Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Literaturgeschichte im Kleinen
Als im Jahre 1773 von einem unbekannten Verfasser das Schauspiel »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand« erschienen war, entstand ein nicht geringes Aufsehen; Neudrucke und Nachdrucke folgten sich bald, und die Leipziger »Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste« wußte in einer Anmerkung ihren Lesern zu verraten, der Dichter sei aus Frankfurt und heiße Gede (wie auch setzt noch der Sachse den Dichter nennt), während der Berliner Theaterzettel vom April 1774 etwas richtiger Herr D. Göde sagte. In demselben Jahre 1774 aber hieß es schon aus dem Titel eines gedruckten Dramas: Clavigo, ein Trauerspiel von Goethe, und seitdem war der Name im Munde aller sogenannten schönen Geister (Übersetzung des französischen: bel-esprit, beaux-esprits). Die satirischen Neckereien, die sich das junge Genie in seinem Übermut gegen verschiedene Gegner, sogar gegen den großen Wieland, erlaubte, spannten die Aufmerksamkeit noch höher – denn was zieht das Publikum lebhafter an, als wenn es Streit aus der Gasse gibt? Zahme Genien, II:
Gern hören wir allerlei gute Lehr,
Doch schmähen und schimpfen noch viel mehr.
Doch ehe noch der Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes oder Götter, Helden und Wieland oder das neu eröffnete moralisch-politische Puppenspiel wirken konnte, war durch die Leiden des jungen Werther eine noch größere Aufregung entstanden, die während des Jahres 1775 nicht nachließ und im folgenden Jahre durch die Stella, das Schauspiel für Liebende, das in dem gleichen schwärmerischen Tone geschrieben war, noch vermehrt wurde.
Indes, Clavigo und Stella waren doch nur in Nebenstunden, wie Merck an Nicolai 1776 schrieb, hingeworfen, Dinge, die auch die andern machen konnten, wie derselbe Merck dem Dichter nicht mit Unrecht vorwarf. Die eigentlichen Signale, daß eine neue Zeit gekommen, waren Götz und Werther; sie waren wie zwei unerwartete Naturereignisse eingebrochen oder wie zwei in der unabsehbaren Sandfläche des gesunden Menschenverstandes plötzlich aufgestiegene Vulkane; sie erschütterten den ganzen Besitzstand hergebrachter Meinungen und wurden demgemäß mit Staunen und Schreck, ja von einigen mit Abscheu empfangen. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß der junge Dichter eher in Süddeutschland, welches noch unschuldig war, begeisterten Widerhall weckte, als im Gebiet des nieder- und obersächsischen Stammes und Idiomes: in dem letzteren hatte die gebildete Schulpoesie zu lange geherrscht und ihre Wurzeln zu tief in den Boden getrieben, als daß diese dem neuen Aufbruch alsbald hätte weichen sollen; Klopstock bildete die Säule, die ringsum alles hielt, sowohl sprachlich und formal als nach Stoff und Gehalt der Dichtung. Liest man geduldig durch, was in den damaligen Zeitschriften über Götz und Werther an Kritik zutage kam, sowie was uns in den Briefwechseln an Äußerungen und Urteilen aufbehalten ist, so trifft man bei aller Unruhe, die diese Werke erregten, doch auf keine Spur einer poetischen, idealen Auffassung: für künstlerische Schönheit an sich hatte die deutsche Leserwelt schlechterdings keinen Maßstab, kein Organ. Zunächst fiel auf, daß in Götz von Berlichingen den angeblichen Regeln des Aristoteles, die Lessing soeben noch bestätigt hatte, offen und geflissentlich Hohn gesprochen war: daher das Stück als ein schönes Ungeheuer bezeichnet und über den Wert und Unwert der Regeln überhaupt hin und her gestritten und verhandelt wurde. Es ist ein Schauspiel zum Lesen, sagten mehrere Kritiker, wir haben kein Theater, und es kann kein Theater geben, das imstande wäre, es aufzuführen – und doch wurde es schon im Frühling 1774 von der Kochschen Gesellschaft in Berlin wiederholt unter großem Zulauf gegeben. Vermutlich war es stark zusammengezogen und umgestaltet: zu solcher Bearbeitung sind ja die Schauspieler stets bereit und kennen darin keine fromme Scheu; auch finden wir in der Ankündigung ein Zigeuner-Ballett versprochen, so daß also in einem Drama, das so voll energischer Lebenswirklichkeit war, wie noch keines in deutscher Sprache geschrieben worden, zugleich getanzt und Musik gemacht wurde – offenbar um auch dadurch die Menge, die nie genug hat, anzulocken. Ferner wurde tadelnd bemerkt, daß Berlichingens Leben in der Geschichte vielfach anders verlaufen sei: er überlebte den Bauernkrieg noch manches Jahr, nicht seine rechte, sondern seine linke Hand ward ihm abgeschossen usw. Am meisten Eindruck machten diejenigen Stellen des Dramas, die dem Rührenden und Gespannten sich näherten: so wurde Adelheids Strafe durch die Rächer des heimlichen Gerichts sowie Weislingens und Mariens letzte Zusammenkunft als besonders schön hervorgehoben und von dem gemeinsamen Mahle in Götzens Burg und dem Trinkspruch dabei gesagt, jeder Leser werde, hier mit Tränen innehalten müssen. Diese Szenen, sagte ein Beurteiler, verdienen sie nicht denen von Geßner in dem Tod Abels an die Seite gesetzt zu werden? Von allen aber, auch von den verhältnismäßig Einsichtigsten, ward der Götz von Berlichingen nach seinem poetischen Werke an Emilia Galotti gemessen, diese aber, wenn es galt, Lobsprüche zu spenden, doch wieder außer Vergleichung gestellt. Da im Götz, wie man wohl sah, altdeutsch gedacht und gehandelt wurde, so wurde ihm auch Klopstocks Hermanns-Schlacht zur Seite gestellt, diesmal aber zum Nachteil der letzteren – denn Klopstock, so geehrt sein Name noch war, und sowenig jemand ihn anzutasten wagte, begann doch schon in der Schätzung der Zeitgenossen zu sinken. Aber als ein Gemälde zweier im Übergang begriffener Zeitalter und Staatsformen stellte sich Götz von Berlichingen keinem der Kritiker dar: keiner von ihnen erwähnt nur, daß in dem Drama die untergehende Welt als die edle, menschliche, mitleidswerte, die aufgehende als die boshafte, hassenswürdige geschildert werde, während doch die letztere das historische Recht auf ihrer Seite habe, und daß darin die eigentlich tragische Substanz des Stückes bestehe: um dies als das Thema zu erkennen, fehlte dem populär-philosophischen Zeitalter der historische Sinn, der Sinn für Organik und organische Prozesse ganz und gar. Um die weitere Frage aufzuwerfen, ob sich nicht vielleicht das Schauspiel bei aller dramatischen Kraft im einzelnen allzu episch ausbreite, dazu besaßen die damaligen Menschen zu geringe ästhetische Bildung; sie war kaum im Keim vorhanden, trotz des Wortes Ästhetik, das in der Wolffischen Schule schon aufgekommen war, und trotz Ramlers Batteux und Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste nach alphabetischer Ordnung. Daß die Emilia Galotti so theatralisch-geschlossen war, wurde allerdings für einen Vorzug, eine höhere Stufe erachtet, denn, sagte ein Kritiker, in Shakespeare zeigt sich erst »der Anfang der dramatischen Kunst«, der dann in den nach Diderot gearbeiteten Lessingischen Stücken sich bis zur Vollendung entwickelt hatte.
War dies ungefähr die Stimmung, in der die Menge und ihre Wortführer dem Götz von Berlichingen gegenüberstanden, so trat den Leiden des jungen Werther in noch größerem Maße Blindheit und Unverstand entgegen. Erinnern wir uns einen Augenblick, was in dem berühmten Roman als eigentlicher Gegenstand zur Darstellung kam. Werther ist ein jugendlicher, ausschließlich idealistisch angelegter Charakter; er langt unmittelbar nach dem Unendlichen, ohne es innerhalb der Schranken und Bedingungen, wo es allein sich verwirklicht, fassen zu können; er zeigt uns, daß eine schwärmerische Gemütsart, wie diese, in logischer Verkettung nur die Selbstzerstörung zur letzten Folge haben kann. Werther will und vermag nichts Bestimmtes; jede Besonderung und greifbare Wirklichkeit, die Welt überhaupt engt ihn ein, bei jeder Tätigkeit fühlt er in der Allheit des Vermögens nur eine einzelne Kraft wirksam; in seinem Innern aber ist Freiheit, und dies sein Ich gilt ihm alles, und er folgt ihm in allem, in der Liebe sowohl als in Amtsgeschäften und dem Umgang mit Menschen überhaupt. Er ist ein hochbegabter, edler und reicher Geist, aber das Streben aus der Niedrigkeit der Dinge, in der es dem gemeinen Menschen wohl ist, darf selbst kein unbegrenztes sein – sonst führt der Weg zum Nichts, und da die Welt sich nicht verneinen läßt, so muß das Ich weichen. Wie hätte eine Entwicklung, wie die hier angegebene, von den prosaischen Menschen in Hamburg und Göttingen, in Berlin und Leipzig nur von fern verstanden werden können? Sie hatten selbst nichts Ähnliches empfunden, tiefere Bedürfnisse nie gekannt und gingen auch an Dichterwerke nur in räsonierender Alltagsstimmung. Da ihnen alles Ideale nur in Form des Moralischen faßlich und zugänglich war, so verschwand die Kunst und Meisterschaft des Dichters vor der guten oder schlechten Moral, die angeblich in seinem Werke gepredigt war oder sich daraus entnehmen ließ. Werthers Leiden galten für eine Empfehlung des Selbstmordes, für eine Art Anleitung dazu, um so gefährlicher, als der Täter mit den liebenswürdigsten Eigenschaften ausgerüstet war, um so gottloser, als der Verfasser offenbar sich vorgesetzt hatte, die Jugend durch ein süßes Gift zu verführen. Damals war ja alles bewußte Absicht – poetische Darstellung, die keinen andern Zweck hat als sich selbst, ein unbekannter Begriff. So fanden sich beide entgegengesetzte Parteien, die Orthodoxie wie die Aufklärung, durch den Roman beleidigt. Der Hauptpastor Goeze, der damals noch nicht durch Lessing berühmt geworden war, entsetzte sich über den Beifall, der einem solchen Produkt zuteil geworden, sprach donnernd den Fluch darüber aus und bat den Himmel, er möge die Regierenden erleuchten, daß sie solche Pest und Schande nicht ferner dulden möchten. »Ewiger Gott,« rief er, »wer von uns hätte vor zwanzig Jahren denken können, daß wir die Zeiten erleben würden, in welchen mitten in der evangelisch-lutherischen Kirche Apologien für den Selbstmord erscheinen und in öffentlichen Zeitungen angepriesen werden dürften!« Wirklich ermannte sich in Leipzig die Obrigkeit und verbot Werthers Leiden bei hundert Talern Strafe. In Berlin half sich der gemeine Menschenverstand, der sich dort breit lagerte, mit Fortsetzungen und spottenden Nachahmungen: durch Werther, wie durch die Volkslieder, sah sich der dortige literarische Kreis in dem Werke der Aufklärung gestört. Sie arbeiteten ja eifrig an Verbreitung gemeinnütziger Wahrheiten und stritten für Licht und Vernunft, Poesie aber stand und steht in bedenklicher Verwandtschaft mit dem Unsinn und der Finsternis. Auch diejenigen im übrigen Deutschland, die sich ohne Skrupel hinreißen ließen, wie Schubart in seiner deutschen Chronik oder Wilhelm Heinse in Düsseldorf oder der Arzt Zimmermann – eigneten sich das Kunstwerk nicht zu freiem ästhetischen Genusse an, sondern schwelgten in Gefühlen und beweinten im eigentlichen Sinne den Schatten des Unglücklichen. Es war die durch Rousseau und englische Romane aufgekommene Sentimentalität, die im Werther neue, erwünschte Nahrung fand: wäre sonst des Schwaben Miller zwei Jahre nach Werther erschienener Roman: Siegwart, eine Klostergeschichte, mit so allgemeiner Gunst aufgenommen worden? Und hätte er den Werther überstrahlen können, so daß Siegwart der typische Name für eben jene schale Empfindsamkeit werden konnte?
Doch wenn das Publikum im allgemeinen außerstande war, das in Goethes Jugendwerken ihm Gebotene rein aufzunehmen – die Heroen, die an der Spitze der Literatur standen, vor allen Lessing und Klopstock, werden solche Enge der Begriffe nicht geteilt, in dem jungen Genius den Vollender des von ihnen selbst Erstrebten und nur unvollkommen Erreichten mit Freuden erkannt und begrüßt haben?
Leider erfahren wir auch da nur eine Enttäuschung – die noch bitterer ist, als die Beschränktheit der Menge jemals bereiten kann.
Lessings Benehmen gegen Goethe ist von der Art, uns an dem großen Kritiker irrezumachen und über seinen Scharfblick und die Reife seines ästhetischen Urteils Zweifel zu erwecken. Seinem Bruder Karl schreibt er auf die Nachricht, Götz von Berlichingen werde in Berlin mit Beifall aufgeführt, 20. April 1774: »Das ist, fürchte ich, weder zur Ehre des Verfassers noch zur Ehre Berlins. Meil (der Kupferstecher, der die Kostüme dazu gezeichnet hatte) hat ohne Zweifel den größten Teil daran. Denn eine Stadt, die kahlen Tönen nachläuft, kann auch hübschen Kleidern nachlaufen.« Unter den Aphorismen des Nachlasses finden sich die Worte: »Der Dichter, der den Lebenslauf eines Mannes in Dialogen bringt und das Ding für ein Drama ausschreit« (diese gehässige Bezeichnung paßte auf Goethe am allerwenigsten). Weiße an Garve, 4. März 1775: »Mit Goethens und seines Mitbruders Lenzens neuen Schauspielen war er (Lessing) äußerst unzufrieden. Ein bißchen Witz und Laune, sagte er, gelte ihm ebensoviel, als ein wenig Temperamentstugend, und der müsse ganz auf den Kopf gefallen sein, der, wenn er sich keiner Regel unterwerfen wolle, nicht eine Situation oder launigte Szene machen könne: ein schöner, durchdachter Plan und die geschickte Herbeiführung der Situation mit der gehörigen Entwicklung gut ausgebildeter Charaktere, erfordern mehr Genie« (d. h. wie in der Emilia geschehen war, und wie nach pseudoaristotelischer Doktrin geschehen mußte; man setze sich nur die Worte: Regel – durchdacht – geschickt – gut ausgebildet, zusammen, um die rechte Meinung zu erraten). Boie an Merck, 10. April 1775: »Lessing soll mit Goethens und Lenzens theatralischen Freibeutereien (d. h. mit ihrer dramatischen regellosen Kriegsführung) und am meisten mit den Anmerkungen übers Theater (im Anhang zu Merciers neuem Versuch über die Schauspielkunst), worin man so wenig Respekt für seinen Aristoteles bezeugt, sehr unzufrieden sein, und die Leipziger sollen sehr jauchzen, einen solchen Alliierten zu haben.« Weiße an Blankenburg, 20. Mai 1775: »Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Goethe seinem (Lessings) Ausfall gegen ihn, den ich diese Messe erwartete, bloß durch einen Zufall entgangen.« – »Soviel sah ich, daß Lessing äußerst erbittert auf Goethe war.« Derselbe an Uz, 7. Oktober 1775: »Lessing war über Goethens und Compagnie Haupt- und Staatsaktionen sehr aufgebracht und schwur, das deutsche (d. h. Diderotsche) Drama zu rächen.« Lessing selbst an seinen Bruder Karl, 11. November 1774: »Sonst liefe ich wirklich Gefahr, mit Goethen trotz seinem Genie, worauf er so pocht (unwahr!), anzubinden.« Ebenso an Wieland, 8. Februar 1775: »Was für Beiträge erwarten Sie von mir? Arbeiten des Genies? Alles Genie haben jetzt gewisse Leute in Beschlag genommen, mit welchen ich mich nicht gern aus einem Wege möchte finden lassen Der Begriff des Genies paßte überhaupt nicht in das achtzehnte Jahrhundert, in dem nur die Rechnung galt..« Fr. H. Jacobi an Heinse, 20. Oktober 1780: »Lessing war aus Wielanden seines Leichtsinns wegen gar nicht wohl zu sprechen, am wenigsten konnte er ihm die Epistel zum Lobe Goethes verzeihen. Von Goethe selber sagte er, daß wenn er je zu Verstande käme, so würde er nicht viel mehr als ein gewöhnlicher Mensch sein« – und einige Tage später: »Mir fällt ein, daß Lessing von der Farce Götter, Helden und Wieland sagte: Goethe hätte darin bewiesen, daß er noch viel weiter als Wieland entfernt sei, den Euripides zu verstehen. Goethes Ideen darüber seien der klarste Unsinn, wahrhaft tolles Zeug. Es sei unverantwortlich von Wieland, daß er dieses damals nicht ins Licht gestellt habe.« Dieser Haß gegen Goethe wurde durch die Leiden des jungen Werther, obgleich der Verfasser ihm hier nicht, wie bei dem Drama, unmittelbar ins Gehege kam, nur gesteigert. Er wollte vom entgegengesetzten Standpunkt »Wertherische Briefe« schreiben und legte ein Drama »Werther der Bessere« an, dessen Anfangszeilen uns im Nachlaß erhalten sind. Erstaunlich verblendet ist das Urteil über den Roman, das er in einem Briefe an Eschenburg vom 26. Oktober 1774, also halb öffentlich, niederlegte: statt das Dichtwerk in seiner freien Schönheit anzuerkennen und es nach seinem eigenen idealen Wesen zu messen, hegt er moralisch-pädagogische Befürchtungen, meint, der Dichter hätte eine zynische Nachschrift hinzufügen, also seine Dichtung und deren Wirkung seist zerstören sollen usw. Wie das Publikum vor allem wissen wollte, was an der Geschichte wahr sei (denn da alle bisherige Poesie nur außerhalb des Lebens, in der Sphäre der Schule, entstanden war, so konnte eine Dichtung voll Wahrheit nur eine Biographie sein), und bald herausgebracht hakte, Werther sei der Sohn des Braunschweigischen Abtes Jerusalem, der Schauplatz sei Wetzlar, Wahlheim heiße eigentlich Garbenheim usw., so nahm auch Lessing an, Goethe habe in seinem Werther eine Charakteristik des jungen Jerusalem liefern wollen, das Bild aber sei gänzlich mißlungen, denn Jerusalem war ein ganz anderer. Weiße an Garve in dem erwähnten Briefe vom 4. März 1775: »Höchst aufgebracht war er gegen die Leiden des jungen Werther und behauptete, der Charakter des jungen Jerusalem wäre ganz verfehlt: er sei niemals der empfindsame Narr, sondern ein wahrer nachdenkender Philosoph gewesen. Er selbst besitze einige sehr scharfsinnige Abhandlungen von ihm usw. – kurz, ich merke, er wird ihm einmal jählings, wie Klotzen, auf den Nacken springen; doch da es Goethen auch nicht an Hörnern fehlt, so wird er sich wohl wehren« usw. Gegen Goethe aufzutreten war in der Tat etwas anderes, als den untergeordneten Klotz zu demütigen, und so ließ es der gewandte Fechter diesmal bei den Drohungen bewenden. Das einzige, was er wagte, war die Herausgabe der philosophischen Aufsätze von K. W. Jerusalem, Braunschweig 1776, mit einer Vorrede, in der er, ohne des Dichters oder des Romanes mit einem Wort zu erwähnen, dem dahingegangenen Verfasser Neigung zu deutlicher Erkenntnis, den Geist kalter Betrachtung, hellen Verstand, ein nicht zum Nachteil seiner höhern Kräfte beschäftigtes Herz usw. nachrühmte, also lauter Eigenschaften, die denen Werthers grade entgegengesetzt waren. Das war alles. Fragt man, was der Grund von all der Feindseligkeit war, so kann man sagen, es war der Geist der Verneinung gegen alles, was die urteilslose Menge hochhielt, der kritische Geist, der sich im Besitz überlegner Waffen fühlte, dann die auch in Lessings Urteilen bei weitem nicht überwundene Herrschaft des pragmatischen Rationalismus, dem alle Natur und Idealität etwas Unbegreifliches blieb und die Poesie für eine äußere Kunstfertigkeit galt, geübt nach dem Muster der Alten und Neuern (daß in Werthers Leiden die innern Erfahrungen des Dichters selbst, die Schmerzen des eigenen Gemütes ausgesprochen seien, dies anzunehmen fiel, wie wir gesehen haben, auch Lessing nicht ein); endlich und vor allem, wie wir glauben, dasjenige, was wir mit den Worten Sullas aus Goethes ungeborenem Jugenddrama Cäsar ausdrücken wollen: »Es ist etwas Verfluchtes, wenn so ein Junge neben einem aufwächst, von dem man in allen Gliedern spürt, daß er einem übern Kopf wachsen wird.« Also Neid, Eifersucht – und warum nicht? Außer Besitz gesetzt zu werden, gefällt niemand, und Lessings ungemeine Erbitterung, für welche die andern allgemeinen Gründe nicht ganz ausreichen, erklärt sich so am einfachsten. Sonst ging er heiter zum Kampfe und Siege und fühlte sich stark in seinem Geschäfte: diesmal hielt er sich zaghaft zurück und äußerte seinen Zorn nur in heimlichen Gebärden – gegen einen Nebenbuhler, von dem er doch sagte, er werde sich als einen ganz gewöhnlichen Menschen entpuppen. Zu all dem, was geschehen war, kam dann noch ein unbekanntes, das im Hintergrunde drohte, wir meinen Goethes Faust, von dem schon damals der allgemeine Ruf ergangen war. Denn schon seit Jahren hatte Lessing, wie seinen Freunden bekannt war, einen doppelten, mehr oder minder ausgearbeiteten Entwurf desselben Titels und vielleicht ähnlichen Inhalts unter Händen – mußte ihn diese überbietende Wettbewerbung nicht bitter verdrießen, möglicherweise einen Teil seines Lebens und Mühens vergeblich machen? So wird, was Engel 1776 berichtete: Lessing werde seinen Doktor Faust sicher herausgeben, sobald Goethe mit seinem erscheine, und er habe gesagt: »Meinen Faust holt der Teufel, und ich will Goethe seinen holen« – völlig wahrscheinlich; wobei wenig darauf ankommt, wie Lessing zu verschiedenen Zeiten sich Fausts Ende gedacht habe, und ob der Teufel ihn selbst oder ein bloßes Phantom in die Hölle schleppen sollte. Mit Goethes Übergang nach Weimar verschwand er selbst und sein Faust aus dem Andenken der Welt, und damit scheint auch Lessings Stimmung gegen die literarische Ketzerei sich allmählich beruhigt zu haben. Vielmehr wandte sich jetzt der allzeit fertige Kämpfer gegen die starrköpfige Theologie, auf welchem Gebiet für ihn in der Tat andere, echtere Lorbeeren zu pflücken waren.
Auch der andere berühmte Mann, der Hohepriester und Verkündiger alles Edeln und Heiligen, der Sänger der Erlösung, der deutsche Homer-Pindar, Klopstock, hielt sich im Verhältnis zu Goethe nicht frei von kleinlichen, eitlen Motiven. Zwar anfangs glaubte er auch den jungen Frankfurter Dichter zu dem Kreise der Jünger, der ihn anbetend umgab, zählen zu dürfen und neigte sich ihm freundlich zu. Goethe schien Mitglied des Hainbundes werden zu wollen und dessen würdig zu sein; er war mit den Brüdern Stolberg befreundet, mit deren Schwester im Briefwechsel, hatte Wieland angegriffen, Bürger die Hand gereicht und Klopstock selbst geschrieben: »Soll ich den Lebenden nicht anreden, zu dessen Grabe ich wallfahrten würde?« und: »Ich wünsche, daß Sie empfinden mögen, mit welch wahrem Gefühl meine Seele an Ihnen hängt.« Auch über Klopstocks Gelehrtenrepublik hatte er sich in einem Briefe an Schönborn in überschwenglicher Huldigung ergangen – Äußerungen, die dem, den sie betrafen, sicherlich nicht unbekannt blieben. So kam es, daß der Erhabene aus der Reise zum Markgrafen von Baden sich herabließ, in Goethes Vaterhaus einzukehren, und die Szenen aus Faust, die der Sohn des Hauses bei dieser oder anderer Gelegenheit ihm vorlas, wohl aufzunehmen schien. Als aber die Weimarer Zeit gekommen war und in den beiden Jünglingen, dem Herzog und seinem Freunde, die Lebenskraft keine Schranken zu kennen schien, da ließ sich Klopstock davon erzählen (natürlich mit Übertreibungen und eingemengten Lügen), gedachte seiner Amtspflicht als des Sittenrichters, gegen dessen Stimme sich niemand, oder nur ein ganz böser Mensch, verstecken durfte, erhob sich seines Stuhles und schrieb an Goethe den bekannten warnenden Brief vom 8. Mai 1776. Goethe antwortete kühn und trotzig; in den Entwickelungskämpfen seiner genialen Individualität begriffen, litt und genoß er im tiefsten Innern und mochte sich nicht durch triviale Predigt dreinreden und sich schulmeistern lassen. Aber Klopstocks Gunst hatte er damit aus immer verscherzt: er war ein Empörer, ein Abtrünniger, wurde exkommuniziert und verfiel der Verdammnis. »Jetzt verachte ich Goethen«, rief Klopstock (K. F. Cramer an Goethe, 11. Oktober 1776) und antwortete von der Höhe seiner gekränkten Würde herab. Diese seine Korrespondenz verbreitete er dann nicht bloß in den Reihen seiner Waffenträger und Mannen, die sie weiter mitteilten, sondern schickte sogar eine Abschrift an den Markgrafen nach Karlsruhe, damit sie auch dort bekannt werde. Alle taten entrüstet und waren nach des Meisters Willen beflissen, immer neue Verleumdungen auszustreuen und den guten Ruf des jungen Herzogs und Goethes nach Kräften zu untergraben (Arndt, Goethes Briefe an die Gräfin Auguste zu Stolberg, S. 141: »Der Mensch Klopstock gewinnt gerade nicht dadurch«). Auch Goethes Dichtungen behandelte Klopstock von nun an mit ironischer Geringschätzung. »Hat Goethe sich noch nicht totgeschossen?« fragte er mit höhnischer Anspielung aus Werther. »Er ist ein gewaltiger Nehmer«, schrieb er an Herder (27. November 1799) und vermutete, Goethes Theorie der Farben sei eigentlich ein Eigentum Marats (welcher halbverrückte Wüterich wirklich eine Optik geschrieben hatte, in der er Newtons Theorie bekämpfte, s. die entsprechende Stelle in der Farbenlehre); im Götz habe er sich durch die Lebensbeschreibung des Ritters gängeln lassen, und die Personen, die er selbst dazu erfunden, sprächen nicht so, wie es dem Zeitalter angemessen sei (also sein Hermann sprach so, wie die Deutschen um Christi Geburt?). Als er einer Aufführung der Iphigenie beiwohnte, ging er oft weg, und wenn er es nicht getan hätte, so wäre es bloß geschehen, um kein Aufsehen zu machen. »Es ist«, fügt er hinzu, »eine steife Nachahmung der Griechen. Sie wissen, wie weit griechisch und steif auseinanderliegen. Und die Nachahmung beiseite, wie manche Redensart, die man kaum zu Ende lesen kann, wenn man vorliest! Und dann die Bildung des Verses!« (an Böttiger, 24. Febr. 1800). Der Vorwurf der Steifheit nimmt sich in Klopstocks Munde besonders schön aus! Um von der Iphigenie bewegt und gerührt zu werden, war er selbst zuwenig Dichter und auch in seiner Ethik zu transzendent, nicht auf menschlichem Grunde ruhend; schon Merck hatte ihn nie »für einen wahren poetischen Kopf gehalten,« so wie »es viele gibt, die es ungleich mehr sind, wie er« (an Nicolai, 6. Mai 1775). Noch charakteristischer als über die Iphigenie ist Klopstocks Urteil über Hermann und Dorothea. Der Stoff war ihm nicht erhaben genug; an der Niedrigkeit der dargestellten Szenen nahm er besonderen Anstoß. »Wenn Homer«, schreibt er, » solche Gegenstände für die Odyssee aus seinem Zeitalter gewählt hätte, als Goethe fast durchgehends aus dem seinigen gewählt hat, so würde jene wohl nicht bis auf uns gekommen sein« (an Böttiger, 4. November 1797). In einem späteren Brief fügt er hinzu: »Für die Zuhörer auf den Jahrmärkten mag denn Kalliope von dem Sürtout des Gastwirts singen Diese Äußerungen Klopstocks müssen durch Böttiger, den Allerwelts-Zuträger, auch Kotzebue bekanntgeworden sein, denn dieser machte in seinem Freimütigen vom Jahre 1803 Goethe ganz denselben Vorwurf: »Goethe führt Apotheker und Schankwirtsnaturen in die Dichterwelt ein, stellt verunglückte Theaterhelden als Romanideale dar und läßt sich dafür von den Seinigen für den größten aller Dichter erklären.«. Hermann und Dorothea ist – die drei letzten Gesänge ausgenommen – unter Voßens Luise. Aber wie weit? Lassen Sie uns den zehnten Grad als den untersten annehmen, und sagen Sie mir dann, wie weit?« – »Ich fand in Ihrem Briefe, daß Ihnen die Deutschen nicht einmal originell in der Narrheit sind. So, das sind sie nicht einmal? Wie ungerecht sind Sie doch! Also ist es in der genannten Sphäre nicht originell, daß alle neun Musen für die Dorfschenken gesungen haben?« In einem dritten Briefe meint er, die drei letzten Gesänge gehörten »auf die fünfte Stufe und die andern dann weiter herunter, wie's kommt.« Alle diese Urteile fällte Klopstock unter der Hand; öffentlich seinen Ingrimm zu zeigen, wagte er nicht. Nur als Goethe in den Venetianischen Epigrammen sich erlaubt hakte, die deutsche Sprache als den schlechtesten Stoff zu bezeichnen, indem er Leben und Kunst verderbe – da war dies in Klopstocks Augen ein Frevel am Heiligsten, und er schleuderte seinerseits ein Epigramm dagegen (im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmackes 1796):
Die deutsche Sprache.
Goethe, du dauerst dich, daß du mich schreibest? Wenn du mich kenntest,
Wäre dir dies nicht Gram. Goethe, du dauerst mich auch!
Also Goethe kann kein Deutsch! A. W. Schlegel erwiderte treffend darauf: »Klopstock weiß sonst die Unförmlichkeiten der geliebten deutschen Sprache so ehrerbietig zu verschleiern, daß man nicht begreift, wie er sie durch einen so seltsamen, ihr in den Mund gelegten Vorwurf gegen jenen großen Meister und Bildner, der alle Zauber des Ausdrucks in seiner Gewalt hat, dem spottenden Mutwillen hat preisgeben können.« Übler noch als dies öffentliche Epigramm geriet ihm ein anderes, das, wie er verlangte, nicht gedruckt werden, aber »gegen vernünftige Leute kein Geheimnis« bleiben sollte. Also dasselbe Verfahren wie früher bei der Korrespondenz mit Goethe! In der Ersten Epistel, die Schillers Zeitschrift »die Horen« eröffnete, hatte sich Goethe über die Folgen gefährlicher Bücher poetisch ausgelassen und dabei die Frage getan:
was sollte man, oder was könnten
Biedere Männer vereint, was könnten die Herrscher bewirken?
Hier nahm Klopstock das Wort Herrscher in seltsamem Mißverständnis als Selbstbezeichnung der beiden Dichter Schiller und Goethe und empfand darüber heftigen Unwillen. Er selbst war ja seit langen Jahren der Herrscher über die »Gelehrten und die Liebhaber der Wissenschaften«, ohne, wie er versichert, sich je so genannt zu haben, und nun kamen die zwei und taten mit dürren Worten aller Welt kund, daß sie vielmehr die Herrscher seien und es sein wollten! Solcher Anspruch, öffentlich ausgerufen, verriet in Klopstocks Augen »einen sehr hohen Grad von Abgeschmacktheit« und verdiente eine empfindliche Strafe, feierliche Verwahrung. Diese erfolgte in einem Epigramm durch witzlose Umlautung der Namen Schiller und Goethe in Schüler und Gothe. Wir setzen die ersten sechs Verse her:
Afterahmer und Original sind sonst sich was ungleich.
Dennoch gleichen sie sich. Schüler und Gothe, die Herrn!
Kaum daß der eine des Eigenlobs Trompete vom vollen
Mund absetzt. so ergreift sie der ander' und bläst.
Afterahmer und Original sind sonst nicht von einer
Meinung und gleichwohl sind's Schüler und Gothe. die Herrn!
Auch in der Ode »Der Genügsame« vom Jahre 1796, die gegen Kant und dessen Terminologie gerichtet ist, war das Verbum schülern auf Schiller gemünzt Übrigens besteht vielleicht wirklich ein Zusammenhang zwischen den beiden Namen Goethe und Gothe – Jakob Grimm, Kleinere Schriften I², S. 78 (in einem Aufsatz vom Jahre 1844): »Soll ich in dem ernsten, aber regen Gesicht der Schweden einen Nationalzug angeben, so böte ihn die feine, edle Bildung der Nase dar, etwa wie sie bei Goethe herrscht, der, was sein Name andeutet und Überlieferung besagt, von götländischen Vorfahren abstammen soll.« Danach hätte der übermütige Scherz, den sich Herder in Straßburg mit dem Namen seines jungen Freundes erlaubte, doch ein Bruchteilchen Wahrheit enthalten. Schiller, glauben wir, ist identisch mit Schieler, wie ja so viele Namen von körperlichen Gebrechen herrühren; schielen aber lautete ursprünglich schilchen, und von diesem Verbum ist der Name des Dichters Jörg Schilcher (im Liederbuch der Clara Hätzlerin) abgeleitet; war dieser vielleicht ein Vorfahr unseres Schiller und vererbte seine Dichtergabe auf den späten Enkel?.
So also würdigten die beiden hervorragenden Führer der literarischen öffentlichen Meinung den, der sie zu bloßen Vorläufern herabsetzen sollte! In jenem Jahrhundert, wo die Briefe ein größeres Gewicht hatten als heutzutage und gern mitgeteilt wurden, kam gewiß vieles davon Goethe zu Ohren – aber wie milde, wie neidlos und selbstlos blieb er trotz allem! Nie hat er irgendwie Vergeltung geübt, weder öffentlich noch in vertrauten Briefen; wo er nicht zustimmen konnte, schwieg er; wo er, wie in seiner Lebensbeschreibung, den Stand der damaligen Literatur darzustellen unternimmt – mit welcher Selbstverleugnung spricht er von sich, wie sucht er auch in den Nebenbuhlern, Gegnern und Neidern die starke Seite auf und verzeichnet gern den Beitrag, den auch sie dem allgemeinen Fortschritt geliefert, und wenn er es hin und wieder versieht, z. B. Klopstock gegenüber, so geschieht es mehr durch übermäßige Nachsicht als durch gehässige Strenge. Als Lessing gestorben war, schrieb er seiner Geliebten, 20. Februar 1781: »Mir hätte nicht leicht etwas Fataleres begegnen können, als daß Lessing gestorben ist. Keine Viertelstunde vorher, eh die Nachricht kam, macht ich einen Plan, ihn zu besuchen. Wir verlieren viel, viel an ihm, mehr als wir glauben«, und an Lavater im folgenden Monat: »Lessings Tod hat mich sehr zurückgesetzt; ich hatte viel Freude an ihm und viel Hoffnung auf ihn.« Keine Spur eines Grolles, einer zurückgebliebenen Bitterkeit in diesen Worten! Und wie anders war sein Benehmen gegen Schiller, der auch als ein Jüngerer neben ihm aufgestiegen war, als das Lessings und Klopstocks gegen ihn – doch davon später.
