unwíllig sie flieht, mit scheú unsícherem Blicke usw. – und wir wissen nicht, ob und wie viele davon schon ursprünglich im Texte standen oder von falschen Ratgebern hineinkorrigiert waren. Goethe selbst nahm im August des Jahres 1799 zum Behufe eines neuen Abdrucks seine kleinen Gedichte aus den letzten zehn Jahren, die Epigramme, Elegien und Idyllen, wieder vor und besserte daran im Sinne der neuen Prosodik. Er meldete dies Schiller und fügte hinzu, er zeige dadurch »Respekt für die Fortschritte in der Prosodie, welche man Vossen und seiner Schule nicht absprechen kann«. Schiller billigte das Verfahren und hatte sogleich nach seiner Art eine kunstphilosophische Formel dazu in Bereitschaft, obwohl er selbst den Hexameter und Pentameter damals für immer aufgegeben hatte. Manches nun wurde durch diese Überarbeitung in der Tat geschmeidiger, durchsichtiger; an anderen Stellen aber hat die Sorge für das Metrum die Anmut der sprachlichen Form ins Steife und Gesuchte verkehrt; z. B. wenn es in dem Epigramme »dem Ackermann« statt des früheren: »Pflüge fröhlich und säe« jetzt heißt: »Fröhlich gepflügt und gesät« – mit dem schon erwähnten imperativischen Partizipium, oder in »Versuchung« der erste Vers:
Eine schädliche Frucht reicht' unsere Mutter dem Gatten –
jetzt in einen manierierten Fragesatz verwandelt ist:
Reichte die schädliche Frucht einst Mutter Eva dem Gatten –
vermutlich um den flüchtigen Trochäus »Eine« wegzuschaffen usw. Alle diese Bemühungen konnten die Rigoristen, von denen manche, die auf sächsischen Schulen erwachsen waren, mit Leichtigkeit sogar lateinische Verse anfertigten, doch nicht versöhnen. Platen fand den Vers in Hermann und Dorothea ungenügend:
Holpricht ist der Hexameter zwar, doch wird das Gedicht stets
Bleiben der Stolz Deutschlands, bleiben die Perle der Kunst –
und als Goethe später, wie schon erwähnt, unvorsichtigerweise das Bekenntnis ablegte, er habe sich mit dem Reineke Fuchs nur befaßt, um sich im Hexameter zu üben, da war die Sache ausgemacht: die Hexameter unserer beiden Klassiker waren und blieben schülerhaft; im besten Fall verzieh man sie ihnen im Hinblick auf manches andere Verdienst. Goethes Reineke Fuchs fand überhaupt in der literarischen Kritik nicht die gebührende Würdigung – und dennoch hat nur dies Gedicht die Fabeln von Reineke und den übrigen tierischen Charakterfiguren populär gemacht und im Andenken der Nation erhalten und so ein schönes Vermächtnis der Vorfahren vor dem Untergang bewahrt.
Um aber gleich herauszusagen, wie wir denken, so scheinen uns die Hexameter in den zwölf Gesängen des Reineke Fuchs und in den gleich folgenden beiden Episteln die besten, die überhaupt in deutscher Sprache in einem größeren Zusammenhang gemacht worden sind Zu unserer Überraschung finden wir ein ähnliches Urteil schon durch Knebel ausgesprochen, der überhaupt unbefangener und klarer sah, als fast alle übrigen in Goethes Umgebung. Er schreibt den 22. Dezember 1795 an Goethe: »Da Du im vollkommenen Besitz bist, auch hierüber (über den Bau des Hexameters) Regel auf dem Parnaß zu geben und ich z. B. Deinen Reineke Fuchs für das beste und der Sprache eigentümlichste Werk deutscher Prosodie halte, so wollte ich nicht, Daß Du andern, die bei weitem nicht Gefühl und Geschmack genug zu dieser Sache haben, aus zu vieler Nachsicht und Gutheit zu viel einräumtest. Der lebendige Geist, mit Sinn und Geschmack verbunden, fehlt ja fast überall noch in unseren Gedichten, und was soll es werden, wenn sich unsre einzigen Muster unter die Regel einseitiger oder gefühlloser Pedanten schmiegen!« Auch Friedrich Schlegel, der hierin liberaler war, als sein mehr zünftiger Bruder, meint später in den Kritischen Fragmenten: »Man tadelt die metrische Sorglosigkeit der Goetheschen Gedichte. Sollten aber die Gesetze des deutschen Hexameters wohl so konsequent und allgemeingültig sein, wie der Charakter der Goetheschen Poesie?«. In den späteren Werken antiker Form hat der Dichter schon die Unbefangenheit nicht ganz, aber doch ein wenig verloren. Im Reineke Fuchs aber bewegt sich die deutsche Rede mit dem freiesten Behagen in der reizenden Zierlichkeit fort, nirgend vom Metrum gestört oder beengt, bald nach dem ihr eigenen Numerus dem Verse entgegen und ihn kreuzend, bald in mannigfachen Verschlingungen sich ihm wieder zuneigend und abermals von ihm abwendend, um endlich am Schlusse der Periode harmonisch mit ihm zusammenzufallen. Wir sind ganz im Gegenstande, in der Erzählung, wissen kaum, daß wir Verse hören, und doch begleitet uns das halbdunkle Gefühl, innerhalb der goldenen Schranken des Maßes gehalten zu werden und zwischen wechselnden, aber festen Ufern, auf sanften Wellen im leichten Kahn den Fluß hinabzugleiten. Wie der Stoff die Homerische Heldenwelt in leichter Parodie zu streifen scheint, so blickt uns auch der Hexameter selbst, der ehrwürdige Vers, durch den selbst die Pythia den Ratschluß der Götter verkündigte, so schalkhaft, ja mutwillig an – die schwere Rüstung liegt der Fabel nur leicht auf, denn sie ist ja keine wirkliche, sondern eine heitere Maske, und wenn diese sich hin und wieder verschiebt, so erhöht das nur den Zauber des Vortrags und das Ergötzen des Hörers. Vor dem Doppel-Trochäus fürchtet sich der Dichter nicht, so gleich am Anfange:
Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde –
wo die trochäische erste und die daktylische zweite Hälfte der Verse eine gefällige gegenseitige Ausgleichung bewirken; ebensowenig vor dem Halbton in der zweiten Hälfte des Daktylus:
Gutes Hándgĕld ĭst das, versetzte Reineke munter –
oder: Eurem Geleit nicht Náchdrŭck vĕrschaffen, es leidet Euer Ánsehn dădurch, merket den Úmstănd ŭnd sucht ihn zu nützen, von der Haúsfraŭ ĕmpfangen, Fragen und Úrteĭl gĕstellt, als Euer Leíchtsĭnn gĕdacht hat, Jeder genießt die Wóhltăt dĕs Rechtes, was für Ántwŏrt gĕbühret, Eueren Vórteĭl bĕsorgt er nicht sehr, mich führte der Zúfăll dĕn Weg her usw. In der Tat gewinnt der deutsche Hexameter nur durch diese Zulassung die nötige Mannigfaltigkeit und Schönheit. Was verschlägt es, wenn die Thesis bald mehr, bald minder ins Gewicht fällt? Oder vielmehr, nur so kann der Hexameter den Tonfall und die innere Gliederung des deutschen Idioms in sich aufnehmen und dem deutschen Gefühle natürlich und anmutig werden Man vergleiche damit die Protestationen Knebels gegen die Voß-Schlegelsche Manier in dem Briefe an Goethe vom 18. November 1799, denen man nur beistimmen kann. Einmal nennt Knebel Vossens Hexameter spottend »wagerechte Verse«.. Ganz so würde ein jambisches Gedicht, in dem die Thesen aus lauter dünnen, völlig tonlosen Silben bestünden, dem einförmigen Takt eines mechanischen Werkes gleichen; auch hat man seltsamerweise in jambischen oder trochäischen Versen das, was im Hexameter verboten wurde, immer erlaubt. Das Maultier sollte im Hexameter nur als Spondeus gelten dürfen, am ausgesuchtesten so, daß Maul einem vorausgehenden Spondeus, tier als Arsis einem nachfolgenden Daktylus angehörte – aber in dem Verse:
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg –
ist es noch niemand eingefallen, einen Fehler zu finden
Oder hielt Platen den Vers doch für fehlerhaft? Er sagt in der Verhängnisvollen Gabel:
Setzen ja die Jambenschmierer, deren Vers den Vers zerstört,
Den Spondeus oft an Stellen, wo er gar nicht hingehört.. Und ebensowenig in Fausts Worten:
Doch laß uns dieser Stunde schönes Gut
Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern –
oder aus den lyrischen Gedichten in Zeilen wie folgende:
Jeden Náchklăng fühlt mein Herz –
Voll Unmŭt únd Verdruß –
Verengt der Abschĭed mír das Herz –
oder in dem Kirchenlied:
Allein Gŏtt in der Höh' sei Ehr –
oder in dem politischen Liede:
Deûtschlănd, Deûtschlănd über alles –
(womit man den obigen Pentameter Platens, in dem das arme Deutschland mitten durchgebrochen ist, vergleiche: bleiben der Stólz Deútschlánds). Die Sprache selbst hat diese Richtung genommen und manche Zusammensetzung durch Verkürzung rhythmischer und wohllautender gemacht, z. B. Wimper aus Windbraue, Junker aus Jungherr, Schulze, Schulz aus Schultheiß, im Volksmunde Emse aus Ameise, Wingert aus Weingarten usw. Doch sind noch immer Composita genug übrig, die wegen ihres Halb- oder Dreiviertelgewichtes sich nicht messen lassen und als völlig unrhythmisch die Sprache übel belasten. So konnte Schiller mit dreisilbigen Wörtern wie Landenge, Hochofen, Scharfschützen nichts anfangen; er mußte sagen:
Der auf Korinthus Landesenge
(eine ganz undeutsche Form) und:
wo ihm in hoher Öfen Glut
(desgleichen) und:
Aber dort seh' ich drei
scharfe Schützen
Linker Hand um das Feuer sitzen.
