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Viertes Kapitel.
Händler Lars und ich.

Jetzt muß ich dem geehrten Leser meine neuen Freunde vorstellen, meinen Herrn und meinen Kameraden, Händler Lars und Pålle. Noch heute, nach so vielen Jahren, sehe ich sie vor mir, wie sie aussahen, wenn wir alle drei bergauf kletterten. Händler Lars ging in seinen alten Tagen sehr vornübergebeugt, war etwas unter Mittelgröße, aber untersetzt und kräftig. Der gleichmäßig dicke Leib war mit einem schlechtsitzenden groben Tuchrocke bekleidet, und die großen Füße steckten in noch größeren Schmierstiefeln mit langen bis übers Knie reichenden Schäften. Es mußte mindestens 25 Grad warm sein, ehe es Lars einfiel, seinen dicken Rock mit einem leichteren zu vertauschen und anderes Schuhzeug legte er niemals an. Im Winter trug er einen mit dem Felle nach außen gekehrten Wolfspelz. Aus dem hohen Rockkragen erhob sich ein rundes, gutmüthiges, feistes Gesicht, und der große Kopf war mit dichtem, blonden Haar bedeckt, das nach alter Bauernsitte »über den Kessel geschoren« war, so daß es das Gesicht wie ein zwei Zoll dicker Kranz umgab und über der Stirn einem Strohdache glich. Backenbart und Schnurrbart waren roth und ein wenig graumelirt, die Nase dick und nichts weniger als feingeschnitten. Doch die großen, blauen, guten, klugen Augen erhellten das ganze Gesicht, ja die ganze Persönlichkeit, wie die Sommersonne eine magere Haide vergoldet, und man brauchte nur wenige Worte mit dem alten Hausirer zu wechseln und nur wenige Male seine allerdings småländisch singende, aber weiche und freundliche Stimme zu hören, so mußte man ihn lieb gewinnen. Er verstand es auch wie kein Anderer sich mit den Fröhlichen zu freuen, mit Allen zu scherzen und zu plaudern, ab und an in lustiger Gesellschaft ein Glas zu trinken, wenn auch nie einen Tropfen mehr als er vertragen konnte. Doch als ich ihn näher kennen lernte, merkte ich, daß etwas sein Herz bedrückte, daß er an einem Kummer trug, von dem er sich auch in seinen frohesten Augenblicken nicht ganz frei zu machen vermochte. Und dieser Kummer, und nicht das Geschäft, beherrschte seine Gedanken, wenn er stundenlang grübelnd auf dem Wagen saß und Hügel, Wälder, Aecker und Seeufer anstarrte, ohne etwas davon zu sehen.

Er war überall, wohin wir auch kamen, gern gesehen, und das will nicht wenig sagen, denn sein Geschäftsgebiet betrug ungefähr 20 Quadratmeilen und erstreckte sich über Halland, den nördlichen Teil von Schonen, Blekingen und das südliche Småland. Besonders bei den Frauenzimmern war er außerordentlich beliebt. Wenn sein freundliches »Guten Tag!« auf dem Hof ertönte, wurde das Spinnrad fortgestellt, die Magd kehrte auf dem Wege nach dem Stalle um, und die kleinen Mädchen klapperten mit ihren Holzschuhen die Treppe hinunter, lächelten, steckten den Finger in den Mund und sahen Lars unter dem Stirnhaar von unten herauf so freundlich an, wohl wissend, daß er allen Kindern stets Zuckerstengel mitbrachte. Ehe der Hausvater noch die Axt beiseite legen und Lars mit einem herzlichen: »Na, sieh mal einer, Reise-Lars wieder unterwegs! Willkommen auf unserm Hofe!« die Hand reichen konnte, hatte Mutter schon in der Küche Kaffeewasser und Waffeleisen aufgesetzt.

Auf solchen Stellen dauerte es eine gute Weile, ehe Lars anfing von Geschäften zu sprechen. Erst mußte er wissen, wie es der Großmutter ging, und ob die Kuh, der bei seiner letzten Anwesenheit eine Kartoffel im Halse stecken geblieben war, sich davon erholt hatte, welche Saataussichten man hatte und ob der Jungstierhandel nach Wunsch ausgefallen war. Dann schwieg er eine lange Weile, und sagte darauf plötzlich:

»Nein, was ist Eure Lina für ein großes, hübsches Mädchen geworden. Sie geht wohl schon zum Pastor, sollt' ich meinen?«

»Ja, Du lieber Gott, sie hat jetzt damit angefangen. Reise-Lars ist doch der reine Hexenmeister; so gut weiß er mit unsern Gören Bescheid!« schmunzelte die Bäuerin geschmeichelt.