Als Goethe seinen Wohnsitz nach Weimar verlegt hatte und seitdem einem ganz anderen Tagewerk oblag, da war er nach kurzer Zeit in der literarischen Welt wie ein Verstorbener. Sein Name verklang allmählich; Götz und Werther waren nicht durchaus vergessen, und besonders der letztere zog immer weitere Kreise, auch über Deutschland hinaus; aber man stand beiden mit Gelassenheit, wie einer Verirrung oder einer Leidenschaft vergangener Tage, gegenüber. Ein damaliger Literaturhistoriker, K. A. Küttner aus Görlitz, freute sich in seinem zweibändigen Werke: Charaktere deutscher Dichter und Prosaisten, »daß nach und nach das überschreiende Lob, welches die trunkenen Bewunderer Goethe zugejauchzt haben, verhallet«. Die Empfindsamkeit fand bald, wie schon oben erwähnt, noch reichlichere Befriedigung in Millers Siegwart, und nach wenigen Jahren regten Schillers Räuber (1781) die junge und auch die alte Welt noch stärker auf, als dies Clavigo und Stella vermocht hatten. Als Friedrich der Große 1780 seine Schrift über die deutsche Literatur französisch und in deutscher Übersetzung hatte erscheinen lassen, in der von Shakespeares Stücken gesagt war, sie seien der Wilden Canadas würdig, Götz von Berlichingen aber Prädikate wie »abscheuliche Nachahmung« und »ekelhafte Albernheiten« erhielt, da folgte zwar eine Anzahl Gegenschriften, in keiner aber ward Goethes oder des Götz nur mit einer Silbe erwähnt: alle berufen sich zum Ruhme des deutschen Theaters auf die vorausgegangene Literaturperiode und als höchsten Gipfel auf Lessings Dramen. Eine Ausnahme machte nur Justus Möser, dessen Stimme aber, je lieber wir sie jetzt vernehmen, in demselben Maße damals nicht weit schallte. – Goethes lyrische Dichtungen, die wir jetzt zu einer der höchsten Offenbarungen seines Genius rechnen, hatten ohnehin nur ein stumpfes Geschlecht gefunden; sie verloren sich von Anfang an unter den Stimmen der andern Tageslyriker, und was dann von Weimar aus, z. B. in Wielands deutschem Merkur oder sonst an abgelegenen Orten, ans Licht trat, erregte keinerlei besondere Aufmerksamkeiten. Wir verweilen in kurzem bei zwei goethischen Gedichten, einer Fabel und einer volksmäßigen Ballade, die das allgemein Gesagte in zwei einzelnen Fällen bestätigen mögen. Die Gattung der Fabel war wegen ihres didaktisch-verständigen Charakters der allgemeine Liebling dieser moralisierenden und pädagogischen Zeit. Besonders Gellerts Fabeln fehlten in keinem Hause, und Anführungen daraus würzten jede gebildete Unterhaltung. Lessing hatte außer einer Abhandlung über diese Dichtart drei Bücher Fabeln in Prosa verfaßt, in denen er den hergebrachten äsopischen Erfindungen eine etwas anders gebogene, epigrammatische Spitze gab; Hagedorn und Lichtwer und Gleim und Pfeffel und hundert andere erfreuten nicht bloß die Buben und Mädchen, sondern auch die Erwachsenen mit ihren wohlgemeinten, meist den Lateinern und Franzosen abgesehenen, bald salzlos-jovialischen, bald psychologisch-altklugen, bald lehrhaft-erziehenden, immer aber höchst prosaischen kleinen Tiergeschichten. Da erschien im Göttinger Musenalmanach 1774 eine Fabel: »Adler und Taube« – den Tiefen des Menschenschicksals und der Menschenbrust enthoben, die tragische Gefangenschaft eines hochgesinnten Geistes und zu Gewaltigem bestimmter Kräfte in den Banden gegebener kleiner Verhältnisse im Bilde malend und dies Bild zugleich mit reichen, gesättigten Phantasiefarben ausgeführt – die erste wirkliche Dichtung auf diesem Gebiete, das der nüchterne Verstand unumschränkt beherrschte. Aber wer wurde den ungeheuren Abstand gewahr, der dies Gedicht von den Gellertschen Erzählungen trennte? Wer schämte sich fortan der in Tiermasken verkleideten trivialen Sittenlehre und Klugheitsregel? Alle setzten das Geschäft der Fabulistik fort und wurden nach wie vor als Muster geläuterten Geschmackes verehrt. – Wer Goethes Lyrik rein aufnehmen wollte, dem mußte auch das neugefundene Volkslied teuer sein. Aber das Volkslied war naiver Natur, besserte und belehrte nicht und galt nur als Grille einer kleinen Anzahl überspannter Köpfe. Es stieß ab, als ungebildet, als Ausfluß pöbelhaften Aberglaubens; in seinem metrischen und sprachlichen Ungeschick gab es reichen Stoff zu platter Verhöhnung. Friedrich Nicolai in Berlin gab 1777/78 einen feinen, kleinen Almanach voll »schöner, echter, lieblicher Volkslieder ... von Daniel Seuberlich« heraus, Rohheiten aus alten Drucken zusammengesucht, in barbarischer Orthographie. – Alles, um die Patrone der Volkspoesie, Herder und Goethe und deren Anhänger in Göttingen, zu verspotten. Albertine von Grün, die Freundin Höpfners und Mercks, schreibt in einem Briefe vom 3. Mai 1778: »Ich darf in ihrer Gegenwart nicht einmal Volkslied sagen, weil es ein nicht ganz gewöhnlich Wort, und es möchte romantisch sein« (Schwartz, Albertine v. Grün, S. 99). Bürger freilich wollte ein Volksdichter sein, und als seine Lenore im Jahre 1774 erschien, da ward von allen Seiten ein Jubel laut, als wäre, wie A. W. Schlegel sich ausdrückt, »der Vorhang einer noch unbekannten wunderbaren Welt aufgezogen worden« – indes Goethes gleichartige Ballade: »Es war ein Buhle frech genung« (zuerst 1776 im Singspiel Klaudine von Villabella gedruckt) unbeachtet vorüberging. Ja, bis auf den heutigen Tag ist von der Schulzeit her die Lenore in jedermanns Munde, von dem untreuen Knaben aber wissen nur die Kenner, deren Zahl nicht groß ist. Aber wie wenig zuständig ist auch hier das Gericht des Publikums, die Stimme der Menge! Wie wenig ist Popularität ein Kriterium des Echten! Die Lenore trägt alle Fehler der Bürgerschen Dichtweise an sich und ist weder in Erfindung noch in Behandlung ein Meisterstück. Der Dichter will uns eine Gespenstergeschichte, an die wir glauben sollen, erzählen und verlegt sie in die Zeit des Siebenjährigen Krieges, mitten in das achtzehnte Jahrhundert, in das Jahrhundert der ausgebildeten Kriegsmechanik, der Posten und Gazetten, der aufgeklärten Predigten von den Kanzeln und der Wolffischen, jedermann zum Nutzen gereichenden Logik und Metaphysik. Wilhelm ist preußischer Soldat und dient unter dem freigeistigen Könige, und diese Szenerie wird nicht etwa bloß angedeutet, sondern des weiteren ausgemalt. Als nach dem Hubertusburger Frieden die Regimenter nach Hause rückten, da fragt die zurückgebliebene Braut die Reihen auf und ab, ob ihr jemand über ihren Wilhelm Auskunft geben könne. Denn er hatte der Schlacht bei Prag beigewohnt
und hatte nicht geschrieben,
ob er gesund geblieben –
er konnte also schreiben, und sie natürlich auch lesen, und in den sechs Jahren, die seitdem verflossen sein mußten, hatte sie keine Nachricht erhalten können! Und womit hat sie es verdient, daß der Tote sie auf seinem Rosse abholt und mit ihr ins Grabgewölbe sich senkt – was hat sie begangen? Eine Braut, die ihren Liebsten verloren hat, darf wohl verzweiflungsvoll die Hände ringen und verdient nur unser Mitleid – aber Lenore hatte mit Gottes Vorsehung gehadert, und darum die Entführung! Der abgeklärte Begriff der Vorsehung ist nicht nur der Volkssage völlig fremd, sondern daß diese abstrakte Macht eine Schuld, gegen sie selbst, und zwar bloß in Worten begangen, auf diese Art strafen werde, eine ungehörige Vermengung zweier ganz verschiedener Vorstellungskreise und Bildungsstufen. So wenig konnte sich Bürger in die Denk- und Empfindungsart des Volkes, in eine Welt des Glaubens und der Wunder, überhaupt in die Stimmung der Ballade versetzen! Die Beschreibung des Rittes selbst steckt voll Ungebührlichkeiten jeder Art, die zusammen eben Bürgers Manier bilden. Die Wiederholungen, die lauten Interjektionen, die prahlerischen Ausbrüche, die Wortmalerei, die übermäßige Länge, die künstlichen, profanen Effekte, alles dies kann den leisen, tiefen Schauer nicht erwecken, den die echte Volksballade mit bescheidenen Mitteln hervorzurufen weiß. Den Beifall, der dem Gedicht zuteil wurde, verdankte es offenbar dem Versbau und Tonfall, der etwas Schlagendes, Rüstiges, Lebendiges hat – welches aber auch dem ganzen Liede mehr äußerlich anhaftet, als aus dem Innern quillt. Um wieviel reiner ist der »Ungetreue Knabe«, das Gegenstück der Lenore, aus der Quelle des Volksgefühls geschöpft! Wie halten sich Gegenstand und Ausführung in unmittelbarer Einheit! Daß ein Franzose ein deutsches Mädchen verführt und sie dann verlassen hat, entspricht dem bei dem Volke seit Jahrhunderten eingewurzelten Urteil über die gallischen Nachbarn: da ihn keine bürgerliche Strafe erreicht, so übernehmen die geheimnisvollen Mächte, die in Gemüt und Phantasie leben, die Rache. In der Todesstunde des Mädchens überfällt den Buben die Bangigkeit, er steigt zu Pferde und reitet sieben Tage und sieben Nächte (die Zahl sieben ist seit uralten Zeiten bedeutungsvoll); der Himmel donnert und blitzt, er muß in einem alten, zerstörten Schlosse Zuflucht suchen; der Boden versinkt unter seinen Füßen, Irrlichter locken ihn weiter, und er steht in einem hohen Saal, mitten in einer Festversammlung von hundert hohlen grinsenden Schädeln. Und untenan sieht er auch sein Liebchen in weißem Gewände, sie bewegt sich und – hier bricht das Lied ab, aber es leuchtet ein, er ist hergefordert, sich mit ihr zu vermählen, und die gemeinsame Gruft wird das Brautbett sein. Daß der Dichter verstummt und der Phantasie des Hörers überläßt, den Vorgang zu vollenden, vermehrt nur das Grausen sowohl der Szene als des dem Mörder gewordenen Gerichts. Und wie leise und innig ist jedes Wort, jede sprachliche Wendung nach der Empfindung des unteren Volkes, seines in sich webenden Gemütes, seiner dunkeln, sich selbst das Entsetzen schaffenden Einbildung gestimmt! Daß die Ballade parodistisch gemeint sei, erachten wir für eine völlig unzulässige Ansicht; wer so urteilt, könnte auch den König von Thule oder alle goethischen Gedichte nur für Scherz halten; wohl aber, wie sooft bei Goethe, bewirkt die Wahrheit des Tones, daß über die Erzählung wie ein leichter ironischer Hauch hinzuschweben scheint. Daß das Gedicht keinen Schluß hat (es wird in dem Drama durch eine andere Person unterbrochen), mag ihm hinderlich gewesen sein; aber wir schätzen ja oft eine ausgegrabene – altgriechische Statue, wenn ihr auch der Kopf fehlt, dennoch höher als eine jetzige mittelmäßige mit allen ihren Gliedmaßen.
In den zehn Jahren des Weimarer Aufenthaltes war der Dichter, wie gesagt, dem Angesicht der Welt entrückt: er hatte sich, wie die alten Religionsstifter, für eine Weile in die Wüste zurückgezogen. Es waren die schönsten Jahre des Lebens, die Jahre männlicher Jugend, reich an innerer, arm an äußerer Hervorbringung. Das dichterische Vermögen stand in voller Kraft, es vereinigte die frühere Glut und Fülle mit der neugewonnenen Kunstform, aber es schloß sich nicht in Werken aus. Nur die Iphigenie ward vollendet, aber auch diese nur im ersten Entwurf und wie durch eine glückliche Fügung: »Hätt' ich«, schreibt er selbst an Knebel, den 5. März 1779, »die paar schönen Tage in dem lieblichen und überlieblichen Dornburger Schlößchen nicht gehabt, so wäre das Ei halb angebrütet verfault.« Alles übrige blieb Fragment, wie Tasso so Wilhelm Meister, wie Egmont auch Elpenor. Und wie vieles wurde gar nicht angefangen! Faust, auf den in den Jahren 1774 und 1775 die Erwartung so hoch gespannt war, verschwand aus dem Munde der Leute und aus dem Sinne des Dichters, der mit jedem Jahre von dem Gemütszustand und Stil, der dies Drama eingegeben hatte, sich weiter entfernte. In den Jahren 1776 und 1777 hätte er es noch vollenden können, später nicht mehr oder nur in gezwungener Art. Wäre er, wie Raffael, mit siebenunddreißig Jahren abberufen worden, wir hätten nur eine Reihe von Bruchstücken und könnten uns von der Größe und dem Umfang dieses Genius keinen Begriff machen. Geradeso alt war er, als er die Flucht nach Italien unternahm – seltsam genug, daß das, was andern Zerstreuung bringt, die Reise in ein fremdes Land, ihm als stille gesammelte Muße zur Gestaltung und Ausführung so manches Entworfenen und Begonnenen dienen muß. Darin aber liegt zugleich der Grund des jammervollen Verlustes so vieler blühenden Jahre.
Denn in der ersten Zeit, wo er noch Faust und Werther war, verflossen die Tage freier, oft ungezügelter Lust am Dasein, in Aufnahme all des Neuen in Sitte und Gesellschaft, in Staat und Hof, auf Reisen, bei Festlichkeiten, mit den Weibern. »Da hielt dich«, sagt Götz von Berlichingen, »das unglückliche Hofleben und Schlenzen und Scherwenzen mit den Weibern.« Die Stimme der Muse verstummte im Geräusch und Strudel des Lebens und konnte nur in verlorenen Augenblicken, in diesem und jenem kleinen Gedichte laut werden. Dann kamen die Verwaltungsgeschäfte, die Aktenstöße, die Sitzungen und Rechnungen und daneben der höfische Dienst mit seinen Redouten und Maskeraden, dem Liebhabertheater und den herzoglichen Geburtstagen und fürstlichen Besuchen, auch der Pflicht, durch irgendwelche pseudo-poetische Erfindungen, in die der Dichter seine Persönlichkeit nicht hineinlegen konnte, die hohen Gönner und Gönnerinnen immer wieder zu ergötzen und ihnen die schuldige Dankbarkeit zu bezeigen. Wenn je ein Dichter Pegasus im Joche war (nach Schillers Bezeichnung), so war es Goethe in den zehn Jahren in Weimar. Mußte er nicht in elenden, fremden Stücken, die nach dem damaligen Zeit- und Hofgeschmack gearbeitet waren, Rollen auswendig lernen und sie probieren, z. B. in v. Seckendorfs Kallisto – »das ich«, sagt er selbst in seinem Tagebuch (25. Mai 1780), »völlig als Dienst traktieren mußte, um's nur zu tun«. Und mußte er nicht an ein Elogium Bernhards von Weimar denken und dazu Quellen exzerpieren und Kollektaneen anlegen! Glücklicherweise scheint dieser Auftrag, wie es an Höfen geht, nur ein vorübergehender, bald wieder vergessener Einfall gewesen zu sein. Später drängte sich die Naturwissenschaft in vielen ihrer Zweige, ebenso die Kunst und Kunstgeschichte störend in die Spiele und Träume der Dichtung. »Ich kam höchst unwissend in allen Naturstudien nach Weimar,« sagt der Dichter viele Jahre nachher (16. März 1824) zum Kanzler von Müller, »und erst das Bedürfnis, dem Herzog bei seinen mancherlei Unternehmungen, Bauten, Anlagen praktische Ratschläge geben zu können, trieb mich zum Studium der Natur.« Endlich tat auch der Seelenbund mit Charlotte von Stein der dichterischen Arbeit insofern Abbruch, als das übervolle Herz in dem vertrauten Umgang einen Erguß fand, den es sonst vielleicht in poetischen Schöpfungen gesucht hätte. Wenn ein unsichtbarer Stenograph uns die Gespräche der vielen Abende, die die Liebenden miteinander verbrachten, hätte aufzeichnen können! Goethe an Fr. Aug. Wolf, den er aufmuntert, als Schriftsteller zu wirken (28. Nov. 1806): »Es hat mich doch mehr als einmal verdrossen, wenn so köstliche Worte an den Wänden des Hörsaales verhallten.« Hiob 19, 23: »Ach, daß meine Reden geschrieben würden! ach, daß sie in ein Buch gestellet würden!« So aber verging Jahr nach Jahr, einiges wurde begonnen, nichts zu Ende geführt, nur Kleines, das nicht viel Zeit nahm, gelang. Er hatte Tasso und Antonio zugleich sein wollen: zwar besaß er auch zu letzterem eine bedeutende Anlage – schon im Oktober 1774 schrieb Lavater an Zimmermann: »Goethe wäre ein herrliches handelndes Wesen bei einem Fürsten: dahin gehört er. Er könnte König sein. Er hat nicht nur Weisheit und Bonhomie, sondern auch Kraft«, und Klinger an Kaiser 1776: »Goethe ist so groß in seinem politischen Leben, daß wir's nicht begreifen« – aber die Vereinigung zeigte sich doch als unmöglich. Das Gefühl, seinem eigentlichen Berufe untreu geworden zu sein, ward immer stärker in ihm und machte ihn unglücklich. Eine Anzahl Geständnisse der Art aus seinem eigenen Munde liegen vor. Während der Arbeit an Iphigenie schreibt er dem Herzog: »Bei dieser Gelegenheit seh' ich doch auch, daß ich diese gute Gabe der Himmlischen (die Poesie) ein wenig zu cavalièr behandle, und ich habe wirklich Zeit, wieder häuslicher mit meinem Talent zu werden, wenn ich je noch was hervorbringen will.« An Frau v. Stein, 31. Dezember 1770: »Mein Tasso dauert mich selbst, er liegt auf dem Pult und sieht mich so freundlich an – aber wie will ich zureichen! Ich muß auch all meinen Weizen unter das Kommißbrot backen.« An Kestner von demselben Jahre: »Pläne habe ich auch genug, zur Ausführung aber fehlt mir Sammlung und Langeweile. Verschiedenes hab ich für das Liebhabertheater, freilich meist konventionsmäßig, ausgemünzt.« Tagebuch, April 1780: »Doch ist mir's wie einem Vogel, der sich in Zwirn verwickelt hat; ich fühle, daß ich Flügel habe, und sie sind nicht zu brauchen.« Als er Knebel die Anfänge von Wilhelm Meister geschickt und dieser das Werk gelobt hatte, erwiderte Goethe, 3. Juli 1780: »Was Du daran lobst, habe ich wenigstens zu erreichen gesucht, bin aber leider weit hinter meiner Idee zurückgeblieben. Ich selbst habe auch keinen Genuß daran; diese Schrift ist weder in ruhigen Stimmungen geschrieben, noch habe ich nachher wieder einen Augenblick gefunden, sie im ganzen zu übersehen.« Als Wilhelm sein Vorspiel auf dem Schloßtheater aufgeführt hatte, sagte Jarno: »Es ist schade, daß Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen«, und später: »Es ist sündlich, daß Sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren.« So sagt auch Wilhelm selbst, 4, 2: »Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der Künstler ihn wünscht und hofft.« Es ist, als zielten die letzten Worte auf des Dichters Publikum in Weimar; es bestand aus einem Halbdutzend Personen, denen er neu entstandene Fragmente und Kapitel vorlas, dem Herzog, den beiden Herzoginnen, Herders, Frau von Stein, in zweiter Linie Knebel und Wieland. Aber daß die Genannten, sowohl was jene Innigkeit als was ästhetische Bildung überhaupt betrifft, eines solchen Dichters würdig gewesen wären, darf man wohl bezweifeln. Der Herzog besaß Verstand, daneben auch ein gut Teil harmloser Roheit; wenn er sich gleich zu Anfang Goethe zum Gefährten wählte, so bewog ihn nicht Sympathie mit dessen Seelenleben, sondern außer den bestechenden Eigenschaften von Goethes Persönlichkeit die Voraussetzung, der geniale Jüngling werde ihm helfen, die konventionellen Fesseln zu sprengen und in Kraft und Genuß die untersten Gründe aufzuwühlen. Aber der tägliche Umgang mit dem überlegenen, ebenso liebenswürdigen als energischen Freunde hob ihn eine Weile über sich selbst hinaus, er täuschte sich eine Geistesverwandtschaft mit ihm an. Er begann sich für Steine, Blumen, Knochen, für Ölbilder, Kupferstiche, Medaillen und natürlich auch für Poesie zu interessieren. In der Iphigenie spielte er in Mercks Gegenwart den Pylades neben Goethe, dem Orestes – mit Vertauschung ihrer Rollen im Leben, denn um diese Zeit war es schon Orestes, der Maß und Besonnenheit lehrte. Drei Jahre später gefiel ihm das Gedicht auf Miedings Tod ganz besonders – obgleich wir jetzt urteilen müssen, daß für einen so großen und einzigen Dichter der Stoff gar zu unbedeutend ist: Mieding war im höfischen Zirkel eine beliebte Figur, die zu vielen Späßen Gelegenheit gab, und die Trauerrede auf seinen Tod doch nur ein zu Kurzweil dienendes Gesellschafts- oder Hofpoem. Was das Drama überhaupt betrifft, so hielt der Herzog bis zuletzt an der französischen Form desselben fest, trotz aller Wirkungen des Sturmes und Dranges; er folgte gern in allem der Richtung des verwandten Hofes in Potsdam – wie ja auch der Prinz in Wilhelm Meister, der ein Abbild des Prinzen Heinrich von Preußen sein soll, eine Vorliebe für Racine hat und dadurch Wilhelm Gelegenheit gibt, eine geistvolle Lobrede auf diesen Theaterdichter zu halten. »Vielleicht«, schreibt Goethe am 3. Februar 1781 der Freundin, »käme der Herzog, und Sie steckten den Cinna ein«, mit dem also Se. Durchlaucht unterhalten werden sollte. Als ihm der in Rom endlich vollendete Egmont bekannt geworden war, hatte er viel daran auszusetzen. »Bemerkungen, welche Sie mir schreiben,« erwiderte Goethe den 28. März 1788, »sind zwar für den Autor nicht sehr tröstlich, bleiben aber doch dem Menschen äußerst wichtig.« »Einiges, was Ihnen nicht behagte, liegt in der Form und Konstitution des Stücks und war nicht zu ändern, ohne es aufzuheben« – mit anderen Worten, der Aufbau in Weise Shakespeares, der historische Gehalt des Dramas war dem Herzog nicht genehm. Auch gegen Tasso hatte er von Anfang an eine Abneigung. Er riet dem Dichter davon ab; bei der Ausführung hat dieser nicht bloß die Schwierigkeit der Sache, sondern auch das Vorurteil des Fürsten zu überwinden (an den Herzog aus Rom den 28. März 1788 und aus Weimar den 1. Oktober desselben Jahres). Die Form konnte dem hohen Beurteiler hier keinen Anstoß geben, vielleicht aber fürchtete er die Anspielungen, die möglichen Beziehungen auf seinen eigenen Hof, oder vielmehr der Gegenstand war ihm zu modern, da die französische klassische Tragödie, wie bekannt, nur entfernte Stoffe zuließ. Indes, zum Dichten hatte er den jungen Goethe nicht nach Weimar berufen, und wenn er sich dessen poetischer und Phantasiewelt zuweilen näherte, so »hinderten doch die Knoten in dem Strange seines Wesens eine ruhige, gleiche Aufwicklung des Fadens«, und »der Frosch ist fürs Wasser gemacht, wenn er gleich auch eine Zeitlang sich auf der Erde befinden kann« (beide bittern Gleichnisse in dem vertrauten Briefe an Frau von Stein vom 10. März 1781). Später, in der Zeit Schillers, interessierte den Herzog zwar das Theater, wie von jeher, aber der Gesichtspunkt wurde immer französischer, immer verständiger. Beide Dichter übersetzten ihrem Herrn zu Gefallen, der eine zwei Stücke des Voltaire, der andere eins von Racine, und von dem Mahomet des ersteren hoffte der Fürst, es werde damit eine »Epoche in der Verbesserung des deutschen Geschmacks« angehen (an Knebel, Januar 1800); es sollte also die Gottschedische Zeit wiederkommen! Von Schillers Dramen war ihm keins nach dem Sinn; am Wallenstein fand er nur die ausnehmend schöne Sprache zu loben; die Jungfrau von Orleans durfte gar nicht aufgeführt werden, weil eine damals beim Herzog allmächtige Schauspielerin aus weiblichen Gründen die Rolle nicht übernehmen konnte und sie doch keiner andern abtreten wollte; an der Braut von Messina machte er eine Menge Ausstellungen, er klagte über den unnützen bilderreichen Schwulst der Sprache, über die unausstehlichen Härten in den Versen, die undeutschen Worte und Wortversetzungen, die Knittelverse mitten im Pathos usw. (in dem Brief an Goethe vom 11. Februar 1802). So urteilte er höchst nüchtern, nicht viel anders als einst sein Großoheim Friedrich der Große, und wenn Goethe ihn dankbar seinen August und Mäzen nannte, so war Schiller kühn genug, in dem Gedicht »An Goethe« dem Herzog die nötige Belehrung zu erteilen und in der »deutschen Muse« für Deutschland auch das Augustische und Mediceische Zeitalter abzulehnen. Als im Jahre 1817 die Frau von Heygendorf, eben die obige Jungfrau oder vielmehr Nicht-Jungfrau von Orleans, es durchsetzte, daß der Hund des Aubry aufs Theater kam und Goethe infolgedessen ohne viel Umschweife seinen Abschied erhielt, soll dieser ausgerufen haben: »Karl August hat mich nie verstanden!« Dies war im Grunde der richtige Ausdruck des Verhältnisses zwischen beiden. Indes, Unterstützung, Schutz, Duldung gewährte Karl August unsern höchsten Klassikern dennoch, und so war er zwar nicht in vollem, doch in gewissem Sinne ihr Augustus und Mäcenas oder Mediceer. Und dann – wie tief standen die andern damaligen Fürsten deutscher Nation noch unter dem Weimarer Herzog und Großherzog!
Die beiden Herzoginnen waren als Frauen und Fürstinnen kaum imstande, den Gehalt der Goetheschen Dichtung auch nur von fern zu erfassen; sie konnten sich nur an das Nächstliegende, an die Form halten, und diese sagte als solche wenig, war einfach und unscheinbar. Die Herzogin Luise wird als eine stille Frau geschildert, der ein leiser Gang des Lebens am meisten zusagte, und die, wenn sie wirklich für ein Gelesenes Empfänglichkeit besaß, doch mit ihren Urteilen und Eindrücken zurückhielt. Daß ihr Gatte in den ersten Jahren der Ehe sich dem wilden Leben ergab, schmerzte sie tief, wie ihre Briefe in die Heimat bezeugen – wie hätte sie den gern sehen können, der der Verführer, der eigentliche Urheber schien! Sie ist ja mit der Lila in Goethes Singspiel dieses Namens gemeint, die von der Idee beherrscht wird, böse Geister hielten ihren Mann gefangen: doch wird sie in dem Stücke geheilt und der Freude wiedergegeben, und so mag es auch in der Wirklichkeit geschehen sein. Ganz wohl aber ward es ihr in dem Treiben des lockern Musenhofes niemals. Dagegen war die Herzoginmutter ein lebenslustiges, heiteres Wesen (sie war 1739 geboren, also, als Goethe nach Weimar kam, 36 Jahre alt), und unter andern Dingen trug ja auch die Poesie, wenn man dieses Wort hier brauchen darf, sowie ein wenig Kunst und Wissenschaft zum Vergnügen bei; Aufführungen, Scherze und Schwänke, Beleuchtungseffekte, Masken, ein eigenes handschriftliches Journal mit Beiträgen der Herren und Damen vom Hofe usw. – dies und Ähnliches bildete ihr Element, und im kleinen war ihr Ettersburg und Tiefurt, was etwa Trianon dem Versailler Hof oder Zarskoje-Selo der Kaiserin Katharina von Rußland. Was sollten ihr Iphigenie oder hin und wieder ein paar neue Kapitel des Wilhelm Meister? Frau von Stein schilderte ein halbes Jahr nach Goethes Ankunft das herzogliche Haus folgendermaßen (in einem französischen Briefe an den Arzt Zimmermann): »Ein Regierender, mit sich und aller Welt unzufrieden, täglich sein Leben, das ohnehin von keiner guten Gesundheit gehalten wird, aufs Spiel setzend, ein noch schwächlicherer Bruder, eine kummervolle Mutter, eine mißvergnügte Gattin, alle insgesamt gutmütige Geschöpfe, aber nichts, was in dieser unglücklichen Familie zusammenstimmte.« – Aber ein echter Zuhörer, so sollte man meinen, war Herder und unter seiner Leitung auch Frau Caroline Herder. Eine lange Freundschaft verband ja beide Männer – aber auch diese nur wegen der Weichheit, Nachgiebigkeit, Herzlichkeit und reifen Selbstbildung des einen von beiden. »Goethe ist ein Dichter,« sagten die Brüder Schlegel im ersten Bande ihres Athenäums, »von dem es nie entschieden werden kann, ob er größer oder liebenswürdiger sei.« Gerade umgekehrt – Herder. Als es sich für diesen darum handelte, in Weimar zu bleiben oder einen Ruf nach Göttingen anzunehmen, da sagte Goethe, wie Caroline ihrem Manne schreibt: »Sein Gemüt bringt er ja überall mit.« ( Coelum, non animum mutant, qui trans mare currunt.) Wie wahr! Er brachte sein Gemüt nach Italien, er brachte es in das Verhältnis zu Goethe und hätte es zu seinem Unglück auch nach Göttingen gebracht. »Herder fährt fort, sich und andern das Leben sauer zu machen«, heißt es in einem Briefe Goethes an Lavater vom September 1780. Er konnte einsichtig, anerkennend sein – wenn man es glücklich traf. Am 1. Juli 1781 schreibt Goethe: »Herder war gar gut; wenn er öfter so wäre, man möchte sich nichts Besseres wünschen.« Als er auf Goethes Bitte den Götz von Berlichingen zum Behufe der neuen Ausgabe kritisch durchgesehen hatte, schickte er das Exemplar mit den warmen Worten zurück, Juli 1786: »Hier hast Du Deinen Götz, Deinen ersten, einzigen, ewigen Götz mit innig bewegter Seele. Gott segne Dich, daß Du den Götz gemacht hast, tausendfältig.« Und gleich anfangs, als Götz zuerst erschienen war und Herder vor Augen kam, hätte er da nicht jubeln und jauchzen müssen, daß alles, was er selbst gelehrt und gepredigt, in einer genialen Dichtung voll Kraft und Mark wirklich geworden war? Aber er zog vor, heute zu loben (sogar gedruckt, obgleich auch da nur andeutungsweise), morgen zu bekritteln und spöttisch zu verkleinern. Sich an Goethe zu erfreuen, ihn neben sich zu dulden, dazu war sein Sinn nicht groß genug. Alle Gegenstände und Personen und ihre Werke rückten in seinen Urteilen immerfort aus Licht in Schatten und aus Schatten in Licht; hatte er jemand tief gekränkt, dann war er verwundert, daß seine Worte so hatten genommen werden können. Besonders die Briefe aus Italien lehren uns diese haltungslose Gemütsart kennen: unaufhörliche Widersprüche, harte Ungerechtigkeit, die dann, wenn der andere sie empfunden hat, alsbald zurückgenommen wird, Schüchternheit, wo ein offenes Wort gefordert war (z. B. Dalberg gegenüber), Freundlichkeit sogleich übergehend in Streit und Bitterkeit, niedrige Eifersucht und hochfahrende Eitelkeit neben gleich folgenden Redensarten, wie: »Doch will ich nicht richten, um nicht gerichtet zu werden« usw. Goethes Eugenie war ihm anfangs das höchste Meisterwerk, weil er damit den von ihm über alles gehaßten Schiller gedemütigt glaubte: nachher aber brauchte er wieder Goethe gegenüber ein kritisches Wort über das Drama, das beide Männer auf ewig geschieden hätte, wenn nicht der eine von ihnen bald darauf die Augen im Tode geschlossen hätte Niebuhr sagte wohl nicht zuviel, wenn er über Herder schrieb: – »der sich nie an etwas freute, sondern immer das Lob zu beschränken und zu modifizieren suchte, damit es nicht freudig sei«. Und Merck schrieb seiner Frau, d. 14. Febr. 1774, er und Goethe hätten gezweifelt, ob das arme Geschöpf, das Herders Gattin geworden sei, an der Seite eines so sonderbaren Menschen ( la pauvre compagnie d'un homme aussi singulier que Mr. Herder) glücklich werden könne. Darin aber irrten Merck und Goethe, denn die Ehe, obgleich unruhig und hin und wieder durch Stürme bewegt, war doch keine unglückliche.. – Verglichen mit Herder, blieben Wieland und Knebel in einiger Entfernung beiseite. Wieland, immer freundlich und gut, war gleich anfangs von Goethes Erscheinung wie berauscht und gab seiner Bewunderung in dem schönen Gedicht Ausdruck, das ihm Lessing, den der Haß verblendete, so herb verwies. Goethe war in der ersten Zeit viel in Wielands Hause, und der Dichter Wieland stand in seiner Schätzung noch lange, ja bis ans Ende hoch. »Wenn ein Deutscher Dichter ist, so ist er's«, heißt es mit Bezug auf Oberon in einem Briefe an Kestner vom Jahre 1780, und das kleine anmutige Gedicht »Geweihter Platz« geht ursprünglich auf Wieland, der die Gesänge und Tänze der Nymphen und Grazien belauscht hat und sie weiter den Musen anvertraut. Wielands mehr süddeutsche, leichte und menschliche Empfindungsweise mußte Goethe als verwandt anziehen – dennoch bildete sich kein bleibendes Verhältnis, und Wieland gehörte nicht zu denen, für die Goethe seine Dichtungen bestimmte. Es fehlte den Wielandschen Gestalten zu sehr an Wirklichkeit, ihm selbst an Seelentiefe: für die Sehnsucht, die den jüngeren Dichter um diese Zeit im Innersten bewegte, für sein Bangen und Verlangen fand er bei Wieland keinen Widerhall. Dazu kam als äußerer Grund, daß Wieland sich meistens abseits, innerhalb des Hauses und der Familie hielt und mit immer neuen, eigenen Geistesspielen beschäftigt war. Auch Knebel war ein Süddeutscher oder wenigstens Franke (geboren in Wallerstein), gebildet und welterfahren und selbst ein Dichter. Wenn wir nach seinen Briefen schließen dürfen, besaß er wohl Sinn für Goethes Schöpfungen und beurteilte sie mit Einsicht. Doch war er zehn Jahre lang in Potsdam unter Friedrich dem Großen Offizier gewesen und hatte seine ersten Eindrücke von der Berliner Dichterschule erhalten: der Schritt von Ramler bis zu Goethe mußte schwer sein, auch sind seine eigenen poetischen Versuche etwas kalt, lateinisch und phantasielos. Da er viel von Weimar abwesend sein mußte und war, so konnte er nicht zu Goethes Nächsten gehören; doch erhielt sich der Verkehr mit ihm, wenn auch durch einzelne Trübungen unterbrochen, länger als mit manchem andern – bis zu Goethes Tode. Wäre Merck in Weimar ansässig gewesen – er wäre dem Dichter oft unbequem geworden, aber er hätte ihn begriffen und von mancher Vergeudung seiner Kraft und seiner Zeit zurückgehalten. Über ihn bemerkt das Tagebuch, 13. Juli 1779: »Da er der einzige Mensch ist, der ganz erkennt, was ich tue und wie ich's tue, und es doch wieder anders sieht wie ich, von anderem Standpunkt, so gibt das schöne Gewißheit.« Er war der einzige Mensch – aber Charlotte von Stein, erkannte die ihn auch nicht? Über diese Geliebte des Dichters richtig zu urteilen, ist bei dem Mangel an unmittelbaren, von ihr selbst ausgegangenen Zeugnissen ungemein schwierig. Sie zu tief herabsetzen, wäre ein Frevel gegen den Dichter selbst, der zwölf Jahre hindurch in grenzenloser Hingabe allen Reichtum seiner Gaben an sie verschwendet hatte. Dennoch können wir ihr nicht zutrauen, daß sie deutlich sah und ganz empfand, was sie an ihm besaß: sie war ein Weib, eine Hofdame, unter den damaligen Umständen, auf der damaligen Bildungsstufe in höfisch-französischer Form und Richtung – wie hätte sie die Lebensbilder und die Prosa Wilhelm Meisters, die religiöse Erhabenheit der Oden usw. in ihrer Tiefe ermessen können? Und wenn sie es konnte, hätte sie dann nicht ihre Liebe an die Bedingung knüpfen müssen, daß er zuvor seinen Faust oder den Elpenor usw. vollendete? Und hätte sie ihn nicht nach Kräften von den profanen Geschäften abgelenkt und immer wieder auf seinen größten, heiligsten Lebensberuf gewiesen? Oder als bedeutungslos zugelassen, daß er heute an Iphigenie arbeitete und morgen Rekruten auslas, um dem kleinen Herzog in Sachsen ein lächerliches Militär zu schaffen? Freilich sind die Weiber alle Verschwenderinnen, und wenn sie ein Genie, ein Höheres in ihrem Dienst verbrauchen, so kümmert sie das wenig. »Wenn die Männer«, sagt Goethe selbst, »sich mit den Weibern schleppen, so werden sie so gleichsam abgesponnen wie ein Wocken.« Wohl schmiegte sich Frau von Stein auch in poetischen Dingen ihm an und suchte sich in sein Dichten hineinzufinden, aber worin sie ihm überlegen war und ihn erzog und seine Bekenntnisse empfing – es war das Leben in gewählterer Gestalt, der feinere gesellige Verkehr, die Behandlung der Menschen,
die arme Kunst, sich künstlich zu betragen.
Als er im August 1784 mit dem Herzog den braunschweigischen Hof besuchte, hatte sie ihm auferlegt, ihr von dort in französischer Sprache zu schreiben. Das Französische sollte ihm geläufig und natürlich werden; er sollte werden wie die damaligen Prinzen und Edelleute, die nur mit ihren Kutschern deutsch sprachen, sonst aber französisch zu denken und zu schreiben gewohnt waren. So mußte der, durch den die deutsche Sprache aus dem Aschenbrödel zur Fürstin ward, sich üben, es auch in der äußeren Art den Hofleuten gleichzutun! Aber wahrhaft vornehm zu sein, nicht bloß innerlich, sondern auch vor den Augen und Ohren anderer, war in jener Lebensperiode sein nächstes Anliegen – und so legte er abends und in jeder freien Stunde alles, was er getan, was ihm innerlich und im Getriebe des Tages widerfahren war, ihr zu Füßen und nahm ihre Billigung, wohl auch ihren Vorwurf, die Hinweisung auf den Ruf und das Urteil der Welt in Demut und Dankbarkeit entgegen. Dann aber kam die Zeit, wo der Jüngling zum Manne geworden war und dieser mit sich selbst Frieden geschlossen hatte und keines Seelentausches mehr bedurfte – und da konnte ihm Frau von Stein nicht mehr alles sein. Sie war alt, eine Matrone geworden, etwas grämlich war sie immer gewesen; auf das konventionell Sittliche, Züchtige hatte sie immer gedrungen. Als er dann seinen Egmont aus Italien einschickte, da nahm auch Frau von Stein das Drama ungnädig auf: wie wir aus des Dichters Antwort sehen, mißfiel ihr die Erhebung Klärchens, der »Dirne«, zu einer Prophetin der Freiheit – also auch hier der Gesichtspunkt des Geziemenden, nicht der poetische, auf welchem letzteren Klärchens und Egmonts Liebe ihr ideales Recht in sich selbst hat und keiner bloßen Zulassung bedarf oder wohl gar Strafe fordert.