So konnte auch Goethe seinen Mephistopheles nichts von Gelbschnäbeln reden lassen, sondern von der Wahrheit,
Die gelben Schnäbeln keineswegs behagt –
und vermied in den Venezianischen Epigrammen das Wort Eidechse und sagte lieber Lacerte:
Wollt ihr mir's künftig erlauben, so nenn' ich die Tierchen Lacerten, –
Denn ich brauche sie noch oft als gefälliges Bild –
für Platen aber war das Wort wie geschaffen, er skandierte Eidechse als und sagte (im Gedicht Amalfi):
Nûr Eidéchsen umklettern es jetzt, nur flatternde Raben.
Zur Vollkommenheit des Hexameters rechnet man auch die passende Verwendung der Cäsuren, die den langen heroischen Vers durch willkommene Pausen teilen und gliedern. Auch hierin verfährt der Dichter mit liebenswürdigem Leichtsinn: niemals opfert er dem metrischen Bedürfnis das der Sprache eingeborene Gefüge, die Wortfolge oder Wortstellung, den logischen Zusammenhang, die Heiterkeit der ruhig sich ausbreitenden Darstellung. Sein Vers nimmt, wie der des Homer, alle möglichen Gestalten an, und alle von den Alten aufgezählten Einschnitte finden sich wie von selbst ein. So die Penthemimeres, die mit Recht für die schönste der Cäsuren gilt, und die man den goldenen Schnitt des Hexameters nennen könnte:
Jetzt da jeglicher liest // und viele Leser das Buch nur –
oder die Hephthemimeres:
Würdiger Freund, du runzelst die Stirn; // es scheinen die Scherze –
(mit der Nebencäsur nach der Arsis des zweiten Fußes, wodurch zwei schöne Choriamben entstehen), die bukolische, die nach dem dritten Trochäus usw. Sie alle zusammen geben dem Gang des Verses Schwung und Elastizität. Kommt dazwischen auch eine Zeile vor, wo wegen mangelnder Einschnitte die Schaukel, die uns hin und her wiegt, an der Erde zu schleifen scheint, so empfinden wir gleich darauf den erneuten, durch gesonderte Gruppen unterhaltenen Schwung um so lebhafter. Zwei oder drei Stellen, die wir aus einer Menge anderer herausgreifen, mögen die Behandlung der Cäsuren in Goethes Vers durch Beispiele deutlicher vor Augen stellen.
Hermann und Dorothea:
Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne,
Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte,
Aus dem Schleier, bald hier bald dort, mit glühenden Blicken
Strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung.
In demselben Gesang:
Herrlich glänzte der Mond, der volle vom Himmel herunter;
Nacht war's, völlig bedeckt das letzte Schimmern der Sonne;
Und so lagen vor ihnen in Massen gegeneinander
Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte.
Aus Reineke Fuchs:
Reineke stand und wußte darauf gar künstlich zu dienen;
Denn ergriff er das Wort, so floß die zierliche Rede
Seiner Entschuldigung her, als wär es lautere Wahrheit;
Alles wußt' er beiseite zu lehnen und alles zu stellen.
Hörte man ihn, man wunderte sich und glaubt' ihn entschuldigt,
Ja, er hatte noch übriges Recht und vieles zu klagen.
Wie die Hexameter Homers und Vergils, so reizten auch die lyrischen Strophen, wie sie bei Horaz vorlagen, besonders die alkäische und sapphische, Klopstock und sein Gefolge zu Nachahmungen. Zur Zeit, als Goethes Lyrik sich ankündigte, entzückten Klopstocks Oden, so schwer sie waren, alle Herzen; Ramler galt für den größten Meister, dem es schwerlich jemand nachtat, und willig räumte man ihm bei Versuchen anderer das Recht über Leben und Tod ein. Die gegebenen antiken Strophenformen genügten bald nicht mehr: Klopstock ersann neue metrische Schemata, die er seinen Oden zur Orientierung des Lesers voranstellte. Wenn er nach diesen gearbeitet, gewöhnliche prosaische Gedanken allegorisch verkleidet und lateinische Tropen und Figuren, besonders die des erregten Gefühls – ohne innern Grund – reichlich angebracht hatte, dann war der Ton der Begeisterung getroffen und das Gedicht der Bewunderung gewiß. Dabei wurden die Worte bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit durcheinandergeworfen und auch dadurch mit triumphierendem Stolze dargetan, daß Thuiskons Sohn den Gipfel, auf dem Pindar stand, leicht ersteigen könne. So undichterisch, so sehr als bloß abstrakter Metriker verfuhr Klopstock schon im Jahre 1764, daß er eine klagende Ode an Sponda (d. h. den Sponbeus) richtete; er kann sie nicht finden und ruft:
Wo, Echo, wallt ihr tönender Schritt?
Und in welche Grott' entführtest du sie,
Sprache, mir?
Da tritt Daktylus hervor und tröstet ihn, es sei doch der Choreus da:
Hat er oft nicht Spondas schwebenden Gang?
Und auch Kretikos, Choriambos, Anapäst, Jambos, Baccheus, Päon kommen nacheinander zu Wort, und zuletzt heißt es:
Ach Sponda, rief der Dichter, und hieß
In den Hain nach ihr Pyrrichios gehn.
Flüchtig sprang, schlüpft' er dahin! also wehn
Blüten im Mai Weste dahin!
Denn, Sponda, du begleitest ihn auch
Der Bardiete vaterländischen Reihn,
Wenn der Fels treffend in mir tönt, und mich
Nicht die Gestalt täuschte, die sang.
Wird man hier nicht an die spätesten lateinischen Produktionen, z. B. an des Martianus Capella de nuptiis philologiae usw. erinnert? Wie die Versfüße hat Klopstock auch die deutsche Sprache selbst mehrmals in Oden angesungen; man höre die Anfangsstrophe eines solchen Gedichts und versuche sie zu konstruieren:
Ferner Gestade, die Woge schnell,
Dem Blicke gehellt bis zum Kiesel ist.
Das Gebüsch blinket er durch oder wallt
In die Luft, hohes Gewölk duftend, der Strom.
Weniger verstiegen als Klopstock, klarer und deutlicher als dieser war der Übersetzer des Batteux und Horaz, Ramler, in seinen Oden zugleich ein korrekter, halb lateinischer Techniker und strenger Gesetzgeber. Er wog und zählte die Silben und trieb das Geschäft der Auslese gewissenhaft nach Einsicht. Seine Poesie bestand in dem Kunstgriff, einen alltäglichen Gedanken in figürlicher Einkleidung auszusprechen sowie abstrakte Verstandesbegriffe zu personifizieren und sie dann mit Attributen zu versehen, als wären es lebende Wesen, z. B.:
Freude hüpfe voran, Unschuld begleite dich,
Unauflöslich vereint folge dir Arm in Arm
Holde Sanftmut und nie täuschende Wahrheit und
Unbestechliche Treue nach.
Fliehen aber sollen
Frechheit, blutlos von Stirn, Reue mit schlafender Natter
Falschheit verlarvt, Eifersucht immer wach
Und mit rasendem Dolch und mit Medeischem
Becher Rach' und Verzweiflung –
ganz wie bei Horaz in demselben Metrum:
cui Pudor et Justitiae soror,
Incorrupta Fides, nudaque Veritas
Quando ullum inveniet parem?
oder in sapphischer Strophe:
Jam Fides et Pax et Honos Pudorque
Priscus et neglecta redire Virtus
Audet, apparetque beata pleno
Copia cornu –
nur schade, daß die Verba im Deutschen ihre bestimmte Stelle behalten mußten und Adjektiv und Substantiv sich nicht so verwerfen ließen, wie die lateinischen Dichter Freiheit hatten zu tun und mit Vorliebe taten. Von Klopstock und Ramler ging Voß aus, sowohl in Übersetzungen als in künstlichen Silbenmaßen, und auch die übrigen Göttinger waren Übersetzer und machten sich mit Oden zu schaffen – wie die Stolberge. Der Skalden- und Bardengesang – zuerst vom Dänen Gerstenberg angestimmt, dann vom Halbdänen Klopstock so laut aufgenommen, daß ihn ganz Deutschland hörte und das Echo bis nach Wien hin tönte – wurde noch in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen bei Gelegenheit der Lieder Sineds des Barden freudig begrüßt und höchlich gelobt und zum Schlusse gesagt: »Endlich gewinnt doch vielleicht die Sache des Geschmacks durch die Bemühungen so vieler wackern Männer die Oberhand«: – bald aber ergab sich, daß die gewaltigen Worte dieser Sänger ein bloß hallendes Nichts waren, und im Neuesten aus Plundersweilern, acht Jahre später, heißt es spottend:
Seht doch, wie steigen ihre Drachen!
– Man nennt es einen Odenschwung.