»Und die Schürze, das Kleid, das Taschentuch und das Gesangbuch zur Einsegnung habt Ihr wohl schon angeschafft?«

»Nein, bei Gott, das ist uns nicht eingefallen. Hier sind freilich Händler gewesen, die mit ihrem Paramattazeug und Indianazeug schrecklich billig waren und ein feines Kopftuch zugeben wollten, aber ich habe immer gesagt: »Wir warten bis Händler Lars kommt, er hat uns ihr Taufkleid geschafft und von ihm haben wir die Aussteuer genommen, als unsere Aelteste heirathete.«

Bei solchen Worten, die ihm bewiesen, wie festgewurzelt er bei den Bauern in Gunst stand, glänzte das runde Gesicht des alten Hausirers; er drückte der Bäuerin die Hand und sagte:

»Ich danke Euch, Mutter Kajsa! Ich werde Euch nicht anführen. Nils, hole den Koffer mit den schwarzen Kleiderstoffen; wir wollen etwas Hübsches aussuchen!«

So schleppte ich denn erst den Koffer mit den schwarzen Kleiderstoffen herbei, und später mußte ich gewöhnlich noch zwei bis drei Koffer holen. Auf großen Bauernhöfen verkauften wir gewöhnlich für 40-50 Thaler, und als ich eine Zeit lang mit Lars Andersson gereist war und mir ein wenig Waarenkenntniß angeeignet hatte, merkte ich, daß Lars keinen Menschen übervortheilte. Er nahm von dem Unkundigen, der sich ganz auf ihn verlassen mußte, keinen Pfennig mehr, als von dem Vorsichtigen, der stundenlang feilschte. Und wenn die Firma N. Jönsson und Sohn hier in der Stadt im Rufe ehrlicher und reeller Bedienung steht, so ist das nur auf Lars Anderssons Prinzipien zurückzuführen, nach denen ich zum Kaufmann ausgebildet worden bin.

Ein solcher Mann war mein neuer Herr. Mein Freund und Dienstkamerad Pålle war auch eine Zierde seines Geschlechtes, darauf gebe ich Euch mein Wort. Er war ein mittelgroßes, dunkelbraunes, als wir uns kennen lernten, schon ein wenig bejahrtes, kräftiges Norrlandspferd, das ohne Feuer, aber auch ohne Ermattung bergauf und bergab trabte, trotzdem unser Lager bisweilen 15 Zentner wog. Wir hatten nicht einmal eine Peitsche, deren wir auch garnicht bedurften, da Pålle stets gleichen Schritt hielt, und doch habe ich selten einen Schweißtropfen auf Pålles Bauch gesehen, obwohl er in hellen Sommernächten ununterbrochen 8-10 Stunden auf den Beinen war.

Ich erinnere mich so deutlich unserer ersten Rast. Wir waren 20 km vom Nordhofe entfernt, hatten an fünf oder sechs Stellen einige Kleinigkeiten verkauft, und an zehn oder fünfzehn Stellen den Bescheid erhalten, daß man nichts brauche. So fuhren wir in einen schönen Buchenwald ein und kamen bald an das Ufer eines im Sonnenscheine glänzenden Sees. Lars zog die Zügel an, und der Wagen hielt im Schatten einer uralten Buche.

»Hier wollen wir unser Mittag essen, Nils!«

Flink wie ein Fisch und bemüht, meinem Wohlthäter durch Eifer und Gehorsam meine Dankbarkeit zu beweisen, spannte ich Pålle los, band ihn an einen Baum und legte ihm den Sack mit dem saftigen Grase, das wir vom Nordhofe mitgenommen hatten, vor.

Dann aßen wir selbst. Ich, der ich an die schlechtesten Bissen dürftiger Kost gewöhnt war, dessen gesunden Kinderappetit man stets mit erstaunten, abgünstigen Blicken betrachtet hatte, ich erhielt jetzt das eine Butterbrod, das eine große Stück kalten Schweinefleisches über das andere. Und Reise-Lars lächelte, als er sah, wie es mir schmeckte.

»Iß Dich richtig, ordentlich satt, mein lieber Junge, und sei nicht bange vor der Milchflasche,« ermunterte er mich.

