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Die alten Herren vom Verein Inaktiver Offiziere – V. I. O. wurde er auch kurz genannt – kamen jeden Dienstag und Freitag beim Weinhändler Teichmann am Markt zu einem Fläschchen Rotspon, einem Schoppen Mosel und einem Schwätzchen zusammen.
Die meisten der Herren befanden sich in vorgerückten Semestern und hatten ihre fünfundzwanzig und mehr Jahre dem Staat gedient und sich manchen Sturm um die Nase wehn lassen. Es entsprach ihrer Welterfahrung und ihren grauen Haaren, daß sie mit einer gewissen Ruhe und einem überlegenen Humor auf das Tun und Treiben der noch im frischen Saft stehenden Jugend herabsahen. Jedenfalls schrien sie nicht gleich Zeter Mordio, wenn die Fama die Tatsache irgendeines dummen Streiches oder eines bedauerlichen Vorkommnisses von seiten der jüngern Gesellschaft zu ihren Ohren trug.
Aber das Vorkommnis, das die alten Recken heute zu erörtern gehabt, hatte ihnen doch die gute Laune verdorben. Mit ingrimmigen oder gedrückten Mienen blickten sie in ihre Gläser und spuckten nur manchmal eine vulkanische Dampfwolke aus.
Da kam eilig der Kammerherr von Uhlen angetrippelt und sagte, kaum daß er Platz genommen hatte:
»Meine Herren, haben Sie schon gehört?«
»Eher als du, lieber Otto. Rege dich nur nicht auf,« unterbrach ihn sein hünenhafter Freund, der Oberjägermeister Graf Zech.
»Aber gestatte mal –«
»Wetten, daß ich weiß, was du erzählen willst?«
»Da bin ich wirklich neugierig.«
»Die Geschichte mit der Meyn.«
»Ja, woher weißt du denn schon?«
»Wir lassen uns doch auch barbieren.«
»Aber gestatte, ich hab's aus ganz anderer Quelle.«
»Woher denn?«
»Ich – ich habe es von meiner Frau gehört. Der hat's die Masseuse erzählt.«
»Was die Barbiere für uns, das sind die Masseusen für unsere Damen,« bemerkte sententiös der ehemalige Landgerichtspräsident, Geheimrat Drenkler.
»Tja – bedauerlich! Aber uns geht die Geschichte nichts an!«
Nach diesen Worten, die Schluß der Debatte bedeuten sollten, ließ der Oberjägermeister einen dicken Rauchschwaden aus seinem fuchsigen Bart quirlen.
»Aber gestatte mal,« versetzte kribbelig der Herr von Uhlen. »Mich geht die Geschichte sehr an. Insofern nämlich, als Frau – Fräulein Meyn muß man ja nun wohl sagen – bei meiner Frau verkehrt hat. Ihre Tochter hat mit unserer Daisy gespielt. Wenn man nun bedenkt, was so ein Kind vielleicht schon alles weiß –«
»Sie wird euch ja nicht gleich mit ihrer Unmoral angesteckt haben.«
»Sie tat immer so lammfromm. Wer hätte gedacht, daß sie so eine durchtriebene Person wäre!«
»Alle Schauspielerinnen sind mehr oder weniger so,« sagte Regierungsrat Lenzmann.
»Hoho! Das ist eine gewagte Behauptung!«
Nun brach eine erregte Debatte los, während unversehens der Intendant von Giebichen eintrat. Von allen Seiten wurde er gefragt, ob an den Gerüchten über die Meyn etwas Wahres wäre.
Der bartlose Herr, dessen knappe Offiziersallüren mit der Zeit von den großen Schauspielergesten überwuchert waren, zuckte ausdrucksvoll die Achseln.