Mit dem durch Herder und die jungen Genialitäten geweckten Sinn für Naturpoesie und das Volkslied und überhaupt für echte ursprüngliche Lyrik mußte der Geschmack an der kalten formalen Dicht- und Verskunst allmählich sich verlieren. Unter Goethes Gedichten fand sich keines in antiker Odenform, und auch als Schiller sich ihm zugesellte, da schöpften zwar beide Dichter tief aus den Quellen des Altertums, aber der äolischen und dorischen Sangesweise, die, unmittelbar in die deutsche Sprache übertragen, die natürlichen Züge der letzteren verzerrt hätte, enthielten sie sich, und auch den Horaz, den vielgemißbrauchten, der mit seiner Landluft, seinem Epikureismus, seiner gelehrten Mythologie und Nachahmung, endlich seiner Poetik fast der Alleinherrscher der bisherigen Poetenschulen gewesen war, den z. B. Hagedorn angeredet hatte:
Horaz, mein Freund, mein Lehrer, mein Begleiter –
diesen Dichter beachteten sie wenig und erwähnen seiner nur selten. Einmal freilich begegnet uns unter Schillers Gedichten eines in Art einer Horazischen Ode: Der Abend (vom Jahre 1795) – es ist nach einem Gemälde gemacht, also beschreibend, kurz, klar, mehr anschaulich als empfindsam, mythologischen Inhalts, also im Einklang mit der Form, ohne zudringliches Silbenmaß, und mag das beste aller in deutscher Sprache bis dahin (ja wir glauben auch nachher) verfertigten Stücke der Art sein. Auch aus Goethes Jugendzeit tauchte ganz spät ein in choriambischen Strophen sich bewegender religiöser Hymnus auf: er war dem Mahomet in den Mund gelegt und sollte den Anfang der Tragödie dieses Namens bilden; Goethe hielt ihn für verloren, aber er fand sich später unter vergessenen Handschriften und wurde 1846 von A. Schöll der Öffentlichkeit übergeben. Das Gedicht ist einer Sure des Korans nachgebildet, groß gedacht, schwung- und empfindungsvoll, durch eine Art Refrain oder Parallelismus dem modernen Gemüt genähert und in der vielgestaltigen Goethischen Lyrik schon als einziges merkwürdig. Die dann folgende und allmählich die Literatur beherrschende Romantik befaßte sich nicht mit Formen antiker Lyrik – sie trieb andere poetische Spiele –, bis, wie schon früher bemerkt, durch einen ihrer Ausläufer, den Grafen Platen, die Pindarische Kunst wieder erweckt wurde, aber diesmal, weil auf der nationalen Klassik ruhend, in vollendeter Gestalt, vollkommen bis zum Scheine der Leichtigkeit, bewundernswert in Klang und Maß, fremdartig, aber überraschend durch siegreiche Überwindung ungeheurer Schwierigkeiten. Doch – auch bei Platen ist der Inhalt dienend, die Form herrschend; der Kopf hat gearbeitet und der bildenden Hand aus dem allgemeinen Schatze zugeführt, was sie jedesmal brauchen und nutzen konnte. Wer diese Verse liest, muß bewundern; gerührt wird niemand – denn alle Abstraktion, auch die des Rhythmus, kann nicht anders als frostig bleiben. Da die notwendigen langen Silben nur durch gehäufte Zusammensetzungen erzwungen werden konnten, so erhält alles den Charakter des Pompes, auch an den Silben, wo der Dichter einfach und zart sein will. Wir heben aus Platens Gedichten nur eins hervor, weil es uns Anlaß zu einer Vergleichung gibt. Es stammt aus seiner letzten Zeit, aus der Zeit höchster Meisterschaft, und trägt den Titel: »Auf den Tod des Kaisers, 1835« – denn auch darin gleicht Platen seinen Vorgängern, unter denen Ramler dem preußischen König, Klopstock dem Dänenkönig Friedrich V. und der dänischen Königin Luise Huldigungsoden darbrachten. Das metrische Schema ist dem Liede vorangesetzt, und die erste Strophe lautet:
Ausbreite die tauschweren Flügel, o mein Gemüt!
Ernsteren Festlaut
Beginnend schwebe der Seemöwe, der unstäten, gleich,
Die bald die blendende Schwungfeder hebt
Luftwärts und bald in das blaue Meer taucht:
So schweb, o Klagelied, schwebe daher in Holdseligkeit.
Bild und Gedanke gleichen hier dem Beginn der »Harzreise im Winter«:
Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut.
Schwebe, mein Lied.
Nun bedenke man, ob es möglich gewesen wäre, diese fünf Anfangszeilen, die doch um soviel schlichter sind als die angeführte Strophe Platens, mit strenger Wiederkehr, Silbe für Silbe, durch das ganze Gedicht beizubehalten und dabei den wechselnden Gedanken, die den Wanderer nach verschiedenen Seiten bedrängten, den Naturszenen, die ihm plötzlich entgegentraten, dem bald leise, bald stürmisch bewegten Herzen Ausdruck zu geben? Platens Trauerode besteht aus zwölf der ersten völlig gleichen Strophen, alle zwölf genau nach langen und kurzen Silben gemessen – ob der Dichter in der langen Arbeit sein Gefühl festhalten konnte? ob er am Schlusse seine Brust erleichtert, seine Seele bereit fühlte oder nicht vielmehr bloß durch den Selbstgenuß des virtuosen Künstlers sich belohnt fand?
Wir haben soeben der Harzreise im Winter gedacht. Sie ist in den freien Rhythmen geschrieben, die die einzige Form bilden, in der sich Goethe der antiken Lyrik zu nähern wagte. Die Zeilen sind kurz, sie stellen die Glieder des Satzes dar; sie schweben im Gleichgewicht, aber ihre Silben werden nicht gezählt, und sie ordnen sich nicht zu Strophen. In den frühesten dieser Gedichte, wie die an Behrisch, aber auch noch in Wanderers Sturmlied, Pilgers Morgenlied, Elysium, An Schwager Kronos, vernehmen wir noch einen Widerhall aus Klopstocks Regionen, der Ausdruck hält sich gern in der Dämmerung, ja im Dunkel, und strebt zu den Höhen, wo der Erhabene wohnt; in syntaktischen Kühnheiten, die fast zu Unmöglichkeiten werden, tut sich die Begeisterung kund. Doch stehen schon diese früheren Oden, wie der Wanderer, Ganymed, Mahomets Gesang, Prometheus, Herbstgefühl usw., an poetischem Gehalt weit über allem, was Klopstock zur Telyn oder zu Davids Harfe gesungen hatte; die Empfindung ist weniger hohl, die Gedanken sind tiefer und größer, die Phantasie, tausendfarbig wechselnd, richtet sich auf die Wirklichkeit der Dinge – aber sie verweilt nicht: kurze Streiflichter fallen, und es leuchtet nur hie und da auf. Die unerhörten barbarischen Namen aus der jüngeren Edda und der Skalda, die Hirngespinste aus der germanischen Urzeit fehlen; vielfach werden die Gestalten der griechischen Fabelwelt angerufen, aber nicht die seltenen, die nur der Gelehrte kennt, sondern die durch die Tradition gegebenen und auch sonst den Dichtern geläufigen. Allmählich aber, um die Zeit der Iphigenie und des Elpenor, nehmen die Oden ein anderes Gepräge an. Die Form zieht sich maßvoller zusammen: die Zahl der Hebungen wird gleich, und zuletzt ist das allgemeine Schema – um antike Benennungen zu brauchen, die aber nach dem schon früher Ausgeführten eigentlich nicht anwendbar sind – der katalektische daktylische Dimeter, entweder in syllabam oder in disyllabum (der sogenannte Adonius):
Wenn der uralte
Heilige Vater –
Küß ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust –
oder auch mit leichtem Auftakt:
Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
An ewigen Händen
Und können sie brauchen
Wie's ihnen gefällt.
Doch ist dies daktylische Maß nicht alleinherrschend, wo es zu einförmig hüpfend werden würde: es wird von Zeilen gleichen Tongehaltes, aber andern Ganges unterbrochen:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es
Und wieder nieder
Zur Erde muß es
Ewig wechselnd –
schließt aber doch wieder mit Adonien:
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne –
Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler usw.
In anderen Fällen schlagen die Pulse unruhiger und die Sätze, die Satzteile beziehen sich mehr durch den Parallelismus der innern als der äußeren Form schwebend und quellend aufeinander:
Ach an deinem Busen
Lieg ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz –
Welcher Unsterblichen
Soll der höchste Preis sein? –
Gedrängter quellet,
Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller!
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
Fruchtende Fülle usw.
Doch geht die Ungleichheit nie bis zur Enormität, und immer fühlen wir das hin und her schwingende Spiel bestimmter, sich ablösender Intervalle. Goethes Oden sind reine Vorbilder eigenster deutscher Rhythmik und verdienen auch in dieser Hinsicht das Studium mehr als alles, was sonst der Sprache nach fremden Mustern qualvoll abgerungen ist. Aber nicht jeder hat ein Ohr dafür.
Es lag nahe, dies freie Silbenmaß auch auf das Drama anzuwenden, und dies geschah auf folgendem Wege. In einer langen Ode »Dem Allgegenwärtigen«, die zuerst in der Kopenhagener Zeitschrift »Der nordische Aufseher« 1758 erschien, hatte sich Klopstock freier gehen lassen, oder vielmehr die Auflösung des Rhythmus war von selbst erfolgt, da die ganze Ode aus zerstückten Ausrufen erhitzter Psalmodik besteht Später brachte Klopstock seine Ode in eine Art vierzeiliger Strophen, indem er die Zeilen nur anders abteilte, mit ganz geringen Veränderungen des Textes. Keine der Strophen ist der andern metrisch gleich, aber bei der Drucklegung zeigten sie auf dem Papier ungefähr dasselbe Gesicht.. Lessing, in den Briefen die neueste Literatur betreffend, 51. Brief, griff diese Form auf, die er »für eine künstliche Prosa« erklärt, »in alle kleinen Teile ihrer Perioden aufgelöst, deren jeden man als einen einzelnen Vers eines besonderen Silbenmaßes betrachten kann«, ja, er empfahl dies »Quasimetrum« für das Theater, indem er darin einen erwünschten Mittelweg zwischen den beiden Systemen des prosaischen und des versifizierten Dramas erkannte. Diese hingeworfenen Äußerungen Lessings sowie einige Werke Hamanns führte Herder, wie er auch sonst tat, in enthusiastischer Weise weiter aus (Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend, 1767, Fragment 15). Er erklärt diese Art Verse oder Nichtverse für die natürlichste und ursprünglichste Poesie, dem Numerus der Hebräer verwandt, nicht bloß für affektvolle dithyrambische Gedichte, sondern auch für Gemälde der Einbildungskraft geeignet: die letzteren »können ein gefesseltes Silbenmaß nicht ertragen, ohne daß sie oder das Silbenmaß leiden«: in musikalischer Hinsicht, bei Rezitativen, wird durch solche ungebundenen Rhythmen das Orchester freier und sicherer, und was das Theater betrifft, so können sie sich »so prosaisch als möglich machen« – was bei den ersten Szenen eines Dramas, wo das Silbenmaß oft unleidlich wird, zum Vorteil gereicht –, dann aber auch sich zum höchsten tragischen Affekt erheben und zum brausenden Sturm werden; nicht minder passend sind sie zum »Doppelgespräch« (unter diesem Ausdruck verstand Herder die antiken sogenannten Stichomythien) usw. »Wenn man den englischen Shakespeare in dieser Tracht bei uns einführte!« fügte er halblaut hinzu, aber wie selbst von seinem Gedanken erschrocken, hält er inne – sein eigener unruhiger, flackernder, exklamatorischer Stil gleicht einigermaßen der von ihm gepriesenen Versart.