Als wir fertig waren, streckte Lars sich bequem auf dem weichen Moose aus und hielt ein Mittagsschläfchen, während ich Pålle zur Tränke führte. Es war ein herrlicher Tag, ich war so froh, so dankbar, so satt, daß es meinem kleinen Herzen des Glückes zu viel wurde. Ich schlang die Arme um Pålles Hals, legte die Wange an sein braunes Fell und brach in Thränen aus, während mein vierbeiniger Freund mir leise und vorsichtig den Rücken beschnupperte und sich wunderte, was dem kleinen Menschenkinde eigentlich einfiel.

Als Händler Lars erwachte, war Pålle schon angeschirrt, und er brauchte nur auf den Wagen zu steigen. –

So ging es denn in die weite Welt hinaus, von Hof zu Hof, von Ort zu Ort, in Bauernhäuser mit weißgetünchten Herden und vertrockneten Birkenzweigen, die noch seit Pfingsten in allen Ecken hingen, auf Rittergüter, wo des Sonntags Abends auf der Scheundiele getanzt wurde, wo die jungen Leute Kopftücher und Westenzeug von Lars kauften, wo ich selbst mit den kleinen Töchtern des Herrn tanzen durfte, und man uns in der Küche mit Kaffee und unabgesahnter Milch traktirte.

Es wurde Herbst und Winter. Der Regen peitschte unsere Wangen, das Theertuch mußte vorsichtig über die Koffer gezogen werden, Pålle senkte die Stirn vor dem Winde, legte die Ohren zurück und beschleunigte seine Schritte. Der Schneesturm hüllte die mit Haidekraut bewachsenen holländischen Hügel in ein weißes Leichentuch, und wir wären beinahe im Schnee stecken geblieben, ehe wir an den Hof kamen, wo Lars im vorigen Frühlinge seinen Schlitten eingestellt hatte. Der Wind drang uns durch Mark und Bein, und meine kleinen Hände mußten sich erst einige Minuten an Pålles fettem Bauche wärmen, ehe ich ans Ausspannen und ans Abschnallen des Theertuches denken konnte.

Doch das genirte mich nicht im Geringsten. Ich hatte warme Kleider auf dem Leibe, erhielt reichliche und gute Kost, wohin ich ging, folgten mir die freundlichen, zufriedenen Blicke meines Herrn, wer konnte es besser haben?

Dann wurde das Wetter wieder klar und ruhig. Die Wintersonne beschien die hochaufgeworfenen Schneewälle zu beiden Seiten der Landstraße. Pålle schnaubte seinen Lebensmuth in die reifbedeckte Natur hinaus, und unsere große Schlittenglocke läutete durch den ganzen Sunnerbodistrikt, durch Getabäck, Loushult, Marklunda bis Broby im Kreise Kristianstad. In Halmstad, Vexiö, Karlshamn und Kristianstad ergänzten wir unser Lager, wenn es in der Nähe einer dieser Städte zu sehr zusammengeschmolzen war, so daß wir nicht mehr in allen Artikeln, die wir zu »führen« pflegten, hinreichend »sortirt« waren. Lars hatte guten Absatz und liquidirte ordentlich, weshalb die Kaufleute ihn auch mit großer Achtung behandelten. Wir wurden von ihnen freundlich aufgenommen und aufs Beste bewirthet. Die Prinzipale klopften Andersson vertraulich auf die Achsel, nannten ihn »Werther Freund« und »Patron Andersson«, die Ladenjünglinge machten tiefe Bücklinge und schenkten mir große Düten mit Rosinen und Feigen, da sie wußten, daß Lars mich wie seinen eigenen Sohn hielt.

An einem blitzkalten Februartage fuhren wir über die öde Marbäckshaide in Halland. Der Schnee knirschte unter den Schlittenschienen und sowohl an Pålles Mähne wie an Lars Anderssons rothgrauem Barte hingen lange Eiszapfen. Ich lag auf einem der Koffer hinter dem breiten Rücken meines Herrn und hatte mich mit einer Pferdedecke zugedeckt: Plötzlich fuhr Lars zusammen und zog die Zügel so heftig an, daß Pålle stehen blieb.