»Wir haben ein Hausgesetz, wonach kein Mitglied der Bühne über ein anderes ungünstige Nachrichten verbreiten darf. Unter diesem Gesetz stehe ich natürlich auch.«
»In punkto Künstlermoral denke ich so,« nahm der Regierungsrat den Streit wieder auf, »daß man an eine Schauspielerin billigerweise nicht dieselben strengen Anforderungen stellen darf wie an eine Frau in geordneten bürgerlichen Verhältnissen. Wenn sie ihrem Temperament zu sehr Zügel anlegt, würde ihre Kunst darunter leiden. Deshalb sollte sie aber auch in ihrer Sphäre bleiben.«
»Ja, das ist eben das Bedauerliche, das ist die Folge unserer verfluchten demokratischen Zeitströmung,« – polterte Major von Süßenborn los – »daß heutzutage den Schauspielerinnen die Salons unserer Damen geöffnet sind, daß sie in unserer Gesellschaft verkehren dürfen.«
»Und in den frühern hochfeudalen Zeiten, wie war's denn da?« unterbrach ihn der elegante Herr von Schmettau. »Da haben die Theaterdamen nicht nur in unsern Gesellschaften verkehrt, da haben sie sie manchmal beherrscht. Wir sind eben scheußlich moralisch geworden.«
»Na, na, Sie doch nicht, lieber Schmettau.«
»Mir tut bei alledem nur der Meyneburg leid,« sagte der Oberjägermeister.
»Da hat ihm seine Tochter was Nettes eingebrockt. Ein Luder war sie ja immer.«
»Achtung!«
Alle Herren blickten nach dem Fenster, hinter dessen Spachtelvorhang auf der Straße die Gestalt des Obersten sichtbar wurde.
Als er eintrat, waren die Herren in einem eifrigen Gespräch über den Ausfall der letzten Reichstagswahlen begriffen.
Oberst von Meyneburg nahm unbefangen am Stammtisch Platz. Offenbar wußte er noch nichts.
Bald nach ihm humpelte Professor Munkenbach von der Kunstakademie herein. Er stand in dem Ruf, eine der bösartigsten Klatschbasen der ganzen Stadt zu sein, und seitdem er das Unglück erlebt hatte, daß sein Sohn wegen einer dunkeln Geschichte hatte verschwinden müssen, war dieser Ruf noch gefestigt worden.
Böses ahnend erhoben die Herren ihre Köpfe. Der Oberjägermeister rief, auf einen leeren Stuhl in seiner Nähe weisend:
»Kommen Sie, Professor, hier ist noch Platz.«
Aber der alte Historienmaler schien nicht zu hören. Mit schlürfenden, schweren Schritten näherte er sich dem Obersten. Auf eine nochmalige Aufforderung des Oberjägermeisters erwiderte er mit weinerlich dumpfer Stimme:
»Nein, danke, ich setze mich neben meinen Freund Meyneburg.«
Aus seinem schlagflüssigen Gesicht, das die Farbe von Himbeertrebern hatte, funkelten seine Augen mit der melancholischen Bosheit eines Bologneserhündchens. Er streckte seinem Nachbar seine gichtige Hand hin.
»Tag, mein lieber Meyneburg. Zwischen uns bleibt's beim alten. Ja, ja, ich wohne im Dunkeln, spricht der Herr. Nachdem ich das Malheur mit meinem Sohn hatte, weiß ich, was ein Vaterherz leiden kann.«
Dem Obersten stieg das Blut in den Kopf.
»Was heißt das? Ich bitte doch, sich deutlicher auszudrücken.«
»Hüja – wissen Sie denn nicht –?«
Regierungsrat Lenzmann ließ ein mißbilligendes Murmeln hören. Major von Süßenborn schlug auf die Tischplatte. Der Intendant klemmte rasch sein Einglas ins Auge. Der Oberjägermeister Zech aber beugte sich, so lang er war, über den Tisch und sagte:
»Munkenbach, Sie sind das größte« – das Wort, das er gebrauchte, gehörte zu den kräftigsten der deutschen Sprache – »das mir vorgekommen ist. – Pardon, meine Herren!«
»Oh, bitte, Exzellenz, Sie haben unser aller Meinung in formvollendeter Weise zum Ausdruck gebracht,« versetzte der elegante Herr von Schmettau.
Darauf unterhielten die Recken sich weiter über den betrüblichen Ausfall der Wahlen. Professor Munkenbach aber blickte eine Weile nach rechts und nach links und verließ darauf stumm die Tafelrunde.