Das also war das kleine Publikum, das ihn umgab, und dem er sich mitteilte! Alles in allem waren es doch gewöhnliche, recht sehr prosaische Menschen und er der Königssohn unter den Hirten oder nach seiner eigenen Fabel der Adler unter den Tauben und Täubchen. Und doch bedarf der Genius, und je größer er ist, um so mehr, der Einstimmung und Freude, des Gegenklanges von außen, nur dieser reizt ihn, sich zu öffnen, die gesammelten Schätze gern herzugeben, die Scham, die Schmerzen zu überwinden, die mit jeder Ablösung vom Herzen verbunden sind. Aber er fühlte sich oft genug allein. Er vergleicht sein Inneres »einem Kästchen voll allerlei Schmucks, Goldes und Papiere«, das in einen Brunnen versenkt ist; schon ehe er nach Weimar kam, hatte er oft mit dem Propheten schmerzlich ausrufen müssen: ich trete die Kelter allein, und er mochte sich damals stellen, wie er wollte, so war er einsam; von ähnlichen Aussprüchen der Weimarer Zeit führen wir nur die zwei Stellen an: Brief an Frau von Stein, 1. Januar 1780: »Ich stehe von der ganzen Nation ein für allemal ab, und alle Gemeinschaft, die man erzwingen will, macht was Halbes, indes führ' ich mich so leidlich auf als möglich«, und aus dem Tagebuch, 13. Mai 1780: »Was ich trage an mir und andern, steht kein Mensch. Das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können!« Auch die Regierungstätigkeit, der er seine höchste Bestimmung so vielfach geopfert hatte, bereitete ihm jetzt nur bittere Empfindungen: sie zeigte sich als vergeblich. Eine Menge Äußerungen im Briefwechsel der späteren Jahre, halb unterdrückte Seufzer, verraten den äußeren Mißerfolg, die innere Mißstimmung. Elpenor:
Wer alt mit Fürsten wird, lernt vieles, lernt
Zu vielem schweifen.
1786, 9. Juli, also kurz vor der italienischen Reise: »Ich sage immer, wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein Einen ähnlichen Ausspruch soll Bismarck getan haben, nur daß er statt Administration ein anderes Wort brauchte, ich glaube Politik..« Noch zehn Jahre später, als es sich darum handelte, ob Fritz von Stein in preußische Dienste treten oder in weimarischen Staats- und Hofämtern allmählich emporsteigen solle, schrieb er der Mutter des jungen Mannes: »Wer gerne leben mag und ein entschiedenes Streben in sich fühlt, einen freien Blick über die Welt hat, dem muß vor einem kleinen Dienst wie vor dem Grabe schaudern. Solche enge Verhältnisse können nur durch die höchste Konsequenz, wodurch sie die Gestalt einer großen Haushaltung annehmen, interessant werden.« Die Verschwendung, die Vergnügungssucht des Hofes, die Reisen und Jagden, die Gastfreundschaft und die Bewirtung schmarotzender Edelleute usw. ließen keinen Wohlstand im Lande aufkommen. Warum aber zog er die Hand nicht eher von dem Werk ab, warum floh er nicht früher? Da es wie mit der Dichtung, so auch mit den Geschäften nicht gehen wollte? Da er schon im Jahre 1782 an Knebel geschrieben hatte: »Der Wahn, die schönen Körner, die in meinem und meiner Freunde Dasein reifen, müßten auf diesen Boden gesät, und jene himmlischen Juwelen könnten in die irdischen Kronen dieser Fürsten gefaßt werden, hat mich ganz verlassen, und ich finde mein jugendliches Glück wiederhergestellt –?« Erstens wurde ihm, wie wir glauben, die Trennung von Frau von Stein damals schwer, ja unmöglich: beginnt doch die an die Geliebte gerichtete Strophe vom Jahr 1784 mit den Worten:
Gewiß ich wäre schon so ferne, ferne.
So weit die Welt nur offen liegt, gegangen,
Bezwangen mich nicht übermächt'ge Sterne,
Die mein Geschick an Deines angehangen.
Andererseits – so erdrückend die Last der politischen Arbeit und des Hofdienstes auf ihm lag, eine einflußreiche, hochangesehene Stellung mit dem Nichts, der Einsamkeit freiwillig zu vertauschen, ist ein Entschluß, der gern aufgehoben wird; man nenne es nun Ehrgeiz oder anders, es kann keinen Schatten auf ihn werfen. Zuletzt aber mußte doch gewaltsam abgebrochen werden – er mußte sich wieder an die Welk, an seine Nation, an das literarische Publikum wenden, statt sich von der Weimarer und Gothaer und Erfurter nichtigen Geselligkeit aufzehren zu lassen. So begann er die Herausgabe seiner Schriften, knüpfte an seine Jugend an, da er noch ein freier Dichter gewesen war, eilte nach Italien, wohin er schon vor elf Jahren auf dem Wege gewesen war, und sandte von dort die Iphigenie und den Egmont an den Drucker und Verleger, dann nach der Rückkehr auch den halbfertigen Faust und Torquato Tasso, dieses Gegenbild seines eigenen tragischen Weimarer Schicksals. Wie die allgemeine Aufnahme war, mag hier mit A. W. Schlegels Worten ausgedrückt werden: »Nachdem die sogenannte Sturm- und Drangperiode in den siebziger Jahren des Jahrhunderts ausgetobt hatte, ließ sich in den achtzigern eine gewisse Erschlaffung spüren, die durch mancherlei zusammentreffende Umstände vermehrt ward. Die Lethargie war so unerwecklich, daß selbst das Wiederaustreten jenes großen Geistes, welcher zu der vorhergehenden Periode den ersten Anstoß gegeben hakte, und dessen Jugendwerke, die aus dem Standpunkte einer umfassenden historischen Kritik nur als vorläufige Protestaktionen gegen die Anmaßung der konventionellen Theorie erschienen, damals das Ziel verkehrter Nachahmungen gewesen waren – daß selbst das Wiederauftreten Goethes, sage ich, in der Gestalt des reifen, selbständigen, besonnenen Künstlers unmittelbar keine sichtbare, bedeutende Wirkung hervorbrachte« (im zweiten Bande der Charakteristiken und Kritiken 1801). Besonders die Iphigenie in ihrer reinen Formenschönheit und klassischen Stille wurde mehr als ein völlig Fremdes mit großen, verwunderten Augen angestaunt, als begriffen und genossen. Schon die Künstler in Rom, denen er sie vorlas, »konnten sich in den ruhigen Gang nicht gleich finden«, und die »fast gänzliche Entäußerung der Leidenschaft wollte ihnen kaum zu Sinn«. Wie das Stück aber den Schauspielern vorkam, kann uns das Urteil Ifflands lehren, dieses höchst unpoetischen Hannoveraners, dem nach Landesart alles Ideale unfaßbar war, außer in Gestalt gutmütiger Familienmoral und bürgerlicher Rechtschaffenheit. Er schreibt, nachdem er die Handschrift gelesen, an den Freiherrn von Dalberg, 2. Oktober 1785: »Ich finde nicht, was man davon sagte! Seinsollende griechische Simplizität, die oft in Trivialität ausartet, sonderbare Wortführung, seltsame Wortschaffung und statt Erhabenheit oft solche Kälte, als die, womit die Ministerialrede beim Bergbau in Ilmenau geschrieben ist.« Ähnlich wird im Durchschnitt die Stimme der übrigen Zeitgenossen gelautet haben. Das Drama war kalt, denn es war nicht sentimental, sondern bloß seelenvoll und innig und fromm; es war ganz ethisch, aber es predigte nicht Moral; das Pathos rauschte nur wie eine mächtige unterirdische Duelle; das Kolorit war zu zart, um der groben Auffassung der literarischen Menge fühlbar zu werden. Auch Egmont fand einen Kunstrichter, der diesem Drama nicht gerecht wurde – es war Schiller. Schiller war damals gegen Goethe nicht freundlich gestimmt, dieser war ihm zu vornehm, zu glücklich: die Lebenslose waren beiden zu ungleich und nicht nach Verdienst zugeteilt worden; daß auch Goethe vielfaches und tiefes inneres Unglück erfahren hatte, war aller Welt verborgen; mit den Niederlanden jener Zeit hatte sich Schiller mannigfach beschäftigt, sowohl in einem eigenen historischen Werke als dramatisch im Don Carlos; so hielt er sich zum Beurteiler berufen – mit dem stillen Vorbehalt, damit seine eigene Sache zu führen. Er fand den Helden des Stücks nicht männlich genug, Freiheitsrhetorik so gut wie keine, die Schlußszene zu opernhaft. Damit aber hakte er den Charakter und eigentlichen Kern dieses Dramas ganz verfehlt. Die Tragik besteht eben in dem Gegensatz eines frohen Gemütes, sorgloser Lebenslust, der Phantasie, die von innen her den Umkreis des Daseins mit ihrem heiteren Lichte bestrahlt, des offenen Vertrauens, das die Menschen für besser nimmt, als sie sind (wie Goethe war, als er nach Weimar kam) – zu der harten Wirklichkeit der politischen Dinge, der lauernden Beobachtung, der herzlosen Berechnung, ja Grausamkeit, deren der Staatsmann nicht entbehren kann. Beide Glieder des Gegensatzes sind historisch und lokal individualisiert, das eine in dem leichtblütigen niederländischen Volke und dessen ritterlichem Liebling, dem wachenden Träumer, dem Grafen Egmont, das andere doppelt in dem klugen Oranien und den düstern Spaniern mit ihrem Herzog Alba und seiner wie eine Mauer zusammengeschlossenen Truppe. Auch hier also, wie fast immer bei Goethe, nicht bloß die Dialektik halber Wahrheiten und einseitiger Charaktere, sondern auch die eine Seite, die des Gemütes und der Phantasie, in schmerzlicher Tragik unterliegend, dadurch sich läuternd und in unserem Herzen ihr relatives Recht behauptend. Wir scheiden mit dem religiösen Gefühl: es konnte nicht anders sein. Der Spanier wird gleichfalls seiner Strafe nicht entgehen – die Niederlande werden sich befreien, und Spanien wird werden, was es im 17. und 18. Jahrhundert, ja bis auf den heutigen Tag geworden ist. Auch Klärchen lebt in einer abgesonderten Welt seliger Einbildung, in der farbigen Dämmerung eines Traumes, wie bezaubert durch den Gedanken, daß dieser Mann, den alle Welt vergöttert, ihr angehört, daß der strahlende Ritter des goldenen Vlieses ihr Geliebter ist (aus Rom, 3. November 1787) – darum sie ihm auch am Schlusse als himmlische Lichtgestalt erscheinen kann und unmittelbar vor dem Schafott und dem blutigen Todesstreich alles in eine Seelenmusik sich auflöst. Egmont ist eine Gemütstragödie und dennoch nach Ort und Zeit lebendig bestimmt, auf realem Boden, viel geschichtlicher als irgendein Charakter oder eine Szene im Don Carlos: dieser wunderbaren Verschmelzung entspricht der doppelte poetische Stil, der naturalistische des ersten Entwurfs und der ideale der späteren Vollendung; es ist ein Übergangsdrama, ein Götz von Berlichingen, der sich zur Iphigenie umbildet. Egmont zum Familienvater machen, wie Schiller verlangte, mit den dazugehörigen rührenden Auftritten, würde dem ganzen Sinn des Stücks zuwider sein – für welches gerade das heimliche Liebesglück und auch die Phantasieerscheinung am Schlusse organisch und harmonisch ist. Von Klärchens Liede: »Freudvoll und leidvoll« spricht Schiller nicht – wirkte es nicht besonders auf ihn? Es wiegt freilich Schillers ganze Liebeslyrik auf: man vergleiche nur den Zauber und die Innigkeit dieser Melodie mit Theklas »Der Eichwald brauset« oder Egmonts Besuch bei Klärchen mit dem, was Max und Thekla oder auch Rudenz und Berta einander sagen! Von den Geringeren gar nicht zu reden!
Aber nicht bloß durch diese Kritik, auch durch seine eigenen Werke trat Schiller der neuen Goetheschen Dichtung hindernd in den Weg. Die letztere glänzte nicht, sie war tief und still; Schillers feurige blühende Diktion aber setzte die Gemüter des großen Publikums in eine Erregung – daß die Stimme des älteren Dichters nicht mehr vernommen wurde. Selbst die kleine Gemeinde in Weimar, die Goethe glaubte erzogen zu haben, sowohl die Männer (»die wilden Studenten«) als die »gebildete Hofdame« (Frau von Stein) fand er bei seiner Rückkehr von Schiller und Heinse hingerissen. Er war »sehr betroffen« und glaubte all sein dichterisches Tun verloren. Schon beim Austritt aus Italien hatte er in trauriger Ahnung geschrieben, an Knebel, Mailand, den 24. Mai 1788: »Ich bringe vieles mit, wenn Ihr nur im Falle seid, es zu genießen.« Da Schiller mit seinen Räubern schon 1781 aufgetreten war, so muß man sich verwundern, daß in der Weimarer Korrespondenz bis zur italienischen Reise nirgends von diesem Erstlingsstücke und den gleich folgenden beiden Dramen die Rede ist. Als Goethe im Januar 1786 in Gotha den Reichardschen Theaterkalender las und der deutschen theatralischen Wirtschaft »ordentlich nachrechnete und alles umständlich balancierte« – da war ihm diese noch nie »so leer, schal, abgeschmackt und abscheulich« vorgekommen, aber in dem ganzen Klagebrief über die »deutsche Theater-Misere« kein Wort über die rohen, aber genialen Dramen eines Jünglings mit Namen Schiller. Am Weimarer Hofe herrschte eben gegen deutsche Literatur Gleichgültigkeit; man las, wie an allen Höfen und beim Adel überhaupt, nur neue französische Bücher, Diderot, Voltaire, Rousseau, St. Martin, Mirabeau, Neckers Compte rendu usw. und war glücklich, wenn man einen Brief des Barons von Grimm erhascht hatte. Aber während Goethes Abwesenheit in Italien war das neue Gestirn auch in Weimar aufgegangen; Schiller war selbst nach Weimar gekommen, hatte bei Wieland und Herder, in einigen Häusern des Adels günstige Aufnahme gefunden, ja mit der Familie von Lengefeld ein zartes Band anzuknüpfen begonnen; er fand Goethes Ansehen fest gegründet und konnte sich eines bitteren Gefühls gegen den, der ihm überall, gesellig und poetisch, eine Schranke setzte, nicht erwehren. Goethe seinerseits fühlte sich durch den rohen Geschmack und die ethische Unreife seines Nebenbuhlers angewidert; Gedichte wie die Freigeisterei aus Leidenschaft und die Resignation und das Lied an die Freude mußten ihn abstoßen und die hochgehende Bewunderung der feurigen Jamben des Don Carlos im Gegensatz zu den wie aus Seiden- und Goldfäden gewobenen Gesprächen seines Tasso ihn tief verstimmen. Über Tasso erlaubten sich die »Göttinger Gelehrten Anzeigen« am Schlusse einer kühlen Kritik die Äußerung: »Keine der handelnden Personen ist so geschildert, daß man ihr Wohl und Wehe zu dem seinigen machen könnte. Tasso selbst erregt nur eine mit Unmut über sein grillenhaftes Betragen gemischte Teilnahme, und die Prinzessin äußert zu matte kränkliche Gefühle, als daß man lebhaften Anteil daran sollte nehmen können.« (1790, Stück 93; die Rezension rührte von A. W. Schlegel her, der damals freilich noch nicht 23 Jahre alt und Bürgers Zögling und Schillers Bewunderer war.) Ähnlich äußerte sich um dieselbe Zeit der jüngere Graf Stolberg in einem Briefe an Jacobi: »Was sagen Sie zu Goethes Tasso? Mir mißfällt er tout uniment. Warum gibt er dem kleinlich stolzen, großmütelnden Antonio diese Superiorität über den Zögling der Muse und der Grazie? Einzelne Züge sind vortrefflich.« Waren nun Goethes gesammelte Schriften unter so ungünstigen Umständen hervorgetreten, und genoß und würdigte sie eigentlich niemand, und schien auch aus den Meldungen des Verlegers hervorzugehen, daß der Absatz den Erwartungen nicht entsprach – so begann das letzte Dezennium des Jahrhunderts mit einer doppelten geistigen Strömung, die den Dichter ganz einsam machen mußte, wir meinen die Lehren der französischen Revolution vom Westen und der Kantischen Philosophie vom äußersten Nordosten her. Beide waren, wie auch schon von andern bemerkt worden ist, innerlich verwandte Erscheinungen, die letzte Vollendung des das ganze Zeitalter beherrschenden Geistes. Die Revolution, eine Empörung gegen den tragenden Naturgrund und gegen alle historischen Zusammenhänge und Bedingungen, konstruierte den Staat nach der Willkür des sogenannten Vernunft- und Naturrechts; sie schnitt ab, was dieser Konstruktion im Wege stand, auch wenn es Ströme von Blut kostete; sie betrachtete die Individuen als wesentlich gleich, als bloße Ziffern, und regulierte ihr Leben nach abstrakten mechanischen Formeln. Das konnte allerdings nur zum Schein und für eine kleine Weile gelingen, wie wir nur für einige Augenblicke auf dem Kopfe gehen können. Aber damals war dies die neueste, höchste Weisheit, der letzte Schluß der ganzen Geschichte, und eine neue Universalchronologie sollte mit der französischen Republik beginnen. Auch der Kantische Kritizismus pflanzte das Banner der absoluten Freiheit des Subjekts auf und brachte so die Aufklärung zu ihrem systematischen und spekulativen Ausdruck. Kant war der genaue Buchhalter, der die Aktiva und Passiva des bisherigen dogmatischen Denkens reinlich auseinanderhielt, und was sich dabei ergab, war folgendes. Eine Weltvernunft, objektiven Geist gab es nicht; alle Erkenntnis war nur subjektiv, das Subjekt bringt die Kategorien, d. h. alle Form der Wahrheit, ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zu dem toten Stoffe hinzu, und das An-sich der Dinge verbirgt sich in einem unerreichbaren Jenseits. Zum positiven Ersatz diente der apriorische Freiheitsbegriff, die Selbstbehauptung gegen natürliche Antriebe, der Rigorismus sittlicher Postulate, die Autonomie der praktischen Vernunft. Beides, der Bau eines neuen Staates in der Abstraktion von allen organisch-lebendigen Kräften und die Kantische dualistische Moral und Verleugnung der Natur, mußte Goethe tief mißfallen; den Kantianismus ließ er gewähren, blickte aus der Ferne verwundert hinüber, eignete sich im Laufe der Zeit eine oder die andere Nebenpartie an, sie durch Anschauung näherbringend und belebend, aber erst mit Schelling, zehn Jahre später, hatte sich eine Denkart aufgetan, zu der er offen und mit Freuden sich bekannte. Die Revolution aber bekämpfte er in einigen Zusätzen zu Faust, in den venetianischen Epigrammen, in besonderen Dramen; die letzteren konnten keinen Beifall gewinnen, nicht bloß dieser Gesinnung wegen, sondern als mißlungene, ja geistlose Werke – die er erst später, als die innere Stimmung sich geläutert hatte, durch Hermann und Dorothea und Eugenie wieder gutmachte. Schon milder war die Lebensansicht im Reineke Fuchs. Da herrscht in reizender Grazie der Form, in zwangloser Fülle der Worte ein heiteres Behagen an dem Lauf der Welt, durch den der abstrakte politische Idealismus sich überall als hohle Einbildung erweist. Aber auch Reineke Fuchs machte keinen Eindruck; Körner fand die Arbeit unbedeutend und eines Dichters, wie Goethe, nicht würdig – worauf Schiller nur zu erwidern wußte, ihm gefalle der homerische Ton, in dem das Gedicht abgefaßt sei.
Ganz anders, vielmehr gerade umgekehrt, verhielt sich Schiller dem herrschenden Zeitgeist gegenüber. Der französischen Revolution hatte er in seinen bisherigen Werken deutlich präludiert; er hatte in zwei Geschichtswerken, dem Abfall der Niederlande und dem Dreißigjährigen Krieg, zwar nur geringen Sinn für historische Realitäten und deren eigene innere Bewegung, dafür aber glänzende rhetorisch-stilistische Kunst bewiesen; seinem heroischen Ideal mußte die Kantische Moral besonders zusagen:
Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden
Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl –
und in seinen philosophischen Abhandlungen, deren ganze Anlage bis auf die Satzbildung hinab antithetisch ist, bemüht er sich immerfort, die Kantischen Verstandsbestimmungen in höhere Einheit aufzulösen und den dürren Formeln der Reflexion ein warmes Lebensblut einzuflößen. So schienen beide Männer zwei ganz verschiedenen Welten anzugehören, der eine dem achtzehnten Jahrhundert, das in dem Absolutismus des persönlichen Subjekts sein Höchstes fand, der andere einem längst gewesenen oder erst kommenden Zeitalter der Offenbarung des Göttlichen in Leben und Natur, der Harmonie des Ich mit der Welt; der eine schnell berühmt, bei jedem neuen Werke mit jubelnder Begeisterung gepriesen, der andere, der zwar auch in der Jugend viel Lärm gemacht, jetzt unbegriffen, unverstanden, zweideutigen Urteilen ausgesetzt, von Schweigen umgeben, da niemand wußte, was er aus ihm machen sollte.
Und dennoch finden wir beide Antipoden – auch dem Lebensalter nach so verschieden – seit dem Jahre 1794 in einem engen Bündnis der Freundschaft und gegenseitigen Austausches. Dies Bündnis dauerte etwa zehn Jahre, wie früher der geheime Herzensverkehr mit Frau von Stein, und die Menge gewöhnte sich, ja ist bis auf den heutigen Tag gewöhnt, beide Dichter als Eins zu fassen und das Gewicht beider Hälften als gleich zu schätzen. Gewiß ist Schiller mit Recht ein Liebling des Volkes, das ihn immer wieder emporhob, wenn eine neue poetisch-kritische Schule ihn zurückwies und verkleinerte; dennoch schickt es sich nicht, sie beide als zwei Brüder auf demselben Throne zu bezeichnen (wie Bettina tat) oder als Doppelstatue auf ein Postament zu stellen, wie sie zu Weimar in abstoßender realistischer Äußerlichkeit zu schauen sind. Schiller war ohne Zweifel der nächste, der zweite nach Goethe, aber ein Zwischenraum blieb doch:
proximus huic, longo sed proximus intervallo –
wie das Silber ein edles Metall ist, aber dem Golde nachstehen muß. Das größere Verdienst dieser ungetrübten Einheit und der dadurch gewonnenen Doppelmacht, mit der endlich die Welk bezwungen wurde, gebührt sicherlich dem älteren Dichter, der zugleich der mildere, reifere war; hatte er doch solange den Umgang mit dem schwer zu behandelnden Herder aufrechterhalten und ihn erst unterbrochen, als es gar nicht mehr gehen wollte. So schmiegte er sich auch Schillers formalen Begriffen nach Möglichkeit an, vermied jeden Anstoß, den die stolze, oft schroffe Natur seines Freundes bereiten konnte, und erkannte die schönen Seiten in dessen Dichtungen und Abhandlungen bereitwillig an. Für sich selbst empfand er es als ein hohes Glück, daß Schillers Teilnahme und gleiches Streben den Sieg der Idealität über den gemeinen Menschenverstand entscheiden mußte. Währenddessen aber herrschte ringsum in den Zeitschriften noch immer das seichte psychologisch-moralische Gerede, die Ästhetik im Dienste der Tugend und Besserung, wie sie Mendelssohn und Garve, Engel und Sulzer, Weiße und Nicolei lehrten und gelehrt hatten. Angesichts der Schillerschen Horen und Almanache und der darin enthaltenen Gedichte war die Klage allgemein, daß die goldene Zeit vorüber und die Literatur im Verfall sei; unter der ersteren verstand man die von Uz und Gleim und Kleist und Ramler und Gellert und Klopstock und Wieland, besonders aber Lessing, an der Spitze; der Verfall aber zeigte sich deutlich an der Manier Schillers und Goethes und der um sich greifenden Kantischen Scholastik und deren verschrobener Terminologie (ganz wie jetzt die der Hegelschen Schule betrachtet wird). Die »Würzburger Gelehrten Anzeigen« z. B. sagten am 16. März 1796 von Schillers erstem Musenalmanach: »Aber jene einfache und edle Grazienform, die unsere Dichtkunst in dem goldenen Zeitalter ihren Geschöpfen zu geben wußte, vermißt man denn doch!« In einer zwei Jahre darauf in Berlin erschienenen »Klassischen Blumenlese der Deutschen«, in der nur Stücke der soeben genannten Helden der goldenen Zeit gesammelt waren, jammerte die Vorrede, »unsere poetische Literatur sterbe jetzt winterlich ab«, »die Geschmacksverderberei werde jetzt methodisch betrieben« usw. Schiller, der sich seines Werkes und der genialen Größe seines Freundes sehr wohl bewußt war, verhöhnte diese sich zurücksehnende literarische Kritik in den Xenien, die er später zum Gedicht Jeremiade zusammenfaßte:
Alles in Deutschland hat sich in Prosa und Versen verschlimmert,
Ach und hinter uns liegt weit schon die goldene Zeit!
und verschonte selbst Lessing und Wieland nicht, denn auf den ersten geht doch wohl der Vers:
Trauerspiele voll Salz, voll epigrammatischer Nadeln –
auf den letzteren wohl das Distichon:
Philosophischer Roman, du Gliedermann, der so geduldig
Still hält, wenn die Natur gegen den Schneider sich wehrt.
Anfangs erschien den Wächtern auf dem Parnaß Schiller als der schwächere, leichter zu überwindende, er war jünger, von der Dichtkunst abgefallen, in die neue Philosophie geraten; »er strotzte«, wie ein Kritiker vom Jahre 1797 sich ausdrückte, »in seiner Poesie von Gedanken, in seiner Prosa von Bildern und Blumen«; auch war er kein Staatsmann, kein Edelmann und Geheimrat wie Goethe – was damals mehr ins Gewicht fiel, als man jetzt denkt: so hieß es in einer Anti-Xenie:
Weil ihn Goethe besucht, so dünkt er sich Goethe der zweite,
Schiller der erste, mein Freund, – bist du und bleibst du gewiß,
und in einer zweiten wurde Schiller als Hammel, Goethe in Weimar als Bock bezeichnet, der dem erstern mit seinen Hörnern geholfen habe:
Ohne den stößigen Bock fehlt's dem Eunuchen an Kraft.
Friedrich Schlegel, als er wegen seiner naseweisen Bemerkungen in Reichardts Journal von Schiller durch mehrere Xenien bestraft worden war, griff eine derselben auf:
Wem die Verse gehören, Ihr werdet es schwerlich erraten.
Sondert, wenn Ihr nur könnt, o Chorizonten, auch hier –
und erwiderte boshaft, es sei ein naives Epigramm, und man erkenne leicht die Stimme dessen, der frohlockt, daß er der andere (d. h. Goethe) scheinen könne. Doch wandte sich die Meinung auch auf die entgegengesetzte Seite, und Goethe galt als der Herzlose, Eitle, der nur von hündischen Schmeichlern umgeben sein wolle und alle übrigen, außer sich selbst, verachte, besonders aber als der Unsittliche und Schamlose, vor dem man Jünglinge und Töchter zu hüten habe, mit einem Wort, als der Verführer des edleren Schiller. Zwar daß er ein »glücklicher Kopf« sei, mußte man gelten lassen (dies Zeugnis kehrt mehr als einmal wieder, wenn die Schönheit eines Gedichtes in einem der Musenalmanache gar nicht zu leugnen war); aber daß Lessing sich hatte abhalten lassen, den Übermütigen zu züchtigen, wurde immer noch bedauert und blieb ewig schade – es hätte der Literatur und dem ungezogenen Störenfried selbst zum Heil gereicht, so urteilte noch 1797 nicht bloß Nicolai, sondern auch Boie, und der Wandsbecker Bote dichtete:
Er schrieb, sie beteten den jungen Schreiber an –
Und es war um den
Menschen getan.
Zu den Widersachern gesellte sich setzt auch Herder, dessen Galle leicht erregt wurde; er haßte Kant, weil dieser den ersten Teil seiner »Ideen« ungünstig beurteilt hatte, noch mehr aber Schiller, den Jünger Kants, der als solcher in Gedichten und Abhandlungen ganz neue Töne angeschlagen hatte. Im achten der Briefe zur Beförderung der Humanität wurden Schiller und Goethe ignoriert oder der letztere nur gestreift, die kleinen Dichter des vergangenen goldenen Zeitalters aber in den Mittelpunkt gerückt und Klopstocks Oden überschwenglich gepriesen. Goethe gegenüber, der seine Freundschaft gegen die mit Schiller vertauscht hatte, hüllte sich Herder jetzt, wie die übrigen, in das Kleid der strengen Zucht und Moral. Die Leichtfertigkeit der »Römischen Elegien« erschreckte ihn, und er äußerte, die Horen müßten jetzt mit einem »u« geschrieben werden; über den Gott und die Bajadere und die Braut von Korinth urteilte er, in beiden spiele Priapus eine große Rolle, einmal als Gott mit seiner Bajadere, so daß sie ihn morgens an ihrer Seite tot findet; das zweitemal als Heidenjüngling mit seiner christlichen Braut, die als Gespenst zu ihm kommt, und die er, eine kalte Leiche ohne Herz, zu warmem Leben priapisiert – das sind Heldenballaden! (An Knebel, 5. August 1787 Das schnöde Wort, das Herder in Jena über die Eugenie dem Dichter ins Angesicht warf, war wohl auch dem Kreise des Priapus entnommen, denn das Trauerspiel heißt ja: Die natürliche Tochter..) – Auch die beiden großen Werke dieser Jahre, Wilhelm Meister und Hermann und Dorothea, begegneten zunächst nur einer geteilten und zweifelhaften Aufnahme. Mit Hermann und Dorothea fand man sich durch den Trost ab, das Gedicht sei eine Nachahmung der Luise von Voß – eine gelungene, sagten die einen, eine verfehlte, die andern, immer aber ist der Nachahmer der Geringere, der mit reflektiertem, nicht mit eigenem Licht leuchtet, der Lehrling, der es dem Meister, wenn auch ungeschickt, nachzutun versucht. Der Leipziger Professor Koch bemerkte 1798 in seinem Compendium der deutschen Literaturgeschichte, Band 2, über Vossens Luise: »Jeder Freund der vaterländischen Literatur muß diesem Meisterstück eine würdigere Nachfolge wünschen, als es kürzlich in Goethe's Hermann und Dorothea erhalten« – und um dieselbe Zeit schrieb der sächsische Barde Rhingulf (Kretschmann) dem Herausgeber des Taschenbuchs zum geselligen Vergnügen und später der Erholungen, G. W. Becker: »Daß doch Ritter Goethe noch immer, sooft er in die Schranken tritt, die Inschrift Sonderbar auf seinem Schilde führt! – (Das Büchelchen) enthält fast weiter nichts als außer dem Kalender das Poem Hermann und Dorothea, eine Art von bürgerlich-epischem Gedichte, ganz in Manier und Stil wie Vossens Luise. Sonderbar und ganz unerklärlich, folglich ganz in Goethes Geiste ist der Einfall, daß er jedem Gesang statt des Titels den Namen einer Muse vorsetzt. Welch ein Spiel würde er und sein Klub damit treiben, wenn sonst jemand so was gewagt hätte!« Zwei Monate darauf: »Über Goethes Hermann und Dorothea bin ich mit Ihrem Urteil völlig übereinstimmend. Er hat Vossen nachgeahmt, aber nicht erreicht.« Voß selbst war der Meinung, Dorothea reiche an seine Luise nicht heran, an Gleim 24. September 1797: »Ehrlich denke ich für mich und sage es Ihnen: die Dorothea gefalle, wem sie wolle; Luise ist sie nicht.« Der alte, allzeit fertige Halberstädter Reimer, an den der Brief gerichtet war, brachte diese Worte sogleich in ein Gedicht:
Luise Voß und Dorothea Goethe,
Schön beide wie die Morgenröte,
Stehn da zur Wahl,
Und Wahl macht Qual.
Hier aber, seht, ist nichts zu quälen,
Hier kann die Wahl nicht fehlen:
Luise Voß ist mein, in Lied und in Idyll
Die andre nehme, wer da will.