Beide Empfehlungen nun, Lessings sowohl als Herders – besonders aber die des letzteren, vielleicht durch mündliche Ausführungen unterstützt – mögen auch für Goethe Anlaß geworden sein, seinem Drama Prometheus die vorgeschlagene rhapsodische Gestalt zu geben. In ihr schien sich die tragische Größe, die aus den Trimetern und Chorliedern des attischen Dramas sprach, am treuesten widerspiegeln zu lassen, und sie diente ihm von nun an bei antiken Stoffen – so in dem Monodrama von der in die Unterwelt hinabgerissenen, die öden Gefilde durchwandernden Proserpina – zum Ausdruck eines von dem Höchsten ergriffenen, zugleich leidenschaftlichen und in sich gefaßten Gemüts. Selbst im Faust finden sich Stellen, die diesem freien Metrum des Prometheus gleich sind – so Fausts pantheistisches Religionsbekenntnis und die Szene im Dom. Die Iphigenie aber ward in Prosa geschrieben, doch in keiner reinen, vielmehr in einer Prosa, die von selbst und von innen zum Verse drängt wie die Knospe zur Blüte oder der Vorabend zum Feste. Daß diese himmelreine Dichtung, in der sich aller endlich-trübe Widerspruch in lautern Einklang auflöst, kein grobes prosaisches Gewand tragen dürfe, fühlte der Dichter bald selbst; gleich anfangs sah er in ihrer ersten Gestalt nur einen Entwurf (eine »Skizze« noch ohne »Farbe«, aus Dornburg, 4. März 1779); dann teilte er den Text vorläufig so ab, daß er den Oden glich und nicht gesprochen, sondern rezitiert werden sollte; in Italien endlich gelang, wie jedermann bekannt, die Umwandlung in regelmäßige Jamben. Von der Reise schreibt er dem Herzog: »Iphigenie quillt auf, das stockende Silbenmaß wird in fortgehende Harmonie verwandelt« – dann, mit dem neuen Jahre 1787, lag sie in zwei Abschriften fertig auf seinem Tische. Sein Schmerzenskind nannte er sie, eben wegen dieser nachmaligen formalen Umgestaltung, die sonst nicht in der Art seines Schaffens lag, und an der er sich »ganz stumpf gearbeitet« hatte, denn die Iphigenie selbst war so leicht und schnell geboren worden wie nur irgendein anderes seiner Werke. Elpenor, der zwei bis drei Jahre nach der ersten Iphigenie entstand, ist uns in jenem Quasimetrum aufbehalten, das von Riemer mit Goethes Zustimmung durch Absetzung der Zeilen auch äußerlich sichtbar gemacht wurde. Die beiden Akte des Fragments enthalten vielleicht das Höchste, was an seelen- und gedankenvollem Ausdruck, an Adel und Hoheit der deutschen Sprache und ihrem größten Bildner, Goethe, jemals gelungen ist. Da der Stoff so schreckenvoll ist wie nur immer im griechischen Drama, so verbirgt sich eine heißere Glut als in der Iphigenie, unter den gelassenen Worten, und neben der Milde des Sophokles und der Klugheit des Euripides vernehmen wir die Schauer des Äschylus und des ältesten Mythus, nicht, wie in der Iphigenie, als überwundene Vorzeit, sondern als gegenwärtige Tat, deren Folgen eben im Aufbrechen begriffen sind. Und wie die Oden je später, desto mehr regelmäßige Gestalt gewinnen, so trennt uns auch im Elpenor nur ein Schritt von dem Verse: die Diktion streift immerfort an der Schwelle des Tempels, wo das strengere idealere Linienmaß beginnt, ja sie tut manchmal den Schritt hinüber, und dann erklingen die schönsten, reinsten Jamben oder Trochäen – z. B. aus der furchtbaren Rachebeschwörung der Antiope in trochäischem Maß:
Rastlos streicht die Rache hin und wieder,
Sie zerstreuet ihr Gefolge
An die Enden der bewohnten Erde
Über der Verbrecher schweres Haupt –
Leise sinken Schauer vor ihr nieder,
Und der Böse wechselt ängstlich
Aus Palästen in die Tempel,
Aus den Tempeln unter freien Himmel,
Wie ein Kranker bang sein Lager wechselt.
Süßer Morgenlüfte Kinderstammeln
In den Zweigen scheint ihm drohend –
Ungewiß im Fluge kehrt sie wieder
Und begegnet seinen starren Blicken;
Vor dem Herrschen ihres großen Auges
Zieht sich, von bösem Krampfe zuckend,
In der Brust das feige Herz zusammen,
Und das warme Blut kehrt aus den Gliedern
Nach dem Busen, dort zu Eis gerinnend – usw.
oder in jambischen:
Wer edel ist, den suchet die Gefahr,
Und er sucht sie – so müssen sie sich treffen.
Ach, sie erschleicht auch Schwache, denen nichts
Als knirschende Verzweiflung übrigbleibt:
So fanden uns die Hirten des Gebirgs,
Verbanden meine Wunden, führten sorgsam
Die Sterbende zurück, ich kam und lebte.
Mit welchem Graun betrat ich meine Wohnung,
Wo Schmerz und Sorge sich am Herd gelagert! usw.
Im Elpenor hat der Dichter sich das letztemal in den freien Rhythmen ausgesprochen, die ein Symptom der alle Schranken durchbrechenden Geniezeit gewesen waren, und die letzte Szene des Fragments (die ja auch der Zeit nach die letzte gewesen sein wird), der Monolog des Polymetis, schließt, sowohl der Form als dem gärenden, gewaltigen Inhalt nach, die Kette, die von Wanderers Sturmlied und Prometheus bis zu den ersten Versuchen im heroischen und elegischen Versmaß reicht. Auch Tasso war ursprünglich, soweit er fertig war, in poetischer Prosa geschrieben, und wir wissen nicht, welche Gestalt die letztere hatte, ob eine schwungvolle oder eine naturalistische oder beides zugleich, wie die des Werther oder der Stella? Aber dem Tasso kam zugute, daß der Dichter diese erste Niedersetzung, die ihm nebelhaft und weichlich vorkam, ganz und gar verwarf und also keine gegebene spröde Form mühsam umzuschmelzen hatte. So wurden die Verse im Tasso geschmeidiger, fließender, die Gedanken, sozusagen, gleich jambisch geboren. Ja, die gebundene Rede strömte um diese Zeit so übermächtig aus des Dichters Seele, daß er in den späteren Partien des Egmont, die in Rom entstanden, obgleich hier die mehr dramatische Prosa, die Sprache des Lebens angewandt werden mußte, dennoch, gleichsam wider Willen, seine Worte nach rhythmischem Maß aneinanderreihte. Dies stimmt zwar nicht ganz mit den Bekenntnissen in den Briefen aus Italien überein, aber diese Stellen in der Italienischen Reise sind, wenn man sie genauer betrachtet, Einschiebsel der späteren Redaktion. Wie sollte Goethe in Rom des Verses nicht Herr gewesen sein, fremden Unterricht darin verlangt haben? Er hatte sich schon als Knabe in allerlei Reimen geübt, in Leipzig schon als Student ein Drama in fünffüßigen Jamben geschrieben; zahlreiche Gedichte hatten seinen Lebensgang begleitet, und konnte es herrlichere jambische Verse geben als die in Fausts Nachruf an die Sonne (sicherlich schon in Frankfurt entstanden)
Betrachte wie in Abendsonne-Glut
Die grün umgebnen Hütten schimmern usw.
oder in Mignons Liede:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen? –
Wo die Pracht des Verses mit der wiederkehrenden Cäsur nach dem zweiten Fuß fast übermäßig und blendend ist – oder aus der nächsten Weimarer Vergangenheit die Stanzen der Geheimnisse und der Zueignung? Vielleicht täuschte den Dichter sein Gedächtnis, und die Silbennot bezog sich auf den Hexameter – die ihn aber auch erst überfiel, als die Eutiner Schule kam und störend dreinredete. Wobei es immer möglich ist, daß er, der bei aller Genialität der Eifrigste im Lernen war, auch während der Arbeit an Iphigenie bei Moritz sich vielfach Rat erholte und sich dadurch gefördert glaubte.
Jambisch und trochäisch sind auch die südromanischen Versmaße, die Ottaven, Dezimen, Terzinen, Sonette, Kanzonen, Glossen, Ritornelle usw. Die Romantiker, seit den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, übten diese Form eifrig, wiederholten sie in Übersetzungen und eigenen Gedichten, ja gingen endlich sogar den Mustern Arabiens und Persiens nach. Alles wurde in deutscher Sprache möglich, und der Triumph war nicht gering. Noch jetzt rühmen wir uns unserer Übersetzungskunst: wir können alles wiedergeben, was nur je auf dem Erdboden, in alter und jüngerer Zeit, in kurzen und in unendlich langen Dichtungen, eigentümliche Gestalt gewonnen hat. Den anderen Nationen ist diese Fähigkeit versagt, aber vielleicht nur, weil sie den Versuch nicht ernstlich wagten Selbst A. W. Schlegel deutet einmal diesen Gedanken an (in dem gegen Klopstocks grammatische Gespräche gerichteten »Wettstreit der Sprachen«, im Athenäum vom Jahre 1798)., und ihr Sprachgefühl – auch die Sprachen sind, wie die Frauen, ein zartes, leicht verletzliches Geschlecht – zu empfindlich war? Das Deutsche dagegen hat sich jede Mißhandlung gefallen lassen, wie früher von Klopstock und Voß, so auch von den Romantikern. Auch die letzteren wußten die Schöne, wenn sie sich nicht freiwillig ergeben wollte, gewaltsam in ihren Dienst zu zwingen. Wie muß sie sich zu fremden Gebärden verstehen, wie wenig darf sie ihrer eignen Freiheit folgen! Für den innern Rhythmus der deutschen Sprache hatten die Romantiker wenig Sinn. Hätte sonst Tieck – um unter tausenden nur dies eine Beispiel anzuführen – in seiner vielberühmten Strophe:
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält.