Es dauerte noch beinahe eine Stunde, ehe auch der Oberst sich erhob. Er war nicht eine Minute früher als sonst aufgebrochen. Der Oberjägermeister bot sich an, ihn noch eine Strecke zu begleiten.
Nachdem die beiden Herren schweigend den Marktplatz überschritten hatten, fragte der Oberst:
»Also, was wollte dieser Schweinekerl?«
»Eine fatale Geschichte, lieber Meyneburg. Sehen Sie sie nicht tragischer an als nötig. Ihre Tochter –«
»Das habe ich mir gedacht!« seufzte der alte Herr tief auf. »Was ist mit der Lise?«
»Es geht das Gerücht um, daß bei ihrer Heirat – na, da scheint sie vergessen zu haben, den Umweg übers Standesamt zu machen. Man munkelt, sie wäre gar nicht richtig verheiratet gewesen. Vielleicht ist es elender Klatsch.«
»Es wird schon stimmen.«
Wieder versanken die Herren in Schweigen. In der Nähe des Schlosses empfahl sich der Oberjägermeister.
»Lieber Meyneburg,« sagte er noch zum Abschied, »nehmen Sie sich die Sache nicht zu sehr zu Herzen. Wir kennen ja alle Ihre Tochter. Sie hat eben den Deibel im Leibe. Dafür ist sie aber auch wirklich eine begnadete Künstlerin.«
Der Oberst erhob finster sein Gesicht.
»Wenn ich nur wüßte, warum ausgerechnet mir der liebe Gott eine Künstlerin zur Tochter gegeben hat. Jedenfalls danke ich Ihnen, Exzellenz. Sie haben verhütet, daß der erste beste Hundsfott seine Schadenfreude an mir ausgelassen hat. Na, ich habe ja nun die längste Zeit hier gewohnt.«
»Aber liebster Meyneburg!«
Doch dieser machte eine abwehrende Bewegung und ging von dannen.
Zu Haus angekommen, verschloß er die Tür seines Zimmers und begann zu rauchen.
Der Oberst von Meyneburg war am besten mit dem einen Wort charakterisiert, das seine Bekannten fast gewohnheitsmäßig von ihm gebrauchten, wenn sie von ihm sprachen: ein braver Soldat.
Seine Jugend hatten mancherlei Stürme durchtobt, waghalsige Abenteuer, Spiel- und Liebesgeschichten, Streiche eines ungebändigten Temperaments, bis die verzettelten Kräfte sich sammelten in die zähe und tiefe Zuneigung zu seiner Frau.
Auch nach seinem Abschied war er durch und durch Offizier geblieben. Die Linien seines Denkens blieben festgelegt durch seine Erziehung im Kadettenkorps und im Regiment. Aber dieser starren und engen Lebensauffassung waren alle Spitzen abgebrochen durch seine warme Menschlichkeit, die sein Herz begreifen ließ, was in seinen Kopf keinen Eingang fand.
Das offenbarte sich am deutlichsten in seinem Verhältnis zu Lydia. Diese, in noch ganz anderm Sinn Blut von seinem Blut als ihre ältere sanfte Schwester, war anfangs sein Stolz und sein Verzug gewesen, bis sie später seine heiligsten Grundsätze mit Füßen trat.
Als man sie nach ihrem ersten Jugendstreich in eine Pension geschickt hatte, war sie von dort entlaufen – zum Theater. Ihr Vater hatte ihr die grimmigsten Briefe geschrieben, hatte aber dennoch fortgefahren, für sie zu sorgen und immer wieder ihre Schulden zu bezahlen. Und obwohl er sich nie hatte überwinden können, sie auf der Bühne zu sehen, nahm er dennoch mit gerührtem, ängstlichem und schamhaftem Stolz Anteil an ihren Erfolgen. Er ließ sich die Blätter kommen, in denen ihr Auftreten besprochen wurde, und sammelte die Photographien, die sie von ihren neuen Rollen machen ließ, um sie in heimlichen Stunden zu betrachten.