Doch wurde Hermann und Dorothea viel gelesen, mehr als eins der andern Werke von Goethe: der Inhalt war mäßig spannend, die Form faßlich, freilich, wie geklagt wurde, zu gewöhnlich, der Moral und dem herrschenden Geschmack nur geringer, auf einzelne Züge beschränkter Anstoß gegeben – der Kunstwert des Gedichts, die klassische Vollendung desselben blieb unbegriffen. Ein Beurteiler in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste wog die Vorzüge und Mängel des Werkes gegeneinander ab und fand, daß es weder ohne Einschränkung gerühmt noch ohne Einschränkung getadelt werden dürfe, der Ausdruck sei vernachlässigt, bisweilen platt, oft verworren und dunkel, überall sei eine Nachahmung der Vossischen Sprache sichtbar: in betreff der handelnden Personen störe die Einmischung homerischer Redensarten die Einheit des Stiles; die Abschweifungen seien unverhältnismäßig ausgedehnt, z. B. die Beschreibung des Ganges der Mutter durch den Garten und Weinberg (von epischer verweilender Behaglichkeit hat der Rezensent offenbar noch nichts gehört) usw. Gab für Hermann und Dorothea die Vossische Luise einen Maßstab an die Hand, mit dem man sich zurechtzufinden suchte, so stand dem nicht lange vorher erschienenen Wilhelm Meister das lesende Publikum völlig ratlos gegenüber. Was sollte dieser Roman, was lag in ihm verborgen? Worin bestand Zweck und Ziel des Ganzen? Langweilig war das Buch in hohem Grade, aber es ohne weiteres zu verwerfen, wagte doch niemand. In seiner vornehmen Ruhe und Langsamkeit, in seiner matten, grauen Färbung stand es von August Lafontaines fröhlichen und gefühlvollen Romanen, an denen sich damals alle Welt ergötzte, ungeheuer weit ab. Gleichzeitig mit Wilhelm Meister und auch in vier Bänden und auch in Berlin war Lafontaines Quinctius Heymeran von Flamming erschienen und erwarb sich einen hundertfach größeren Kreis von Freunden, sowohl bei den Frauen als bei den Gelehrten, in der Familie des untersten Beamten wie bei Hofe, bis zum Könige hinauf. Auch viel sittlicher im gemeinen Sinne waren Lafontaines Geschichten, denn in Wilhelm Meister kamen Szenen und Figuren vor, zu denen man nur den Kopf schütteln konnte. Höchst charakteristisch in dieser Beziehung ist die Aufnahme, die der erste Band der Lehrjahre bei Fr. H. Jacobi und dessen adeliger Umgebung fand – und zugleich typisch für den norddeutschen Adel und dessen Frauen, überhaupt für Gesinnung und Sitten und den Haus- und Familiengeist der Heimat Klopstocks und Vossens, auch der Stolberge und des Claudius, und wie die übrigen alle heißen. Schon früher hatten sie versucht, den Dichter in ihre Gesellschaft zu locken, ihn durch Liebe und Freundschaft zu erweichen, wohl auch ihn zu bekehren, ja die Gräfin Julie Reventlow schrieb ihm selbst schmeichelnd und warf ihre Angel nach dem schönen Fisch aus – er wollte aber seine »menschliche und dichterische Freiheit« durch konventionelle Sittlichkeit nicht beschränken lassen, blieb aus und schickte statt seiner die Horen mit den Römischen Elegien und die beiden ersten Bücher des Wilhelm Meister. Letztere gelangten gerade in dem Moment auf dem Schlosse an, wo Jacobi sich als Arlequin maskierte, um den Bon Père des Florian (also ein französisches Stück mitten in Deutschland, und zwar in einer pietistischen adeligen Familie!) zum Geburtstage der Gräfin aufführen zu helfen – die Geburtstage folgten sich auf dem Schlosse in dichter Reihe, und jeder derselben brachte dergleichen »Mummereien innerhalb eines einfachen Familienzustandes«, die dem Dichter immer »widerwärtig« gewesen waren. Wie hätten solche noch in der zurückliegenden Bildung befangene, mehr moralisch-gemütlich als ideal-poetisch gestimmte Menschen das in Wilhelm Meister sich aufrollende freie und reiche Weltbild ohne Voreingenommenheit auf sich wirken lassen können? Zeit, drin zu lesen, es sich vorlesen zu lassen, war dort auf dem Lande, in dem gräflichen Schlosse genug, aber alle Damen, soviel ihrer waren, wurden des Buches wegen dem Verfasser böse. »Soweit«, setzt Jacobi in seinem Brief vom 18. Februar 1795 hinzu, »habe ich ihnen recht geben müssen, daß ein gewisser unsauberer Geist darin herrsche, und die Sache damit entschuldigt, daß ich dieses Buch als eine besondere, eigene Art von Konfessionen ansähe und man die Entwicklung abwarten müsse. Ich bin nicht damit durchgedrungen.« Einen ähnlichen Eindruck mußte der Roman auf den in eben jener Gegend heimischen, in Kopenhagen geborenen Dithmarsen Barthold Niebuhr machen. In seiner Jugend hatte er nur mit einigen auserlesenen Griechen und mit – Voß, den er in ausschweifender Weise feiert, leben wollen, aber auch später, da sein Urteil reifer geworden war, konnte er sich mit Wilhelm Meister nicht befreunden. Im Jahre 1812 nahm er das Buch, dem er früher niemals hatte »Geschmack abgewinnen können«, wieder vor und war neugierig, ob es nun anders sein würde – es wollte aber auch jetzt nicht besser gehen. Zwar etwas vollkommener Geschriebenes, sagt er, hat unsere Sprache wohl nicht, Klopstocks Gelehrtenrepublik ausgenommen (man denke!) – aber »die Unnatürlichkeit des Plans, der Zwang der Beziehungen dessen, was in einzelnen Gruppen meisterhaft entworfen und ausgeführt ist, auf die gesamte Verwickelung und geheimnisvolle Leitung, die Unmöglichkeit darin und die durchgehende Herzlosigkeit, wobei man sich noch am liebsten an die ganz sinnlichen Personen hält, weil sie doch etwas dem Gefühl Verwandtes äußern, die Nichtswürdigkeit oder Geringfügigkeit der Helden, an deren Porträtschilderungen man sich doch oft ergötzt – dies alles macht mir das Buch noch immer unangenehm, und ich ärgere mich an der Menagerie von zahmem Vieh!« ( Herzlosigkeit, d. h. nirgends Redeschwulst, Nichtswürdigkeit, d. h. es fehlt an Heroischem, an prächtigen Sentenzen und theatralischen Leibesstellungen.) Weiter fügt Niebuhr hinzu: »Geht es Dir nicht auch so, daß nichts leicht einen schmerzlicheren Eindruck macht, als wenn ein großer Geist sich seine Flügel bindet und eine Virtuosität in etwas weit Geringerem sucht, indem er dem Höheren entsagt« (dem Höheren, d. h. der religiösen Transzendenz; es ist klar, für diese nordischen Menschen war doch alles in allem Klopstock der wahre Dichter, und weiter als dieser konnten sie es nicht bringen). Wie über Goethe, dachte Niebuhr über das griechische Altertum: »Die moralische Achtungswürdigkeit der Römer,« sagt er, »verglichen gegen die Griechen, ist außerordentlich«, und sich selbst malt er in den Worten (an Jacobi, 21. November 1811): »Ich bin mit einer inneren Disharmonie geboren.« Ein ganz ebenso disharmonischer Geist, Herder, entschuldigte sich eifrig bei einer vornehmen Dame aus eben dem Norden, als habe er den ersten Band von Wilhelm Meisters Lehrjahren und dessen unzüchtigen Inhalt jemals loben oder gutheißen können, siehe seinen Brief an die holsteinische Gräfin Baudissin vom Jahre 1795, aus Herders Nachlaß, 1, 20 f.: »Über alles dieses denke ich wie Sie, liebe gnädige Gräfin, und jedes feine moralische Gefühl, dünkt mich, fühlt also. Goethe denkt hierin anders; Wahrheit der Szene ist ihm alles, ohne daß er sich eben um das Pünktchen der Wage, das aufs Gute, Edle, auf die moralische Grazie weiset, ängstlich bekümmert. Im Grunde ist dies der Fehler bei mehreren seiner Schriften« usw. Und wie äußerte sich Frau von Stein über den letzten Band von Wilhelm Meister, den der Dichter ihr zugeschickt hatte? »Es sind seine Frauen drin alle von unschicklichem Betragen, und wo er edle Gefühle in der Menschennatur dann und wann in Erfahrung gebracht, die hat er all mit einem bißchen Kot beklebt, um ja in der menschlichen Natur nichts Himmlisches zu lassen. Es ist immer, als wenn einen der Teufel zurechtwiese, daß man sich ja nicht etwa in seinen Gefühlen irre und sie für etwas Besseres halte, als sie wären.« Bei solchen Urteilen der Höchstgebildeten – was ließ sich von dem gemeinen Volk erwarten? Daher Goethe an Knebel, der ihm für seinen Roman mit einigen Allgemeinheiten gedankt hatte, 1796 schrieb: »Je mehr man bei seiner Bildung und bei seinen Arbeiten nur auf die strengsten Forderungen der Natur und der Kunst achtet, desto seltener kann man sich einen reinen Widerklang von außen versprechen. Sehr tröstlich, beruhigend und aufmunternd ist daher die Versicherung des Freundes, der uns auf unseren Wegen gerne begleiten und begegnen mag.« Gewiß bezogen sich einige Epigramme im Musenalmanach für 1797 auf die Urteile, die Wilhelm Meister erfuhr, und rührten von Goethe her:
Hast du an liebender Brust das Kind der Empfindung gepfleget,
Einen Wechselbalg nur gibt dir der Leser zurück –
und:
Was belohnet den Meister? Der zartantwortende Nachklang
Und der reine Reflex aus der begegnenden Brust.
Um so mehr mußte es dem Dichter der Lehrjahre wohltun, in Schiller einen Mann gefunden zu haben, den dies Kunstwerk hinriß und tief ergriff, ja mit dem Gefühl eigener Unzulänglichkeit schmerzlich erfüllte. So war ihm endlich in überraschender Weise, mitten aus einem feindlichen Lager heraus, ein Geist begegnet, der ihm bis auf die Höhe nachsteigen konnte, und er bewahrte ihm von da an eine unwandelbare Treue und förderte ihn mit allen Kräften. Schiller seinerseits staunte über die Macht der Persönlichkeit, die ihm in diesem Manne gegenübertrat, über die Fülle unmittelbaren Daseins, den unerschöpflichen Born schaffender Natur in ihm und diese in reiner Einheit mit der Kunstform, der Bildung und Erfahrung und Güte! Goethes reicher Anschauung gegenüber fühlte er ganz die Armut des reflektierenden, ewig unfruchtbaren Verstandes, und in den Gedichten dieser Zeit wird er nicht müde, in immer neuen Wendungen den Genius und das Glück zu preisen, immer mit Bezug auf Goethe. Dich erwähl' ich, ruft er diesem zu,
Dich erwähl' ich zum Lehrer, zum Freund. Dein lebendiges Bilden
Lehrt mich, dein lehrendes Wort rühret lebendig mein Herz.
»Der Dichter ist der einzige wahre Mensch« – diese Wahrheit ist ihm aufgegangen, halb tröstlich, halb niederschlagend. An Körner, 27. Juni 1796: »Gegen Goethe bin und bleib ich eben ein poetischer Lump«, und einige Tage darauf: »Ohnehin wär mirs unmöglich, nach einem solchen Kunstgenuß (dem Wilhelm Meister) etwas Eigenes zu stümpern.« Von den mannigfachen Ergüssen der Bewunderung führen wir nur einige Stellen des Briefes an Goethe vom 2. Juni 1796 an: »Eine würdige und wahrhaft ästhetische Schätzung des ganzen Kunstwerks (des Wilhelm Meister) ist eine große Unternehmung. Ich werde ihr die nächsten vier Monate ganz widmen und mit Freuden. Ohnehin gehört es zu dem schönsten Glück meines Daseins, daß ich die Vollendung dieses Produkts erlebte, daß sie noch in die Periode meiner strebenden Kräfte fällt, daß ich aus dieser reinen Quelle noch schöpfen kann.« »Wie lebhaft habe ich bei dieser Gelegenheit erfahren, daß das Vortreffliche eine Macht ist, daß es auf selbstsüchtige Gemüter auch nur als eine Macht wirken kann, daß es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr mich die Wahrheit, das schöne Leben, die einfache Fülle dieses Werkes bewegte!« »Ruhig und tief, klar und doch unbegreiflich wie die Natur, so wirkt es und so steht es da, und alles, auch das kleinste Nebenwerk, zeigt die schöne Gleichheit des Gemütes, aus welchem alles geflossen ist.« »Wie rührt es mich, wenn ich denke, daß, was wir sonst nur in der weiten Ferne eines begünstigten Altertums suchen und kaum finden, mir in Ihnen so nahe ist.« Als Goethe ihm Jacobis obenerwähnten Brief mitteilte, wo dem Wilhelm Meister in friesisch-holsteinischer Weise ein unsauberer Geist vorgeworfen wurde, erwiderte Schiller treffend und gar nicht als Kantianer, 1.März 1795: »Jacobi ist einer von denen, die in den Darstellungen des Dichters nur ihre Ideen suchen und das, was sein soll (das Praktisch-Moralische) höher halten, als das, was ist (die seiende Vernunft).« »Sobald mir einer merken läßt, daß ihm in poetischen Darstellungen irgend etwas näher anliegt, als die innere Notwendigkeit und Wahrheit, so gebe ich ihn auf.« Auch die Venetianischen Epigramme, die Elegien, die lyrischen Gedichte mannigfacher Art usw. nahm Schiller in freier, poetischer, nicht moralisierender oder platt-verständiger Art auf, und noch im Jahre 1800 bekannte er der dänischen Gräfin Schimmelmann, die sich wegen seines nahen Verhältnisses zu dem ihr unsympathischen und moralisch zweifelhaften Goethe besorgt gezeigt hatte, in einem Briefe (der zu lang ist, als daß er hier wiedergegeben werden könnte), daß er »die Bekanntschaft mit Goethe für das wohltätigste Ereignis seines ganzen Lebens halte«. »Nach meiner innigsten Überzeugung kommt kein anderer Dichter ihm an Tiefe der Empfindung und Zartheit derselben, an Natur und Wahrheit und zugleich an hohem Kunstverdienste auch nur von weitem bei. Die Natur hat ihn reicher ausgestattet, als irgendeinen, der nach Shakespeare aufgestanden ist.« Aber diese hohen Vorzüge des Geistes waren es nicht, die ihn an Goethe banden. »Wenn er nicht als Mensch den größten Wert von allen hätte, die ich persönlich je habe kennen lernen, so würde ich sein Genie nur in der Ferne bewundern.« »Er hat eine hohe Wahrheit und Biederkeit in seiner Natur und den höchsten Ernst für das Rechte und Gute; drum haben sich Schwätzer und Heuchler und Sophisten in seiner Nähe immer übel befunden. Diese hassen ihn, weil sie ihn fürchten, und weil er das Falsche und Seichte im Leben und in der Wissenschaft herzlich verachtet und den falschen Schein verabscheut, so muß er in der jetzigen bürgerlichen und literarischen Welt es mit vielen verderben.« War somit auf Goethes langer Lebens- und Dichterlaufbahn Schiller der erste, der einzige, dessen Charakter edel und dessen Bildung tief genug war, um die größte geistig-sittliche Erscheinung, die der deutschen Nation und überhaupt den neuern Jahrhunderten geworden war, zu erkennen und anzuerkennen – so finden sich doch auch bei Schiller einzelne verfehlte Urteile und, mit jedem Jahre mehr, einzelne Äußerungen, die dem bewunderten Freunde gegenüber ein wachsendes Selbstgefühl bekunden. Trotz der langen, wohl liebevollen, aber etwas abstrakt konstruierenden Auseinandersetzung über Wilhelm Meister faßte er unseres Erachtens doch den Kern des Werkes nicht, dessen Stetigkeit er zugab, dessen Einheit ihm aber noch entging; daß der Roman des Dichters eigenes Lebensschicksal, dessen Irrungen, Entwicklung, Umwandlung, Aufsteigen zum Gleichgewicht der Welt und seines Innern von Unschuld zu Erfahrung, von Zwiespalt zu Versöhnung, von Niedrigkeit zu den Höhen des Lebens und der Gesellschaft, alles in geläuterter, verklärter, epischer Kunstform enthalte, dies sah er nicht und berührte er mit keinem Wort, obgleich er damals den Freund schon zu kennen glaubte. Freilich fehlte ihm noch »Wahrheit und Dichtung«, welche Schrift uns das Urteil erleichtert. Als er im Juni 1798 die zwei Akte des Elpenor las, erriet er unbegreiflicher Weise nicht, daß Goethe der Verfasser sei; er fand das Produkt, das kein Kunsturteil zulasse, dilettantisch; wenn das Stück von vielen Längen und Abschweifungen, auch von einigen gesuchten Redensarten befreit sein werde, und wenn besonders der letzte Monolog, der einen unnatürlichen Sprung enthalte, verbessert sein werde – lasse es sich gewiß mit Interesse lesen! Wenn Schiller dann hinzusetzte, dies Drama erinnere an eine gewisse Weiblichkeit der Empfindung, auch insofern ein Mann diese haben könne – so war es gerade dies, was Goethe an Schillers Urteil erfreute. Denn alles, was ihm die Epoche seiner Gefangenschaft unter dem Zauber der Liebe zu Frau von Stein vor Augen brachte, war ihm zuwider geworden: wie er im Jahre 1792 bei Jacobi in Pempelfort die Iphigenie unmöglich vorlesen konnte, so hatte er auch in den Elpenor seit zehn Jahren keinen Blick getan, d. h. seit dem Jahre 1788, wo der Bruch mit Charlotte von Stein erfolgte und der schwärmerische Schmerz der Empfindung in eine antike sinnliche Heiterkeit sich verwandelt hatte. Als nun der Wallenstein endlich fertig geworden war und auf dem Theater und dann auch im Druck erschien und mit allseitiger Bewunderung begrüßt wurde, auch von seiten der bisherigen Gegner, und als die sich schnell folgenden spätern Stücke Schillers Ruhm mehrten und ihm immer allgemeiner die Volksgunst zuwandten – da erblaßte Goethes Sternbild nicht bloß in den Augen der Menge, sondern auch in Schillers eigenen. Er wurde in seinem persönlichen Gefühl Goethes gleichwertiger Nebenbuhler. Jetzt lautet seine Sprache in dem vertrauten Briefwechsel mit Körner oft anders als in den ersten Jahren des Freundschaftsbundes. Er nahm die Iphigenie aus Tauris wieder vor und erhielt keinen günstigen Eindruck von ihr. »Goethe selbst«, äußert er, »hat mir schon längst zweideutig davon gesprochen (aus demselben Grunde, wie beim Elpenor), aber ich hielt es nur für eine Grille, wo nicht gar für eine Ziererei.« (Goethe also zierte sich, wohl gar aus Eitelkeit!) Am 15. November 1802 schreibt er: »Ich lege Goethes Neuestes bei (»Was wir bringen«); es hat treffliche Stellen, die aber auf einen platten Dialog, wie Sterne auf einen Bettlermantel, gestickt sind.« Hätte Schiller länger gelebt, er wäre der Abgott der Zeitgenossen, auch derer, die in Iffland und Kotzebue, in Nicolai und Merkel ihr Fühlen und Denken wiederfanden, geworden, und auch Ehren und Reichtümer wären ihm in Fülle zugeflossen. Wie wir schon wiederholt angedeutet haben, bestand sein nicht geringstes Verdienst darin, daß er Goethes humane Idealwelt den Menschen näherbrachte, in der Form, in der sie ihnen allein zugänglich werden konnte, d. h. versetzt mit leidenschaftlicher Beredsamkeit, der Pracht weitgreifender Worte, dem Schwung edler Gesinnungen. Das reine Gold ließ sich nicht ausprägen: es bedurfte der Legierung mit einem geringeren Metall. Nicht Goethe, sondern Schiller war der poetisch vollendete Ausdruck des achtzehnten Jahrhunderts, der dreifach oder hundertfach erhöhte Klopstock: Goethe stand im tiefsten Gegensatz zu dem Geiste desselben, und seine Dichtung begleitete dessen Phasen und Epochen keineswegs – wie öfter mit Unrecht behauptet worden. Wohl aber half Schiller die Prosa des Verstandes und die seichte Empirie durch Blicke in ein Reich der Dichtung zu vertiefen und zu beleben, ohne daß er deshalb die Welt der Zwecke ja ganz aufgegeben hätte. Dies tat erst die romantische Schule, deren Führer, die Brüder Schlegel, darum Schiller bitter haßte, und deren ganze Haltung er in Xenien und Briefen ohne Schonung geißelte. Ja, Kotzebue war ihm in seiner Fruchtbarkeit verehrlicher als jenes impotente, nur hinderliche Geschlecht (Goethe an Zelter, 26. Oktober 1831). Die Romantiker gaben ihm den Haß zurück, und da Schiller nach wenigen Jahren abberufen ward, so tauchte dieser große vaterländische Dichter für das erste Viertel des neuen Jahrhunderts bei den literarisch Gebildeten, die etwas auf sich hielten, wieder in die zweite Linie, ja ganz ins Dunkel zurück.
Erst seit dem Auftreten der sogenannten Romantiker, kann man sagen, ward Goethe aus der mittleren Stellung, die ihm bis dahin angewiesen war, auf den weitschauenden, alles überragenden Gipfel, der ihm zukam, emporgehoben.
Die junge romantische Schule überwand die ältere literarische Generation durch eine doppelte Offenbarung, die ihr aufgegangen war: sie erkannte die Macht der Phantasie an, und sie unterschied das Poetische von dem Rhetorischen. Beides war im letzten Grunde dasselbe, für beides lagen in Goethes Dichtungen vollendete Muster vor. Die Keime der romantischen Kritik fanden sich wohl in Herders Schriften zerstreut vor, aber dieser logische Zusammenhang, auf den andere oft hingewiesen haben, war nicht der reale, mit anderen Worten: nicht aus Herder oder aus Hamanns dunkler, zürnender Prophetensprache schöpften die Brüder Schlegel ihre neuen, tiefern Einsichten, sondern aus Goethes Poesie, zunächst aus dem Wilhelm Meister, dann aus Fichtes Freiheitslehre, die, auf die höchste Spitze gebracht, durch eine sich von selbst ergebende Wendung in Natur und Geschichte umschlug und aus dem Soll der Moral zu der Vernunft der Wirklichkeit, aus der Lehre des abstrakten Ich zu der Fülle der Anschauung und des Gemütes führte. In der ästhetisch-philosophischen Theorie, nicht in dichterischer Produktion liegt die Stärke, das unvergängliche Verdienst der Romantiker. Sie versuchten sich in lyrischen Gedichten, in Romanen und Dramen, aber keine ihrer Schöpfungen brachte es zu klassischer Höhe. Manches Kleinere, Einzelne mochte ihnen gelingen: als glückliche Epigonen fuhren sie
auf gebesserten Wegen
hinter des Fürsten Einzug – (Harzreise im Winker),
aber selbstschaffende Genien waren sie nicht, sondern »formale Talente«, d. h. sie suchten sich durch Bildung zu Dichtern zu steigern, aber diese reicht dazu nicht hin – man mag den Kiesel schleifen, soviel man wolle, zum Diamanten wird er nicht. Goethe bestätigt dies in dem schon erwähnten Briefe an Zelter vom 26. Oktober 1831: »Die Gebrüder Schlegel waren und sind, bei soviel schönen Gaben, unglückliche Menschen ihr Leben lang: sie wollten mehr vorstellen, als ihnen von Natur gegönnt war, und mehr wirken, als sie vermochten.« Lassen wir ihre Dichtungen fallen, sowohl den Ion als den Alarcos, sowohl den Heinrich von Ofterdingen als den Phantasus und die Novellen und all die vielen Oktaven, Sonette, Terzinen und Romanzen – so haben doch nur die Romantiker der Nation die Augen geöffnet darüber, was sie Großes besaß, und wieviel Falsches und Seichtes sie verehrte. Sie hielten den Aufklärern vor, daß auch die Vorzeit, der Aberglaube, das Märchen eine tiefe Wahrheit in sich trügen, daß die Ahnung, der Traum, das Unbewußte dem kurzsichtigen Verstande tausendfach überlegen sind, daß das Gemüt auf seinem Grunde köstliche Schätze birgt, die dem auf ewig versagt sind, der nur in dem gemeinen Zusammenhang von Ursache und Wirkung sich bewegt. Sie kämpfen für eine poetische Welt, zu der die Menge keinen Zutritt hat, und zauberten eben dieser blöden Menge aus dem Wunderlande der Goethischen Dichtung bisher unerhörte farbige Bilder und seelenvolle Klänge vor. Goethe wurde der Abgott dieser neu erstandenen Schule – auf den sie hinwies, den sie einführte, den zu verstehen das Zeichen empfangener tieferer Weihen war. An der Spitze der Schule, sowohl der Zeit als dem Talent nach, stand A. W. Schlegel. Seine vielseitigen, gründlichen Kenntnisse, die Klarheit und Gewandtheit seiner Prosa, die noch heute oder vielmehr gerade heute als Vorbild dienen kann, die eindringende Sicherheit seines Urteils, die immer bewahrte freisinnige Haltung, die Besonnenheit, mit der er sein Leben lang vor den Versuchungen sich hütete, denen die andern mit der Zeit erlagen, endlich das metrisch-kritische Talent, das sich in kleinen Musterstücken, Epigrammen, Parodien, wie die des Wettgesanges zwischen Voß, Matthison und Schmidt von Werneuchen meisterhaft bewährte – durch alles dies hebt er sich vor seinen Schul- und Glaubensgenossen als eigentlicher Führer und noch jetzt wohltuende Gestalt hervor. Man hat wohl gesagt, es fehle ihm an Tiefe, an der philosophischen Grundlage, aber wer durchsichtig und gefällig schreibt, entgeht in Deutschland diesem Vorwurf nicht leicht; von dem jüngeren Bruder, der ihm in der genannten Hinsicht gegenüber- und vorangestellt wird, weil er sich selbst dunkel blieb, urteilte Schiller, »er phantasiere verrückt«, und Goethe, er sei »am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten erstickt«, bis er denn endlich nach soviel geistigen Abenteuern und gescheiterten Unternehmungen im Positivismus der katholischen Kirche, wie natürlich, Ruhe fand. A. W. Schlegels ästhetische Kritik kann sich sicherlich mit allem, was die damalige Zeit hervorbrachte, auch der philosophischen Tiefe nach messen und fand erst an Hegels und Vischers Ästhetik eine ebenbürtige Fortsetzung und beziehungsweise Gegnerschaft. Seine Schwäche bestand nur in dem Parteigeist, mit dem er, dem eigenen klaren Urteil zuwider, nicht bloß seines Bruders, sondern auch der übrigen Romantiker Unvernunft vertrat und beschönigte und deren Leistungen aus Rücksichten literarischer Taktik künstlich überschätzte (wobei wir uns auf seine eigenen Worte vom Jahre 1806 berufen können: »Ich bin aus Grundsatz für die Werke meiner Freunde parteiisch«). Aber gleich seine ersten kritischen Versuche in Jena, über Goethes Römische Elegien und über Hermann und Dorothea, ragten sowohl historisch als theoretisch über das Gewöhnliche hoch hinaus. Die römischen Elegien, die ein bedenkliches moralisches Wagnis schienen, besprach er mit einer Sachkenntnis und Wärme, mit einem freien poetisch-sittlichen Gefühl, wie man es den damaligen und späteren Geschmacksrichtern und Neidern, z. B. Herder, wohl hätte wünschen mögen. »Wenn die Schatten«, sagt er, »jener unsterblichen Triumvirn unter den Sängern der Liebe (Propertius, Tibullus, Ovidius) in das verlassene Leben zurückkehrten, würden sie zwar über den Fremdling aus den germanischen Wäldern erstaunen, der sich nach achtzehn Jahrhunderten zu ihnen gesellt, aber ihm gern einen Kranz von der Myrte zugestehen, die für ihn ebenso frisch grünt, wie ehedem für sie.« Und an einer andern Stelle: »Propertius läßt mitten unter der verzehrenden Glut der Sinnlichkeit doch eine gewisse ernste Hoheit hervorstrahlen; Tibullus rührt durch schmachtende Weichheit; die sinnreiche und gewandte Üppigkeit des Ovidius ergötzt oft und ermüdet zuweilen, wenn er die Gemeinplätze der Liebe zu lang ausspinnt. Der Charakter unseres Dichters ist eigentlich keinem von allen dreien ähnlich. Über den letzteren hebt ihn der Adel seiner Gesinnungen am weitesten; aber er ist oft männlicher in den Gefühlen als Tibullus und in Gedanken und Ausdruck weniger gesucht als Propertius. Ob er gleich nicht verhehlt, daß er sich die süßeste Lust des Lebens zum Geschäfte macht, so scheint er doch nur mit der Liebe zu scherzen. Sie unterjocht ihn nie so, daß er dabei die offene Heiterkeit seines Gemütes einbüßen sollte. Schwerlich hätte er sich gefallen lassen, lange unerhört zu seufzen.« Wie über die Römischen Elegien war auch A. W. Schlegels Charakteristik von Hermann und Dorothea eine in wenig Worten erschöpfende Vorausnahme alles dessen, was jemals über dies Epos Einsichtiges gesagt worden ist. Er faßt sein Urteil am Schlusse folgendermaßen zusammen: »Es ist ein in hohem Grade sittliches Gedicht, nicht wegen eines moralischen Zweckes, sondern insofern Sittlichkeit das Element schöner Darstellungen ist. In dem Dargestellten überwiegt sittliche Eigentümlichkeit bei weitem die Leidenschaft, und diese ist soviel als möglich aus sittlichen Quellen abgeleitet. Das Würdige und Große in der menschlichen Natur ist ohne einseitige Vorliebe aufgefaßt; die Klarheit besonnener Selbstbeherrschung erscheint mit der edlen Wärme des Wohlwollens innig verbunden und gleiche Rechte behauptend. Wir werden überall zu einer milden, freien, von nationaler und politischer Parteilichkeit gereinigten Ansicht der menschlichen Angelegenheiten erhoben. Der Haupteindruck ist Rührung, aber keine weichliche, leidende, sondern in wohltätige Wirksamkeit übergehende Rührung. Hermann und Dorothea ist ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil und zugleich faßlich, herzlich, vaterländisch, volksmäßig, ein Buch voll goldener Lehren der Weisheit und Tugend.« Um wieviel schwerer wiegen diese trefflichen Worte, als die breite kunstphilosophische Abhandlung in Wilhelm v. Humboldts »Ästhetischen Versuchen«! In diesem Buche, das von dem Goethischen Gedichte handeln will, verschwindet dasselbe als poetisches Individuum fast ganz unsern Augen, und es wird in Weise Schillers, nur noch körper- und inhaltsloser, über Gattungen und Formen reflektiert und die Überlegung hin und her gewendet, ohne daß sich etwas Greifbares ergäbe. Goethes großen Roman, die Lehrjahre, hat A. W. Schlegel nicht zum Gegenstand einer eigenen kritischen Abhandlung gemacht, wohl aber fehlt es in seinen Schriften nicht an einzelnen beachtenswerten Äußerungen über dies Evangelium der aufstrebenden Romantik. So in dem Aufsatz: »Etwas über W. Shakespeare bei Gelegenheit Meisters«, in Schillers Horen von 1796, der gleich mit den Worten beginnt: »Unter tausend verstrickenden Anlockungen für den Geist, das Herz und die Neugierde, unter manchem hingeworfenen Rätsel und mancher mit schalkhaftem Ernst vorgetragenen Sittenlehre, bieten Wilhelm Meisters Lehrjahre jedem Freunde des Theaters, der dramatischen Dichtkunst und des Schönen überhaupt eine in ihrer Art einzige Gabe dar.« Auch nennt er 1797 Wilhelm Meister »ein Werk, nach welchem vielleicht die Nachwelt von der Höhe unsrer heutigen Bildung einst allzugünstig urteilt«, und äußert über die Diktion in demselben: »Ein Rhythmus der Erzählung, der sich zum epischen ungefähr so verhielte, wie der oratorische Numerus zum Silbenmaße, wäre vielleicht das einzige Mittel, einen Roman nicht bloß nach der allgemeinen Anlage, sondern nach der Ausführung im einzelnen durchhin poetisch zu machen, obgleich die Schreibart rein prosaisch bleiben muß, und im Wilhelm Meister scheint dies wirklich ausgeführt zu sein.« Der jüngere Bruder Friedrich hat dagegen die Lehrjahre in einem längeren Aufsatz behandelt, der ihm von den kritischen Häuptern der älteren Generation den verächtlichen Beinamen »Goethes Lobredner« zuzog. Man verstand darunter einen von dem eitlen Herrn Minister in Weimar angestellten Diener, mit dem Auftrag, dessen Preis und Herrlichkeit in der Welt auszubreiten, oder, anders ausgedrückt, einen orientalischen Kawassen, der vorauslaufend und schreiend dem Pascha die Straße von dem verachteten Volk säubert. Wahr ist, daß Friedrich Schlegel, der immer geistreich sein wollte (Schillers Epigramm:
Unsre Poeten sind seicht, doch das Unglück ließ sich vertuschen,
Hätten die Kritiker nicht ach so entsetzlich viel Geist –
zielt ja besonders auf ihn), auch diesmal nur taumelnd dahinging und daher oft zur Seite ins Weglose geriet – aber das Richtige traf er doch auch nicht selten, und zwar vieles, aber nicht alles, was er vorbringt, ist aberwitzig. So heißt es in der erwähnten Abhandlung: »Was fehlt Werners und Wilhelms Lobe des Handels und der Dichtkunst, als das Metrum, um von jedermann für erhabene Poesie anerkannt zu werden?« und: »Diese wunderbare Poesie in Prosa und doch Poesie. Ihre Fülle ist zierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend, und ihre hohe und zarte Ausbildung ist ohne eigensinnige Strenge.« Auch die Bemerkung, daß im Wilhelm Meister mitten in der poetischen Stimmung der dargestellten Person der Ausdruck höchst prosaisch und hinwiederum bei sehr prosaischen Anlässen ein absichtlicher Anhauch von poetischem Prunke zu empfinden sei, ist fein und treffend: eben dadurch wurde die von der Hand des Künstlers über das Ganze verbreitete harmonische Ausgleichung bewirkt. Und auch sonst, setzen wir hinzu, läßt sich beobachten, daß in Goethes Werken edlen Stiles, wie Iphigenie, Elpenor, Tasso, auch in den Oden, der Ausdruck nie ein bloß gehobener und gewählter ist, sondern durch dazwischengestreute alltägliche und gewöhnliche Wendungen zugleich herzlich und vertraulich wird.
Ungefähr wie die Brüder Schlegel, nur noch wärmer und näher fand sich ein dritter Romantiker, Novalis, von Wilhelm Meister angezogen: auch dieser frühreife Jüngling, der, wie es Schwindsüchtigen geht, in tiefer und mannigfacher Gedankenproduktion das Leben und dessen Ertrag schnell und reichlich vorwegnahm, lebte und webte im Wilhelm, kommt immer wieder auf ihn zurück und hat ihn auch da, wo er ihn nicht nennt, im Sinne. Zunächst bezauberte auch Novalis die poetische Form, diese Prosa, diese Sprache: »Es ist doch nichts wahrer, als daß es nur die Behandlung, das Äußere, die Melodie des Stils ist, welche zur Lektüre uns hinzieht und uns an dieses oder jenes Buch fesselt. Wilhelm Meisters Lehrjahre sind ein mächtiger Beweis dieser Magie des Vortrags, dieser eindringenden Schmeichelei einer glatten, gefälligen, einfachen und mannigfaltigen Sprache. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden.« So wurde an Goethe und dessen Werken zum erstenmal das Wesen der Poesie, ihre Macht und Herrlichkeit offenbar; um den in Deutschland erstandenen Dichter sammelte sich die junge Schule und gesellte ihn den größten Genien der vergangenen Jahrhunderte als Gleichen zu. Die Göttin in Tiecks »Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack« (1796 bis 1798) drückt dies so aus:
Ein blumenvoller Hain ist zubereitet
Für jenen Künstler, den die Nachwelt ehrt,
Mit dessen Namen Deutschlands Kunst erwacht,
Der Euch noch viele edle Lieder singt,
Um Euch ins Herz den Glanz der Poesie
Zu strahlen, daß Ihr künftig sie versteht;
Der große Britte hofft ihn zu umarmen,
Cervantes sehnt nach ihm sich Tag und Nacht,
Und Dante dichtet einen kühnen Gruß,
Dann wandeln diese heiligen vier, die Meister
Der neuen Kunst, vereint durch das Gefilde –
und in einem Sonett von A. W. Schlegel im Athenäum heißt es alliterierend und mit dem Namen spielend:
Bewundert nur die feingeschnitzten Götzen
Und laßt als Meister, Führer, Freund uns Goethen –
und zum Schlusse:
Uns sandte, Goethe, Dich der Götter Güte
Befreundet mit der Welt durch solchen Boten,
Göttlich von Namen, Blick, Gestalt, Gemüte.
Auch aus den Briefen jener Zeit, die der Natur der Sache nach aufrichtiger sein konnten als das vor der Welt Gesprochene, blickt die Ehrfurcht der Romantiker vor Goethe überall hervor: sie liegen gleichsam anbetend vor ihm auf den Knien. Schon am 23. Oktober 1794 schrieb David Veit an Rahel nach Berlin: »Vor hundert Jahren wurden solche Menschen (wie Goethe) mit Strahlen um das Haupt gemalt, und ist er denn nicht ein Heiliger?« Novalis nannte ihn Mahadöh (an A. W. Schlegel, 25. Dezember 1797): »Heil Ihnen, daß Sie Mahadöh so nahe sind.« Karoline Schlegel an Novalis, 15. November 1798: »Wir haben Goethes Propyläen noch nicht gesehen. Was brauchen wir auch die Vorhöfe, da wir das Allerheiligste selber besitzen? Er lebt alleweile mitten unter uns.« Friedrich Schlegel an Novalis, 2. Dezember 1798 (er will eine neue Religion verkündigen): »So lustwandelt von der andern Seite auch Goethes Bildung in den Propyläen des Tempels.« – »Gibt die Synthesis von Goethe und Fichte wohl etwas anders als Religion?« Dorothea Veit an Rahel nach Berlin, 28. April 1800 (sie sprach nur die Gesinnungen und Stimmungen ihres [künftigen] Mannes aus, ganz wie Karoline Herder die des ihrigen): »Friedrich ist diesen Morgen zu Vater Goethe oder Gott dem Vater nach Weimar gewandert.« Dieselbe an Rahel, 18. November 1799: »Goethe hat einen großen und unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht: diesen Gott so sichtbar und in Menschengestalt neben mir, mit mir unmittelbar beschäftigt zu wissen, es war für mich ein großer, ein ewig dauernder Moment!« Einige Jahre später schrieb der junge Solger, der angehende romantische Philosoph, den damals Tieck noch nicht gefirmelt hatte, über Goethe in sein Tagebuch: »Der höchst gebildete Künstler ist auf Erden selig, und das Anschauen eines Seligen teilt etwas von seiner Seligkeit mit. – Kann man einen Neuern Polyklet nennen, so ist es dieser. So vollkommen mit sich übereinstimmend, so herrlich das schöne ruhige Maß haltend, so ruhig froh in seiner Insichbeschlossenheit ist noch keiner erfunden worden. Ja dieser Mann ist so vollkommen und ganz, daß er wohl wie die seligen Götter in ewiger Ruhe fortleben kann, nichts zu begehren braucht, weil er alles in sich trägt und darum erhaben die Ehe verschmähen mußte.« So hatte Herder wohl einigermaßen recht, wenn er in galliger Eifersucht an Gleim schrieb: »Ein einziger paradiert auf Erden, Apolls Stellvertreter, der Eindichter!« Und an Jacobi: »Hinfort ist zwar kein Gott mehr, aber ein Form-Idol ohn allen Stoff, ein Mittler zwischen dem Ungott und den Menschen, der Mensch Wolfgang« (Goethe).