Wundervolle Märchenwelt,
Steig auf in der alten Pracht –
die letzte Zeile durch einen so groben prosodischen Fehler entstellen können? Der einzige unter den Dichtern der Schule, dem man eine zwanglose Verifikation zusprechen kann, war Novalis: indes, bei aller Schmeichelei der Worte hat seine Lyrik etwas jesuitisch Schleichendes und eine Sanftmut, die aus die Länge widerwärtig wird. A. W. Schlegels Übersetzung des Shakespeare gilt für meisterhaft – aber man vergleiche diese eckige, immerfort anstoßende, undeutsche Jambensprache mit dem melodischen Fluß der Verse in Schillers und Goethes Dramen oder am besten mit Schillers Wiedergabe des Macbeth – die der eifersüchtige Romantiker zwar durchaus verwarf, die aber dem Deutschen seine Sprache redet und nichts vorbringt, was das deutsche Ohr nicht gern vernähme. Wer in einer metrisch-treuen deutschen Übersetzung, auch der besten, von Dantes Göttlicher Komödie längere Zeit lesen kann, der hat nur ein stumpfes Sprach- und Formgefühl, und ähnlich ist die Lage dessen, der ganze Gesänge des Ariosto oder Tasso in deutschen Ottaven bis zu Ende genießen soll. Die italienische Sprache ist überreich an Reimen, die deutsche daran arm; dem Italiener stehen die betonten Ableitungs- und Biegungssilben in unerschöpflicher Fülle zu Gebote – wie sollte es ihn nicht reizen, mit den Klängen, die die ganze Sprache durchziehen, bloß um ihrer selbst willen anmutig zu spielen und in Sonetten und Oktaven zierliche Blumengewinde durcheinanderzuschlingen? Man vergleiche Goethes eigene Worte im Benvenuto Cellini, gegen den Schluß, poetische Versuche: »Die beschränkte Form der Sonette. Terzinen und Stanzen, durch die Natur der italienischen Sprache höchlich begünstigt« usw. Im Deutschen sind die Reime nicht bloß zu selten – und die vorhandenen werden dadurch leicht formelhaft Z. B.: Liebe – Triebe. Herz – Schmerz, Lust – Brust, Luft – Duft, Sonne – Wonne, Abend – labend, Sterne – Ferne, Rosen – kosen, Lebens – vergebens usw. –, sondern, da sie nur Stammsilben verbinden können, auch zu schwer. Darum behaupten wir: im Deutschen ist das Sonett unmöglich, soviel auch deren gemacht worden sind, und wie sich der Dichter auch stelle. Die Romantiker dachten darin anders; sie wollten zwar Kinder sein, taten, als wenn sie an Märchen und Bildern ihre Lust fänden, schienen in heiliger Mystik sich zu versenken und – waren und blieben doch nur kalte Formkünstler. Und weil sie dies nur waren, mißlang ihnen auch die echte Form, die nur der Inhalt selbst sich gibt. Das deutsche Herz fehlte ihnen, darum auch die deutsche Sprache. Als Novalis, der Busenfreund Friedrich Schlegels, in dem dieser sein anderes Ich erkannte und den künftigen Glaubensgenossen ahnte, im Jahre 1801 gestorben war, da gab der Überlebende seinem tiefen, ihn fast übermannenden Schmerze Ausdruck durch – ein Sonett. Um dies zustande zu bringen, mußte er zweimal einen vierfachen Reim, dann noch drei verschränkte Reimpaare suchen, endlich wohl aufmerken, daß sein Gefühl sich nicht in weniger, auch nicht in mehr, sondern gerade in vierzehn Zeilen ergösse! Nicht anders tat bei ähnlicher Gelegenheit der ältere Bruder: der Tod seiner Stieftochter, der schönen, hoffnungsvollen, heißgeliebten Augusta Böhmer, zerriß sein Herz, und er brachte ihr ein Totenopfer von neun Gedichten, darunter sieben Sonette und eine Kanzone! Als ein Dutzend Jahre später ein Nachzügler der Romantik Rückert, seinen Haß gegen den Unterdrücker Napoleon, seiner Begeisterung für Deutschlands Freiheit und Auferstehung Luft machen wollte, da kleidete er seine stürmischen Empfindungen in dieselbe fremde verkünstelte Form und schrieb – geharnischte Sonette! Sie wurden gelobt, aber wirken konnten sie nicht, und in ihrer Form sind sie uns jetzt völlig ungenießbar. Ein echtes, deutsches, den Tiefen der Seele entsprungenes Sonett aber steht in Wilhelm Meister:
Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen.
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht:
Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen.
Allein das Schicksal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen.
Der harte Fels schließt seinen Busen auf.
Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgenen Quellen.
Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen.
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu.
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.
Der geneigte Leser wird uns nicht zürnen, daß wir dies Lied Mignons abgeschrieben und ihm damit wieder in Erinnerung gebracht haben. Es hat zwar nicht vierzehn, sondern bloß zwölf Zeilen – allein was liegt an der Zahl? Auch sind die Reime einfach und die Zeilen ungleich: die achte bildet sogar einen Alexandriner, und in der sechsten stockt die metrische Bewegung ein wenig – aber es darf sich dennoch an süßer und rührender Schönheit jedem der Sonette Petrarcas an die Seite stellen. Solche Abweichungen freilich durfte die romantische Schule sich nicht gestatten: sie wären wider den Zweck gewesen, der ja eben in dem Formenspiel bestand. Gerade die strenge »antithetische Symmetrie und unabänderliche Architektonik« (Worte A. W. Schlegels) mußte das Sonett einem Dichtergeschlecht, dem zwar nicht Geist und Bildung und Weite des Gesichtskreises, wohl aber der zündende Funke des Genius versagt war, empfehlen und willkommen machen. Im Sonett ließ sich sinnreich künsteln, aber der wahren Empfindung ist es im Deutschen eben zu künstlich.
Wenden wir uns wieder zu Goethe und Schiller, so fehlen bei beiden Dichtern, wie die antiken Oden, so auch die romantischen Versmaße. Nur die Ottave wurde hin und wieder versucht, zuerst von Goethe, noch vor den Jahren des Umgangs mit Schiller, also noch vor der Romantik. Damals, im Jahre 1784, in der Zeit, wo die Liebe zu Frau von Stein innig war wie nur je, sann er über einem großen religiös-sittlichen Gedicht, »Die Geheimnisse«, dessen letzter Sinn unter der Hülle des Symbols sich zu verbergen scheint, doch der näheren Teilnahme sich leicht enträtselt. Des Dichters Auge schaut in allen empirisch gegebenen, unter den Bedingungen der Endlichkeit entstandenen Religionen einen Kern göttlicher Wahrheit, eine größere oder geringere Annäherung an das Ideal reiner Humanität. Diesen Keim gilt es zu entwickeln, das verborgene Gold von dem daran haftenden Irdischen zu scheiden und so alle Menschen und Völker in gemeinsamer Andacht, im Dienste des Ewigen zu vereinigen. Zum Zeichen und Sinnbild dessen schwebt ihm das Kreuz vor, dieses aber dicht von Rosen umschlungen, so daß das schroffe Holz unter schwellendem Kranze den Blicken sich entzieht. Als Form für dies liebevoll-schwärmerische, »wunderbare Lied« wählte er die italienische achtzeilige Stanze, meistens mit abwechselnden weiblichen und männlichen Reimen, und in dasselbe Maß war die »Zueignung« gefaßt, die, ursprünglich für die »Geheimnisse« bestimmt, im Jahre 1787 die Ausgabe seiner gesammelten »Schriften« eröffnete. Viele dieser Strophen sind von vollendeter Schönheit, alle aber wie von einem Nebel oder Morgenduft umflossen, der die Umrisse, die Gestalten mit der Fülle der Worte und aufsteigender und niedersinkender Rhythmen und Klänge träumerisch umkleidet. Die Lehre selbst sollte ja eine geheimnisvolle sein, ein Mysterium, begreiflich und unbegreiflich, dem einen düster, so daß er sich abwendet, dem andern fröhlich, so daß er gern herantritt – und auch in der »Zueignung« tut sich ein Gesicht vor uns auf, die Wahrheit im Schleier der Dichtung, und wir vernehmen aus wallenden Wolken eine Himmelsstimme. So ist es uns beim Lesen oder Hören, als hätte das weiche italienische Metrum selbst sowohl die Stimmung als den Inhalt eingegeben und erschaffen; Wort und Sinn erscheinen unauflöslich verbunden, in reinem organischen Wechselverhältnis. Dennoch darf man sagen, daß dieser gedämpfte Wohllaut der Verse, dies geisterhafte Schwingen der Töne, ihr wiederkehrendes, unbestimmtes Zusammenklingen, in einem längern Gedicht uns auf die Dauer lästig, ja unerträglich werden würde. So wie der Umfang des Fragmentes jetzt ist, steigt er nach unserm Gefühl schon über die Ufer, und man möchte zu den Knittelversen des »Ewigen Juden« zurückgreifen, die in den Werken unmittelbar vorhergehen und ein in gewissem Sinne analoges Thema behandeln. Vielleicht breitet sich auch die »Zueignung« schon zu reich in Worten aus; in den elegischen vier Stanzen aber, die unter derselben Überschrift »Zueignung« der Tragödie Faust vorausgehen, haben da, wo der Dichter schließt, seine Akkorde so ganz unsere Seele erfüllt, daß wir nichts weiter begehren, nichts weiter aufnehmen mögen. Die »Geheimnisse« blieben unvollendet, wie das nicht anders sein konnte, aber am Schluß von Wilhelm Meister taucht in schöner Prosa einiges von ihrem wesentlichen Inhalt wieder auf. Nach der Rückkehr aus Italien war mit der weichen Stimmung auch die Lust an den ottave rime verflogen, und sie fehlen in den neunziger Jahren (mit Ausnahme der obenerwähnten »Zueignung« zum Faust, die dem Jahre 1797 angehört), aber das von Goethe gegebene Beispiel nahm in einigen Gedichten Schiller wieder auf, so in der »Begegnung«, der »Erwartung«, dem Gedicht »An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte«, dem »Abschied vom Leser« usw. Das Gedicht »An Goethe« enthält eine ästhetisch-literarische Theorie, die an sich in keiner Beziehung zu dem gewählten Metrum steht; der »Abschied vom Leser« schwelgt in schönen Worten, die man sich gern gefallen läßt, wenn sie auch nur geringen Gewinn abwerfen; in der »Begegnung«, besonders aber in der »Erwartung« erhöht das südliche Klangspiel den Reiz der Stimmung: der Liebende harrt in der Abenddämmerung in einem Garten, der mit den Farben Italiens geschildert ist, der Ankunft der Geliebten: er lauscht und horcht, versinkt in Betrachtung, jedes leichte Geräusch täuscht ihn; seine Sehnsucht steigt, bis unerwartet die Stunde des Glückes erscheint – und auch was die Strophe zu Weichliches, Zerfließendes haben könnte, wird durch die dazwischengestreuten aufgeregten daktylischen Fragen und traurig verzichtenden trochäischen Antworten gemildert. Auch in zweien seiner Dramen hat dann Schiller die italienische Stanze verwendet, in der Jungfrau bei Beginn des vierten Aktes und in der Braut von Messina, dieser Sammlung prachtvoller Redestücke aller Art, in Beatricens großem Monolog. Sie ist auch hier mit Meisterschaft behandelt, sowenig sie aufs Theater zu passen scheint; auch unterbricht sich Beatrice nach drei Strophen durch rascher bewegte Zeilen, und die dann von neuem angestimmten lyrischen Melismen verlieren sich allmählich in spanischen vierfüßigen Trochäen, einem gleichfalls durch die Romantiker aufgebrachten Versmaß. Auch zu den Ottaven im Drama hatten ohne Zweifel die Romantiker, besonders Tieck, den Dichter angeregt.