Als er dann von der Absicht des Fürsten hörte, sie für sein Theater zu engagieren, hatte er die Schwierigkeiten, die ihm und der Familie daraus erwuchsen, vorausgesehen. Aber das Glück, sie in seiner Nähe zu wissen, die Hoffnung, daß sie endlich zur Vernunft kommen würde, hatten dennoch überwogen. Er hatte seine Grundsätze geopfert, um ihr Eingang in die Gesellschaft zu verschaffen. Und nun war dieser letzte Streich gekommen.
Der Oberst ging in seinem Zimmer auf und ab, sieben Schritte hin, sieben Schritte her, und diesem kurzen, ewig wiederholten Weg glich auch der Gang seiner Gedanken.
Endlich nahm er die Bibel vom Regal, die dort neben der Armee-Rangliste stand, und suchte im Lukasevangelium das Kapitel, wo erzählt wird, wie im Hause Simons die Sünderin vor Christum tritt. Er las die Stelle immer wieder, indem er dabei die Lippen bewegte. Wie man's auch drehte und wandte, Christus hatte Barmherzigkeit gehabt mit der Sünderin. Er hatte ihr gutes Herz mehr geachtet, als die Selbstgerechtigkeit des Pharisäers. Das stand da deutlich und klar. Kein Pfaffe konnte davon etwas wegleugnen.
»Gewiß, es ist nicht recht, wie sie es getrieben hat,« murmelten seine Lippen. »Nein, lieber Gott, es ist eine Schweinerei. Bodenlos leichtsinnig ist das Mädel. Aber wie habe ich's denn gemacht? Mein Blut hat sie geerbt. Laß sie nicht büßen, was eigentlich meine Schuld ist. Vergib ihr ihre Sünde und bring sie auf den rechten Weg. Vergib uns unsere Schuld! Vergib uns unsere Schuld, lieber Gott!«
Mehrmals wiederholte er dieses Wort. Aber in der Tiefe seines Innern blieb etwas zurück, worüber er nicht wegkam. Die Furchen in seinem Gesicht vertieften sich, seine Augen verschwanden fast unter den zusammengezogenen Brauen. In solcher Ratlosigkeit und Not fand ihn seine Tochter Anna.
»Na, setz dich!« sagte er mit geborstener Stimme. »Hast wohl das Neueste von der Lise schon gehört? Die Spatzen pfeifen es ja von den Dächern. Und nächstens wird's im Montagsblättchen stehn.«
Aber Anna wußte noch nichts von dem Gerücht. Da klärte ihr Vater sie auf, indem er seiner Erzählung hinzufügte:
»Hübsch angelogen hat sie uns harmlose Seelen. Hat noch die vornehme Dame gespielt, die über ihresgleichen hoch erhaben ist. Pfui Deibel! Wenn ich schon so bin, habe ich doch wenigstens den Mut, es einzugestehn. Da sitzen wir nun mit unserer Schande. Du Arme – dir und deinem Mann habe ich auch etwas Nettes eingebrockt mit diesem Frauenzimmer. Ihr müßt darüber wegkommen. Es hilft nichts. Seid schließlich ja auch nicht verantwortlich. Ich – ich ziehe weg.«
»Du willst von hier fort?«
Er nickte.
»Von hier, wo du seit zwanzig Jahren wohnst, wo du alle deine Bekannten hast? Aber wohin denn, Papa?« fragte Anna entsetzt.
»Es wird sich schon irgendein Winkel finden, wo man nicht weiß, daß die berühmte Lydia Meyn meine Tochter ist.«
»Nein, Papa, das ist unmöglich.«
»Es ist eine feige Flucht, ich weiß. Aber soll jeder Bengel auf der Straße –?«
Seine Stimme brach ab, doch seine Tochter verstand, was er sagen wollte.
Nach langem Schweigen sagte sie endlich:
»Papa, ich will zu Lydia hin. Vielleicht ist alles nicht wahr. Auf dem Theater wird so viel geklatscht. – Aber fort darfst du nicht. Das laß ich nicht zu.«