Nun aber, mit dem ersten Lustrum des neuen Jahrhunderts, schlägt diese romantische, abgöttische Verehrung in Gleichgültigkeit, Mißgunst, Feindseligkeit um. Die Absage erfolgte nicht öffentlich, wohl aber in heimlichen Geständnissen, unter der Hand, in vertrauten Briefen. Auch darin ging der junge, hektisch ahnende Novalis voran. Er hatte einst zu Schillers Füßen gesessen, dann war ihm Goethe »der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden« geworden, dann tauchte er ganz und gar in die Abgründe der Mystik nieder. Er besang die Nacht, denn das Licht scheidet, es schafft Einzelnes, Endliches, die Grenze und den Gegensatz, das Dunkel aber ist das Nichts, das Absolute, das alles enthält, in dem alles zusammenfließt. Da jeder Sinn und Gedanke ein bestimmter ist, so sind Unsinn und Fieberwahn die eigentliche Weisheit. Die Wirklichkeit und ihr Gesetz ist irdisch, die Willkür der Phantasie, in ihren ewigen Verwandlungen und Übergängen, ist himmlisch, die tiefste Offenbarung. Die Fäden laufen überall hin und her, verbinden das Entfernteste, das Gespinst ist bald golden, bald schwarz; die Körper gehen in Dampf auf, die Dämpfe und ihre zergehenden Gestalten sind unsere wahre Heimat und die Gegenwart Gottes. Bedenkt man nun, daß damals eine breite Prosa wie ein ausgedehntes seichtes Gewässer ganz Deutschland bedeckte, so können uns Novalis' Traumorakel als Verhöhnung des Philisterverstandes willkommen werden – aber er verurteilte jetzt nicht bloß diesen, sondern auch die tiefe und zugleich helle Welt der goethischen Dichtung, insbesondere den Roman von Wilhelm Meister, der ihm früher eine Art Bibel gewesen war. Er sagt (Schriften, 2, S. 182 der fünften Auflage): »Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch und modern. Das Romantische geht darin zugrunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Das Buch handelt bloß von gewöhnlichen Dingen, die Natur und der Mystizismus sind ganz vergessen. Es ist eine poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte, das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs« usw. Dies Fragment scheint nur ein Auszug aus dem Briefe des Verfassers an Tieck vom 23. Februar 1800: »So viel ich auch aus Meister gelernt habe und noch lerne, so odiös ist doch im Grunde das ganze Buch. – Es ist eine Candide gegen die Poesie, ein nobilitierter Roman. Man weiß nicht, wer schlechter wegkommt, die Poesie oder der Adel, jene weil er sie zum Adel, dieser weil er ihn zur Poesie rechnet. Mit Stroh und Läppchen ist der Garten der Poesie nachgemacht. Anstatt die Komödiantinnen zu Musen zu machen, werden die Musen zu Komödiantinnen gemacht. Es ist mir unbegreiflich, wie ich so lange habe blind sein können. Der Verstand ist darin wie ein naiver Teufel. Das Buch ist unendlich merkwürdig, aber man freut sich doch herzlich, wenn man von der ängstlichen Peinlichkeit des vierten Teils erlöst und zum Schluß gekommen ist. – Ich wollte noch viel darüber sagen, denn es ist mir alles so klar, und ich sehe so deutlich die große Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Meister vernichtet wird, und während sie im Hintergrunde scheitert, die Ökonomie sicher auf festem Grund und Boden mit ihren Freunden sich gütlich tut und achselzuckend nach dem Meere sieht.« Was Tieck schon geleistet hatte – in seinem Franz Sternbald –, das war Novalis mit seinem Heinrich von Ofterdingen im Begriff zu tun – nämlich den Wilhelm Meister aus dem Ökonomischen ins Romantische zu heben, ihn durch Mystik zu vertiefen, mit Poesie zu durchdringen. Jetzt wußte er von seinem Original nur Böses zu sagen: es war ihm zu prosaisch, d. h. zu körperlich, von der Sonne beschienen, nicht märchenhaft und neblig genug. Andrerseits – daß er das damals schon dachte und aussprach, in einer Zeit allgemeiner Plattheit, wo der Wilhelm Meister, weil er zu poetisch war, keinen Anklang fand, ist in der Tat bewundernswert! In demselben Maße aber, als Novalis sich von Goethe abwandte, erhob er ein anderes Idol, seinen Freund Tieck, auf ein immer höheres Fußgestell. In ihm hatten die Romantiker ihr eigenes produktives Talent, ihren eigenen Goethe gewonnen, einen König, von dem Priester Novalis verkündigt und gesalbt. Daß Tieck um diese Zeit einen Jünger Jacob Böhmes abzugeben schien – denn in seinem beweglichen Sinne hatte er sich verlocken lassen, auch in diesem bilderreichen, träumenden Theosophen für eine Weile Trost und Licht zu suchen –, mußte ihm in Novalis' Augen die rechte und höchste Weihe geben. Dorothea Veit meldet aus Jena an Schleiermacher, den 28. Oktober 1799: »Novalis ist ganz toll und rasend in Tieck verliebt und behauptet, das wäre noch ein ganz anderer Dichter als Goethe«, und einen halben Monat später: »Hardenberg ist hier ..., er ist so in Tieck, mit Tieck, für Tieck, daß er für nichts anderes Raum findet.« In der Tat war Tieck ein echter Romantiker, im Grunde seines Wesens frostig und verständig, aber in kindlichen und kindischen Phantasien spielend – darin dem ewig gefrorenen Boden in Sibirien, der doch aus seiner Oberfläche grünes Gras und schöne seltsame Blumen trägt, vergleichbar. Je mehr die Schule an Erfolgen gewann, desto weniger bedurfte sie der Stütze, die ihr bei der ersten Bildung Goethe gewährt hatte, und je mehr der große Dichter Maß hielt und den klaren Tag der hellenischen Formenwelt sich nicht wollte verdüstern lassen, desto fremder wurde er den verzückten Phantasten und den Neophyten des Kirchenglaubens. Der Krieg gegen Goethe aber unterschied sich in doppelter Hinsicht von den Parteiungen und Streithändeln, die seit bald hundert Jahren die deutsche literarisch-kritische Geschichte bewegt hatten: er wurde erstens, wie wir schon bemerkt haben, nicht offen, nicht im Angesicht des Publikums geführt, sodann schwankte er zwischen Anerkennung und Anfeindung hin und her – denn die Romantiker besaßen zuviel ästhetische Bildung, als daß sie der inneren Stimme hätten völlig Schweigen gebieten können. Wenn der gewaltige Gegner seine eigenen Wege ging, so hieß es mit entschuldigendem Achselzucken, er sei alt geworden: aber freilich Phantasie hatte seiner Dichtung immer gefehlt, sie war immer an die Wirklichkeit gebunden gewesen. Wie Friedrich Schlegel darüber dachte, geht aus den weiblichen Geständnissen seiner Dorothea deutlich hervor. Sie schreibt an Caroline Paulus, 8. Dezember 1804: »Alt war der Alte schon längst, sonst hätte er die Eugenie nicht dichten können Die Eugenie wurde überhaupt von der romantischen Schule mit eisigem Schweigen ausgenommen – sie enthielt moderne, politische, soziale Historik, nichts Spanisch-Gläubiges, wie der standhafte Prinz, nichts Schottisch-Blutiges, wie Macbeth, oder Nebelhaft-Dänisches, wie Hamlet. Als A.W. Schlegel in seinen dramatischen Vorlesungen an die Stücke Goethes kam, erwähnte er der Natürlichen Tochter mit keiner Silbe. Dies bemerkte Goethe selbst mit einer ihm sonst fremden Empfindlichkeit – man sehe seine Äußerungen gegen Sulpiz Boisserée (I, S. 119)., aber nicht alle, welche alt werden, sind deshalb so veraltet, als er. Dazu muß man eben nie recht jung gewesen sein. Geh, er hat kein Gemüt und keine Liebe, und wenn es damit nicht richtig ist, kann alles auf die Länge nicht gut werden.« Die Schrift über Winckelmann, glänzend durch die schönste Prosa, die je in deutscher Sprache geschrieben worden, reich an Anschauungen und Gedanken, voll tiefer und zugleich milder Seelen- und Menschenkenntnis – diese Schrift Goethes machte auf die romantisch-katholischen Konvertiten, denn auch Winckelmann war ja Konvertit, den übelsten Eindruck. Dorothea schreibt derselben Freundin im Sommer 1805: »Den Winckelmann von Goethe habt Ihr doch gewiß schon gelesen? Was sagst Du zu diesem sächsisch-weimarischen Heidentum? Ich gestehe Dir, mir kommt das Ganze sehr flach, ja gemein, Goethes Stil unerhört steif und pretiös und die Antipathie gegen das Christentum sehr affektiert und lieblos vor, und wahrhaftig, wenn man alt ist, ist man noch lange nicht antik. Wer wenn man sich so gewaltsam versteinert und durchaus antik sein will, dann wird man vielleicht alt!« Noch spätere, aus derselben Quelle geflossene Äußerungen Dorotheas sind folgende: An Sulpiz Boisserée, Wien, 24. Aug. 1813: »Goethe ist in Teplitz gewesen; ich weiß nicht, ob er noch dort ist. Der flüchtet vor dem äußeren Feinde und gibt seine ganze Seele ungehindert dem inneren Feinde preis. Es gibt nicht viele Bücher, die meiner inneren Natur so zuwider sind als seine letzteren, vollends sein so genanntes Leben. Was er über die Sakramente und was er über Ihr Werk kund tut, ist doch so bei den Haaren herbeigezogen.« An ihre Söhne, Frankfurt, 3. Juli 1816: »Da ist nun endlich das Kunstadelsdiplom, was zu erlangen die Boisserées so lange um den alten Heiden herumgeschwänzelt haben. Eine Stelle ist darin über das Christentum als Gegenstand der Malerei, diese ist nicht allein das klare, kecke Geständnis seiner antichristlichen Denkart, sondern durch Stil und Denkart so über alle Maßen platt und bierbrudergemein, daß ich heftig im Lesen darüber erschrocken bin; es war mir zumute, als sähe ich einen verehrten Mann vollbetrunken herumtaumeln, in Gefahr, sich im Kote zu wälzen. – Zum Teil kommt mir das Ganze armutselig und geistesarm vor; zum Teil aber ist mir durch diese verruchte Entwürdigung der heiligen Geheimnisse auch das übrige in Asche und Graus verwandelt. Das Ganze ist Lug und Trug.« Die Schreiberin dieser Zeilen war die zum Christentum bekehrte Tochter des Moses Mendelssohn, und das dient zu ihrer Entschuldigung. Aus ihr sprach der jüdische Partei- und Sektengeist: hatte sie doch oben mit derselben Kühnheit Goethe den Gott-Vater genannt! Wenden wir uns zu Dorotheas Gatten selbst, so erhielt dieser durch die vier ersten Bände der neuen Ausgabe der Goetheschen Werke (1806-1808, bei Cotta) Gelegenheit, über Goethe sich öffentlich zu äußern. Er tut dies (im ersten Jahrgang der neu gegründeten Heidelberger Jahrbücher) auf eine für ihn und die neu aufgesteckte Parteifahne charakteristische Art. Er spricht mehr nebenher als direkt über Goethe – da ein offener Angriff zu gewagt, auch der Abstand gegen frühere Urteile zu grell gewesen wäre. Was irgendwie für katholische Romantik und das Mittelalter verwendbar ist, findet Anerkennung, was bloß menschlich ist, wird abgewiesen, beides in verdeckter Wendung, mit schielendem Ausdruck. Das »Blümchen Wunderschön« z. B. erhält die Prädikate: »So zart spielend, als liebevoll herzlich« (weil dort ein Graf in einem Schlosse gefangensitzt und wegen der Blumentändelei, wie bei Tieck); das »Bergschloß« hat den Kritiker vorzüglich angesprochen (wegen der »tüchtigen Zeit« und des »würdigen Pfaffen«), der »Rattenfänger« ist »unvergleichlich« (als altdeutsche Sage und mythisches Märchen); desto schlimmer aber steht es mit der rationalistischen »Walpurgisnacht«: »Die allzu prosaische Erklärung des bekannten Volksaberglaubens konnte wohl durch keine, auch noch so dichterische Behandlung der Poesie angeeignet werden.« Die »Braut von Korinth« (von der das Athenäum von 1798 gesagt hatte: »Goethes Braut von Korinth macht Epoche in der Geschichte der Poesie«) wird noch glimpflich genug charakterisiert: »Hohe Vollkommenheit der Darstellung bei einem widerstrebenden Stoffe« (d. h. dem Renegaten des Hellenismus und asketischen Klosterheiligen widerstrebend), weniger günstig der »Gott und die Bajadere«, welche Romanze »sich, wo nicht durch innere Tiefe, indem der eigentliche schöne Sinn der indischen Sage ganz darin verfehlt ist, doch wenigstens, von dem Stoffe und dessen dichterischem Verständnis abgesehen, durch die äußere musikalische Fülle empfiehlt« (ein absichtlich falsches Urteil: gerade die indische Sage ist hier zu humaner Sittlichkeit vertieft: auch der katholische Christ Friedrich Schlegel hätte hier leicht eine Anknüpfung gefunden, wenn nicht der neuerstandene Indianist gleichen Namens den Eingriff auf sein Gebiet als ungehörig hätte abweisen müssen). Von den erhabenen religiösen Oden, die der Kritiker »reimfreie Monodien in menschlichen Sinnbildern« nennt, heißt es: »Je abweichender, je ausgesetzter dem Tadel die in diesen Fragmenten herrschende Ansicht der Dinge ist« usw. (abweichend nämlich von der Glaubensregel, also ketzerisch). Über die Elegien wird in gezwungener, zweideutiger Weise gesprochen, die Nachahmung der Antike erlaubt und doch wieder für bedenklich erklärt; die Elegien zusammengenommen sollen ein Ganzes bilden können, das dann ein Lehrgedicht sein würde (man höre: ein Lehrgedicht! Hier taucht der im Unsinn sich gefallende, »verrückt phantasierende« und stark verschrobene junge Kritiker der neunziger Jahre wieder auf; sein eigentliches Verhältnis zu den Elegien war der quälende Widerspruch der angelobten Abtötung auf der einen, der Fleischeslust auf der andern Seite, welche letztere sich trotz alles eifrigen Glaubens nicht abwehren ließ und durch das Bewußtsein der Sünde nur noch reizender wurde – daher lauter Streiche durch die Luft und zur Seite). Dann folgen Worte und wieder Worte über Wilhelm Meister – was er ist, und was er nicht ist, und wie es kommt, daß er »den Begabtesten unter den Zeitgenossen« (d. h. Novalis und ihm selbst nebst Gattin) erst gefällt, dann sie aber anwidert; der Roman wird gegen diese Gegner verteidigt, aber auf heuchlerische Art, mit verzogenem Lächeln; er soll nicht mit Cervantes verglichen werden und wird diesem doch gegenübergestellt; er ist »nicht romantisch (sein Hauptfehler; Heinrich von Ofterdingen ist der Roman, wie er sein soll), sondern modern, daher manchen Abwegen der Bildung und des Verstandes ausgesetzt, indem z. B. die Verhältnisse des geselligen Lebens die Phantasie erdrücken oder stören« usw. Viele Jahre nachher äußerte A. W. Schlegel, dieser Aufsatz seines Bruders sei »voller Witz« und sollte eine »Parodie auf Goethes Rezension von des Knaben Wunderhorn« sein. Wir können in demselben kein Fünkchen Witz entdecken und ebensowenig irgendeine parodische Beziehung auf Goethes genannte Rezension. In der letzteren aber warnte Goethe die Herren Herausgeber, sie möchten sich vor dem »Singsang der Minnesinger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger. so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen höchlich hüten«. Dies mußte Anstoß geben und besonders Friedrich Schlegels Zorn erregen. Einige Jahre später, als der Zauberring von Fouqué, dem Schützling A. W. Schlegels, erschienen war, äußerte Friedrich gegen Clemens Brentano, wie dieser dem ritterlichen Dichter selbst meldete, der Zauberring sei seit dem Don Quixote der beste Roman – also Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften waren geschlagen und kamen nicht mehr in Betracht, und auch der Glanz des Sternbald und des Ofterdingen war vor dem neuen Meteor erblichen. Und um, da wir bei Friedrich Schlegel flehen, auch seine »Vorlesungen über Geschichte der alten und neuen Literatur« (zuerst in Wien 1812 gehalten) gleich hinzuzunehmen, so wird hier mit pfäffischer Schlauheit dem Genius Goethes viel zugestanden, aber in Einschränkungen und Vorbehalten, liebevoll und bedauernd, das Beste wieder zurückgenommen. »Willig folgen wir, so oft sein Lied vom Orient oder vom Okzident her ertönt, dem magischen Greis, unwiderstehlich fortgezogen in seine Zaubersphäre, während wir in seinen Prosagedanken nur den unbefriedigten Kampf einer nicht zum Ziele gelangten großen Natur erblicken« (d. h. zum Ziele der Rechtgläubigkeit). »Goethe«, heißt es gleich darauf, »hat vielen mit Recht als ein Shakespeare unseres Zeitalters gegolten« (folgt ein trübes und schiefes Bild dieses Zeitalters, dessen Schatten natürlich auf Goethe fallen); »in Rücksicht auf die Denkart aber, wie sie sich auf das Leben bezieht und das Leben bestimmt, könnte er auch wohl ein deutscher Voltaire genannt werden« (freilich poetischer als dieser); »indessen wird doch auch oft fühlbar, daß es dieser verschwenderischen Fülle des mit Gedanken spielenden Geistes an einem festen inneren Mittelpunkte fehlt« (d. h. es fehlte Goethe der Halt der geoffenbarten Gnade, er war und blieb der Humanist, der nicht auf diesem oder jenem Berge betete). Der gleiche Vorwurf trifft Schiller: »Er ist durchaus im Zweifel stehengeblieben, daher weht uns selbst aus seinen edelsten und lebendigsten Werken bisweilen der Hauch einer inneren Kälte entgegen« (die Kälte, deren Hauch wir allerdings hin und wieder in Schillers Dichtungen empfinden, kam nicht vom Zweifel, denn Schiller war kein Zweifler, vielmehr so stark im idealen Glauben, wie nur Schlegel jemals in seinem düsteren Wahn, sondern sie stammte aus einem Rest poetischen Unvermögens: Schiller wußte nicht alles, was er ergriff, in Phantasie aufzulösen und fiel dann öfter in sein Element, die Rhetorik, zurück). – Während so Friedrich Schlegel in Wien aus dem Gewölbe seiner christkatholischen Gruftkirche Orakel erließ, hatte um dieselbe Zeit eine andere romantische Genossenschaft, die sich in Heidelberg zusammenfand, gleichfalls mit Goethe gebrochen, doch ohne es öffentlich zu sagen. Die Heidelberger waren nicht gerade kirchlich-fanatisch (was zwei von ihnen erst später werden sollten), wohl aber phantastisch, mittelalterlich, symbolisch, von der Einfalt des Volkes und alter Zeiten als dem Höchsten hingerissen, voll Verachtung gegen Form und Helle. Zwei von ihnen, Achim von Arnim und Clemens Brentano sammelten (und dichteten zum Teil) die Lieder des Wunderhorns, der dritte, der heißblütige, wetterleuchtende Görres, nahm sich der deutschen Volksbücher an, und alle zusammen gaben ein überaus romantisches Journal, die Einsiedlerzeitung (Tröst Einsamkeit), heraus; über ihnen schwebten als Geister höherer Wissenschaft Daub und Creuzer und über den Häuptern dieser als leitender Genius Schelling in München. Daub selbst, der theologisierende Philosoph, der damals schon seinen Judas Ischariot in Gedanken trug, ließ sich in einer Weise über Goethe vernehmen, daß man seine Reden nur mit Gretchens Worten wiedergeben kann.
Steht aber doch immer schief darum.
Denn du hast kein Christentum,
(S. den Brief Berkranis an S. Boisserée, vom 11. Mai 1811.) Aber einen andern aufgeklärten Professor an derselben Universität, Voß den Vater, verdroß und erbitterte dies ganze Gemunkel: er verfolgte es unablässig mit grober Freimütigkeit und hieb auf die Gegner ein wie ein Mecklenburger Drescher in das Stroh auf der Tenne. Er stand auf Goethes Seite, nicht weil er an des Dichters Gemütswelt Anteil gehabt hätte, wohl aber, weil dieser ihn und seine Poesien vor wenig Jahren sehr günstig (vielleicht ironisch) beurteilt hatte, dann auch, weil er wohl merkte, daß es zwischen dem Olympier und den Romantikern nicht mehr stand wie früher. Wie im besonderen diese Heidelberger über Goethe dachten, lehren die Briefe von Heinrich Voß, dem Sohne, an Charlotte von Schiller. Wir setzen eine Stelle her, die dieses neupoetische Glaubenbekenntnis zusammenfaßt, 28. Aug. 1807: »Görres hat Witz und Phantasie, doch durchaus keinen Geschmack – ich fürchte, seine ungeregelte Phantasie wird ihn noch einmal ins Narrenhaus bringen. Er predigt den Heidelbergern jetzt die Rungischen Arabesken, mystischen Inhalts Philipp Otto Runge aus Pommern, Zeichner und lyrischer Dichter, war um jene Zeit zu andächtiger, traumhafter Romantik übergegangen. – Jean Paul ist sein Heros, Schiller verdient nicht den Namen eines Dichters; Goethe soll einige Anlage gezeigt haben, aber die gemeine Natur hat den Sieg davongetragen. Im Wilhelm Meister herrscht eine niedrig-ökonomische Ansicht des Lebens (dem Novalis nachgesprochen), ein irreligiöser Dualismus« usw. So weit also war es bei diesen jüngeren Genossen der Schule mit ihren Urteilen über Dichter und Dichtwerke bereits gekommen. Es fehlte offenbar der mäßigende klare Geist des bisherigen Führers, des älteren Schlegel. Dieser war auf eine Reihe Jahre, während seine Freunde mit Märchen und den Schatten der Vorzeit sich unterhielten, fern von Deutschland, unter fremden Menschen und Sprachen, der politischen Wirklichkeit nahegerückt. Wie die heimische literarische Welt sich ihm seht darstellte, lehrt uns ein höchst merkwürdiger Brief, den er von Genf im März 1806 an seinen poetischen Zögling Fouqué nach Berlin schrieb. Er meint, es sei jetzt nicht mehr an der Zeit, mit nichtigen und müßigen Phantasien zu spielen; jetzt bedürfe es einer nicht träumerischen, sondern energischen, auf das Herz und den Willen wirkenden, patriotischen Poesie oder statt alles Dichtens vielmehr der Beredsamkeit. Dies Bekenntnis aus diesem Munde, schon am Anfang des Jahres 1806, also noch vor der Zertrümmerung Preußens, setzt uns in Erstaunen; es war das Gegenteil der Romantik, ein Abfall von ihr, der Übergang zu der praktisch-politischen Prosa. Vielleicht wirkte zu dieser Umkehr das Schicksal der Frau von Staël mit, die von Napoleon gehaßt und verfolgt wurde; auch ist der Brief ja an einen preußischen Offizier gerichtet, der sich neben der poetischen Handarbeit immer als solcher fühlte. Gegen Ende des langen Schreibens taucht indes der Romantiker wieder hervor und zeigt sich in der Unzufriedenheit mit Goethe oder vielmehr in einer entschiedenen Anfeindung dessen, den die Schule sonst nicht genug hatte verherrlichen können, und der jetzt ihren Schwenkungen und Ausschreitungen nicht folgen wollte. »Wie treibt es nur der alte Goethe?« fragt er. »Es scheint, er will alle seine Jugendsünden wieder gut machen« – »nur vor einer Sünde hütet er sich nicht, die am wenigsten Verzeihung hoffen kann, nämlich der Sünde wider den Heiligen Geist. Sein Winckelmann, das sind wieder verkleidete Propyläen, die also das Publikum doch auf alle Weise hinunterwürgen soll. Und was soll uns eine steife, ganz französisch lautende Übersetzung eines Dialogs, den Diderot selbst vermutlich verworfen hat? Ich habe recht über die barbarische Avantage lachen müssen, die Shakespeare und Calderon bei ihren Stücken gehabt haben sollen« (geht auf eine Äußerung Goethes in der »Geschmack« überschriebenen Anmerkung zu Rameaus Neffe). »Dies ist eine wahrhaft barbarische Art zu schreiben, dergleichen sich jene Großen nie zuschulden kommen lassen. Man versichert uns, daß Goethe im Gespräch unverhohlen Partei gegen die neue Schule nimmt, und das ist ganz in der Ordnung. Warum zieht er nicht gedruckt gegen sie zu Felde?« Er tat es nicht, weil öffentliche Polemik überhaupt nicht seine Sache war; in zahlreichen Xenien und Streckversen, die erst später aus Licht des Tages traten, gab er im stillen seinem Mißvergnügen Sprache; warum aber umging A. W. Schlegel selbst den Meister so schüchtern in so weitem Bogen? Noch vor weniger als einem Jahre hatte er ein Sendschreiben »an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler« erlassen, und nun zuckte er verächtlich die Achseln über eine der herrlichsten Schriften Goethes (Winckelmann und sein Jahrhundert), die das Publikum »hinunterwürgen« müsse – ein Beweis mehr, wie sein feiner und scharfer Geist sich jedesmal trübte, wenn es den geschlossenen Zusammenhalt der romantischen Sekte galt.
Und damit haben wir das Verhältnis Goethes zu der Künstlerschaft des neuen Jahrhunderts berührt. Auch die Kunst hatte wie ihre Schwester, die Poesie, die Wendung zum Mittelalter vollzogen: nicht die Schönheit war mehr ihre Göttin, sie sehnte sich nach der Frömmigkeit des Klosterbruders, durch die allein sie die Anwartschaft auf unsterbliche Schöpfungen zu erhalten vermeinte. Die Meister des Cinquecento waren ihr jetzt zu menschlich und heidnisch: die herbe Süßigkeit, das reizende Ungeschick der naiven Vorboten übten auf die Kunstdoktoren dieselbe Anziehung wie im sinkenden Altertum die nachgeahmten archaischen Skulpturen auf die spätere griechisch-römische Zeit oder wie etwa junge Mädchenknospen auf einen alten Wüstling. Die Bilder Fiesoles, deren Formen von dem Glauben wie von einem engen Reif zurückgehalten Waren, verdrängten die Bewunderung für den weltlich ausgearteten Raffael und ebenso die Gotik mit ihrem Schwung ins Unendliche und ihrer farbigen Dämmerung den Sinn für den frei entfalteten Renaissancebau, der die Freude an Licht und gegenwärtigem Dasein als allgemeine Stimmung an sich trug. Darum mußte, wer ein rechter Maler sein wollte, Katholik werden, mit dem Weihrauchdampf der Kirche sich den Sinn betäuben und, ehe er den Pinsel ergriff, ein inbrünstiges Gebet verrichten. Das Beispiel für alle übrigen hatte Friedrich Schlegel gegeben, den man wohl den bösen Genius der Romantik nennen könnte, der sie z. B. gleich anfangs übermütigerweise mit Schiller verfeindet und dann durch einen zynischen Roman und seine Wanderungen mit der Frau eines andern vor aller Welt bloßgestellt hatte. Gar zu gern hätte die fromme deutsche Brüderschaft auch von Goethe das gleiche künstlerische Ordensgelübde empfangen. Aber sein Bekenntnis in den Propyläen und die Schrift über Winckelmann lautete ganz anders: er blieb bei seinem humanen Heidentum, erfrischte sich an der Gesundheit der klassischen Kunst, und die Szenen des griechischen Mythus sprachen ihn als Stoffe künstlerischer Darstellung mehr an als die widrigen Legenden und abgezehrten Heiligen des christlichen Mittelalters. Als dann in den Jahren 1816 und 1817 seine italienische Reise erschien, da war bei den deutschen Römern der Unwille, die Erbitterung groß. Wir sehen dies unter anderem aus den Briefen und Aussprüchen Niebuhrs, des damaligen preußischen Gesandten beim Vatikan, der mit den Nazarenern viel verkehrte. Ja Niebuhr wünschte einmal sogar, diese »im Rausch« geschriebenen Blätter wären gar nicht gedruckt worden! Die Nachwelt hat die damaligen Urteile nicht bestätigt: Goethes italienische Reise gehört zu seinen populärsten Werken, und die romantische Kunstschule ist längst in Schutt und Asche gesunken und in alle Winde zerstoben. Goethe selbst führte nach seinem Winckelmann den Kampf im stillen fort, bis er 1817 im zweiten Heft von Kunst und Altertum mit einem von Meyer geschriebenen Aussatz: »Die neudeutsche religiös-patriotische Kunst« gegen das Unwesen sich erhob. (Zur Ergänzung dienen seine Briefe an Knebel vom 17. März und an Zelter vom 24. August 1823 sowie die erst 1832 gedruckten »Aphorismen, Freunden und Gegnern zur Beherzigung«.) So war der Zwiespalt vor aller Augen offenbar geworden: die Künstler im Bunde mit der Kirche zuckten die Achseln und bedauerten das Schicksal des Alten, der einst ein anderer und Besserer gewesen. Tieck aber schrieb am 18. Dezember desselben Jahres 1817 an Solger: »Ich glaube, man müsse von dem realen Nichts und dem realen Wirklichen aus Goethe und so manchen anderen fast logisch zeigen können, wie in ihrer wahren Verehrung der Antike zugleich ein ganz nichtiger, willkürlicher und leerer Aberglaube liegt, der niemals, am wenigsten in der Nachahmung, zum Leben kann erweckt werden – warum sie, auf diesen Standpunkt gebannt, die Kunstwelt, die unerläßlich mit dem Christentum, mit dem wahrhaft Nationalen zusammenhängt, verkennen müssen – und wie jenes Ideal, das ihnen vorschwebt, ein nichtiges Gespenst der Leblosigkeit ist. Dies ist mir wieder recht lebhaft beim Durchblättern seiner neuen neapolitanischen Reise geworden.«
Ähnlich, doch minder schroff, war der Widerstand, den Goethe im Gebiet der Poesie den »Mittelältlern«, wie er sie nennt, entgegensetzte. Die mittelalterliche Dichtung war neu entdeckt und wurde eben darum überschätzt, zunächst von denen, die sich durch Studium einigermaßen in den Stand gesetzt hatten, jene verschollenen Gedichte und ihre Sprache zu verstehen, dann, und vielleicht noch mehr, von der dilettantischen Menge, die der Mode folgte und keines von den alten Liedern und Epen jemals gelesen hatte. Je befangener, beschränkter, dürftiger der Geist und Inhalt jener fernen Zeit und ihrer Gesänge, desto überlegener der Verstand derer, die sie dennoch als ein Höchstes priesen; liegen doch noch heute die Dinge so, daß, wer in Wort und Schrift für Wolfram und Gottfried und Walther von der Vogelweide begeistert ist und sich über die zweimalige klassische Periode der deutschen Literatur mit Beredsamkeit ergeht, in der Regel von jener angeblichen ersten Klassik nur von Hörensagen weiß und nur nachspricht, was ihm vorgesagt worden. Die Ritterpoesie des Mittelalters ist für uns tot und begraben, wohl, wie soviel anderes, ein interessanter Gegenstand gelehrter Forschung, aber durch keine Bemühung wieder zum Leben zu erwecken. Goethe nun reichte mit seinem Geiste wohl bis zu den Zeiten der Renaissance und der Reformation und wußte von dorther lebendige Quellen auf seine poetischen Fluren zu leiten; weiter hinauf aber verschwand der nationale Boden: dort lag die Fremde, weit ferner von uns als Griechenland und Rom. Wer muß nicht den Ekel teilen, den Goethe bei der Miselsucht des armen Heinrich empfand? Indes die Nibelungen, nachdem er sich einmal darauf eingelassen, las er gern vor, erklärte sie den Anwesenden und bemühte sich, sie beim Vorlesen unmittelbar in heutiges Deutsch zu übertragen. Doch ist der Ton, wo er bei verschiedenen Gelegenheiten auf sie zu reden kommt, verhältnismäßig kühl. Man soll sie ja nicht mit Homer in Parallele stellen, weil sie dann in jedem Betracht nur verlieren können. »Haben wir Deutsche«, heißt es z. B. in den Anmerkungen zum Westöstlichen Divan, »nicht unsern herrlichen Nibelungen durch solche Vergleichung (mit Homer) den größten Schaden getan? So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich Das Wort vertraulich kommt auch in der Rezension von Vossens Gedichten vor: »Und verschmäht nicht, uns durch beigefügte Noten vertraulich aufzuklären« – wo es beinahe soviel heißt als mit Zudringlichkeit, da Gedichte sich doch selbst erklären sollen. und dankbar ausnimmt, so wunderlich erscheinen sie, wenn man sie nach einem Maßstabe mißt, den man niemals bei ihnen anlegen sollte.« Und an Knebel im Jahre 1814: »Ich habe an der homerischen wie an der nibelungischen Tafel geschmaust, mir aber für meine Person nichts gemäßer gefunden, als die breite und tiefe und immer lebendige Natur, die Werke der griechischen Dichter und Bildner.« Auch dies mußte einen Mißklang mit dem herrschenden Geschlecht der Romantiker geben, und ebenso, wenn er ihren Übertreibungen in Verehrung der neuern Dichter, Dante, Calderon, Shakespeare entgegentrat und auch darin von der antiken Dichtung als ewigem Muster nicht lassen wollte. Dantes Schroffheit und architektonisch-mystische Scholastik mußte Goethes mildem, humanem Geiste zuwider sein; wie ihn Theognis mit seiner menschenfeindlichen Moral nicht ansprach, so auch Dante nicht: bei beiden erklärte er das strenge Gericht, das sie über ihre Zeitgenossen verhängen, aus ihrem Leben als Verbannte und Ausgestoßene, als Emigrierte, die wie die der französischen Revolution eine reiche Bildung durch rohe Parteiwut zerstört sahen. An den Dramen des Spaniers Calderon hatte er anfangs die höchste Freude und stimmte mit seinen Freunden darin überein, später ward sein Lob ein bedingtes, und daß des genannten Dichters Geist in tiefen Fesseln liegt, konnte er sich nicht verhehlen: der Kirchenglaube mit seinen Satzungen und die konventionelle Ritterlehre, diese Schranken, ließen keine freie Sittlichkeit und natürliche Empfindung aufkommen. Es war in Calderon erstarrte Bildung, Überkultur, und wenn uns Shakespeare »die volle reife Traube vom Stock« oder auch den gekelterten, geklärten Wein zur Erquickung reicht, so empfangen wir von Calderon »abgezogenen Weingeist, ein mit Süßigkeiten gemildertes, mit Spezereien geschärftes, köstliches Reizmittel, das, wer es nicht will, abweisen kann«. Goethe faßte dieses halbverhüllte antikatholische Urteil acht Jahre später in den prägnanten Satz zusammen: »Wie Natur und Poesie sich in der neueren Zeit vielleicht niemals inniger zusammengefunden haben, als bei Shakespeare, so die höchste Kultur und Poesie nie inniger als bei Calderon.« Auch in der Würdigung Shakespeares gerieten nach Goethes Urteil die romantischen Häupter, vor allen August Wilhelm Schlegel und Tieck, durch Überspannung und Sophistik aus der gemessenen Bahn. Goethe hatte schon in der Jugendzeit den englischen Dichter enthusiastisch gepriesen, von ihm gelernt, an ihm sich gebildet, dann in reiferen Mannesjahren sinnvolle Betrachtungen über ihn im Wilhelm Meister niedergelegt, jetzt aber machten ihn die Torheiten der kritischen Stimmführer unwillig, und er schrieb im Jahre 1813 den Aufsatz: »Shakespeare und kein Ende.« Goethe hat kaum ein Stück Prosa verfaßt, das in so geringem Umfang soviel tiefe und treffende Gedanken in so lebhaftem, klarem, natürlichem Stil vortrüge als diese Studie. Indem er Shakespeares Größe nicht verkennt, vielmehr diese aus noch breiterem Grunde aufsteigen läßt und sie dadurch sichert, widersetzt er sich doch der romantischen Verflüchtigung und Verfärbung des in der realen Welt heimischen Dichters, der wohl wußte, was er wollte. »Anstatt unsere Romantik, die nicht zu schelten noch zu verwerfen sein möchte, über die Gebühr ausschließlich zu erheben und ihr einseitig nachzuhängen, wodurch ihre starke, derbe, tüchtige Seite verkannt und verderbt wird, sollten wir suchen, jenen großen unvereinbar scheinenden Gegensatz (von Notwendigkeit und Freiheit oder von Sollen und Wollen, von welchen zwei Gliedern je das erste mehr der antiken, das zweite mehr der modernen Lebensansicht angehört) um so mehr in uns zu vereinigen, als ein großer und einziger Meister, den wir so höchlich schätzen und, oft ohne zu wissen warum, über alles präkonisieren, das Wunder wirklich schon geleistet hat. Freilich hatte er den Vorteil, daß er zur rechten Erntezeit kam, daß er in einem lebensreichen, protestantischen Lande wirken durfte, wo der bigotte Wahn eine Zeitlang schwieg, so daß einem wahren Naturfrommen, wie Shakespeare, die Freiheit blieb, sein reines Innere, ohne Bezug auf irgendeine bestimmte Religion, religiös zu entwickeln.« Die Stacheln, die in diesem und den übrigen Worten verborgen waren, fühlten die Überschwenglichen und die Grübler wohl an ihrem Leibe; als aber drei Jahre darauf noch ein Nachtrag kam: »Shakespeare als Theaterdichter«, in dem die Behauptung durchgeführt war, Shakespeare eigne sich mehr zum Lesen als zur theatralischen Darstellung, und es sei verkehrt, ihn, so wie er da sei, ohne Überarbeitung, aufzuführen – da war der Greuel unerhört: daß bei Shakespeare kein Wort, keine Silbe ausgelassen werden dürfe, daß bei ihm alles bis aufs kleinste wohlbedacht sei und nichts außer dem organischen Zusammenhange liege, dies war ja ein Hauptsatz der romantischen Glaubenslehre, und dies wagte der Alte in Weimar zu leugnen! Sehr verdrießlich war der Umstand, daß der Urheber solcher Ketzereien der langjährige, vielerfahrene Leiter einer der ersten Bühnen Deutschlands war, einer Bühne, die für die hohe Schule der Schauspielkunst galt, die die Stücke Schillers in die Welt eingeführt und mit allen Kräften für ein ideales Schauspiel gewirkt hatte. Aber es gab noch einen andern Dichter und Dramaturgen – noch größer als Goethe und nach seiner eigenen Meinung und der seiner Gesellen befähigt und jeden Tag bereit, Goethe zu stürzen und an dessen Statt den Thron zu besteigen. Es war dies Ludwig Tieck. Heutzutage macht es fast einen komischen Eindruck, wenn Tieck in einem Briefe an Solger sich an Goethe mißt und jetzt ganz bestimmt zu sehen glaubt, »wo wir uns trennen und trennen müssen«, d. h. wo Tieck ihm überlegen ist (Solgers Nachlaß, I, S. 486). Auch in den von Holtei herausgegebenen Briefen an Tieck bewundern die Korrespondenten überall den großen Dichter, an den sie schrieben, hüten sich aber wohl, um den Empfänger nicht unangenehm zu berühren, Goethe ohne Einschränkung zu preisen. Ja, Immermann z. B. erlaubt sich am 28. November 1831 die Worte: »Mir scheint es zuweilen, als ob das Gebiet der eigentlichen Poesie erst da beginne, wo Goethe (mit wenigen Ausnahmen) aufhört.« Besonders aber Shakespeare war Tiecks verbrieftes Eigentum, und da durfte kein anderer ihm dreinreden: in dem Dienste Shakespeares war er der Oberpriester, der das Gesetz verkündigte und dieses dann zu wahren hatte. Freilich, wer genauer zusah, erkannte wohl, daß Tieck seinem Götzen nicht aus treuer Überzeugung anhing: die ausschließliche Vorliebe für den englischen Meister (wie auch die für den Spanier) war in echt romantischer Weise nur eine geistreiche Sonderbarkeit, mit der er sich Bedeutung gab: er suchte etwas darin, lächelte über die, die in ihrer Einfalt davon nichts verstanden, und hatte in Shakespeare sein Steckenpferd, wie ein solches hervorragenden Geistern wohl ansteht. In seinen dramaturgischen Arbeiten ließ er es an Paradoxien nicht fehlen. Mußte man nicht bestürzt werden, wenn Tieck z. B. die Lady Macbeth für eine zärtliche liebevolle Seele ausgab und demgemäß auf der Bühne dargestellt haben wollte – was sogar der milde Goethe mit ungewohnter Deutlichkeit ablehnte und dem Kritiker vorwarf? Tiecks Antwort an den großen Nebenbuhler erfolgte in der Einleitung zu den gesammelten Schriften von R. Lenz vom Jahre 1828, die die Überschrift trägt: »Goethe und seine Zeit.« Hier wird zwar in manchen schönen und wahren Urteilen Goethes ganze poetische Größe anerkannt und sein Individuum mit Liebe gezeichnet, aber auch manche Tücke verübt und immer ein aus Shakespeare gezogener hyperdramatischer Maßstab angelegt: möglich wurde das eine und das andere durch die dialogische, dem Plato nachgekünstelte Form, in die die breiten Ausführungen gefaßt sind. Diese Form brachte den Vorteil mit sich, daß alles Günstige und Ungünstige an verschiedene Personen verteilt werden konnte und den Verfasser also zu nichts verpflichtete: was sein eigener Ernst war, trat nirgends hervor, und er konnte alles Gesagte jeden Augenblick als Einseitigkeit zurücknehmen. Es ist romantische, vornehm überlegene Ironie, in deren Zwielicht mancher empfindliche Streich gefahrlos geführt werden kann.