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts verschwindet in Goethes Gedichten die griechische Versart, um nicht wieder aufzutauchen – aber auch die Epoche der Lyrik überhaupt. Zwar ist der Dichter bis an sein Lebensende fruchtbar in allen lyrischen und lyrisch-dramatischen Formen, ja fruchtbarer als er bisher gewesen, aber die organische Einheit des Gehaltes und der Form ist dahin oder stellt sich nur momentan und zufällig wieder her. Während seine Prosa, wie sie in Wilhelm Meisters Lehrjahren durch Einfalt und Bildung den Leser bezaubert, sich nicht bloß erhält, sondern vielleicht eine noch gemessenere Vollendung, durchsichtigere Tiefe und bestrickendere Heiterkeit erreicht – so in Winckelmann und sein Jahrhundert, in den Wahlverwandtschaften, den Rezensionen von Büchern in der neuen Jenaer Literaturzeitung, vielen Partien der Farbenlehre, den ersten Teilen von Wahrheit und Dichtung, den Noten und Abhandlungen zum Divan usw. –, ergießt sich in den Gedichten die Idee oder Stimmung nicht mehr rein in die rhythmische Form; der Sprache geschieht mancher Eintrag, sie muß sich zu manchem hergeben, weil Reim und Vers es so verlangen – bis sie ganz zuletzt, sich selbst entfremdet, die Manier geflissentlich sucht und an der Verschnörkelung selbst Gefallen findet. Schon am Ende der neunziger Jahre, wo die hexametrischen Gebilde noch die graziöseste Leichtigkeit an sich tragen (z. B. in der wehmütig-schönen Achilleïs, wo die objektive Epik der Griechen ganz so geschmolzen und beseelt ist wie einst, zwanzig Jahre vorher, in der Iphigenie die griechische Dramatik Auch an der Achilleïs hat sich Gervinus versündigt, ein neuerer Literarhistoriker nennt sie einen Homunkulus usw. Erst Scherer hat dem schönen Fragment Gerechtigkeit widerfahren lassen., erscheint in den gereimten Jamben und Trochäen der Atem schon unmerklich beengt, die Lebenskraft der Sprache in der Abnahme begriffen. Die Idee ist noch immer eine tiefe – so die religionsgeschichtliche in der »Braut von Korinth«, die des unzerstörbaren menschlichen Kernes in der tiefsten Versunkenheit in »Der Gott und die Bajadere« – niemals bis an sein Ende hat dem Dichter der Blick in die Gründe des Herzens und Menschenlebens sich getrübt; – auch die allgemeine Stimmung liegt noch empfindungsvoll, wie ein unfaßliches Kolorit, über dem jedesmaligen Ganzen – auch darin blieb Goethes Genius ihm noch lange, ja immer treu; – aber im einzelnen stört doch das eine und das andere, und wie bei einem unvollkommenen Werke des Grabstichels ist der Abdruck nicht überall rein und scharf. Wenn es z. B. in der Braut von Korinth heißt:
Und nur braun erscheinst du wieder dort –
so ist hier die Wortstellung dem Sinne zuwider und nur durch den Reim erzwungen, oder
Wein und Essen prangt,
Eh er es verlangt,
So vorsorgend wünscht sie gute Nacht –
wo die beiden Verba prangt und versorgend je eine adverbiale Bestimmung und ein Objekt als Ergänzung verlangen. Vergleichen wir dann die Eugenie mit Tasso und sehen von dem Inhalt ganz ab, so liegt doch auf Vers und Sprache der ersteren ein bleicheres Licht, und unter den vielen herrlichen Wechselreden dieser vielbekannten, tiefen politischen Dichtung stößt doch mitunter ein gelbes Blatt auf, das den nahenden Herbst verkündigt. Unter den geselligen Liedern (aus den ersten Jahren des Jahrhunderts) ist das Tischlied: »Mich ergreift, ich weiß nicht wie«, ganz fleckenlos und, da der Dichter sich die schwere Aufgabe eines vierfachen Reimes bei ganz kurzen Zeilen gestellt hatte, ein Zeugnis der in glücklichen Stunden noch immer sich bewährenden alten Kraft. Daß auch die Hans-Sachsische Manier dem Dichter noch in den neunziger Jahren, ja in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts vollkommen zu Gebote stand, lehrt nicht bloß die köstliche Legende vom Hufeisen, sondern auch »Der Narr epilogiert« und die Doppel-Parabel vom Landschulmeister, während das ein Dutzend Jahre nach der Legende entstandene gleichartige Gedicht: »Groß ist die Diana von Ephesus« bei aller Tiefe des Gedankens nicht mehr völlig rein gestimmt ist, z. B. in dem Verspaare:
uns leitete sein kunstreich Streben
in frommer Wirkung durch das Leben –
– welchen Worten es offenbar, wie allen den zahlreichen Altersgedichten, an Körper gebricht. In den halb freien, halb geregelten und gereimten, dramatisch belebten, an manche späteren Stellen des Faust erinnernden Gedichten: der Zauberlehrling, die erste Walpurgisnacht, deutscher Parnaß, der Edelknabe und die Müllerin usw., die noch alle in das alte Jahrhundert, in die Zeit der Schillerschen Almanache fallen, tritt auch in der Form, eben weil das metrische Band loser geknüpft ist, kein Zwang oder Unvermögen merklich hervor. Eine andere Gestalt aber zeigen die Balladen, zu denen Goethe noch einmal zurückkehrte: das Hochzeitslied, die wandelnde Glocke, der getreue Eckart, der Totentanz, die Ballade (vom zurückkehrenden Grafen). Stoff und Gedanke sind in allen von kindlichem, volksmäßigem, poetischem Humor eingegeben, weit sinnvoller als die etwas gewöhnliche Grundlage, auf der die Schillerschen Balladen ruhen – aber wieweit sind ihnen die letzteren in der Ausführung, in der Gewalt der Sprache überlegen! Hätten die Motive dieser späteren Balladen von dem jungen Dichter behandelt werden können, dem, der den »Untreuen Knaben« schrieb und darin z. B. die Strophe:
Da's braune Mädel das erfuhr,
Vergingen ihr die Sinnen;
Sie lacht' und weint' und bet't' und schwur,
So fuhr die Seel' von hinnen –
oder im Ziegeunerliede:
Ich schoß einmal eine Katz am Zaun,
Der Anne, der Hex', ihre schwarze liebe Katz,
Da kamen des Nachts sieben Wehrwölf zu mir,
Waren sieben Weiber vom Dorf –
wo zwar auch Freiheiten aller Art sich häufen, die aber dennoch aus der innersten Heimlichkeit der deutschen Sprache und des Volksgesangs geschöpft sind; oder, wenn mehr der lustige Humor gelten sollte, von dem, der einst die Szene in Auerbachs Keller und darin die beiden Lieder von der Ratte und dem Floh gedichtet hatte! Dann wären diese Balladen Lieblingsstücke aller Volks- und Jugendschulen geworden, und jeder Gebildete und Halbgebildete wüßte sie auswendig. So wie sie jetzt sind, wollen sie zwar leicht und natürlich sein, sind aber bis zum Wunderlichen »verzierlicht und verkrizelt«. Der klarste Dichter ist hier dunkel, so daß nur der gespannt Aufmerksame, nicht der poetisch Genießende ihm folgen kann, der alte Zauberer, der über alle Schätze der Sprache gebot, weiß die rechten Worte nicht mehr zu finden und so dem Gegenstande zu freier Gegenwart zu verhelfen. Am meisten stört die Manier im üblen Sinne des Wortes in der Ballade: »Die Kinder sie hören es gerne« (die er selbst später in Prosa erklären mußte), am wenigsten in dem Hochzeitsliede: »Wir singen und sagen vom Grafen so gern«, welches letztere noch an manchen Stellen die Helle und den Fluß der Goetheschen Lyrik hat, und sehen wir zu, so ist in der Tat das erstgenannte Gedicht das späteste (1816), das andere das früheste (1802). Der eigentliche Grund, warum es dem Dichter nicht mehr gelingen wollte, lag in der zunehmenden Schwäche des inneren Phantasiebildes, der Begeisterung selbst: sie reichte noch zu, in schöner Prosa sich auszudrücken, vermochte aber nicht mehr die Last des Metrums und Reimes zu tragen und, in unserm Falle, in dem unsichern Licht und bewegten Element der Ballade, wie ein Dämmerungsvogel, mit leichten Flügeln hin und her und auf und ab zu schweben.
