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Gustav Felldin war zweiunddreißig Jahre alt, ein großer, kräftiger, flotter Mann mit ziemlich auskömmlichen Einkünften, die ihm seine Stellung als Disponent einer gutgehenden Ziegelfabrik brachte.
An einem schönen Junitage kam er im neuen Sommeranzug einen herrlichen Fußweg entlang, um en famille auf dem schönen Rittergutshof Eckenfelde Mittag zu essen. Er liebte die Tochter des Hauses, und der Gutsherr, Major Brundin, zugleich Direktor der großen Ziegelfabrik, war sein besonderer Gönner, da er am besten auf der ganzen Welt wußte, was für ein überaus tüchtiger und gewandter Disponent Herr Gustav Felldin war.
Aber der Disponent war heute zu Tode betrübt und wünschte, er läge tief im Grabe. Er wurde auch um nichts froher, als ihn alle herzlich begrüßten, und er an der reichbesetzten Tafel Platz nahm; denn er starrte immer nur nach einem andern Herrn in der kleinen Gesellschaft hin, der alle seine äußern Vorzüge um fünfzig Prozent Erhöhung besaß, überdies sehr reich und Besitzer eines Fideikommisses war, den Titel Baron führte und Philipp von Sternschild hieß, eine Art Vetter der Majorin Brundin. Er hatte Fräulein Agnes Brundin zu Tisch geführt und sah sie mit Blicken an, die keinen Zweifel darüber ließen, daß er die Gefühle des Herrn Felldin teilte.
Der Baron weilte seit vierzehn Tagen als Gast auf Eckenfelde, und Felldin fühlte, daß einer von ihnen auf dieser Hälfte der Erdkugel überflüssig wäre. Und dieser eine – das glaubte er einzusehen – war eben er selbst. Alle umkreisten den Baron wie die Planeten die Sonne. Fast jeder guckte ihn zwischen jedem Gabelbissen, den man nahm, an, und Fräulein Agnes schien sich nicht am wenigsten für ihn zu interessieren. Der sonst so steife Major erwies ihm eine erstaunliche Aufmerksamkeit, und die Majorin machte ihm förmlich den Hof. In seinem Siegesrausch erhob der Baron aber plötzlich sein Glas mit den wohlwollenden Worten: »Herr Disponent Felldin!«
Felldin wurde glühend rot, als er mit seinem Glase dankte, und sah Agnes glücklich lächelnd an der Seite des Barons sitzen, gerade so, wie sie gewiß recht bald beim Hochzeitsmahl in diesem selben Saal sitzen würden.
Bei diesem herzzerreißenden Gedanken empfand Felldin nur einen geringen Trost in dem Gelübde, das er sich im Stillen ablegte, bei jenem Mittagsmahle nicht dabei zu sein. Selbst die jüngeren Schwestern von Agnes, von denen neben Felldin auf jeder Seite eine saß, begannen zu verstehen und warfen schelmische Blicke auf Schwester Agnes.
Nach dem Essen begab sich Felldin in den Park hinaus, obwohl die Gesellschaft so klein war, daß seine Abwesenheit bemerkt werden mußte. Als er an der Küchenveranda vorbeikam, hörte er, wie die Köchin voll größten Erstaunens ausrief:
»Nee, wat in aller Welt seggst de, Lina! Is es denn nich bi'm Mittag bekannt gegewe?«
Wie innig er auch Fräulein Agnes liebte und wie gut er auch seine Gefühle vor ihr verborgen zu haben glaubte, er hatte sich bis dahin doch nicht ganz ohne Hoffnung geglaubt. Der Major war nicht reich, seine ökonomische Wohlfahrt hing von der Fabrik ab, und der Gang dieser beruhte so ziemlich auf Felldins Thätigkeit. Nach Jahren treuen Fleißes konnte es vielleicht geschehen ... Aber nun war alles vorbei! Er hatte wohl manchmal geglaubt ... Nun war es vorbei!
Zum Glück war ihm weit von hier eine glänzende Stellung angeboten. Vor einigen Wochen hatte er den Brief gleichgültig beiseite gelegt. Nun wollte er auf das verbindlichste dorthin schreiben und um nähere Mitteilungen bitten.
»Nein, aber was thun Sie denn hier? Kommen Sie doch zu uns hinauf auf die Veranda und trinken Sie mit uns Kaffee,« erklang plötzlich eine frische und fröhliche Stimme dicht neben ihm, und Fräulein Agnes trat hinter einem Gebüsch hervor.
Sie sah froh und schelmisch aus. Ihre großen, dunklen Augen blitzten, und es lag wie ein Schimmer über dem braunen Haar. War sie wirklich hergelaufen, um ihm zu zeigen, wie siegesfroh sie war? So sieht ja nur ein überglückliches Weib aus, wenn es am Ziel seiner Wünsche steht.
»Verzeihen Sie, aber ich empfand den unwiderstehlichen Drang, ein Stück durch den schönen Park zu gehen, an den sich für mich so viele liebe Erinnerungen knüpfen. Vielleicht bald nur Erinnerungen!«
»Wieso?«
Und dann entschlüpften ihm gegen seinen Willen seine neuen Pläne: er wolle fort. Im ersten Augenblick sah sie ein wenig erstaunt aus, dann kam etwas Forschendes in ihren Blick und schließlich ein froher, fast neckischer Ausdruck in ihr Gesicht, während sie auf seine etwas zu heftigen, ein wenig stammelnden Äußerungen lauschte.