Wer in Shakespeare den »Genius der britischen Insel« erkannt hat (A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst, 25. Vorlesung), wird es nicht unpassend finden, wenn wir Goethe den Genius der deutschen Nation nennen; wie aber kaum ein Menschenalter nach Shakespeares Tode der puritanische Fanatismus, die andere Seite des britischen Nationalgeistes, ausbrach und Shakespeares helle und weite Lebensansicht sich verengte und verdüsterte – und ganz hat der Himmel sich bis auf den heutigen Tag nicht erheitert –, so geschah es auch mit Goethe: auch gegen diesen erhoben sich die Ansprüche der Moral, und er ward vor dem Angesicht dieser strengen Richterin verurteilt und geschmäht. Daß Goethe unsittlich sei, ist ausgemacht und eine bis auf die Gegenwart nicht ganz erschütterte Wahrheit. Besonders in Norddeutschland ist das herrschende Ideal, das für so manches Versagte entschädigt, die Moral, d. h. das den Menschen überall begleitende Bewußtsein, aus zwei Stücken zusammengesetzt zu sein und den harten Kampf gegen die Sinnlichkeit bestehen zu müssen. Denn Moral heißt, genau betrachtet, nicht schöne und weise Lebensführung, sondern Mißtrauen gegen das Natürliche, vor allem gegen das Geschlechtsverhältnis, die Liebe. Auch dies weniger der Tat und Ausübung, als den Worten und dem Scheine nach; Mephisto, einer der größten Menschenkenner, die gelebt haben, sagt:
Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können –
oder aus derselben Zeit, 1774, Kilian Brustfleck in Hanswursts Hochzeit:
Kein leicht unfertig
Wort wird von der Welt verteidigt,
Doch
tut das Niedrigste, und sie wird nie beleidigt.
Der Weise sagt, der Weise war nicht klein:
Nichts
scheinen, aber alles
sein –
woraus dann als einfache Folge Pharisäismus, Übertünchung sich ergibt. Besonders das angeblich freie England liegt tief unter dem Joche dieser Heuchelei: nur züchtig in Reden, vor den Augen der Welt, und wehe dem, der leichtsinnig und unbedacht, oder weil er sich keines Fehls bewußt ist, den gebräuchlichen gleisnerischen Schleier abwirft! Diese abstrakte, dualistische Moral stand nun begreiflicherweise mit den gleichgearteten religiösen Ansichten und Triebfedern im engsten Bündnis. Denn das Christentum war von Anfang an auf asketischer Grundlage errichtet, die feindselige Welt, auf deren Aufhebung es ankam, war ja eben diese Einheit von Geist und Sinn, die Schönheit und das gegenwärtige Glück. Das Christentum war die Religion des Gekreuzigten und eben damit sein Ideal der Schmerz und das Leiden. Indem nun in Goethe ein Dichter der Renaissance, der begeisterten Natur, des Menschen als eines Ganzen auftrat, während Entzweiung die allgemeine religiöse und sittliche Voraussetzung bildete – indem dieser Dichter innerhalb einer Kirche, die unablässig bemüht war, das Bewußtsein des Todes wach zu halten, nicht memento mori sprach, sondern »gedenke zu leben« (so stand auf der Rolle, Wilhelm Meister, 8, 5) und seiner Geliebten schrieb: »Der heilige Geist des Lebens verlasse dich nicht« – so mußte er notwendig in der öffentlichen Meinung als verworfen und irreligiös erscheinen. Er stand eben auf einer höheren ethischen Stufe, von der in den bisherigen Lehren und Geboten nichts enthalten war. Im Werther hatte er in rührender Aufdeckung der menschlichen Psyche und ihrer Geheimnisse und Irrwege gezeigt, wie lieblos und beschränkt es ist, den Selbstmörder der ewigen Verdammnis preiszugeben und ihn gleich einem verreckten Tier in einem Winkel zu verscharren; in Gretchen und Clärchen, wie roh es ist, das Mädchen, das in der Fülle der Unschuld und Liebe dem Geliebten sich hingegeben hat, der öffentlichen Schande zu überliefern, und wenn die Furcht vor dieser und die namenlose Angst sie zur Kindesmörderin gemacht hat, sie im dumpfen Kerker zu vergraben und dann auf dem Markte zu enthaupten; in Der Gott und die Bajadere, wie in der tiefsten Verlorenheit doch in der Seele des Weibes ein Funke von Menschlichkeit und aufopfernder Liebe erhalten sein kann, der zur Flamme aufschlägt und sie der Rettung, der Barmherzigkeit würdig macht; in den Römischen Elegien, wie auch die sinnliche Liebe durch Schönheit und Grazie geadelt wird und mönchische Kreuzigung des Fleisches gerade der Gipfel des Unsittlichen, eine negative Wollust ist; in allen seinen Dichtungen endlich, daß Sittlichkeit und Glück, Sünde und Unseligkeit ein und dasselbe ist – dies nicht in Form abstrakter Lehrsentenz, sondern durch Darstellung sich vollziehender Schicksale und des von den menschlichen Charakteren selbst geschaffenen Menschenglückes und Menschenleides. Aber eben darum wurde er nicht begriffen. Goethe war ein herzloser Mann, nur auf Sinnengenuß bedacht, eine Art Faun, und die Kunst, unpoetische Menschen zu rühren, verstand er nicht. Als z. B. die vier Stanzen vor der Faust-Tragödie 1808 erschienen, war eine alte Hamburger Dame, die Schwiegermutter des Grafen Reinhard, Frau Reimarus, ganz verwundert, von dem kalten Egoisten Goethe so schmelzende Gefühle ausgesprochen zu finden, und erklärte sich das durch das Unglück Deutschlands, das auch sein steinern Herz erweicht habe (s. den Briefwechsel zwischen Goethe und Reinhard, S. 27). Diese Stanzen waren aber schon 1797 gedichtet; und Goethe selbst äußerte, wenn ihm solche und ähnliche Urteile zukamen, sein inneres Schicksal sei den Menschen ganz verborgen. Schon früher hatte Frau von Stein, die ihn tiefer kennen mußte, doch und bei all dem zweierlei Naturen in dem Dichter zu finden geglaubt, eine schwärmerische, seelenvolle (solang er sie ausschließlich liebte) und eine sinnliche, gemeine, niedrige (als er sich von ihr abgewandt hatte). Auch Caroline Herder war moralisch; sie setzte es durch, daß das schöne Jugendgedicht »Christel« in den Schriften von 1788 ausgelassen wurde. So auch die Gräfin Baudissin, die es Herder zum Vorwurf machte, daß er für einen Roman wie Wilhelm Meister Teilnahme gehabt, wo eine Marianne, eine Philine gezeichnet waren, ohne ein Wort des Tadels von seiten des Dichters; ferner die Gräfin Schimmelmann, die gegen Schiller sich verwundert hatte, daß eine so reine Seele wie Schiller mit einem Manne wie Goethe in Freundschaft und Gemeinschaft leben konnte; endlich auch die gräflich Reventlowsche Familie und ihre Freundinnen, die gleichfalls zuviel Libertinismus und vermutlich zuwenig Herz im Wilhelm Meister fanden. Ähnlich wie die genannten werden auch andere gebildete Frauen des Nordens geurteilt haben – sie, die durch Klopstock innig gerührt und durch die Späße plattdeutscher Volkskomik höchlich ergötzt wurden –, während in Oberdeutschland und in den geistlichen Stiftern des linken Rheinufers vorerst Goethes Werke noch gar nicht gelesen wurden. Mehr religiös als moralisch war es gemeint, wenn die Fürstin Galizin, geborene Gräfin Schmettau, und die Gräfin Auguste von Stolberg, die erstere den schönen Heiden, die andere den alten Hellenen zum Christentum bekehren wollten. Nur die jüdischen Weiber, die jetzt immer mehr zu Worte kamen, waren weniger streng und ahnten etwas von Goethes nicht bloß dichterischer, sondern auch sittlicher Größe: sie hatten eben mehr Mutterwitz im Kopf als die guten und lieben, aber konventionell beschränkten, mit England durch alte Stammesgleichheit verbundenen, blonden Bewohnerinnen Niedersachsens Auch Gentz fand, wie Schleiermacher und der Freiherr vom Stein, an Goethe kein Gefallen, und das könnte wundernehmen. Aber dem Wiener Sybariken Gentz war Goethe zu ideal geartet, den beiden andern Genannten nicht einseitig genug. Was insbesondere Schleiermacher betrifft, so war und blieb er Theolog, und diesem mußte Goethes Humanismus als eine fremde Welt erscheinen. »Er konnte den Dichter in Schutz nehmen; dagegen war er still und stumm, wenn abgöttische Verehrer dem gefeierten Dichter auf den Lorbeer noch die Bürgerkrone oder gar den Heiligenschein setzen wollten.« (Siehe den Brief Eichhorns an Schelling vom 16. März 1834) Er teilte also die von der blinden Menge gehegten Vorurteile.. Ebensoviel aber als seine freie Dichtung schadete Goethe in den Augen der Welt die Verbindung mit Christiane Vulpius, deren Charakter im Übergang von Mund zu Mund auf alle Weise ins Schwarze gemalt wurde. Wir unsererseits können in dem Verhältnis nicht so unerhört Strafbares finden: unter allen übrigen Lebens- und Entwickelungsmomenten darf man nicht vergessen, daß es sich um einen Dichter handelt und um einen, der ein ganzer Mensch war; daß es ungehörig ist, bei einem solchen die gewöhnliche »Philisterleier« anzustimmen (Goethe braucht dieses Wort selbst mit Bezug auf die angeblich lasziven Schilderungen seiner Dichtungen); daß endlich, was bei diesem Schritte getadelt werden kann, wir meinen das Mißverhältnis der Bildung und des Standes zwischen dem genialen Manne und dem sehr gewöhnlichen Mädchen und deren das Haus erfüllenden Verwandten, von dem Dichter selbst schwer gebüßt worden ist – (»denn alle Schuld rächt sich auf Erden«) –; man höre nur das Urteil Schillers in seinem Brief an die Gräfin Schimmelmann, 13. November 1800: »Goethe ist in ein Verhältnis geraten, welches ihn in seinem eigenen häuslichen Kreise drückt und unglücklich macht, und welches abzuschütteln er leider zu schwach und zu weichherzig ist. Dies ist seine einzige Blöße, die aber niemand verletzt, als ihn selbst, und auch diese hängt mit einem sehr edlen Teil seines Charakters zusammen.« Ein minder edler Mann hätte das Mädchen, nachdem ihre Jugendblüte vergangen, irgendwo untergebracht und sich freigemacht – wie wir das täglich in dem uns umgebenden Leben, wenn wir die Augen offenhalten, sehen können, und die dagegen eifern, tun es häufig im Bewußtsein eigener Schuld. In Goethes ideal angelegtem Wesen lag gemeine Sinnlichkeit nicht, immer sprach sein Herz mit. Man lese nur aus den ersten Jahren der Verbindung mit Christianen seine Briefe, die Epigramme und Elegien, die Metamorphose der Pflanzen usw., wie sich überall die Wärme und Zartheit seines Gefühles offener und verhüllter ausspricht, wie er bangt um die verlassene Geliebte, wie ihr Bild ihn umschwebt, mit ihm reist usw. Später wurde sie ihm gleichgültiger, wie das natürlich ist; aber sie sorgte doch als Hausfrau für ihn und hielt das Störende von ihm ab, daß er Freiheit hatte, seinen Gedanken und Geschäften nachzugehen, und das Leben ihm bequem wurde. Das Übel lag eigentlich nur in der Kleinheit und Kleinlichkeit, den engen Begriffen, dem Gerede und der Gevatterschaft in den beiden Dörfern, die man Weimar und Jena nannte, wo auch die Hintertreppen, die Rückseite der Häuser beobachtet und der Nächste, wenn sich sonst nichts an ihm fand, wenigstens tapfer verleumdet wurde. Besonders die gebildeten Frauen verstanden das Klatschen und Beurteilen in Weimar so gut wie anderswo: es war nur ein Echo der Weimarer Stimmung, wie z. B. Ernestine Voß, geborene Boie, aus Heidelberg an Schillers Witwe schrieb, 14. August 1805: »Goethe ist nicht bestimmt, das Wohltätige, was herzliche Verbindung geben kann, sich zu eigen zu machen; ich beneide auch seine einsamen Stunden nicht, denn er muß doch manchmal eine dunkle Ahnung davon haben, daß es nicht gut ist, daß der Mensch allein stehe. Ich habe auch keine Sehnsucht nach seiner Nähe; mir ist gottlob die Welt noch nicht wieder so eng gewesen, als in seinen Zimmern!« (weil er nicht auf gehörige Art verheiratet war). Um wieviel menschlicher dachte doch die alte Frau Rat in Frankfurt, trotz ihrem alttestamentlichen Bibelglauben, als alle die genannten selbstgerechten, englisch-deutschen Damen! Sie nahm Christiane so herzlich und freundlich auf, als wäre sie wirklich ihre Schwiegertochter, und ebenso den jungen August, als wäre er ihr richtiger Enkel. »Grüße Deinen Bettschatz«, schreibt sie, süddeutsch-natürlich, ihrem Sohn am 19. Januar 1795. – Psychologisch und sittlich viel dunkler als das Verhältnis zu Christianen finden wir den zwölfjährigen Liebesbund mit Charlotte von Stein – weil der letztere mit der immer reinen Natur nicht in so hellem Einklang zu stehen scheint als jenes. Wenigstens bleibt in dieser Liebe, aus welchem Gesichtspunkt sie auch erklärt werden mag, immer etwas Rätselhaftes. Liest man die lange Reihe jener herrlichen Briefe an die Geliebte – und Goethe hat in dem gewaltigen Umkreis seiner Dichtung nichts Schöneres geschaffen –, so muß man bei Genuß derselben immer vergessen, wer der Gegenstand dieser Anbetung, die Empfängerin dieser innigen und süßen Geständnisse war – worüber wir schon im obigen einiges bemerkt haben. Sie war die Gattin eines andern, sieben Jahre älter als der Dichter, Mutter von ebensoviel teils lebenden, teils verstorbenen Kindern, oft kränklich, selten heiter und nicht ohne die Schwächen ihres Geschlechts. Im Jahre 1787, wo er ihr aus Palermo schrieb: »Lebe wohl, Geliebteste, mein Herz ist bei Dir«, stand sie im 45. Lebensjahr, und im Mai 1789, als der Dichter vor weniger als einem Jahre aus Italien zurückgekehrt war, konnte sie ihre Silberhochzeit feiern, zu der, wenn auch nicht silberweißes, doch wohl graues Haar das Geziemende ist. Auch an den Herzensverirrungen, zu denen der Dichter während der Jahre des 19. Jahrhunderts, teils bei Lebzeiten, teils nach dem Tode Christianens, hingerissen wurde, und an ihrem dichterischen Ausdruck können wir keinen ganz reinen Anteil nehmen, und zwar aus demselben oder, wenn man will, dem umgekehrtem Grunde, dem Mißverhältnis des Alters. Doch waren es diese nicht, die den Dichter in bösen Ruf brachten, denn sie wurden wenig bekannt, sondern, wie bemerkt, das illegale Verhältnis zu Christianen. Goethe war der Dichter der Liebe, wie er sich selbst nennt, und die Liebe im vollen Sinne ist jedesmal unsittlich, wenn sie gedruckt oder gesprochen wird, den Alltagsbegriffen der Gesellschaft sich nicht fügt und vor dem Antlitz der Welt offen daliegt.
Da die »Wahlverwandtschaften« in sittlicher Beziehung für besonders verwerflich galten und bei vielen noch gelten, so greifen wir zu diesem Werke zurück und schließen gleich die Tragödie Faust an, die ungefähr gleichzeitig mit jenem Roman oder nicht lange vorher erschienen war.
Die Wahlverwandtschaften sind ein Kunstwerk im höchsten Sinne, das durch leise, innere Organik wie ein sich selbst schaffendes und bildendes Naturwerk vor uns hintritt. Die Personen spinnen unbedacht und willenlos ein Netz um sich her, aus dem nur der Befreier Tod sie lösen kann. Indem sie sich dem dunklen Zuge der Naturgewalt hingeben, treiben sie dem tragischen Verderben entgegen; sie lehren uns, daß nur durch sittliche Freiheit und die Herrschaft über sich selbst der Mensch dem Andrang blinder Kräfte, dem gleichsam chemischen Zwange der Verbindungen und Trennungen sich entzieht. Da der Roman diese Wahrheit nicht durch nackte Sittensprüche oder in ausdrücklicher Predigt, sondern durch Schicksale und Bilder des Lebens verkündigt, so wurde die Menge der Zeitgenossen davon nichts gewahr, sondern hielt sich an einzelne Szenen, die der Konvenienz zuwiderliefen, und so wurde die ganz und gar von ethischem Gefühl eingegebene Dichtung als unmoralisch, abstoßend, empörend, das Heiligste, wie die Ehe, verhöhnend, dem allgemeinen Unwillen preisgegeben. Auch höher gebildete Leser, von denen man ein anderes erwarten durfte, teilen diese Ansicht; nur Schelling, der Naturphilosoph, fühlte hier eine Luft wehen, wie im Reiche seines eigenen Denkens. Jacobi aber schrieb z. B. an Voß, 18. Dezember 1809: »Was sagst Du zu Goethes Wahlverwandtschaften? Schelling ist ganz davon entzückt; mir ist das Buch im ganzen ein Ärgernis, ob ich gleich das darin einzeln zerstreute Gute und Schöne wohl zu schätzen weiß.« Aufrichtiger und kräftiger als an Voß schrieb er seinem Anhänger Köppen, der, zuerst Theolog und Prediger, jetzt als Professor in Landshut lebte und in einer eignen Schrift Schellings Philosophie widerlegt hatte, 12. Januar 1810: »Die zwiefache Ähnlichkeit des Kindes und ihre Ursache hat uns im höchsten Grade empört, und diese Angelegenheit ist doch die Seele des Buchs. Wir können das Göttliche und Himmlische an Ottilie nicht senden und sprechen es ihr geradezu ab, weil sie den armseligen Eduard so überschwenglich lieben kann. In dem ganzen Roman ist keine Figur, an der man ein wahres Wohlgefallen haben könnte. Charlotte und der Hauptmann werden sich nur aus lieber langer Weile gut, denn sie können im Grunde sich nicht leiden. Desto ärgerlicher und ekelhafter wird der doppelte Ehebruch, der den Knoten des Stücks ausmacht. Dieses Goethesche Werk ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit, man dürfte sagen, die Himmelfahrt der bösen Lust.« Wenn Helene Jacobi an Johanna Fahlmer, verehelichte Schlosser, schrieb: »Die Tugenden dieses Menschen (Goethes) werden wohl immer nur Modifikation bleiben, da der einzige Grund und Boden, ein reines höheres Gefühl, ihnen zu frühe entzogen wurde«, so war ihr dieses Urteil sicherlich von ihrem sehr eitlen, über Goethes freundliches Verhältnis zu Schelling erbitterten Gatten eingegeben. Nicht viel anders als Jacobi und Köppen nebst Frau muß Herders Witwe über den Roman gedacht haben. Wir sehen dies aus einem Briefe Wielands an sie. »Mit lebhaftem Interesse«, schreibt er, »habe ich Ihr Urteil über Goethes Wahlverwandtschaften gelesen und wie so oft den Scharfsinn Ihres Verstandes bewundert, der immer dem Herzen die Wagschale hält und, wo Sie wollen, dominiert. Das scheint mir der Fall mit Goethes genialischem Geistesprodukt gewesen zu sein. Da Ihnen die moralische Tendenz so wenig als mir gefallen konnte, wollten Sie sich auch durch nichts mehr rühren lassen, und Ihr feiner Witz behielt die Oberhand. – Gerne gebe ich Ihnen zu, daß die Stellen, welche Sie vorzüglich choquiert haben, auch mein Gefühl beleidigten, allein ich bin toleranter im Punkt der Liebe, als meine strenge Freundin. Was ich nicht selbst erfahren, kann ich mir dennoch als möglich denken, und ich finde die Nüancen der Entstehung dieser im Anfange so unschuldigen Neigung so zart und fein, daß sie, wie mich dünkt, die zartesten Seiten des menschlichen Herzens berühren. Mir schauderte innerlich davor, daß ein so reines, unschuldiges Kind, als diese Ottilie, so verstrickt werden konnte, und ich finde den Gang ihrer Empfindung nicht natürlich. Auch die Liebe, welche sie dem neuen Ankömmling beweist, alles bürgt für die Reinheit ihrer Gefühle für Eduard. Dieser Eduard aber wäre mein Mann auch nicht, er zeigt am unrechten Ort Kraft und Festigkeit, doch scheint es mir, Goethe wollte auch keinen Helden aus ihm machen. Er schildert ihn wie alle übrigen Personen mit allen ihren Mängeln und Gebrechen und liebenswürdigen Eigenschaften. Das Leben und Weben dieser Personen geht so natürlich an uns vorüber. Wir glauben sie spielend auftreten zu sehen, und ich gestehe Ihnen, meine Freundin, daß ich dieses wirklich schauerliche Werk nicht ohne warmen Anteil zu nehmen gelesen habe.« Dieser Brief ist ganz unlogisch, und die Urteile darin widersprechen sich immerfort selbst. Man sieht, daß Wieland das Werk bewunderte und von ihm ergriffen war, aber der moralischen Frau Caroline gegenüber sich wenden und winden mußte. Da er nicht aus Lübeck oder Bremen oder Braunschweig und Göttingen stammte, auch kein Engländer war, so machte ihm die Dialektik des Ehe- und Geschlechtsverhältnisses, wie der Roman sie enthielt, keine Schmerzen.
Der Faust, wie wir ihn jetzt haben, und wie er für das Höchste gilt, das Goethe und die neuere Poesie geschaffen, erschien zuerst im Jahre 1808. Bis dahin war das Gedicht ein Fragment gewesen, 1790 zuerst gedruckt, dem sehr wesentliche, überaus schöne Stücke fehlten. Es erregte in dieser fragmentarischen Gestalt keinerlei Aufsehen, einige nahmen es sogar mit Achselzucken auf. Der ästhetische Philolog Heyne in Göttingen meinte, es kämen darin Dinge vor, die nur derjenige habe in die Welt schicken können, der alle anderen neben sich für Schafsköpfe ansehe, und sein Schwiegersohn Huber erklärte das Ganze für ein »tolles, unbefriedigendes Gemengsel« Es war derselbe Huber, der später von Goethes Eugenie urteilte, sie sei »marmorglatt und marmorkalt«. Ein oft wiederholtes, aber ganz verkehrtes Wort, denn kalt ist dies Drama ganz und gar nicht, und manches andere Werk Goethes ist der äußern Form nach vollendeter.. Auch Wieland und der damalige Schiller waren enttäuscht, und Körner in Dresden schrieb dem letzteren beistimmend, der Bänkelsängerton, den Goethe gewählt habe, verleite ihn nicht selten zu Plattheiten, die das Werk verunstalten. Bei den Romantikern herrscht Stillschweigen über das Fragment; höchstens verraten Anspielungen, daß es ihrer Aufmerksamkeit nicht ganz entgangen war, ohne indes, wie Wilhelm Meister, zur Quelle der Begeisterung für sie zu werden. Erst die Philosophie war es, die im Faust die Krone von Goethes Schöpfung erkannte, indem sie darin ihr eigenes Wesen dichterisch widergespiegelt fand. Aus Jena schreibt Schiller am 16. März 1801: »Auf den Faust (d. h. auf die Fortsetzung desselben) sind die hiesigen Philosophen (Schelling und sein Freund Hegel) ganz unaussprechlich gespannt.« Ein Jahr darauf sagte Schelling in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (sie wurden im Sommer 1802 in Jena gehalten), elfte Vorlesung am Schlüsse: »An jenen Widerstreit, der aus unbefriedigter Begier nach Erkenntnis der Dinge entspringt, hat der Dichter seine Erfindungen in dem eigentümlichen Gedicht der Deutschen (dem Faust) geknüpft und einen ewig frischen Quell der Begeisterung geöffnet, der allein zureichend war, die Wissenschaft zu dieser Zeit zu verjüngen und den Hauch eines neuen Lebens über sie zu verbreiten. Wer in das Heiligtum der Natur eindringen will, nähre sich mit diesen Tönen einer höheren Welt und sauge in früher Jugend die Kraft in sich, die wie in dichten Lichtstrahlen von diesem Gedicht ausgeht und das Innerste der Welt bewegt.« Auch Schiller, der unterdes gleichfalls Philosoph geworden war, obgleich nur Kantischer Reflexionsphilosoph, dann den Freundschaftsbund mit Goethe geschlossen hatte und eben im Begriff war, aus den unterirdischen Gängen an das Licht der Sonne zurückzukehren, schrieb schon im November 1794: »Mit nicht weniger Verlangen (als den Anfang Wilhelm Meister) würde ich die Bruchstücke von Ihrem Faust, die noch nicht gedruckt sind, lesen; denn ich gestehe Ihnen, daß mir das, was ich von diesem Stücke gelesen, der Torso des Herkules ist. Es herrscht in diesen Szenen eine Kraft und eine Fülle des Genies, die den besten Meister unverkennbar zeigt, und ich möchte diese große und kühne Natur, die darin atmet, soweit als möglich verfolgen.« Goethe mußte diese Bitte abschlagen; er wagte nicht, das Papierbündel, das den Faust enthielt, aufzuschnüren; auch nur hineinzublicken fehlte ihm der Mut, geschweige denn, eine Fortsetzung zu versuchen. Auf Schillers wiederholte Bitte (Januar 1795) bleibt Goethe stumm, aber im August desselben Jahres verspricht er für das Schlußheft der Horen etwas vom Faust, »wenn es möglich wäre« – »mit diesem letzteren«, setzt er hinzu, »geht mir's wie mit einem Pulver, das sich aus seiner Auflösung nun einmal niedergesetzt hat: so lange Sie dran rütteln, scheint es sich wieder zu vereinigen, so bald ich wieder für mich bin, setzt es sich nach und nach zu Boden.« Doch blieb es dabei, und der Wunsch schien unerfüllbar. Da, im Sommer 1797, kommt plötzlich die Anwandlung über ihn, den Faust weiterzubringen – es war die Zeit der Balladen, und der Zauberlehrling, der damals entstand, klingt wie ein Stück Faust –, und er bittet Schiller, ihm das Vorhandene und wie es sich fortführen lasse zu deuten. In den folgenden Jahren arbeitet dann der Dichter abwechselnd an dem Drama, das in seiner lockern Struktur und nach seinem halb lyrischen Charakter jeder Stimmung an irgendeiner Stelle entgegenkam – bis dann im Jahre 1808, wie gesagt, der Faust in seiner jetzigen Gestalt ans Licht trat. Vergleicht man diese Fortsetzung mit der ursprünglichen Dichtung, soweit sie in Frankfurt gediehen war, so müssen vor allem auch diejenigen Szenen, die wegen eines fehlenden Mittelgliedes oder Schlusses noch zurückbehalten waren, auf die erstere Seite, die der Jugenddichtung, gestellt werden. Es sind dies Szenen, die durch unmittelbare Energie des Lebens besonders hervorglänzen: die Spaziergänger vor dem Tor am Osterfest, Valentins Monolog und Tod, Gretchen im Kerker. Die erstgenannte Szene ging etwa bis zu Wagners Worten: am Abend schätzt man erst das Haus; in der zweiten fehlte die Mitte vom Erscheinen Fausts mit Mephistopheles bis zu ihrem Verschwinden; die letzte war wohl noch bloß in Prosa angelegt und ohne den Schluß mit den religiösen Anklängen. Direkte Zeugnisse sind für diese von uns angegebenen Teilungen nicht vorhanden, und wir urteilen nur nach dem Stil und der poetischen Macht, die hier und dort waltet. Auch in den schon fertigen Stücken war kurz vor dem Druck von 1790 dies und jenes eingeschoben worden, so in Auerbachs Keller, einer Szene, die zu den meisterhaftesten des Dramas gehört, die vier Zeilen: »Das Volk ist frei, seht an, wie wohl's ihm geht« bis »wird sich gar herrlich offenbaren« – die mit der Hexenküche gleichzeitig sein müssen. Es war für das Faustdrama ein Unglück, daß der Dichter um die Zeit, wo er in vollster Schöpferkraft stand und die Gegensätze, die Wonnen und Schmerzen, die Schicksale und Erfahrungen, die das Gedicht uns vorhält, sein eigenes Gemüt im Tiefsten beunruhigten, daß gerade damals sein Lebensweg eine Wendung nahm, die ihn plötzlich in eine ganz andere Welt versetzte. Er wurde nach Weimar entführt – und wäre dies nicht geschehen, so hätte ihn Lili und die notwendige Trennung von ihr über die Alpen nach Italien getrieben – in beiden Fällen war Faust verloren, ein unvollendetes Denkmal der blühenden Frühlingszeit seines Denkens und Dichtens. Dann vergingen Jahre und wieder Jahre, er sah die Welt und sich selbst mit andern Augen an, und da nahm er die alten vergilbten Papiere wieder vor, suchte den Faden zu finden und sich in die erloschene Stimmung, so gut es ging, von neuem zu versetzen. Und wirklich, er brachte sein Gedicht allmählich zu einer Art Schluß, wenigstens zu einem ersten Teil. Bedenkt man, daß Goethe nichts Vollendetes ohne innern Anteil schaffen konnte und eben dadurch der große Dichter war An Lavater 1774: »Du forderst ein wunderlich Ding: ich soll schreiben, wenn ich nicht fühle, soll Milch geben, ohne geboren zu haben.« (Liegt hierin nicht der ganze Goethe?), so muß man die Geschicklichkeit bewundern, mit der hier ein scheinbares Ganze leidlich zustande gebracht war; aber unlöslich war die Aufgabe dennoch, und als Kunstwerk oder organisches Ganze steht der Faust den übrigen großen Schöpfungen des Dichters in jeder Beziehung nach. Und auch von der Einheit und Architektonik ganz abgesehen, ist die eigentliche poetische Kraft in den ursprünglichen und den zugedichteten Partien sehr ungleich, in den letzteren merklich schwächer. Das Drama erinnert hierin an das altgriechische Epos, wenn man die späteren Rhapsodien von den ältesten unterscheidet, oder an die Fortsetzer mittelhochdeutscher Gedichte, z. B. an die echten Bruchstücke des Titurel und die Ausführung des späteren Nachdichters. Zwar herrscht auch in Egmont ein doppelter Stil, aber es ist eben der Unterschied des Stiles, nicht des dichterischen Vermögens, und so vergleicht sich dies Stück passend den Kirchenbauten des Mittelalters in ihrem Übergang vom romanischen zum gotischen und von diesem zum antiken Stil, wo z. B. eine gotische Grundlage mit Renaissance-Ornamenten sich bekleidet. Im Faust aber sind, bei aller Bemühung, den allgemeinen Ton und Stil festzuhalten, die neuen Szenen doch nicht von dem Zauberhauch unwiderstehlicher Lebenswahrheit umwittert wie die alten. Goethes Werke, wenn man ihre ganze Reihe überschaut, sind alle der Ausdruck und ein Zeugnis der jedesmaligen Altersstufe, auf der jedes einzelne entstand. Faust war ein Jugendgedicht, das der Wolfischen Ästhetik, der toten Regel und dürren Universitätsgelehrsamkeit gegenüber für Unmittelbarkeit des Gefühls und Herzens kämpfte – wie hätte es sich im Mannes- und Greisenalter fortsetzen lassen? Die Hexenküche, von dem Dichter angeblich im Garten der Villa Borghese geschrieben – ganz wahr kann diese Notiz nicht sein, denn die bittern satirischen Züge, die politischen Anspielungen, die Ausfälle gegen das Publikum und die Poeten entsprangen erst der Verstimmung, die ihm der Stand der deutschen Dinge gleich nach der Rückkehr bereitete –, ist doch der verwandten Szene in Auerbachs Keller bei weitem nicht ebenbürtig: der Frische und dem Humor in jedem Reim und Wort und jeder Wendung dort liegt hier ein Überfluß des Zauberwesens, mancherlei Fremdartiges und Gewöhnliches gegenüber, in dem sich die künstliche Versetzung in ein längst verlassenes Phantasieland verrät. Auch der innere Sinn und Gedanke ist in manchem Betracht ein anderer geworden. In den älteren Teilen ist Mephisto nicht das Prinzip des Bösen, der Negation, der Sünde, nicht eine metaphysische Potenz, sondern ein ironischer Weltmann, der dem schwärmenden Dichter Faust mit viel Verstand die Bedingungen der Wirklichkeit entgegenhält; der, wenn jener in Kenntnis und Genuß die endliche Vermittlung verschmäht und das Unendliche unmittelbar als Ganzes fassen will und damit nichts erreicht und nur Unglück schafft und Schuld auf sich lädt, als launiger Lebemann den Kribskrabs der Imagination verlacht, in seines Gefährten Liebeszärtlichkeit und Sehnsucht den verhüllten animalischen Trieb, in dessen hohen Worten oft genug das innerlich Hohle erkennt und endlich auch von einer kleinen Lüge, wenn ohne diese der Zweck nicht erreicht werden kann, nicht viel Aufhebens macht. Beide, Faust wie Mephistopheles, waren ja nur die beiden kontrastierenden Seiten in des Dichters eigenem Wesen, die in ihm kämpften und ihn hin und her warfen, so daß bald das Herz, die Wärme des Gemüts, die religiöse Hingabe, der Drang der Leidenschaft, bald wieder die kühle Überlegung, das Anerkenntnis der Grenze und Schranke und des kausalen Zusammenhanges der Dinge hervortraten. Zwar ist auch dort Mephisto der Teufel, aber die traditionelle Figur gibt dem Dichter nur Gelegenheit, durch Zaubermittel, wie in flüchtigem Scherz, den Gang der Handlung zu beschleunigen und die Motivierung zu erleichtern. Der spätere Mephistopheles aber, der aus der Zeit Kants und Schillers stammt, gibt sich für den Geist, der stets verneint, und wenn er dann mit Faust disputiert, so hören wir die freche Moralisation des Bösen, nicht die in Humor aufgelösten Einwendungen erfahrener Menschenkenntnis. Zu all dem kommt manches Heterogene, das wie ein aufgeladenes, nicht zugehöriges Gepäck die schöne, leichte Urdichtung beschwert – so die Brockenszene, Oberons Hochzeit, die Prologe, die Übersetzung der Logospartie des Ev. Johannes, die Beschwörung des Pudels, Fausts Schlaf und das Pentagramm usw. Bedauerlich ist, daß die akademische Disputation, bei welcher Mephistopheles auftreten sollte, nicht zustande kam: wenn diese die erste Bekanntschaft des Schwarzen mit Faust vermittelte, so wäre dies Motiv gewiß ein ergiebigeres (und zugleich der Sitte des 16. Jahrhunderts konformes) gewesen als die jetzige grobe Anknüpfung durch den Pudel – mag diese auch in dem einen oder dem andern Volksbuch schon gegeben sein. Daß bei all dem auch in der Fortsetzung sich vieles fand, was der glücklichste Humor eingegeben hatte, gereimte Sprüche, die von selbst im Gedächtnis hafteten, Partien, aus älterer Zeit stammend und in die neuen Szenen verwebt, philosophische, treffend ausgedrückte, mit spielender Hand hin und her gewendete Logik und Sophistik – wer wollte es leugnen? Besonders die letztere war es, die den Philosophen, bis auf Hegel und dessen Schule herab, häufigen Anlaß gab, auf das Gedicht zu verweisen, und wenn dann die Grübelei und der Tiefsinn in immer neuen Erklärungen sich desselben bemächtigten und der Dr. Deutobold mannigfachen Unsinn zutage förderte, so hatte dies wenigstens das Gute, die Aufmerksamkeit der Nation auf dies Werk und den Schatz, den sie an demselben besaß, unablässig und immer von neuem zu richten. Doch wirkten die entfalteten Lebensbilder, die flüchtige Farbe des 16. Jahrhunderts, in die diese getaucht sind, die glücklich einander gegenübergestellten Charaktere, die unvergleichliche Wahrheit des Liebesromans von der ersten Anknüpfung bis zum erschütternden Ende – dies alles wirkte mehr als die angeblich darin erschlossenen metaphysischen Rätsel, dem Drama ein allmählich steigendes Ansehen zu erwerben. Viele von den Versen wurden sprichwörtlich; die Malerei warf Szenen und Figuren daraus auf die Leinwand, die Zeichner gaben Umrisse, auch die Musik stellte sich ein; aus Paris kam eine viel belobte Oper, zu der das Gedicht den grob zugeschnittenen Stoff hatte hergeben müssen; als man wagte, die Tragödie selbst auf die Bühne zu bringen, strömten die Leute herbei: sie hatten gehört, das Stück sei etwas ganz Außerordentliches, und wollten es sehen und fanden nun in der Tat Dinge darin, von denen sie allein und sich selbst überlassen wohl nichts gemerkt hätten.