Ein Symptom der sich mindernden ursprünglichen Schöpferkraft bilden des weitern die hin und wieder auftauchenden formalen Einflüsse Schillers, dann und noch mehr die der romantischen Schule. Schon in »Der Gott und die Bajadere« erinnert der nicht recht motivierte grelle Wechsel des Metrums an den gleichen in Schillers »Würde der Frauen« – nur daß derselbe bei Schiller, da der Inhalt selbst schon antithetisch in zwei Hälften sich teilt, noch schneidender wirkt und das Ganze mechanisch, schematisch, also unpoetisch macht (daher auch Friedrich Schlegel witzig und diesmal nicht mit Unrecht bemerkte, das Gedicht gefalle ihm mehr, wenn er es von hinten lese). In dem sonst von Goethes mildem Geist durchwehten geselligen Liede: »Dauer im Wechsel« klingen die Schlußzeilen doch deutlich nach dem Kantianer Schiller:
Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist –
sowie in dem deutschen Parnaß z. B. Worte wie die folgenden:
Daß sie wieder heilig werde,
Lenkt hinweg den wilden Zug;
Vielen Boden hat die Erde
Und unheiligen genug –
von dem Dichter der »Klage der Ceres« hätten geschrieben werden können. Um diese Zeit hatte sich die romantische Schule mehr und mehr der literarischen Herrschaft bemächtigt und diese über immer weitere Gebiete, das philosophische, religiöse usw., ausgedehnt. Dieser Strömung mußte der alternde Dichter nachgeben, um so mehr, da er wohl fühlte, daß sie hauptsächlich von ihm selbst ausgegangen war. So versuchte er sich in Sonetten, einer Form, gegen die er früher nur Widerwillen empfunden hatte. Je gelassener mit den Jahren die Stimmung wurde, desto mehr blieb Raum, auf die Form für sich den Sinn zu richten und was an unmittelbarem Antrieb zu fehlen begann durch geübte Kunst zu ersetzen. Doch ging er zunächst nur schüchtern ans Werk. In seinem ersten Sonett (aus der zweiten Hälfte des Jahres 1799, unter »Epigrammatisch«) glaubt er den Ruf zu vernehmen (ohne Zweifel von seinen jungen, übermütigen, neupoetischen Anhängern): »Du solltest auch in Sonetten zeigen, was du kannst« – aber er erwidert mit ablehnender Handbewegung: »Ich bin sonst gewohnt, aus ganzem Holz zu schneiden, und hier müßte ich doch mitunter leimen.« Das Bild ist klar – er fühlt sich noch zu sehr als Dichter; für den deutschen Sonettenschmied aber ist es vorteilhaft, witzig zu denken, fein zu künsteln und nichts zu empfinden. Auch erregte ein anderes gegen den Dilettantismus in der Kunst (vielleicht gegen das Sonett selbst als dilettantische Nachahmung?) gerichtetes Sonett, das um dieselbe Zeit entstand, das wir aber nicht kennen, in Weimar im stillen manchen Ärger und Widerspruch (Brief Schillers vom 7. Dezember 1799). Aber im Jahre 1802 bekämpft der alte Meister, dem Schiller zugerufen hatte:
Du selbst, der uns vom falschen Regelzwange
Zu Wahrheit und Natur zurückgeführt –
in einem abermaligen Sonett (»Natur und Kunst«, unter Epigrammatisch, zuerst in dem Vorspiel »Was wir bringen«) seine eigenen Zweifel: wenn er in »abgemeßnen Stunden« (wo also das Gemüt frei ist) »mit Geist und Fleiß« (man beachte: mit Fleiß) sich »redlich bemüht« (man beachte: sich bemüht), dann kann es wohl geschehen, daß auch unter dem Zwange der Kunst das natürliche Gefühl zu Worte kommt; am Schlusse spricht der Dichter sich durch den schönen allgemeinen Satz:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben –
Vergebung und Trost zu. Wie aber, wenn diese Wahrheit auf das Sonett im Deutschen sich nicht anwenden läßt? Wenn die Schranke zu eng, das Gesetz ein hartes ist? Wenn das, was dem italienischen Dichter einen leichten Halt gewährt, dem deutschen zum einschnürenden Joche wird? Dies zweite Sonett mag, gleichsam zu eigener Erklärung und Entschuldigung, neben einem dritten, gleichzeitigen entstanden sein, das im zweiten Akt der Natürlichen Tochter vorkommt und für den Gang der Handlung von Bedeutung werden sollte. Eugenie dichtete es selbst, und die Worte, die sie hinzufügt:
So hast du lange nicht, bewegtes Herz,
Dich in gemess'nen Worten ausgesprochen –
sind mit ihrem Gegensatz von Bewegung und Gemessenheit wie aus dem zwiespältigen Innern des Dichters selbst geboren. Eugenie blieb unvollendet, und auch die Form des Sonettes fiel in Vergessenheit. Da geschah es, daß im Jahre 1807, also fünf Jahre später, der Dichter in Jena von glühender, nicht unerwiderter Leidenschaft für die schöne Minna Herzlieb ergriffen wurde. Er war dem sechzigsten Jahre nahe und verheiratet und mußte sein Gefühl bekämpfen, mußte entsagen; von der Qual, die ihm dadurch bereitet wurde, ging manches in das allegorische Drama Pandora und in die Wahlverwandtschaften über. Da aber damals in den Jenaer abendlichen Lesezirkeln besonders Sonette von Klinger, A. W. Schlegel, Gries und Zacharias Werner in Goethes Gegenwart vorgelesen wurden (Riemer, Mitteilungen, 1, 35, an Zelter Nr. 115), so kam auch ihm der Gedanke, durch ähnliche Gedichte der Unruhe seines Innern einen Ausgang und Linderung zu schaffen. Die Kunstform des Sonettes, da sie Arbeit verlangte, schien besonders geeignet, die Süßigkeit der Hingabe in ihrer Abwehr gegen die Kälte der Selbstbeherrschung in sich aufzunehmen und an sich darzustellen. War doch auch Petrarca durch eine ferne, unerreichbare Liebe zu dem süßen Geschäft des Reimens getrieben worden! So entstanden die siebzehn Sonette, die in den Werken ein Ganzes bilden und später zu einer seltsamen literarischen Verlarvung dienen sollten. Es sind künstliche, sorgfältig ziselierte Gefäße, gefüllt mit Zärtlichkeit, die hie und da aus ihnen wie eine Flamme aufsteigt. Ganz gelungen sind sie dem Künstler nicht, und mancher Zierat daran ist verbildet, doch erkennen wir an der innern Wärme und äußern Grazie noch immer dessen Hand, der uns von früh an soviel Lieder der Liebe gesungen. Von besonderer Schönheit sind die Worte, die das geliebte Mädchen selbst spricht, aber auch die übrigen enthalten noch viele einzelne Zeilen, ja Reimcouplets, in denen uns das reine Gold echter, deutscher Sprache entgegenglänzt. Wie in den früheren Sonetten regt sich auch diesmal das Gewissen, daß er der Verführung des Sonettierens wieder nachgegeben habe: das Sonett macht sich selbst zu seinem Inhalt. So heißt es im Sonett »Nemesis«: Sonst habe ich mich vor der Ansteckung sorgfältig gehütet, jetzt bin ich der Nemesis verfallen und mich treibt
Sonettenwut und Raserei der Liebe.
In einem andern, »Die Zweifelnden«, hört er die Frage: Wie, Ihr liebt und könnt glauben, unter mühsamen Reimen lasse sich die Fülle des Herzens offenbaren? und er antwortet: Wenn das Feuer der Liebe allgewaltig glüht, wird es auch diese allerstarrste der Formen schmelzen. In dem Motto, das er später den siebzehn Sonetten voranstellte:
Liebe will ich liebend loben,
Jede Form, sie kommt von oben –
ist in der ersten Zeit die Romantik und ihr alliterierendes Lispeln, in der zweiten eine Art verschämter Entschuldigung nicht zu verkennen. Das Sonett zum Ausdruck seiner Stimmung gab er von nun an gänzlich auf (»Der Kaiserin Becher« unter den Karlsbader Gedichten, vom Jahre 1810, »An Abbate Bondi« 1812, als Dank für das Geschenk der Werke desselben, »An die Erbgroßherzogin von Weimar« 1813 – sind nur Zeremonialgedichte, wie sie höfische und gesellige Pflichten ihm auferlegten) – aber daß die italienische Stanze, jetzt, da er sich der Romantik genähert, häufig wiederkehrt (in den »Maskenzügen«, zuerst in dem von 1798, »im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad«, und sonst, wo es galt, Worte zu machen), war natürlich, ja er verstand sich ganz zuletzt sogar zu Danteschen Terzinen, »Bei Betrachtung von Schillers Schädel« 1826, und im ersten Monolog des Faust (zweiter Teil) – in dem erstgenannten Gedicht überwand er die Schwierigkeit wohl: es ist kurz, und wenn hie und da ein lahmer Notbehelf stören will, entschädigt uns der naturphilosophische Gehalt und die Wärme des Andenkens an den geschiedenen Freund – ganz wie aus demselben Grunde die Stanzen des Epilogs zu Schillers Glocke (unter den Theaterreden) trotz der Fesseln, die das Metrum auferlegte, in Trost und Trauer die schöne Zeit der »Geheimnisse« und der vollen klassischen Dichterkraft zurückzurufen scheinen. In den Jahren, wo der Dichter sich dem siebzigsten Lebensjahre immer mehr näherte und ihm und allen nach schrecklichen Erschütterungen eine dem Sinnen und Denken günstige Stille zuteil geworden war, sammelte der alte Lyriker an dem orientalischen Blütenstrauß, den er im Jahre 1819 unter dem Namen Westöstlicher Divan seiner Nation vorlegte. Die Verkleidung ist luftig genug, um darunter den Dichter, den deutschen Dichter zu erkennen; es ist noch immer seine Stimme; auch bedient er sich der gewöhnlichen deutschen Silbenmaße in aller Mannigfaltigkeit. Er verschont uns mit Ghaselen, in denen seine Nachfolger so kunstreich glänzten, die aber kein Herz erwärmt haben; höchstens könnte das schöne Gedicht:
»In tausend Formen magst du dich verstecken«
(im Buch Suleika) für ein Ghasel gelten – doch ist es keines. Es erinnert sehr an das im Winter 1812 auf 1813 entstandene Lied »Gegenwart« (unter den Liedern), das in seiner strahlenden Schönheit die Lyrik früherer Tage erneuert und nur an zwei Stellen (in der ersten Zeile der vierten Strophe und in der Schlußzeile) einen leichten Mißklang enthält. Im übrigen ist der Divan noch immer reich nicht bloß an tiefsinnigen und heiter-menschlichen Betrachtungen, sondern auch an schönen Versen ohne Kostbarkeit des Ausdrucks und Stockung des Rhythmus. Doch gilt dies nur von einzelnen, von momentanen Eingebungen; im ganzen fühlen wir der lockeren Haltung doch einige Steifheit der Glieder, der Glut der Sinnlichkeit eine künstliche Erhitzung an. So wirkt der Wein auf das Alter, aber wie der Dichter als Schenke selbst sagt:
Jugend ist Trunkenheit ohne Wein.