»So! Na, kommen Sie nun!« unterbrach sie ihn kurz.
Kein Wort des Bedauerns! nicht einmal eines des Erstaunens! O, wie egoistisch sie in ihrem Glück war!
Mit bitterem Gefühl nahm er in der am Kaffeetisch versammelten Gesellschaft seine Beobachtungen wieder auf. Der Baron und Agnes waren fast untrennbar. Als Felldin einmal zu ihr aufsah, begegnete er ihrem Blick, der nun wieder den frohen Ausdruck hatte, der sich für ihn fast wie Hohn ausnahm.
Hatte sie das Geheimnis seines Herzens erspäht und genoß es mit der niedrigen Freude der Koketterie? Es sah fast so aus.
***
In dieser Nacht schlief Gustav Felldin wenig; Fräulein Agnes aber schlummerte in holdem Rosentraum, nachdem sie erst lange beim Kämmen ihrer dunklen, funkelnden Haare am Fenster gestanden und mit einem Glücksschimmer über den warmen, roten Lippen und glühenden Wangen in den Abend hinausgeblickt hatte.
Sonst hatte Disponent Felldin sich fast jeden Tag, wenn auch nur für kurze Zeit auf Eckenfelde sehen lassen, da er auf dem schönen Fußweg von der Fabrik in wenigen Minuten dorthin gelangen konnte. Jetzt blieb er fast eine Woche fort.
Dann trafen er und Fräulein Agnes sich auf dem kleinen Fußweg an einem Tage, da die Sonne warm schien und die Birken nach dem Regen dufteten. Er grüßte artig, aber finster, und wollte still vorbeigehen. Da vertrat ihm Fräulein Agnes den Weg, indem sie sich mit beiden Händen auf ihren Sonnenschirm stützte und ihm gerade in die Augen blickte.
»Warum machen Sie sich unsichtbar, Herr Disponent?«
»Weil man sich hüten muß, sich zuviel einem Glü ... einem Genuß hinzugeben, den man bald wird entbehren müssen.«
»Warum beharren Sie denn darauf, den Ort zu verlassen, wenn er Ihnen ein Glück ... ein Wohlbehagen bieten kann?«
»Das Wohlbehagen, das ich immer auf Eckenfelde empfunden habe, dürfte vielleicht leiden unter Veränderungen, die da bevorstehen. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich unzart erscheine; aber ich meine, ein glücklicher Mensch braucht nicht erzürnt zu werden, wenn ein anderer ihm verrät, daß er von seinem Glücke weiß!«
»Bei uns daheim bleibt alles beim Alten, soviel ich weiß!« erwiderte sie ruhig.
Er sah fragend zu ihr auf, aber wenn es sein Leben gegolten hätte, er hätte kein Wort hervorbringen können.
Sie ging auf dem Stege weiter, und er folgte ihr unbewußt, wie unter einer Suggestion.
»Sie glaubten gewiß, daß noch jemand fortgehen würde?«
Er sah so aus, als wenn er es geglaubt hatte. Dann fiel ihm aber der seltsam frohe, halb neckische Schimmer, den er schon zweimal in ihren Augen gesehen hatte, ein, und er wurde von Angst ergriffen, sie könnte sich nur vorgenommen haben, mit klaren, deutlichen Worten bestätigt zu erhalten, was er bereits verraten hatte. Aber zugleich bäumte sich sein männlicher Stolz auf. Hatte sie sich doch sogar soweit herabgelassen, ihre Verlobung zu verleugnen, nur um sein Bekenntnis herauszulocken. Nun wohl, dann sollte sie auch noch dies Vergnügen haben, aber in einer Form, daß sie begriff, er hätte die ganze Zeit klar gesehen und sich nicht dadurch demütigen wollen, daß er, wie ein Bettler, klagte. Und so begann er dann plötzlich frei heraus zu reden:
»Ja, gnädiges Fräulein, ich war wirklich thöricht und kühn genug, darüber zu trauern, daß jemand, den zu sehen meine höchste Freude war, und den besitzen oder erringen zu können ich mir eingebildet habe, von dem alten Eckenfelde fortziehen sollte. Aber da ich Sie nie mit meinem Klagen belästigen wollte, weiß ich nicht, was Ihnen das Recht giebt, einem Gefühl, das Ihnen niemals kränkend genaht ist, mit Hohn zu begegnen –«
»Sie phantasieren, ich habe Sie niemals verhöhnt!« flüsterte sie.
»Glauben Sie denn, ich sah nicht die Befriedigung, die aus Ihren Augen leuchtete, als Sie sich vor mir neulich in Ihrem ganzen, jungen, großen Glück zeigten, das offenbar dadurch noch erhöht wurde, daß ich von hier fort wollte, eine Nachricht, die Sie ohne jedes noch so konventionelle Interesse aufnahmen, nur mit einem Lächeln, das Ihren Triumph ausdrückte. Warum lächelten Sie damals, Fräulein Brundin?«
Sie blieb stehen, richtete sich in voller Größe auf, sog in einem langen Atemzuge allen Birkenduft, alle Lebenslust, die sie umwallte, ein, lachte wieder, streckte die Arme nach ihm aus und jubelte:
»Weil ich erst da völlig wußte, daß du mich liebtest, du großer, du langer, dummer, lieber Mann, du!«