Indem wir die falschen Wanderjahre, die nach kurzem, episodischem Aufsehen dem Urheber nur Schande brachten, sowie die Taten der beiden braunschweigischen Buschklepper, Vogler und Köchy (sie schrieben unter falschem Namen ein gehässiges Buch: »Goethe als Mensch und Schriftsteller«), übergehen – finden wir uns einem allmählich herangeschlichenen neuen Zeitalter gegenüber, dem, wo die Romantik in den politischen Rationalismus umschlug. Die Romantik war ursprünglich aus dem Kampfe mit der Aufklärung hervorgegangen und hatte die Natur und das natürliche Werden und Wachsen gegen die Forderungen und toten Werke des bloßen Verstandes und der abstrakten Willensfreiheit gesetzt. Wenn die Aufklärung die Gesundheit des Publikums hauptsächlich vor Schwärmerei behüten wollte, so hatte die Romantik gelehrt, daß es ein Irrationales, Unmittelbares in Recht und Staat, in Kunst und Sprache, eine konkrete Wissenschaft und spekulative Logik, ein individuelles Standes- und Rassengepräge, kurz eine natürliche Mannigfaltigkeit der Menschen gebe, die durch keine Pädagogik oder legislative Fiktion aufzuheben sei. Die Romantik war ein Vierteljahrhundert lang das Bekenntnis aller tiefer Blickenden gewesen, hatte aber die breiten Schichten gewöhnlicher Menschen nicht durchdrungen. So tauchte das, was die Väter Aufklärung genannt hatten, aus dem Untergrund wieder auf, richtete sich auf Emanzipation des Individuums und nahm den spanischen Namen liberal, Liberalismus an (welches Wort bisher nur den Gegensatz gegen Pedantismus oder Rigorismus bezeichnet hatte). Wie aber die deutschen Deisten und Rationalisten, oft ohne es zu wissen, doch nur Abkömmlinge Voltaires und der Enzyklopädie gewesen waren, so stammte auch die liberale Doktrin aus Frankreich – sie war mit allen ihren Formeln und Begriffen nicht national, sondern französisch und ebenso reine Nachahmung, wie es zu Gottscheds Zeit das regelrechte, in Alexandrinern abgefaßte Drama gewesen war. Und wie die Aufklärung in aller Phantasie und Idee und folglich auch in unserer poetischen Klassik ihre Gegnerin erkannt hatte, so auch ihr Sohn oder Enkel, der Liberalismus: auch dieser dachte und konstruierte mechanisch und wurde der Menge, da er oberflächlich war, leicht verständlich; Natur und Geschichte, auch Schönheit und Kunst lagen völlig außerhalb des Kreises der Demokratie. So mußte diese auch in Goethe, dem höchsten Ausdruck ästhetisch-humaner Sittlichkeit, einen verhaßten aristokratischen Feind finden, und dessen Herrschaft zu stürzen wurde eine ihrer wesentlichen Aufgaben.
Genau um dieselbe Zeit, wo Tieck mit seiner oben besprochenen Einleitung zu Lenzens Schriften die letzte romantische Thronrede über und beziehungsweise wider Goethe gehalten hatte, trat Wolfgang Menzel mit zwei Bänden einer Literaturgeschichte auf, die alles enthielt, was der Moment verlangte, d. h. Romantik und Liberalismus in seltsamem Einklang und Widerspruch durcheinanderspielend. Das Buch war in einer schläfrigen Zeit lebhaft, jugendlich geschrieben, dreist und klar, einseitig und willkürlich in den Urteilen; es sprach ohne Scheu aus, was andere nicht zu sagen, ja kaum zu denken gewagt hatten. Tieck wurde bis in den Himmel erhoben, Voß, auch als Übersetzer, tief herabgesetzt – da zeigte sich der Romantiker; Jean Paul erschien als einer der höchsten Gipfel deutscher Poesie – da war das sentimentale Jenseits mit dem Freisinn im Bunde; Deutschtum und Haß gegen die Welschen, auch Mystik fehlte nicht; Moral (was man unter Moral verstand) und Gesinnung in Sentenzen und Charakteren zogen den Verfasser zu Schiller, gerade an dieses Dichters schwachen, nicht an dessen starken Seiten fand der Kritikus Gefallen und beachtete in seiner anmaßenden Oberflächlichkeit nicht, daß der abstrakten subjektiven Freiheit mit Notwendigkeit ihr Zwillingsbruder, der Fatalismus, zur Seite tritt, und daß sich beides nicht poetisch, sondern nur rhetorisch behandeln läßt; um Goethe aber geht er, wie um ein verschanztes Schloß auf einem Berge, mit gerunzelter Stirn herum und wirft verächtliche Blicke hinauf; er vermißt an ihm Sittlichkeit, Vaterlandsliebe, Freiheits- und religiösen Sinn; poetisches Genie kann ihm nicht zugestanden werden, wohl aber wegen der Mannigfaltigkeit seiner Werke Talent, d. h. Geschicklichkeit, sich der äußeren Formen zu bemächtigen und so die Unkundigen mit dem Scheine schaffender Genialität zu täuschen Erst einige Jahre nach Menzels Buche wurden die Briefe von Goethe an Lavater gedruckt. Darin befand sich eine bemerkenswerte Äußerung vom Jahre 1760: »Bei Gelegenheit von Wielands Oberon brauchst du das Wort Talent, als wenn es der Gegensatz von Genie wäre, wo nicht gar, doch wenigstens etwas sehr Subordiniertes: wir sollten aber bedenken, daß das eigentliche Talent nichts sein kann, als die Sprache des Genies.«. Mit diesem eben so frechen als einfältigen Urteil war der Zauber gebrochen, den seit dem Anfang des Jahrhunderts die romantische Schule um Goethe verbreitet hatte, und der unzählbaren Menge phantasieloser Verstandesmenschen, frommen Weibern, für Schiller schwärmenden Jünglingen und Mädchen, den noch übrigen Kantianern, den theologischen Feinden irdischer Lebensfreude usw. jetzt der Sinn geöffnet und die Zunge gelöst. Wolfgang Menzel wirkte weiter und tiefer, als vorher Pustkuchen vermocht hatte – er schrieb besser, war auch kein Pfaffe, wie dieser, und hatte im Cottaschen Literaturblatt ein Organ, wo er in unermüdlicher Wiederholung dem leicht vergessenden Lesepöbel seine Meinungen immer von neuem einprägte. In seiner Geschichte der Deutschen behauptete er z. B., Bonaparte habe in Ägypten in müßigen Stunden den Werther, den »bekannten sentimentalen Roman Goethes«, gelesen und aus dessen weiter Verbreitung in Deutschland geschlossen, daß »eine Nation, die solche jämmerliche Bücher lieben und bewundern könne, durchaus weibisch und kindisch müsse geworden sein« – woraus hervorging, daß an den Napoleonischen Kriegen und den Niederlagen von Austerlitz und Jena eigentlich Goethe schuld war. Zwar blieb einiger Widerspruch gegen den jungen teutonischen Burschenschafter und Turner nicht aus: A. W. Schlegel schleuderte ihm in einem Epigramm seine ganze Verachtung ins Gesicht, und wissenschaftlich machte ihm D. Fr. Strauß im zweiten Heft seiner Streitschriften für immer den Garaus – aber dies störte den populären Zug nicht, der den Demos von nun an immer weiter abwärts von Goethe führte. Mit der Julirevolution, kann man sagen, war die poetisch-romantische Ära geschlossen und die der politischen Tribunen angebrochen. Auch die Philosophie, die scheinbar in Blüte stand, konnte der Bewegung gegenüber nicht standhalten. Die beiden Schulen Schellings und Hegels, die im Grunde nur eine waren, obgleich sie sich so gern bekämpften, wie einst die Reformierten und Lutheraner, verehrten in Goethe den großen Dichter, der mit ihnen auf demselben idealen Boden stand, und in dessen Bildern und Anschauungen sie ihre eigenen, in Schönheit gekleideten, philosophischen Denkbestimmungen erkannten. Indes, jede Philosophie, die diesen Namen verdient, ist eine esoterische Lehre, nur für Auserwählte geeignet; auch zeigte sich bald, wie wenig die Logik Hegels, so tiefsinnig sie ist oder vielmehr eben deshalb, Wurzel geschlagen hatte: denn, als in Preußen der Thronwechsel erfolgte und die äußern Umstände sich änderten, waren die Anhänger nach allen Seiten zerstoben – ein sehr lehrreiches Beispiel! Ja, ein Teil der Schule ging selbst zum französischen Liberalismus in Staat und Kirche über und ließ sich von der Strömung der sogenannten öffentlichen Meinung verjüngen und zugleich verflachen – und wäre dieser Abfall nicht erfolgt, die ganze Schule mit ihrem Goethe-Kultus wäre noch schneller, als es in der Tat geschah, von der Bühne verschwunden.
An den wachsenden Einfluß Frankreichs, das wieder das Musterland wurde, schloß sich eine andere folgenreiche Erscheinung an – das Auftreten und endlich die übergreifende Macht des Judentums in Literatur und Wissenschaft, in Leben und Gesinnung. Die Juden kämpften für die Freiheit, denn sie fühlten, daß mit dieser auch ihre, der Juden, Herrschaft gegeben sein mußte. Doch war dies nur das eine Motiv: das andere tiefere lag in der Verwandtschaft des Liberalismus mit dem jüdischen Stammcharakter. Auch der Jude denkt verständig und geht überall auf isolierende Scheidung, nicht auf genetisch-organischen Zusammenhang aus. Wie die natürlichen und historischen Prozesse, so liegt auch die Kunst dem jüdischen Genius fern: die Wellenlinie der Schönheit, ihre innere Harmonie und geschlossene Form bleibt diesem springenden, aufreihenden, in Witzen, Sprüchen, Sinnworten sich äußernden Geiste unerreichbar, und was Lessing in einem Briefe an Campe von seinen eigenen Schriften sagte: »Noch so viel Blitze machen doch keinen Tag«, paßt trefflich auf das jüdische Denken und Schreiben. Während nun in der Zeit vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution und nachher das Judentum durch geniale Finanz, mit scharfem Blick für die Schwächen fremder Völker und den daraus zu ziehenden Nutzen, in ungeheurer Akkumulation des Reichtums allmählich seine Weltherrschaft gründete – trat es auch auf dem Gebiete der Literatur in zwei glänzenden Gestalten auf, die Zeitgenossen blendend, eine neue Epoche eröffnend, mit Jubel empfangen. Da beide, Börne und Heine, die Zeichen Israels in eminenter Schärfe und Deutlichkeit an sich trugen, so glichen sie einander wie zwei Brüder und bewunderten anfangs gegenseitig ihre blanke Rüstung. Sie verfügten über einen Witz, wie ihn die vielen Millionen Deutsche in langen Jahrhunderten, wenn sie all ihr Können hätten zusammenlegen wollen, nicht entfernt aufzubringen vermocht hätten, und dieser Witz richtete sich stechend, da der Witz überhaupt stechend ist, gegen alle ererbten, in langsamem Wachstum von der Zeit geschaffenen und von der Volksnatur gegebenen objektiven Bildungen und Mißbildungen. Künstler waren Heine und Börne nicht, auch nicht Humoristen; zu dem letzteren fehlte es ihnen an Idealität, zu dem ersten an Tiefe und Ruhe; sie arbeiteten im Augenblicklichen und Gelegentlichen, in Briefen, Fragmenten, kleinen Aufsätzen, Kritiken, Bildern von der Reise, Berichten über Kunstausstellungen usw., alles nur geistreiche, elektrische, zuckende Capriccios. Sie waren, wie alle ihre Stammesgenossen, geborne Journalisten – wie denn auch jetzt noch kaum eine Zeitung erscheint, die nicht dieser Hilfe bedürfte. Nach wenigen Jahren aber tat sich ein doppeltes Element auf, das in der jüdischen Anlage liegt, in jedem der beiden Dioskuren wechselweise rein ausgeprägt, und führte sie zu Streit und Feindschaft: das eitel-frivole und das starr-fanatische. Dem einen ist nichts heilig als sein Ich, der andere haßt alles, außer dem einen Punkt, auf dem sein Auge ruht, heiße dieser nun Allah oder das Gesetz oder die Freiheit oder ein anderes Idol. Beide Geistesformen standen dem Gemüt und der Anschauung Goethes so fremd gegenüber wie etwa im Altertum Semitismus und Hellenismus. Wenn der zweite oder spätere Jesaias, der ungefähr in der Zeit Solons oder des Pisistratus lebte, oder der Prophet Ezechiel nach Athen gekommen wären, wie glaubt man wohl, daß ihnen Sitten und Gedanken der Athener, die Gesetzgebung und das politische Streben und Widerstreben, die Schönheit der Jünglinge und Frauen, die Pflege und Übung des Leibes nicht minder als die des Geistes, der Vortrag der homerischen Gesänge und ihr Inhalt, die Götter und ihre Geschichte als mythische, durchsichtige Einkleidung natürlicher und sittlicher Verhältnisse – wie glaubt man, daß dies alles ihnen vorgekommen wäre, auf sie gewirkt hätte? Oder wie hätten Ezra und Nehemia, die Stifter des neuen »Buches der Lehre«, geurteilt, wenn man sie vor die gleichzeitigen Kunstgebilde des Phidias und Polyklet gestellt oder ihnen im Theater die Antigone des Sophokles zu schauen gegeben hätte? Das eine wäre ihnen unverständlich gewesen, das andere profan und abstoßend oder widerwärtig, ein drittes kindisch, ein viertes vergeblich. Ganz ebenso traten die Juden an Goethe heran, in dem neuen jüdischen Zeitalter mußte Goethe weichen und andern die Führerschaft überlassen. Zwar waren, wie schon oben bemerkt, Berliner Jüdinnen, in deren Mitte Rahel Levin, die ersten gewesen, die seine Größe verkündigten, aber nicht, weil natürliche Sympathie sie zu ihm zog, sondern weil der jüdische Scharfsinn, unterstützt durch weibliche, nervöse, sensitive Ahnung, unter den gangbaren literarischen Münzen den Perlen- und Dukatenwert der goethischen Dichtungen am frühesten erkannte. Als Heine auftrat, gab es in Berlin, wo eben der Hegelianismus sich entfaltete, natürlich auch begeisterte Goethe-Jünger, und da es gerade dieselben Personen waren, die auch ihm, dem jungen jüdischen Dichter, freundlich entgegenkamen und ihn aufmunterten, so durfte er diese Berliner Gönner durch Herabsetzung Goethes nicht beleidigen. Börne durchschaute ihn auch darin (16. März 1833): »Goethe, den er so wenig achtet, wie ich, streicht er heraus, um den Berlinern den Hof zu machen.« Später bekannte er, seine Ablehnung goethischer Poesie sei nur Neid gewesen, worin liegen sollte, er sei schon damals ein Anhänger Goethes gewesen und habe nur anders gesprochen. Seine Persönlichkeit also gab er gern preis, wenn er damit die Ehre seines Verstandes und nebenher die Gunst der Gönner retten konnte. Er trat allmählich Goethe ganz an die Seite, und die Huldigung, die diesem Vorgänger zuteil wurde, mußte seinem eigenen Ruhm, seinem dichterischen Prophetenamt zustatten kommen. Goethe hatte eine schöne Prosa geschrieben, von der seinigen sagte er selbst aus, sie sei »göttlich«; auch wurde sie in der Tat aufs äußerste bewundert, gerade weil sie durch und durch manieriert war und nur der Eitelkeit des Schreibers diente; die goethische war als klassisch ganz unjüdisch, d. h. unlebendig und reizlos, oder, wie es Börne ausdrückte, »Goethe spricht langsam, leise, ruhig und kalt. – Sein Lehrstil beleidigt jeden freien Mann. Er ist anmaßend oder ein Pedant, vielleicht beides.« Stand es so mit der neuen Prosa, so verhielt es sich mit der Lyrik nicht anders. Heines Liederbuch und was darauf folgte verdunkelte alles, was Goethe in diesem Fache geleistet hatte: Heines Wendungen und Witze, seine sentimentalen Anwandlungen lebten im Munde jedes Studenten, jedes Verliebten und aller Juden, die immer zahlreicher das literarische und journalistische Feld bezogen. Zwar gehört Gemüt zu schöner Lyrik, und Heine besaß keines – die »tief im Herzen heimlich bildende Gewalt«, von der Mignon singt, kannte er nicht, wohl aber war ihm das Talent der Nachbildung in hohem Grade gegeben. Wie mancher seiner Stammesbrüder mit der Zunge so kunstreich schnalzen kann, daß man wirklich eine Nachtigall zu vernehmen glaubt, wie ein anderer Art und Stil »berühmter Muster« genau und treffend wiedergibt, wie in langen Jahren der »Kladderadatsch« in allen lyrischen Formen aller Dichter und Dichterschulen meisterhaft sich erging – so wußte auch Heine die einfältige Treue des Volksliedes, die Phantasien und Fratzen E. Th. A. Hoffmanns und der Romantik, Goethes Herzenslaute und melodiösen Gesang mit so virtuoser Kunst nachzupfeifen, daß man sich täuschen ließ und die Simili-Steine für echte hielt. Man glaubte an Heines Seelengrazie und bemerkte die Gemeinheit nicht, die überall, aus allen Winkeln seiner Schriften, hervorsah; man glaubte auch an seine Schmerzen, seine Sehnsucht, und verkannte, daß diese nur den Zweck hatten, der darauffolgenden Verhöhnung zum Gegenstande oder zur Folie zu dienen, wenn er sang:
Mir ist, als ob ich die Hände
Auf's Haupt dir legen sollt,
Betend, daß Gott dich erhalte
So rein und schön und hold –
so schien es, als wäre hier eine tiefreligiöse und sittliche Regung laut geworden. Heine segnend! Heine betend! Wie wird er sich ins Fäustchen gelacht haben, wenn treuherzig-dumme Germanen sich von solchen Stückchen rühren ließen! Obgleich seine Lyrik eigentlich auf Vernichtung lyrischer Stimmung berechnet war, fand sie doch bei musikalischen Komponisten, die ja auch nicht klüger waren als die übrige Welt, den größten Beifall: Heines Gedichte gingen auf Flügeln des Gesanges von Haus zu Haus und überstrahlten die bescheidenen goethischen Liedertexte, ja sie haben durch Verwilderung des Geschmacks und Zerstörung der Unschuld des Herzens ebensoviel dazu beigetragen, unsern höchsten Schatz, die goethische Dichtung, der Nation zu entfremden, als es in mehr direkter Weise Börne tat.
War Heines Verhältnis zu Goethe ein heuchlerisches und seine Lyrik nur die Entheiligung der goethischen, so hatte Börne mit semitischem Haß, wie ein anderer Hannibal, dem Dichterhaupte den Tod geschworen, damit durch dessen Untergang das Feld frei werde für den jüdisch-französischen Radikalismus. Man braucht in den Briefen aus Paris und den Nachgelassenen Schriften nicht lange zu blättern, um den schnödesten Schmähungen und Beschimpfungen Goethes zu begegnen. Hier einige Proben: »Ich habe Goethe nie leiden können. In seinem Werther hat er sich ausgeliebt, abgebrannt, zum Bettler geschrieben.« Über die falschen Wanderjahre: »Der Verfasser (Pustkuchen) war noch großmütig gegen Goethe, er hätte ihn vernichten können, wenn er gewollt hätte. Er hat nur das Rapier gebraucht statt des Schwertes.« 1821, aus München: »Nächstens wird Goethes Tasso aufgeführt; da will ich mich recht con amore oder eigentlich con odio darüber hermachen.« Schriften, Band 4: »Wahre Liebe kennt er, erkennt er nicht und läßt sie nicht gelten.« – »Ist Goethe glücklich zu nennen? Er ist so arm und so allein!« »Ich möchte nicht Goethe sein, er glaubt nichts, nicht einmal, was er weiß.« »Goethe hat viele Anhänger, er hat als echter Monarch es immer mit dem literarischen Pöbel gehalten.« »Welch ein beispielloses Glück mußte sich zu dem seltenen Talente dieses Mannes gesellen, daß er 60 Jahre lang die Handschrift des Genies nachmachen konnte und unentdeckt geblieben.« »Goethe ist der gereimte Knecht, wie Hegel der ungereimte.« Er läßt sich aus Wien schreiben (natürlich von einem Stammgenossen): »Dieser Mensch ist ein Muster von Schlechtigkeit; und man kann in der Weltgeschichte lange suchen, bis man einen seines Gleichen findet.« »Dieser Goethe ist ein Krebsschaden am deutschen Körper, und das ärgste ist noch, daß alles die Krankheit für die üppigste Gesundheit hält und den Mephistopheles auf den Altar setzt und Dichterfürsten nennt«, und fügt hinzu: »Wie wahr ist das! seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum.« Noch in seiner allerletzten Zeit macht er es Tieck zum Vorwurf, daß dieser »eine dürre, prosaische Seele voller Menschenfurcht und Philisterbedenklichkeiten, ohne Haß und ohne Liebe, ohne Gott und ohne Hoffnung« zum Dichterfürsten gekrönt habe. Da nun Börne, besonders in seinen Pariser Briefen, der eigentliche Führer und Erwecker des revolutionären Demokratismus war, erst im Südwesten, dann auch im Norden Deutschlands, so wurde es fortan Pflicht jedes freisinnigen Mannes, in Goethe den Inbegriff des Aristokratismus, den Höfling und Volksfeind zu hassen und zu verabscheuen.
Gleichzeitig mit Heine und Börne, diesen zwei klugen, mit scharfer Witterung begabten Gnomen, unternahm die Literaturgeschichte in der Person des zu bedeutendem Ansehen und Einfluß gelangten Historikers G. G. Gervinus dasselbe Werk. Er schrieb eine Geschichte der deutschen Dichtung, wie er sein Buch nannte, in nicht dichterischer, sondern moralisch-prosaischer Absicht, wo natürlich alle Größenverhältnisse sich umkehrten. Er schätzte das jedesmalige poetische Produkt nicht nach seinem eigenen inneren Werte, auch nicht als Glied einer fortgehenden Entwicklung, sondern insofern es ein Mittel werden konnte, die ästhetische Stimmung aufzuheben und statt des literarischen ein politisches Zeitalter mit Bürgerfreiheit und nationaler Größe (wie er, Gervinus, sie konstruiert hatte) herbeizuführen Auch die Italiener hatten eine Zeit, wo sie ihre großen Maler und Bildhauer und deren sämtliche Werke und auch ihre Komponisten und Sänger gern den Fremden überlassen hätten, wenn sie nur ein Volk und Ganzes werden und dafür politische Macht hätten eintauschen können. Mit Goethe machten es die Deutschen seit 1840, besonders aber seit 1848 nicht anders.. Obgleich er Schiller des höchsten Preises würdig fand (mit starkem Mißverständnis), so war doch seine Lehre der gerade Gegensatz von Schillers ästhetischer Erziehung: Schiller dachte sich ganz im allgemeinen ein durch Schönheit gewonnenes, harmonisches Gleichgewicht, die Einheit des Moralgebotes und des Naturtriebes, welche, wenn se erreicht worden, den Staat als aufgehobenes Moment in sich begriffe oder völlig ersetzte. Gervinus aber war bemüht, die Nation von dem humanen Ideal zu den geteilten Zwecken und dem Zwist und Zwiespalt politischer Praxis zurückzurufen, und da Goethe dazu nicht dienen konnte, behandelte er diesen Dichter, auf den als das Zentrum alle Strahlen der Darstellung hätten gerichtet sein müssen, mit offener Mißgunst.
Kein tolleres Versehn kann sein,
Gibst einem ein Fest und lädst ihn nicht ein.
Schiller hatte sich aus dem Kantischen Dualismus emporzuarbeiten gesucht, aber gerade die Reste der Kantischen Denkart, die sich bei Schiller noch fanden, legte Gervinus bei seiner Polemik und Panegyrik als Kanon an. Er stammte aus der Schule Schlossers, der, wie bekannt, mitten im neunzehnten Jahrhundert den unhistorischen Nationalismus des achtzehnten vertrat; und wie dieser Oldenburger oder Friese saß er als Richter im Tribunal, zitierte die Poeten mit ihren Werken vor seinen Stuhl und entließ sie, wenn er sie zu seiner politischen Moral nicht brauchen konnte, mit Streitreden und Vorwürfen. Er bekämpfte die Romantik wegen ihrer sittlichen Laxität, aber er selbst war nebenher ein mittelalterlicher Romantiker; er ließ gegen Börne seinen ganzen Zorn aus und war doch ein Geistesverwandter Börnes; nur daß dieser radikal und jakobinisch, Gervinus aber liberal und konstitutionell war, beide nach französischen Ideen und Mustern. Gervinus wurde eine vielstudierte Autorität und mit seiner Doktrin, die Epoche der schönen Seelen sei vorüber und die des Heroismus angebrochen, neben den übrigen badischen und rheinischen Professoren der Führer in dem allgemeinen Umschwung. Und sieht man jetzt, nachdem ein halbes Jahrhundert darüber hingegangen, auf ihn zurück, so muß man bekennen, er war eigentlich ein beschränkter Querkopf, der sich selbst oft eigensinnig das Ziel verrückte; kein rechter Gelehrter, obwohl er als Literarhistoriker viel hatte lesen müssen; ursprünglich ein Kaufmann, und was dem fehlt, holt man bekanntlich nie wieder ein; seine unharmonische Natur malte sich in dem unerträglich harten Stil: man legt seine Bücher mit dem Gefühl aus der Hand, als hätte man sich durch ein Dorngestrüpp durcharbeiten müssen und stünde nun mit zerrissenen Kleidern und zerzausten Haaren da. Aber eben dadurch wuchs sein Ansehen, denn die schöne Form hat in Deutschland immer verdächtig gemacht Arnold Ruge schrieb schon im Winter 1851-1852: »Gervinus ist ein roher Altdeutscher, der Goethe und die Philosophie schon nicht mehr versteht, also auch die Literaturgeschichte zu schreiben keinen Beruf hatte.« (Briefwechsel, herausgegeben von Paul Nerrlich, II, S. 122.).
Großes Aufsehen machte um dieselbe Zeit eine zufällig zusammengeführte Schar von Schriftstellern, die von andern und sich selbst das junge Deutschland genannt wurden. Sie stammten, wie einst die Romantiker, aus Norddeutschland, waren mehr dünkelhafte Räsonneure als Dichter und in ihren Büchern, ihrer Prosa unausstehlich manieriert. Sie besaßen einen mäßigen Verstand, den sie ins Geistreiche zu steigern und mit dem Reiz jugendlicher Frische und Kühnheit auszustatten suchten. Sie waren der schwächere Nachwuchs Heines und Börnes und stellten die aufregende Wirkung dar, die die Morgenrufe dieser beiden Stimmführer auf die angehende literarische Generation gemacht hatten – obgleich unter ihnen, was jetzt unmöglich sein würde, kein einziger Jude war. Doch galt bei ihnen das Vorbild Heines mehr als das Börnes: es war in dem jungen Deutschland, kann man sagen, zwei Drittel Heine gegen ein Drittel Börne. Daher sich auch in ihren Werken nicht sowohl die politische Revolution vernehmbar macht als die Velleität sittlicher und religiöser Emanzipation, die Befreiung der sinnlichen, geselligen, freudigen Seite des Menschen von der angstvollen theologischen Moral und Transzendenz. War dies nur der Widerschein Heinescher Frivolität, so zeichnete sich auch im Verhältnis zu Goethe die ganze Zweideutigkeit der Stellung dieser jungen Literaten. Sie hielten Goethe für den zweiten Heine, für einen Epikureer und ewig blühenden Jüngling, dessen Leben und Dichtung nur dem Genusse schönen Daseins gegolten hatte, und machten ihm daher ein freundliches Gesicht; auch verknüpfte sie noch ein loses Band mit der Hegelschen Schule, die in Goethes Werken die Wahrheit im Schleier der Dichtung verehrt hatte; aber da die revolutionären Parteigänger, an ihrer Spitze Börne, in Goethe ihren eigentlichen Feind haßten, da ihnen auch Gervinus, der ja Professor war, imponierte, so fiel in Gutzkows und der andern Genossen Auslassungen dazwischen manches harte Wort über den hohen Meister, der von ihnen im Grunde sowenig verstanden wurde als von Wolfgang Menzel und G. G. Gervinus In einer Anmerkung mag es erlaubt sein, des Fürsten Pückler zu gedenken, dessen literarische Stellung mit der Goethes einige Analogie zeigt. Durch Welterfahrung, Heiterkeit der Mitteilung, Anmut und Fluß der Darstellung hob er sich unter den meist schweren deutschen Schriftstellern als eine seltene Erscheinung hervor; was Wilhelm Meister in seinem Brief an Werner als Kennzeichen des Adels angibt: »eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen«, gerade dies trifft bei Pückler genau zu und gibt seinen Schriften Gleichgewicht und gefälligen Reiz. Aber er war Fürst, Aristokrat, und damit war in der Zeit des aufstrebenden demokratischen Judaismus sein Schicksal besiegelt. Es fehlte ihm an Glauben und Moral, und daß Goethe sein Erstlingswerk in einer eigenen Kritik gelobt hatte, konnte ihm nichts nützen, sondern nur schaden. Jetzt wird er nicht mehr gelesen – sehr mit Unrecht; hätten wir nur mehr solcher! Das ist die rechte Art, den Franzosen nachzuahmen, wie einst Thomasius gesagt hatte! Wenigstens konnte er deutsch schreiben, welche Fähigkeit jetzt mit Hilfe der Zeitungen ganz verlorengegangen zu sein scheint. Eine vortreffliche Betrachtung über Edelleute, die sich den Musen widmen, und über die Torheit, sie deshalb anzufeinden, im Munde Wilhelm Meisters, Buch 3, Kap. 9..
Nicht lange, so traten von allen Ecken und Enden die lyrischen Freiheitssänger auf, bald rhetorisch und allgemein, bald in Satire sich versuchend, welche letztere aber, mit Heines Geist und Schärfe verglichen, meist recht lahm und trivial war und eben darum ein weites plebejisches Publikum gewann. Zugleich stieg der Einfluß der Zeitungen immer höher, und die Zensur vermochte wenig gegen sie. Was sich in Preußen nicht herstellen ließ, wurde von Leipzig, wo ein oberflächliches, höchst freisinniges und im übrigen bettelhaftes Literaten- und Journalistentum sich gesammelt hatte, eingeschwärzt; was in Deutschland unmöglich war, wurde in der Schweiz gedruckt, und dieser Verkehr war durch nichts mehr zu hemmen. So trieb alles dem Jahre 1848 entgegen, und was seit zwei Dezennien den Leuten vorgeredet und vorgedichtet war und sich allmählich in ihren Vorstellungen festgesetzt hatte, mußte an Goethes hundertjährigem Geburtstage, der in diese erregteste Zeit fiel, am 28. August 1849, deutlich zutage treten. Wie dachte sich das damalige Geschlecht den Mann, dessen Andenken gefeiert werden sollte? Was war er in den Augen der freiheitstrunkenen Menge und derer, die sich zu ihren Führern aufgeworfen hatten? Er war vor allen Dingen Geheimrat und Minister und Exzellenz, trug einen Stern auf der Brust, hielt sich steif und vornehm, besuchte die böhmischen aristokratischen Bäder und verkehrte dort demütig mit dem hohen Adel, ja mit allerhöchsten Personen, ließ seine Werke unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützenden Privilegien erscheinen, galt für reich und hatte nie Mangel gelitten, kannte folglich das Herz des Volkes nicht, brauchte gnädigen Gönnern gegenüber sorgfältig die untertänigen Titulaturen, kurz war ein Feind der Freiheit, ein Söldling, der sein besseres Ich an die Höfe und den Adel verkauft hatte. Auch seine Werke und Gedichte traf der Vorwurf herzloser Kälte: da fehlten alle großen Worte, jeder rednerische Schwung; so wie sie dastanden, konnte kein Mensch an ihnen sich erbauen. Auch der Briefwechsel mit Schiller und Zelter und die Briefe an und von Merck und Riemers Mitteilungen hatten der Meinung keine andere Richtung geben können: sie waren den großen Anliegen des Tages gegenüber zu trocken und gleichgültig. So fand die Säkularfeier von 1849 nirgends freien Anklang, ja, wer dazu aufforderte, wurde mit Zischen empfangen. Kleinere Kreise mochten des Tages weihevoll gedenken, aber nur in der Stille, fern vom Geräusche des Marktes, auf dem kein Festzug sich versammelte, keine Fahne sich entfaltete und ganz andere Dinge verhandelt wurden. Ja, man darf behaupten: das hundertste Jahr nach Goethes Geburt bezeichnet den tiefsten Stand seines Ansehens in der Nation! Es war von der Nichtachtung fast bis zur Verachtung gesunken. Als dann die Erhebung von 1848, dieser politische Kinderstreich, oder richtiger diese nachgeahmte Pariser Mode, schmählich gescheitert und der Rausch hohler Worte zergangen war, konnte leise und langsam der unbegreifliche Zauber, der von Goethes idealer Welt ausging, wieder wirken und einen um den andern ergreifen. Über den Himmel waren Wolken gezogen, bald dunkler, bald heller, und hatten den Stern verhüllt, aber dieser trat immer wieder hervor, seine Strahlen versendend, wurde dann wieder verdunkelt und siegte endlich über alle die Nebel. Einen Wendepunkt bildete der Briefwechsel mit Frau von Stein, der gerade im Revolutionsjahre ans Licht getreten war. Hier blickte man in diese Dichterbrust selbst, in das innerste Heiligtum dieser kämpfenden, ringenden, sich läuternden Seele, und statt des kalten, von niedrigen, selbstsüchtigen Motiven beherrschten Egoisten, wie ihn der Unverstand sich gedacht hatte, erschien hier ein von Phantasie und Gefühl fast überwältigter, immer aber mit allen Kräften sich zu fassen und zu begrenzen bestrebter Schwärmer. Mancher mochte sich der Scham über seine früheren Urteile nicht erwehren, aber diese Umstimmung wurde der Natur der Sache gemäß nicht laut und vollzog sich nur bei einzelnen und besonders Empfänglichen Börne war damals längst tot – was hätte er wohl gesagt, wenn er diese Briefe gelesen hätte? Denn man kann es nicht leugnen, der Jude Börne war doch ein überlegener, durch die Oberfläche dringender Geist, von dem man viel lernen kann, besonders wenn man nichts als ein Germane ist.. In der Öffentlichkeit trieb Gervinus sein moralisch-politisches Wesen fort; was er geschrieben hatte, hatte er geschrieben; sein literarisches Ansehen blieb unerschüttert und bestimmte von einer Literaturgeschichte zur andern Ton und Meinung der Verfasser Selbst Joseph Hillebrand, der von allen Literarhistorikern Goethe am tiefsten erkannte, hat sich von Gervinus nicht ganz frei halten können. Hätte er sonst dem Dichter als Mangel angerechnet, daß seine Helden nicht männlich genug seien! Damals in der Zeit des Tatendranges, wie ihn die politischen Gymnasiasten empfinden, war ja Heroismus das herrschende Ideal: dieses fand im Jahre 1848 Gelegenheit, sich zu bewähren – wir alle wissen wie! Wo Hillebrand selbst spricht, da ist er vortrefflich. Auch sein Sohn Karl Hillebrand erfreut uns in seinen Schriften durch manche schöne und wahre Betrachtung über Goethe.. Neben Gervinus machte sich durch Vilmar in allen Schulen, besonders in den Mädchenschulen, eine andere, nicht minder schlimme Richtung geltend, die der pietistischen Deutschheit. Sein Buch war glatt geschrieben, die Flüssigkeit klar und von angenehm süßlichem Geschmack. Da wurde z. B. der Parzival von Wolfram von Eschenbach mit Goethes Faust verglichen und von dem letzteren geurteilt, er sei das Bild einer Zeit, welche suchte, aber nicht fand, von dem ersteren, er sei das Produkt eines Jahrhunderts, welches gesucht und gefunden hatte. Ist das nicht schön gesagt? Ganz so gesagt, wie es einem Leserkreise gegenüber, der von diesen Märchen des Mittelalters nicht eigene Kenntnis hat und jede Übertreibung gläubig hinnimmt, höchst passend erscheint. So verstärkten sich die liberalen Gegner Goethes von einer andern Seite her durch die Hilfsvölker der Frommen und der teutonischen Antiquare, aber bei all dem ging doch ohne auffallende Katastrophen eine Umwandlung vor sich. Alles hat seine Zeit, und so trat Börne allmählich in den Hintergrund, und Gervinus entfremdete sich durch Hartnäckigkeit die allgemeine Meinung. Wir nähern uns allmählich der Gegenwart und dürfen fragen: Wie steht es jetzt mit der Herrschaft Goethes nicht bloß in der literarisch-ästhetischen Kritik, sondern auch in Gemüt und Gedanken der Nation selbst?
