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Es ging auf elf, als Lydia am Morgen nach der Stuartvorstellung erwachte. Sie war spät zu Bett gegangen, hatte dann aber vortrefflich geschlafen. Nun lag sie noch ein Weilchen, die Arme unter dem Kopf verschränkt, in Wärme und Wohlsein gebettet, und dachte lächelnd an den Triumph des gestrigen Abends. So mochten die wohlgesitteten, schwerfälligen Weyringer wohl noch nie gerast und geklatscht haben. Sie konnte zufrieden sein! Und dazu hatte sie gestern noch eine gute Nachricht bekommen.

Als sie der Maruschka schellte, teilte diese ihr mit, daß Hofrat Horn vor kurzem dagewesen war und hinterlassen hatte, er würde gegen Mittag wiederkommen. Lydia war gerade mit ihrem Frühstück fertig geworden, als er erschien. Lächelnd nahm sie den Strauß dunkelroter Rosen, ihrer Lieblingsblumen, entgegen und fragte, wie ihm die Vorstellung gefallen habe.

Er schöpfte Atem und erwiderte, es wäre ein ganz tiefer und unbeschreiblich schöner Eindruck gewesen. Dann fuhr er sich über die Stirn. Sein Gesicht war von der beißenden Kälte draußen gerötet und gleichsam geschärft, doch zugleich machte es einen übernächtigen Eindruck. Seine Augen blickten groß und fiebrig.

Er korrigierte seine Worte. Nein, schön wollte er den Eindruck nicht nennen. Schön war ein zu kühles, kunstmäßiges und unpersönliches Wort. Und dabei wäre es eine menschliche Offenbarung gewesen. Er hätte früher das Stück nie leiden können, erst durch Lydia wäre es ihm eingedrungen und hätte ihn erschüttert, so stark und nachhaltig, daß er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Das war wahr. Er hatte sich mit dem Gefühl zu Bett gelegt, nicht schlafen zu können, und auch mit dem Vorsatz, es nicht zu tun.

Sonst fürchtete er die schlaflosen Nächte. Denn alles Unaufgeräumte seiner Seele, alle dunkeln Reste und peinvollen Erinnerungen traten dann, wenn die Dunkelheit sein Auge einzig nach innen richtete, gleichsam in ein grelles Licht. Dann nagte der Neid mit seinen Rattenzähnen, die irgend einmal gekränkte Eitelkeit kroch, sich windend, hervor, zerstörte Hoffnungen zeigten ihre hohläugigen Totengesichter. In solchen Stunden war es zumeist, daß ihm sein Leben als verfehlt erschien und daß er sich selbst haßte: sein eigenes kleinliches, großer und weiter Empfindungen unfähiges Ich.

In dieser Nacht aber durchströmte ihn ein wunderbares Glücksgefühl, und sein Ich lag tief unter ihm. Statt dessen schwebte er in der lichtvollen, reinen Welt der Gestalten, die er gestern auf der Bühne geschaut hatte. Doch alle traten zurück und waren nur die Folie für die eine – Lydia. Dabei aber kam ihm zum Bewußtsein, daß das, was er jetzt noch einmal nacherlebte, eigentlich nichts mit den Schicksalen der Maria Stuart zu tun hatte, sondern eine ganz persönliche Auseinandersetzung zwischen ihm und Lydia war. Er war die Lydia feindlich gesinnte Partei. Er war Elisabeth und Burleigh und Paulet. Er war der feige Leicester. Er war aber auch der liebeswahnsinnige Mortimer. Sie aber, Lydia, war das Leben, das sie alle überwand. Das unaufhaltsame und unzerstörbare Leben, dieser nicht wollende, sondern müssende Wille, der über alle sich ihm entgegenstemmenden Mächte siegreich triumphierte. Und als wären sie für ihn selbst bestimmt, wiederholte Alexander die Worte:

»Sie geht dahin, ein schon verklärter Geist,
Und mir bleibt die Verzweiflung der Verdammten.«

Er hatte einmal Lydias Leben geschmäht und verdächtigt, nun lag er da, geblendet von der Fülle des Lichts und wiederholte immer: ›Sie hat recht! Sie hat recht! Sie hat recht, weil ihre Art zu sein voller Schönheit und Stolz ist. Weil ein unbändiger Wille sie trägt. Weil sie uns, die wir von ihrem Licht bestrahlt werden, glücklicher, reiner und größer macht.‹

Es lag in diesem Bekenntnis und dieser Selbstentäußerung nichts von Schmerz. Und wenn er fühlte, stärker als je, daß er Lydia noch liebte, so war diese Liebe doch ganz frei von allen frühern Beisätzen des Neides und des Hasses, ja frei auch von allem körperlichen Begehren nach ihrem Besitz. Er war glücklich, daß es eine Lydia auf der Welt gab. Daß sie ihm nahe stand, daß er sie noch oft in dieser andern Wirklichkeit der Kunst, durch die sie verklärt wurde, und deren Verklärerin sie war, sehen durfte.