Noch mehr als in dem Divan drückt uns die Hinfälligkeit, das Bemühen, sich zu steigern, die Geister, die ihrem alten Liebling nicht mehr freiwillig nahen wollen, zu bannen und zu beschwören und die dadurch den Versen und Reden aufgeprägte Unnatur – im zweiten Teil des Faust. Diejenigen, die dies nicht empfinden, bekehren zu wollen, bleibe fern von uns; wir gönnen ihnen einen Genuß, auf den wir selbst verzichten müssen. Einige Partien, die aus früherer Zeit stammen, machen freilich eine Ausnahme; da sie sich vom Grund des übrigen abheben, sprechen sie uns um so freundlicher an und wirken um so mächtiger. So z. B. die jambischen Trimeter der Helena am Beginn des dritten Aktes, die im September 1800 in Jena gedichtet wurden. Wie schön sind sie noch, wie königlich, im ernsten und doch beflügelten Schritt, wandeln sie dahin! So gleich die Anfangsverse:
Bewundert viel und viel gescholten, Helena,
Vom Strande komm' ich, wo wir erst gelandet sind,
Noch immer trunken von des Gewoges regsamem
Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her
Auf straubig hohem Rücken, durch Poseidons Gunst
Und Euros' Kraft in vaterländische Buchten trug –
ober die von der Phorkyas gesprochenen:
Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn:
Daß Scham und Schönheit nie zusammen Hand in Hand
Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad
Ovid. Heroid 16, 288:
lis est cum forma magna pudicitiae.
Ob das Wort Pfad hier nicht ein Schreib- oder Druckfehler ist?
Ob es nicht heißen soll: Plan? oder irgendein anderes einsilbiges Wort?.
Tief eingewurzelt wohnt in beiden alter Haß,
Daß wo sie immer irgend auch des Weges sich
Begegnen, jede der Gegnerin den Rücken kehrt –
oder die Schilderung des Kranichzuges:
– gleich der Kraniche
Laut-heiser klingendem Zug, der über unser Haupt
In langer Wolke krächzend sein Getön herab-*
*Schickt, das den stillen Wandrer über sich hinauf
Zu blicken lockt, doch ziehn sie ihren Weg dahin,
Er geht den seinen: also wird's mit uns gescheht!.
Das Helena-Fragment, soweit es damals gediehen war, machte auf Schiller einen »großen und vornehmen Eindruck«; auch wandte er das neuerfundene Metrum nicht lange danach in seiner Jungfrau von Orleans an (in der schönen Szene mit Montgomery, die in ihrem halb antiken Gewande, in den stolz und feierlich rollenden Trimetern, so episch sie ist, doch nicht fehlen darf, da sie der Begegnung mit Lionel durch ihren Gegensatz erst das rechte Licht gibt), und ein Jahr später am Schlusse der Braut von Messina in dem Dialog des Don Cesar mit dem Chor. Über den ersten Versuch äußert sich Schiller selbst (1801): »Der Senarius des alten Trauerspiels ist der Zäsur wegen außerordentlich schwer« (d. h. die Zäsur nach dem dritten Jambus muß vermieden werden, weil sich sonst ein Alexandriner ergibt), »aber auch so schön und wohltönend, daß es mir schwer wurde, zu den lahmen Fünffüßlern zurückzukehren«. Und auch Goethe, nachdem er einmal den Fund getan, hielt sich gern in den folgenden Jahren an dieses griechische Maß, so in dem freundlichen Festspiel Paläophron und Neoterpe von demselben Jahr 1800, an einigen Stellen des Vorspiels »Was wir bringen« (1802) und im Prolog dazu, im Vorspiel vom 19. September 1807, in der Pandora (aus derselben Zeit), endlich auch im Prolog, Halle 1811. Doch mit der zunehmenden kraftlosen Symbolik verlor, wie die Sprache selbst, so auch der Trimeter die poetische Frische, die der Anfang der Helena-Szene (nicht der Verfolg) an sich getragen hatte.
Nur einmal stoßen wir noch in diesen späten Zeiten des Dichters, als er sein siebzigstes Jahr bereits erreicht oder vollendet hatte, auf ein längst aufgegebenes Versmaß – den Hexameter – in der »Metamorphose der Tiere« (von der Chronologie der Werke in das Jahr 1819 gesetzt, gedruckt zum erstenmal im folgenden Jahre). In dem Gedicht folgen sich die Verse so leicht und zwanglos in verschlungenen Perioden, in reiner Gliederung, die Sprache schmiegt sich so anmutig-nachgiebig den Dingen, den naturphilosophischen Gedanken an, daß wir erstaunen und uns wie in eine andere Zone versetzt finden. Man höre nur die drei Schlußverse:
– Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.
Liest man das schöne Gedicht dann nochmals und abermals und bedenkt den darin herrschenden dichterischen und rhythmischen Stil, so erhält man die Gewißheit, daß es nicht jetzt, sondern zwanzig Jahre früher, am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sein kann. Es muß das Bruchstück eines hier und da begonnenen größern Werkes sein, das denn kein anderes gewesen sein wird als das Naturgedicht, welches dem Dichter lange vor der Seele schwebte, und das in dem Briefwechsel mit Schiller, noch mehr in dem mit Knebel, endlich auch in den Annalen unter dem Jahre 1799 erwähnt wird. Schon die ersten Verse deuten darauf hin, auf ein Vorausgegangenes, einen Zusammenhang, dem sie entnommen sind. Das Gedicht sollte also die hexametrische Form enthalten, wie Knebel angeraten hatte, während der Metamorphose der Pflanzen, als an die Geliebte gerichtet, das elegische Maß zukam. Das Epos vom Naturleben wurde, wie es scheint, in des Dichters Geist durch die Achilleïs verdrängt, aber wäre es zustande gekommen – wir hätten einen wiedergebornen, vertieften Empedokles, ein Lied wie aus der goldnen Zeit der Kindheit, wo Poesie und Wissenschaft noch eins, Natur und Geist noch nicht geschieden waren. Verglichen mit dem schwungvollen, obgleich in Prosa geschriebenen Hymnus auf die Natur (aus dem Tiefurter Journal) und dessen abgerissenen Anrufen an die Allmutter, die uns alle im Schoße trägt, wäre es gelassener, sanfter gestimmt gewesen, zusammenhängender, reicher an Worten, mit mehr Lust an Beschreibung, voll selbsterworbener Anschauung, aber immer noch begeistert pantheistisch, im Sinne Schellings. Schelling selbst hätte uns sein Denken wohl als Gedicht geben können – wozu er Anstalt machte und wohl auch Proben gab –, denn Jupiters Schoßkind, die Phantasie, war ihm nicht abhold – während der Königsberger Kritizismus, zu dem sich Schiller bekannte, eine absolut poesielose Philosophie und auch insofern die Blüte des aufgeklärten, rationalistischen Jahrhunderts war. Doch wir verlieren uns hier aus ein ganz fremdes Gebiet und kehren zum Jahre 1819 zurück. Damals mag Goethe das Fragment abgelöst, zusammengedrückt und mit der Überschrift, die nicht völlig paßt, versehen haben. Vielleicht finden sich noch andere Bruchstücke in dem Goetheschen Archiv zu Weimar. Auch das auf die beiden Metamorphosen folgende Antepirrhema ist, bei gleicher Ehrfurcht vor der ewigen Weberin Natur, so frei und klar gesagt, als stände es in einer der besten Partien des ersten Teiles Faust. Auch sonst bringen die langen Jahre des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sprüche und Epigramme und Xenien in freieren und gemesseneren Knittelversen, Aufzeichnungen, in denen kluge Menschenkenntnis und reife Weisheit, ernste Warnung und heitere Paradoxie, Betrachtungen über Zeit und Schicksal, Eingebungen des Augenblicks, vorübergehende Stimmungen und Mißstimmungen, Blicke in das Leben und die Welt und das Innere der Seele eine kurze, gnomische, apophthegmatische, oft glücklich ausgeprägte Form gefunden haben – die, wenn sie sich nicht geben wollte oder ein Zufall sich widersetzte, auch mit der Prosa vertauscht wurde. Alle zusammen bilden ein Buch der Weisheit, der Gleichnisse, der Sprüche, wie es nur ein vielerfahrenes Greisenalter, verbunden mit der höchsten genialen Anlage, ein die Dinge allseitig überschauender Geist so reich und mannigfach erschaffen kann. Und es ist nicht fremde, nicht etwa hebräische oder indische, sondern deutsche Weisheit, in der wir lesen, und der Knittelvers – das fühlen wir lebhaft –, der Vers, der nur die Hebungen zählt, das eigentliche deutsche Metrum. Es ist zwar ein ungebildeteres Silbenmaß, wie es Goethe selbst nennt (in der Ankündigung von Schillers Wallenstein in der »Allgemeinen Zeitung« vom 12. Oktober 1798), aber eben darum ein heimisches, volksmäßiges, von der Natur der Sprache gegebenes, zum Herzen redendes Maß, dasselbe, in dem auch Faust und Mephistopheles sich einander mitteilen. Und damit finden wir uns an den Anfang, von dem wir ausgingen, zurückgewiesen – wie dem Dichter selbst die schalkhaften oder polemischen Denksprüche seines Alters mit den Knittelversen der Satiren seiner Jugend, also Beginn und Schluß des Lebens, zu einem schönen Ringe sich zusammenschlossen.