Schiller hatte sich zu dem Ausspruch gedrängt gefühlt, Goethe werde immer nur von wenigen gewürdigt werden können. »Wundern Sie sich nicht mehr,« schreibt er seinem Freunde am 2. Juli 1796, indem er gleich die Gründe hinzufügt, »wenn es so wenige gibt, die Sie zu verstehen würdig und fähig sind.« Und Goethe selbst sagte zu Eckermann, 11.Okotober 1828: »Meine Sachen können nicht populär werden. Wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.« Schon daß Goethe die Frauen kalt ließ, mußte ihn um die Hälfte der Nation und des Beifalls bringen: er war zwar der Dichter des Weiblichen, aber gewann gerade deshalb das Herz der Weiber nicht: sie wollen das Männlich-Persönliche, die schöne Rede und die himmlischen Gefühle und fanden das Verlangte bei Schiller und Jean Paul in der ihnen zusagenden Gestalt. Auch vom Theater her konnte Goethe seine Herrschaft nicht gründen oder erweitern. Feinsinnig formulierte A. W. Schlegel Goethes Verhältnis zur Bühne mit den Worten: »Man muß wohl eingestehen, daß Goethe zwar unendlich viel dramatisches, aber nicht ebenso viel theatralisches Talent besitzt.« Doch ist auch dies nicht ganz wahr. Iphigenie und Tasso wirken auch in der Aufführung mächtig und tief, nur verlangen sie eine erlesene, für feinere Eindrücke empfängliche Zuhörerschaft und edler gebildete Schauspieler, welches beides nur selten zu haben ist. Hierin bewies Schiller seine Überlegenheit: er verstand sich neben seinen poetischen Tugenden meisterhaft auf die demagogische Wirkung. Und ähnlich wie zum Theater standen beide Klassiker zu der Schule. Von Goethes Dichtungen eignen sich nur wenige zum Jugendunterricht – denn was soll z. B. Tasso dem Knaben? –, von Schiller alles oder fast alles. Wenn dann der Schüler später ins Leben hinausgeworfen wird und mit jedem Jahre noch prosaischer wird, als er von Anfang an gewesen, dann erinnert er sich in fröhlichen Momenten des auf der Schule Auswendiggelernten oder vom Lehrer Vorgelesenen und sagt einen Schillerschen Vers her, beruft sich auf eine Schillersche Figur; von Goethe gibt es wohl auch Denksprüche, die der Kaufmann oder Geheimrat im Munde führt, aber er hat sie nicht aus erster Quelle, sondern aus seiner Zeitung, die es selbst von anderswoher hat, und wie oft erfahren solche Zitate Entstellung! Wer gar auf einer Realschule erwachsen ist und kaum etwas verkümmertes Latein besitzt, der steht auf der Stufe des Weibes, und was dieses von Goethe hält, haben wir soeben gesagt. Wiederum kehrt sich die Sache insofern um, als Schiller, eben weil er dem Jüngling alles gegolten hat, von hochästhetischen Köpfen bei erwachender Einsicht oft zu tief herabgesetzt wird. Denn wir sind ja gegen nichts strenger als gegen eben abgelegte Irrtümer. Einen andern Vorteil hatte Goethe durch die Singbarkeit seiner Lieder voraus, da Lyrik und Melodik, das Gegenteil der Rhetorik, dem hochsinnigen Prediger Schiller ganz und gar nicht gegeben war. Nun ist freilich manches Gedicht Goethes, z. B. der Erlkönig, durch die Musik in weitere Kreise getragen worden, aber wie wenig kommt den Sängern auf den Text an, wie hat eine irgendwie ansprechende Komposition auch die elendesten Worte über die Welt verbreitet! Prinz Eugenius, der edle Ritter, hat wenigstens altertümliche Redensarten, die das Gedicht aus dem Gemeinen hervorheben; kann es aber etwas ordinärer Prosaisches geben als: »Es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond«, oder etwas gesuchter und abgeschmackter Naives als: »Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher« –? So verloren sich denn auch die gesungenen goethischen Lieder, deren doch nicht viele waren, unter der Menge der übrigen, und ihr bildender Einfluß war nicht groß. Dasselbe aber, was Goethes gesamte Dichtung für die Jugendschule wenig geeignet machte, dasselbe schaffte einigen seiner Werke unter rohen Männern besondere Beliebtheit. Nur aus diesem Grunde gewannen z. B. die Römischen Elegien eine gewisse Popularität: von der Anmut, durch welche diese Gedichte bezaubern, empfanden die Leser dieser Klasse nichts, wohl aber gefiel ihnen der Stoff im allgemeinen, besonders aber diese und jene Stelle, wo in antiker Weise der Schleier über den holden Geheimnissen der Liebe sich ein wenig lüftet. Ein anderes Beispiel bietet die allgemeine Bekanntschaft mit einem durch Veruntreuung ins Publikum gekommenen Altersgedicht (das Tagebuch); wir unsererseits wissen dasselbe wohl in das Ganze dieses reichen Lebens einzuordnen und ihm die richtige Stelle anzuweisen, aber die heimliche Freude, mit der es unter bedeutungsvollem Schmunzeln von Hand zu Hand geht, ist nur ekelhaft. Wer aus den zahlreichen Ausgaben der goethischen Werke und dem Absatz, den sie finden, günstige Schlüsse ziehen wollte, würde unseres Erachtens fehlgehen. Gekauft mögen sie werden, zu Geschenken mögen sie dienen, zuletzt sind sie doch nur da, aufgestellt zu werden – nicht um in trüben Stunden Erquickung und Trost zu bringen oder dem Gemüte, wenn es sich von dem Schmutz des Tages befleckt fühlt, die ideale Reinheit wiederzugeben. Wenn man gesagt hat, Goethe sei kein Volksdichter, sondern der Dichter der obern Zehntausend, d. h. der geistig obern, so scheint uns diese Zahl noch zu hoch gegriffen. Gäbe es ein allgemeines Stimmrecht über ästhetische Dinge, wie über politische – und das Urteil über erstere ist doch viel leichter als über letztere –, man würde mit Erstaunen sehen, was das Fazit wäre! Auch die Ausgaben mit Bildern, die Gedichte mit Erklärungen rücken den Dichter dem großen Haufen der Gebildeten (d. h. was man so gebildet nennt) nicht näher. Durch die ersteren wird jede luftige, ätherische, von der Phantasie geborene Gestalt des Dichters ins Bestimmte, Körperliche, Gemeindeutliche verwandelt und das wenige, was von poetischem Sinne in dem Leser vorhanden war, durch solche Materialisierung nur getötet. Auch das gefühlvolle, eben konfirmierte junge Mädchen, der Gymnasiast oder der Student, der jugendlich für schöne Literatur schwärmt und durch Heine noch nicht verdorben ist, wenn sie durch Erläuterungen und Lehrvorträge über die Rückseite des Gedichtes, den Boden, in dem es seine Wurzel hat, die äußern Bedingungen seiner Entstehung, den Anlaß und die Zeit, die Herkunft des Stoffes belehrt sind, sie wissen nun Bescheid, haben sich mit der Dichtung abgefunden, können mitsprechen und klug urteilen; der Eingang in den Geist, das Innere ist ihnen eher verschlossen als geöffnet und die keimende Mitempfindung erstickt. Der so vorgehende Prozeß ist der umgekehrte von dem, den die Kunst des Dichters vornahm: dieser hat die persönliche Erfahrung, den äußerlich gegebenen Anlaß oder Gegenstand in die Höhe des Allgemeinen und Ewigen, des Menschenloses überhaupt gerückt, der Erklärer aber ist bemüht, dieses Ideale in dem Geiste des Schülers wieder zu dem Beschränkten und Einzelnen zurückzubilden, wie umgekehrt die musikalische Komposition das gestaltete Bild in eine Schattenwelt auflöst. Blicken wir von dort in die Kreise der Wissenschaft und Gelehrsamkeit, so ist bekannt, daß die Naturforschung sich jetzt als die Herrin und Herrscherin über alles übrige betrachtet. Nun war zwar Goethe auch Naturforscher, aber ihn zog vor allem die Organik an; die seelenlos mathematische Behandlung lehnte er ab und suchte auch in den untersten Stufen die höchsten Lebenserscheinungen wiederzufinden. Darwins Abstammungslehre, die er nicht erlebte, hätte ihn, wie schon Strauß bemerkt hat, mit Freude und Begeisterung erfüllt, und so pflegen denn auch die Anhänger des Darwinismus sich freundlich zu Goethe zu stellen. Anders aber tut die mechanisch-atomistische Naturforschung: diese weiß die unorganischen Kräfte zur Erfindung immer neuer Maschinen zu benutzen, hat auch den Wunderglauben nach Kräften ausgerottet (mit ihm freilich auch alle Idealität), aber in Goethes Werken findet sie zuviel Falsches und gibt zu verstehen, dieser Mann werde überhaupt überschätzt. Darum auch die Bewohner von New York in ihrem Park zwar andern deutschen Heroen Bildsäulen aufgestellt haben, gegen Goethe aber bis auf diesen Tag gleichgültig geblieben sind. In der Tat, da der Gegensatz zwischen Amerikanismus und dem Geiste, den wir in Goethe verehren, ein vollkommener ist, so paßt dieser nach Amerika ganz und gar nicht. Wie den Naturforschern steht Goethe auch den Tagespolitikern gegenüber. Wenn diese den Staat als eine Rechnung ansehen und das Heil jedesmal durch einfaches Zählen ermitteln, welches Zählen denn auch erst durch künstliche Nachhilfe das richtige Resultat ergibt, so äußerte Goethe gegen den Kanzler von Müller, er halte es gern mit der Minorität, da diese in der Regel die gescheitere Partei sei, und gegen Eckermann: »Alles Große und Gescheitere existiert in der Minorität!« In den Jahren 1862 bis 1866 bestand die Minorität zu Zeiten gar nur aus Einem! Und wie urteilte Schiller, der Prophet der Freiheit, der aber noch weit aristokratischer war als sein Freund, über die majestas populi?
Majestät der Menschennatur, dich soll ich beim Haufen
Suchen? Bei wenigen nur hast du von jeher gewohnt.
Einzelne wenige zählen, die Übrigen alle sind blinde
Nieten; ihr leeres Gefühl hüllet die Treffer nur ein.
Was könnten also Volksvertreter, Wahlredner, Artikelschreiber aus unsern größten Dichtern sich holen? Höchstens Vertiefung, und diese würde ihnen bei ihren nächsten Zwecken nur schaden. Sie stehen zu Goethes politischen Einsichten genau so wie einst im vorigen Jahrhundert die Rationalisten zu Goethes Dichtung. Auch historischen Sinn und Geist besaß Goethe nicht, das ist seit Gervinus ausgemacht: die Geschichte ist ja magistra vitae, d. h. sie gibt zu moralischen Gemeinplätzen die Exempel ab. Bismarck äußerte einst (Versailles, am 9. Januar 1871), mit einem Viertel der Goethischen Werke möchte er wohl eine Zeitlang auf einer wüsten Insel leben. Und bei der Rückkehr von da, setzen wir hinzu, würde er wohl auch nach den übrigen drei Virteln Verlangen tragen. Denn wenn man nicht den ganzen Goethe im Auge behält, hat man auch von dem Einzelnen nicht den vollen Begriff und Genuß.
Steigen wir von der Zeitungsfläche einige Stufen aufwärts und treten unter die Literaturhistoriker, so finden wir die alten Verhältnisse ziemlich in Kraft, wenn auch durch Wiederholung das Kolorit minder frisch. Wer eine Literaturgeschichte schreibt, darf es an Belesenheit nicht fehlen lassen, aber für das, was nur das Leben und das eigene innere Schicksal uns lehrt und an uns bildet, hat er keine Zeit gehabt. Seine Welt ist der Schreibtisch und die daraufliegenden Bücher. Kommt er an Goethe, so hat er die Wahl, das Überkommene mit andern, auch wohl denselben Worten wiederzugeben oder, es koste, was es wolle, original und neu zu sein und dadurch geistvoll zu erscheinen. Wenn Goethe in seiner bescheidenen, sich selbst preisgebenden Weise auf irgendein Unzulängliches in seinen Werken hingewiesen hat – da sind sie dahinter her und knüpfen an diesen Haken ihre langgesponnenen, oft groben Fäden an. Wie mancher urteilt und bestimmt, ohne vorher genossen und empfunden zu haben! Menschenkenner, Menschenbeobachter sind sie ohnehin nicht, reicherer Weltstoff steht ihnen nicht zu Gebote, und poetischen Sinn hat ihnen gleich bei der Geburt keine Fee als Mitgift in die Wiege gelegt. Auch was einigen Ersatz hätte gewähren können, das philosophische Studium, ist von dem Historiker nicht zu verlangen, auch pflegt er sich damit nicht zu befassen. Eine Seitenbewegung trat mit der sogenannten Goethe-Philologie ein. Dieser gereicht es zum Ruhm, daß sie sich an Realitäten hält und uns mit schiefen Konstruktionen verschont. Ihrem Eifer ist es zu danken, wenn mancher Zusammenhang aufgedeckt, manches Versäumnis, z. B. mancher Druckfehler, wieder gutgemacht ist. Auch daß sie beflissen ist, überall die Identität von Goethes Dichtung und Goethes Leben aufzudecken, ist eine Bemühung, die, wie wir anerkennen müssen, nur im Dienst der Wahrheit arbeitet. Aber auch die Schwächen, deren sich der Deutsche so schwer enthält, haben sich alsbald eingestellt, der Pedantismus, der Kleinigkeitsgeist, die zusammenhaltende Verbrüderung. Den Wald vor Bäumen nicht sehen – wenn je ein Sprichwort recht hat, so paßt dieses auf manche Erzeugnisse der Goethe-Philologie, die ein ganz alexandrinisches Ansehen haben. Mephisto:
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider nur das geistige Band.
Oder Faust:
Mit gierger Hand nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.
Rembrandt sagte: »An meinen Bildern müßt ihr nicht schnüffeln, die Farben sind ungesund.« Briefe des Dichters ohne große Wichtigkeit wurden mit allen Schreib- und Interpunktionsfehlern, mit genauer Wort- und Zeilenteilung usw. im Druck wiedergegeben, ja, einmal im Zuge, wandte man dieselbe peinliche Sorgfalt auf bloß diktierte, von Schreibershand herrührende Briefe an. So rief das an sich ehrenwerte Bestreben nicht bloß vielfach den Spott hervor, sondern diese Art Philologie schien wirklich die weitere Verbreitung der ihr anvertrauten Geistesschätze erschweren und verhindern zu wollen. Ein Beispiel bieten die Briefe an Frau von Stein. Diese waren von A. Schöll orthographisch gesäubert worden, so daß sie schön und lesbar wurden: einige Inkonsequenzen verzieh man dem geistvollen Herausgeber gern, da sie nicht von Belang waren; auch die vielen undatierten Zettelchen, meist von geringem Inhalt, hatte er angemessen verteilt, ohne uns durch weitläufige Untersuchungen, deren die Sache nicht wert war, zu ermüden. Aber das Buch erschien zu einer ungünstigen Zeit (1848-51), und es vergingen dreißig Jahre, ehe eine neue Auflage nötig wurde. Diese wurde von Wilhelm Fielitz besorgt, der einige Jahre vorher Goethes Jugendbriefe in geschmackvoller Weise bearbeitet hatte, und so durfte man hoffen, er werde auch diesem Werke durch ansprechende Behandlung einen weiteren Leserkreis schaffen. Und was ergab sich? Das reinste Muster von Goethe-Philologie, mehr geeignet, die Bedürftigen abzuschrecken, als sie anzulocken. Waren diese intimen Zuschriften des Dichters an seine Geliebte etwa historische Urkunden, aus einer Zeit, wo es wenige derselben gibt und auch diese nur schwer lesbar sind? Oder waren sie Rechtsdokumente, wo ein mangelnder oder ein hinzugesetzter Buchstabe, eine veränderte Interpunktion für die Advokaten zu Streithändeln Anlaß geben kann? Müssen gerade Goethes Schriften dazu sich brauchen lassen, uns die Schreibweise des 18. Jahrhunderts vor Augen zu stellen? Und gesetzt, es wäre darauf Gewicht zu legen, würde es nicht genügen, wenn in der Einleitung dieser Punkt besprochen und die damalige oder auch Goethes persönliche Gewohnheit angegeben würde, oder in dem seltenen Falle, daß wirklich der Sinn der Rede durch die authentische Orthographie oder Interpunktion sich anders bestimmt, eine Anmerkung unter der Seite den Leser darauf aufmerksam machte? So wie dieser neue Abdruck sich gibt, hat die Schule (im üblen Sinne des Wortes) eine Dornhecke um die Herzensergüsse des Dichters gezogen, auf daß ja kein Unberufener Einlaß finden könne! Mit Blüchers Briefen wurde vor einigen Jahren derselbe Fehler begangen: auch dort hätte die Vorrede über des Helden Orthographie Auskunft geben, ein Brief als Probe in der Urschrift abgedruckt werden sollen; die übrigen hätten uns als Geistes- und Charakterbild dieses neuen Götz von Berlichingen eine Freude bereitet, die durch keine Fratzen gestört worden wäre. So wie sie jetzt sind, lacht man anfangs über die schnurrige Schreibart des alten Kriegsmannes, fühlt sich aber bald ermüdet, läßt das übrige ungelesen, und so verfehlt das Buch gegen den kleinen Anfangsgewinn die erhebende und bildende Wirkung, die es sonst auf die Menge hätte üben können. Ein Glück, daß bei der neuen Ausgabe der Briefe an Frau von Stein der Verleger auf Wiederabdruck der Einleitungen drang, denn Adolf Schöll war ein empfänglicher, poetisch und philosophisch angelegter Mann, den ein inneres Seelenband mit dem Dichter verknüpfte, und an Notizen hat er es ja auch nicht fehlen lassen, wenn sie auch nicht sein einziges Augenmerk waren.
Schauen wir uns zum Schlusse noch im Gebiet der eigentlichen ästhetischen Kritik um, so finden wir uns dort von einer Öde umgeben, die wie der Verfall der Philosophie selbst nicht erfreulich ist. Es ist ja alles (mit einem aus England herübergeholten Wort) induktiv, d. h. empirisch geworden. Goethe steht in der Ferne, gleichsam am Rande des Horizontes, man läßt ihn gelten, ohne – wie vor einem halben Jahrhundert – sich für oder wider ihn zu erhitzen. Zwei Schwaben möchten wir ausnehmen – Strauß und Vischer. Der erstere, wie allbekannt, ein scharfsinniger und auch ästhetisch und philosophisch gebildeter Geist, wandte sich von Anfang seiner Laufbahn an zu Goethes Dichtung als zu einer Heil- und Lichtquelle, in der er während eines von unaufhörlichem Streit und Mißklang getrübten Lebens Erhebung und Versöhnung fand, und die er mit manchem treffenden Spruche gefeiert hat. Aber wie auch selbständige Denker sich dem Einfluß ihrer Zeit nicht entziehen können, lehrt die Abhängigkeit, in die Strauß zu Gervinus geriet. Er würdigte Goethes Größe im übrigen ganz nach den Eindrücken, die er von ihm empfangen, aber das dramatische Talent sprach er dem Dichter ab, mit ausdrücklicher Berufung auf Gervinus, dem diese Einsicht zuerst aufgegangen sei Wir hätten hier auch Berthold Auerbach nennen können, der auch in Schwaben, freilich aber als Jude, geboren war. Wie aus seinen Briefen an Jacob Auerbach hervorgeht, war ihm Goethe stets im Geist und Herzen nahe, aber er schreibt doch im Jahre 1866: »Ein politischer Mensch war Goethe nicht, er war der absolute Privatmensch, kein Staatsmensch«, und meint, darin habe »sich seine Endlichkeit offenbart«. Dieser Ausspruch stammt augenscheinlich von Strauß und Gervinus, mit denen Auerbach befreundet war. Und im Jahre 1866 heißt es von Egmont. »Dem Ganzen fehlt der rechte, dramatische Schritt und die volle Tragik.« Auch dies nach der Irrlehre seiner liberalen Vorbilder, die eine Verherrlichung der niederländischen Revolution mit einem Helden an ihrer Spitze vorgezogen hätten. Wir haben Ähnliches seit etwa 1830 oft genug gehört: wenn sie finden, daß Goethe in politischen Dingen nicht so gedacht hat wie sie, dann hat er überhaupt keinen politischen Sinn gehabt. Und daß er kein dramatischer Dichter gewesen und somit den höchsten Gipfel nicht erstiegen habe, dieser Theorie setzen wir Schillers Worte entgegen: »Vielleicht sind Sie gerade nur deswegen weniger zum Tragödiendichter geeignet, weil Sie so ganz zum Dichter in seiner generellen Bedeutung erschaffen sind.«. Noch schwankender und eigentümlicher ist die Stellung, die Fr. Vischer gegen Goethe genommen hat. Vischers Ästhetik, begonnen noch vor dem Jahre 1848, in elf Jahren vollendet, liegt nun seit bald dreißig, ja in einzelnen Teilen seit bald vierzig Jahren dem Publikum vor, aber von einer zweiten Auflage ist bis jetzt nichts zu hören gewesen. Offenbar war dies für lange abschließende und wohl unsterblich zu nennende Werk, das, wie wir überzeugt sind, in andern Zeiten wieder hervorgeholt werden wird, für die grobe Auffassung gewöhnlicher Leser und die flüchtige Beschäftigung des Journalismus zu schwer, die Grundlage zu spekulativ, die Bestimmungen zu fein, die Beobachtung zu wesenhaft, alles darin Vorgetragene von Menschen ohne tiefe und vielseitige Vorbildung und besonders ohne Phantasie und Kunstsinn nicht leicht zu fassen. In einer Ästhetik, dürfen wir voraussetzen, besonders in dem Teil derselben, der von der Poesie handelt, wird sicherlich auf Goethe und seine Werke öfter hingewiesen sein. Und in der Tat finden wir diesen Namen nicht selten genannt, aber mit auffallend wechselnder Gunst und Ungunst, bald bewundert, bald scheltend, nicht immer mit Gerechtigkeit und Liebe. Goethe steht nicht im Mittelpunkt des streng architektonisch in großen Verhältnissen aufgeführten ästhetisch-kritischen Gebäudes: seine Stelle nimmt Shakespeare ein. Nicht bloß im Drama, sondern überall und bei jedem Anlaß schweben die Gestalten des englischen, nicht des deutschen Dichters dem Verfasser vor, und die letzteren schwinden vor der Übermacht der ersteren. Es ist, als wenn jemand aus der Schweiz nach Italien käme und an die italienischen Gebirgslinien den Maßstab der Alpen legte! Diese seltsame Verkennung, die schwer zu deuten war – denn Vischer war doch kein Hannoveraner, wie A. W. Schlegel, dem selbst ein Engländer vorwarf, er übertreibe die Verehrung Shakespeares, und auch kein Berliner, wie Tieck, der sich durch dies Übermaß vom Pöbel unterschied –, erklärt sich jetzt aus der Selbstbiographie des berühmten Ästhetikers. Sie war ein Produkt seiner eigentümlichen Anlage und der Zeitverhältnisse, in die sein Leben fiel. Auf der Schule waren er und seine Genossen eifrige Deutschtümler und sangen die Lieder von Jahn, Follen, Arndt und Theodor Körner, und ein Nachklang dieser Stimmung begleitete ihn durch sein ganzes späteres Leben: das Nachbarland Frankreich hat ihm nie Teilnahme abgewinnen können; er lebte an Frankreichs Grenze, ist aber nie hinübergereist; dafür besuchte er gern Schützen-, Turner- und Sängerfeste und begeisterte sich für die sogenannte deutsche Sache; daß die Wehrhaftigkeit, die die Turner und Schützen auf phantastischem Wege suchten, schon längst im preußischen Heere erreicht war, war damals jedermann, besonders in Süddeutschland, verborgen. Als junger Mann lernte er Shakespeare kennen, und diese neue Welt ergriff ihn so mächtig, wie nur Wilhelm Meister erschüttert wurde, als ihm Jarno Stücke dieses Dichters zu lesen gegeben hatte. Aber Wilhelm Meister war weich und nachgiebig, in der Entwicklung begriffen, jedem Bildungseinfluß offen, und so wandte sich sein inneres Leben wieder dem Ideal der Humanität zu: Vischer, trotzig und kräftig, fand in Shakespeare Mark der Existenz, und das Rohe, Wilde, Harte, die vom Zeitgeschmack eingegebenen Zierlichkeiten und Ungereimtheiten übersah er gern und entschuldigte sie vor sich und andern. Dann kam die politische, die Freiheitsströmung über Deutschland; sie forderte Männer, Heldenmut, Römertugend, nicht griechische Schönheit, nicht Bildung und daher fließende Milde, lieber Haß als Erbarmen – so wenigstens dachte sich dies kindlich unerfahrene, in kleinen Städten und in der Bücherwelt erwachsene Geschlecht von Politikern die anzuwendenden Mittel und aufzustellenden Ziele. Sie trugen alle Pistolen im Sack, die aber glücklicherweise sich nicht entluden. Als Vischer in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt war, schloß er sich der »gemäßigten Linken« an, deren Prinzip war: »sanfte Vorbereitung der Republik«. Nach dem kläglichen Ausgang der Revolution hätte eine andere Stimmung allmählich Raum gewinnen können, aber Goethes ganze Natur widersprach der des entschlossenen Mannes allzusehr. Goethe war ein mehr weiblicher, keineswegs heroischer Geist, außer wo es galt, sich selbst zu beherrschen: aus dem Titanengefühl seiner Jugend hatte er sich zum Maße erhoben und scheute die Nemesis; Tat auf Tat, atemlose Wut, Schwertergeklirr, Blutvergießen fand sich in keinem seiner Dichterwerke, in allen vielmehr seelenvolle Entfaltung. Nun aber war Vischer keineswegs bloß ein mannhafter Charakter und demokratischer Parteigenosse, sondern auch ein feingebildeter Denker, ein Freund und Kenner schöner Form, empfänglich für den Zauber poetischer Kunst und in eigener Person des Humors in nicht geringem Grade mächtig. Daher der Zwiespalt in seinen Urteilen über Goethe; der Ästhetiker in ihm kann sich der Bewunderung und des Anteils nicht erwehren und hat manches herrliche Wort über ihn gesprochen, der energische Mann der Tat, der die historische Handlung über alles schätzt, auch manches recht übel klingende, und beides oft in einem Atem. Es war, wenn ich richtig deute, nicht der Widerspruch zwischen Kopf und Herz, sondern der Zwiespalt streitender Regungen im Herzen selbst. Zum Beweise dessen setzen wir eine Stelle über Dichtung und Wahrheit her, die die angegebenen Züge besonders deutlich an sich trägt. Der Kritiker hat sich mit Recht über die Behandlung Gwinners beklagt (»der zugesteht, zuerkennt, dann wieder zurücknimmt, dann die Zurücknahme wieder halb zurücknimmt«), und äußert sich dann in ähnlicher Weise, indem er mit der einen Hand nimmt, was er mit der andern gegeben hat (Altes und Neues, Heft 2, 1881; wir unterstreichen die Wendungen und Wörtchen, in denen das Hin und Wider der unentschlossenen Reflexion sichtbar wird): »Gestehen wir uns nur, daß selbst Goethes Dichtung und Wahrheit Poesie und Geschichte in einer Weise mischt, die eben doch an einer gewissen Schiefheit leidet. Kein Vernünftiger wird darum die Tiefe und Großheit dieses Werkes verkennen: den genetischen organischen Geist, der dieses Gemälde des Werdens durchdringt, die stete Zusammenfassung des Individuums mit dem Allgemeinen, den weiten Kreisen der Wissenschaft, Kunst, Dichtung, der häuslichen, geselligen und öffentlichen Zustände, worin dieser einzelne Werdende wurzelt, und woraus er die Säfte seines Lebens saugt, seine Entwicklung schöpft – ein breites, volles, episches Bild, durchleuchtet von Sternen hoher Weisheit und ewiger Wahrheit. Allein in gewissem Sinne doch zu sehr Kunstwerk; eine Selbstbiographie soll strenger, soll sachlicher sein, Nicht als müßte jede Menschlichkeit gebeichtet werden; gerade ein Zuviel der Entblößung ist erst recht ein Tun der Eitelkeit, die sich auf andern Punkten für das grausame Selbgericht um so süßer entschädigt; das steht man bei Rousseau. Also ohne Zudecken kann es nicht abgehen, dennoch hat bei Goethe eine zu weiche Künstlerhand die herbe Wahrheit überstrichen – eine Glättung, wofür uns die ruhige Selbstironie, mit der er seinem Werden zusteht, und die schöne Geistesfreiheit, die sich darin offenbart, doch nicht entschädigen kann. Nun aber hat er, um abzurunden, auch hinzugedichtet; dazu liegt die Versuchung begreiflich genug im Kompositionsbedürfnis des Poeten. Es ist immer so eine Sache, wenn ein Dichter sein Leben beschreibt; denn wie schwer muß es ihm werden, von seiner Art zu lassen! Diese aber leitet ihn an, ein Kunstwerk zu schaffen. Nun ist nicht zu bestreiten, daß auch der Geschichtsschreiber in gewissem Grade ein Künstler sein muß; er muß ausscheiden, erhöhen, gruppieren, um die in den Erscheinungen verhüllt liegende Einheit ans Licht herauszuarbeiten. Aber der Dichter wird schwer dem Reize widerstehn, mehr zu tun: zu erfinden, hinzuzudichten, zwar ganz dem Charakter gemäß und niemals ohne innere Wahrheit, aber doch bedenklich, denn der Leser sucht bei dem Geschichtsschreiber faktische Wahrheit; es bleibt immer etwas Beunruhigendes, wenn man nicht genau sehen kann: was ist wirklich gewesen und geschehen?«
Wir haben uns bei Vischer länger aufgehalten, weil dieser durch Tiefe der Gedanken und Gabe der Anschauung ohne Zweifel alle Zeitgenossen überragte. Auch darin hatte das deutsche Volk Unglück, daß sein höchster Schatz seinen berufensten Hüter und Deuter nicht gefunden, dieser sich vielmehr in eigensinniger Vorliebe in den Dienst eines anderen, fremden dichterischen Genius gestellt hat. Shakespeares, des Römers, und Goethes, des Joniers oder Attikers, Größe abzuwägen, ist hier nicht der Ort: so wollen wir nur sagen, daß der erstere nicht in unserer Sprache geschrieben hat und übersetzt werden muß, folglich nie ganz unser werden kann. Die Hilfskategorie des Germanismus, die man hier anzuwenden pflegt, ist eine viel zu weite und wird von den Engländern selbst, wie auch von Holländern, Dänen und Schweden, bald mit Lächeln, bald mit Entrüstung abgewiesen. Vielleicht sind es auch nur kleine Zufälligkeiten, die sich zwischen Vischer und Goethe gestellt haben, z. B. der Verdacht, Goethe werde in Berlin in allem, was er geschrieben und getan, z. B. im zweiten Teil Faust, mit Unverstand vergöttert. Letzteres ist, soweit unsere Beobachtung reicht, nicht der Fall; und dann schrieb Vischer ja nicht für den laufenden Tag, wie das gemeine Zeitungs- und Schreibervolk, sondern auch für die Nachwelt, und in dieser können die literarischen und territorialen Gruppen ganz andere geworden sein.
Wir sind am Ende. Goethes Leben erstreckt sich auf mehr als achtzig Jahre, seit seinem Tode ist mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen, aber keine Zeit ist gewesen, wo er nicht durch Gegner gekränkt, sein Name nicht geschmäht worden wäre. Noch in der neuesten Zeit sind ein Jesuit, Alexander Baumgartner, der in Freiburg im Breisgau drucken läßt, dann der schnurrige Wiener Sebastian Brunner und noch andere Römlinge als solche Widersacher ausgetreten – nachdem der protestantische Pietismus im Kampfe wider Goethe seine Kräfte erschöpft und, wie es scheint, die Waffen niedergelegt hat, versuchen nun nachträglich die katholischen Glaubenshelden auch ihrerseits sich die gleiche Niederlage zuzuziehen. – Wie sollten solche nicht seine Feinde sein,
denen das Wesen, wie du bist,
Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?
Vischer hat diese ganze Art armseliger Ordensritter in einem ergötzlichen Gedicht in den lyrischen Gängen 1882 verspottet – es ist erfreulich, ihn völlig aus unserer, nicht aus englischer, sondern aus deutscher Seite zu sehen –: er betrachtet im Hamburger Hasen staunend ein ungeheures Meerschiff, und da kommt eine offene, leere brüchige Zigarrenkiste herabgeschwommen, eröffnet den Kampf mit dem Riesen, stößt und zerschellt jämmerlich an seinen Planken –
Da fiel nun so von ungefähr
Mir Goethe ein und seine Widersacher.
Auch Goethe selbst hatte das Bewußtsein, wie sehr Neid und Beschränktheit und Partei ihn ohne Unterlaß mit Gehässigkeit verfolgten. Daß er sich darüber klar war, lehren eine Menge Aussprüche in seinen Werken und Briefen; wir begnügen uns, zwei oder drei solcher Stellen herzusetzen. Varnhagen von Ense hatte ein Buch geschrieben: »Goethe in den wohlwollenden Zeugnissen der Mitlebenden, Berlin 1824« – dazu bemerkt Goethe, er rate ein Gegenstück zu besorgen: »Goethe in den mißwollenden Zeugnissen der Mitlebenden!« »Die dabei zu übernehmende Arbeit würde den Gegnern leicht werden und zur Unterhaltung dienen; auch würde sie einem Verleger, dem Gewinn von allen Seiten guten Geruch bringt, sichern Vorteil gewähren!« »Denn«, seht er hinzu, »wie sollte ich mir leugnen, daß ich vielen Menschen widerwärtig und verhaßt geworden, und daß diese mich aus ihre Weise dem Publikum vorzubilden gesucht.« Noch kräftiger drückte er sich gegen Eckermann aus (im März 1830): »Es versteckt sich hinter jenem Gerede mehr böser Willen gegen mich, als Sie wissen. Ich finde darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im Stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann (doch! auch an seinem Genie!), so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinneslust versunken, bald ohne Christentum und nun endlich ohne Liebe zu meinem Vaterlande und meinen lieben Deutschen.« In einem Briefe an Schelling von demselben Jahre (bei Plitt, aus Schellings Leben, 3, S. 48 f.) beklagt er sich über die »Neckereien und Tücken, Unarten, Widerwärtigkeiten und Feindseligkeiten«, die gegen ihn ausgehen; selbst aus Bayern verlautet das »Widerwärtigste, und zwar, was noch sonderbarer scheint, unter der Firma meines werten Verlegers (Cotta, Menzel), mit dem ich seit vielen Jahren in freundlichster Verpflichtung stehe. Hat man jemals von mir eine Reklamation deshalb vernommen, auch nur einen Laut?« Bei diesen rührenden Klagen erinnern wir uns der in einem Briefe Niebuhrs an Savigny vom 1. Oktober 1818 vorkommenden Worte: »Der Deutsche ist von Natur, nachdem er seinen einfachen großen Charakter verloren hat (seit wann glaubt Niebuhr, daß dies geschehen sei?), afterrednerisch und verunglimpfend und nichts weniger als liebend.« Dies Urteil paßt auf alles, was heutzutage vorgeht, und ebenso auf das Verhältnis der Nation zu Goethe. Indes, wie dort die wahre Stimme des Volkes in den Wahlen verhallt, so daß niemand sie hört, so mögen auch hier die einzelnen, die ihren größten Dichter tief im Herzen tragen, über ihn lieber in Ehrfurcht schweigen, als auf die Straße herabsteigen oder auf die Dächer treten, wo so laut und voll Dünkel geredet wird. In der Philosophie steht es nicht anders: »Die gründlichere, tiefere Teilnahme ist einsamer mit sich und stiller nach außen; die Eitelkeit und Oberflächlichkeit ist schnell fertig und treibt sich zum baldigen Dreinsprechen« (Hegel in der dritten Vorrede zu seiner Enzyklopädie vom 19. September 1830) Als im Mai 1885 Viktor Hugo, 83 Jahre alt, die Augen im Tode schloß, war des Schmerzes und der Begeisterung kein Ende. Feierliche Bestattung auf Staatskosten, die geforderten Summen von der Kammer ohne Widerspruch bewilligt, keine Partei, von der äußersten Rechten bis zu den Anarchisten auf der Linken, schließt sich aus, alles huldigt und ergeht sich in überschwenglichen Hyperbeln, und wenn wir in demselben Jahre in Deutschland Goethes Tod erlebt hätten, und die Regierung erbäte sich von dem Reichstag einen Beitrag zu einem Leichenbegräbnis oder zu einem Denkmal – was geschähe? Eugen Richter würde von den Lasten des armen Volkes sprechen, andere aus seinem Gefolge würden fragen, was der Verstorbene wohl für die Freiheit getan, Windthorst würde unter stillschweigender Zustimmung der rechten Seite hinzufügen, Goethe sei ein Heide gewesen und habe niemals für sein und seines Volkes ewiges Heil gesorgt, in den Zeitungen aber hätten die Juden elende, aus irgendeinem Konversationslexikon geschöpfte Artikel gebracht, die am nächsten Tage schon wieder vergessen worden wären. So, denk' ich, stünde es bei Goethes Tode im Mai des Jahres 1885 in Deutschland..