Und nun war er mit übervollem Herzen gekommen, um ihr zu danken. Aber die Worte, die er fand, kamen ihm banal vor, und das, was sein Herz eigentlich bewegte, erschien ihm unaussprechlich. So gelangte er über ein unbehilfliches Stammeln nicht hinaus, bis Lydia schließlich begann, ihn nach diesen und jenen Einzelheiten zu fragen. Sie sprachen jetzt vom Spiel der andern und gerieten erst recht in eine oberflächliche und ungenügende Unterhaltung. Alexander fühlte das und suchte immer wieder das Gespräch auf sie selbst zu lenken. Ihr Spiel! Ihre Erscheinung! Alles übrige war ja nur Füllsel gewesen. Genug, wenn es nicht gestört hatte.

Wieder suchte er nach Worten, mit der Hartnäckigkeit eines Menschen, der den Inhalt seines Innern mitzuteilen wünscht, ohne ihn jedoch preiszugeben. So sprach er stockend und doch wieder umständlich.

Sie aber ahnte den starken Unterstrom unter dieser bedeutungslosen Oberfläche. Unwillkürlich verglich sie seine Art mit der ihrer Kollegen. Wie saßen denen die großen Worte locker! Die rafften das Lob zusammen wie die Bauern ihr Heu und empfanden nicht viel mehr dabei. Dieser Stammler aber, der groß und steif dasaß, mit bitter ernstem Gesicht, trug ein Feuer in sich, das er trotz aller Mühe nicht verbergen konnte. Sie war gerührt und fühlte sich geschmeichelt. Sie dachte, aus solchem Holz seien die wahren Freunde geschnitzt. Zugleich aber spürte sie eine unwiderstehliche Lust, diese noch gehaltene Glut emporflammen zu sehen. Ein wenig nur! Eine einzige Flamme!

Und ganz unwillkürlich nahmen ihre Züge den Ausdruck ängstlicher Spannung an. Er verbarg etwas! Er sagte ihr nicht alles! Vielleicht war er doch nicht ganz mit ihrer Auffassung einverstanden?

So entlockte sie ihm auch das Letzte. Nun erst fühlte sie sich befriedigt und von einer köstlichen Erregung durchglüht, während ihn einen Augenblick lang Leere, Furcht und Traurigkeit beschlichen.

Sie ergriff seine Hand und sagte, auf diese Stunde hätte sie, ohne es zu wissen, immerzu gewartet. Sie hätte zwischen Hoffen und Bangen geschwankt, wenn sie auch überzeugt gewesen wäre, daß sie einmal kommen müsse. Jetzt aber sei ihr unbeschreiblich frei und leicht zumut. Denn sie habe in ihm einen Freund gefunden, der sie verteidigen würde, was auch geschehen möge.

»Aber Lydia,« fragte er, »wer wollte dir wohl etwas tun?«

»Glaubst du, ich hätte keine Feinde? Übrigens kann das Unglück doch wie ein Blitz aus heiterm Himmel kommen. Und wenn ich recht glücklich war, dann ist bei mir noch stets ein Gegenschlag erfolgt. Aber wir wollen uns nicht die Freude verderben. Ich habe dir nämlich auch etwas Schönes mitzuteilen.«

Und sie holte einen heute morgen angekommenen Brief des Intendanten, der schrieb, er habe das Stück des Herrn Peter Vossen – dieses Pseudonym hatte Alexander sich gewählt – persönlich und mit größtem Interesse gelesen und verspreche sich einen guten Erfolg davon. Namentlich wenn Lydia die Hauptrolle übernehme. Ob sie nicht in der Lage sei, das Inkognito des Herrn Verfassers zu brechen?

Während Alexander den Brief las, wurde er rot und bekam Tränen in die Augen wie ein glücklicher Junge. Dann nahm er ihre Hand und küßte sie und saß, ihre Rechte noch immer haltend, neben ihr auf dem Sofa, mit glänzenden, verwirrten Augen. Eine lange Reihe von Jahren war einfach aus seinem Leben ausgelöscht, und er blickte in die Zukunft mit dem hoffnungsvollen Leuchten wie ein junger Mensch von zwanzig.

 


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