Ich blickte auf, sah aber nichts weiter als die öde Haide rings umher und am Wegesrande einen Scherenschleifer mit seinem Schlitten, Schleifstein und Wetzholz, sammt einer großen, mageren, zerlumpten, schwarzen Frau mit einem Peekhaken. Was war nur mit meinem Herrn? Er bebte, als hätte ihn der Schüttelfrost gepackt und sah das Scheerenschleiferpaar starr an. Die Frau blickte zufällig auf und stutzte. Dann flüsterte sie dem Scheerenschleifer etwas ins Ohr, worauf dieser nickte und seinen Weg fortsetzte, während die Frau an unsern Schlitten trat. Sie sah so verkommen und unheimlich aus, daß mir ganz bange zu Muthe wurde. Sie verzog den zahnlosen Mund zu einem widerlichen Grinsen und sagte mit heiserer, mißtönender Stimme:

» Du fährst mit eigenem Fuhrwerk, mit Knecht und Pelz. Ja, ich danke! Und ich muß in Lumpen gehen und frieren, und weiß heute Abend nicht, wo ich morgen Nachtherberge finde. Dir geht es gut, Lasse, Du bist dick und fett! und ich bin so hungrig und bekomme oft den ganzen Tag nichts zu essen! Hörst Du 's!

Lars fiel förmlich in sich selbst zusammen, senkte das Kinn auf die Brust und sagte beinahe flüsternd:

»Wer hat es nicht anders haben wollen, Lena?«

»Ha, ich selbst natürlich, als ich nicht so klug war, bei Dir auszuhalten, und mit dem andern Lumpen durchbrannte. Wer hätte es auch für möglich gehalten, daß ein solcher Schafskopf wie Du es so weit bringen könnte. Kreuz! wenn ich das gewußt hätte! Ich hätte nichts dagegen, wenn ich nun eine reiche Kaufmannsfrau wäre, Lasse!«

»Man soll nicht von Dingen reden, die vergangen sind, Lena. Brauchst Du etwas?« fragte Lars, und seine Stimme klang, als wären ihm die Thränen nahe.

» Ob ich etwas brauche? Kannst Du denn nicht sehen, Du Blindschleiche? Nenne mir etwas, was ich nicht brauche, Lars!«

Lars legte die Zügel nieder, zog die Fausthandschuhe aus und griff nach seinem Taschenbuche. Er gab ihr fünf Zehnkronenscheine und flüsterte:

»Es dient zu nichts, daß wir Beide mit einander reden. Gott helfe Dir Aermsten!«

»Ha, ha, ha! Du bist wohl fromm geworden! Ja, er hilft mir schon, wenn er auf dieser Straße kommt. Adieu, Lars! Wenn ich Dich so recht ansehe, hätte ich bei einem solchen Kerl doch auf keinen Fall bleiben können.«

Damit eilte sie fort, um ihren Begleiter einzuholen.

Ich war erschrocken und verwundert. Wer mochte sie sein, dieser Abschaum des weiblichen Geschlechtes, die es wagte, so gegen Händler Lars aufzutreten, und der er obendrein noch 50 Thaler schenkte.

Als wir in der Dorfschenke unser Mittag aßen, kam mir die Sache immer merkwürdiger vor. Lars war wie ausgetauscht. Die Wirthin fragte nach seidenen Tüchern und Lars erklärte, keine zu haben, obwohl wir 20 Stück von Karlshamn mitgenommen hatten. Dann trank er einen Schnaps, schmierte sich ein großes Butterbrod und schob es, nachdem er einen Bissen davon abgeschnitten hatte, mir zu:

»Iß es auf, Nils!«

Die Nacht darauf schliefen wir in einer Häuslerei, wo man uns ein Lager auf der Hausdiele zurechtgemacht hatte. Ich war grade im Begriffe einzuschlafen, als Lars tief aufseufzte und mit verschleierter Stimme sagte:

»Nils!«

»Ja, Herr? Pålle hat frisches Wasser bekommen, und die Decke habe ich ihm für die Nacht übergelegt.«

»Das meinte ich nicht. Mit der Frau, die uns unterwegs begegnete, bin ich in meiner Jugend verheirathet gewesen, und eine schönere Frau gab es nicht auf 20 Meilen in der Runde, Nils! Sie hat mich in der Woche nach der Hochzeit betrogen und ist mir mit dem Kerl, der den Schlitten zog, durchgebrannt.«

Ich war ganz außer mir vor Bestürzung, hatte aber das Gefühl, etwas sagen zu müssen, und stammelte:

»Oh herrjemine! Das ist ja unmöglich!«

»So nun weißt Du, Nils, daß Händler Lars auch seine Bürde trägt, obgleich er mit eigenem Fuhrwerke und im Pelzrocke reist ...«

Von diesem Tage an schloß ich mich noch inniger an meinen Herrn an; ich wußte ja nun, woran er dachte, wenn er rechts und links in die Landschaft hinausstarrte, ohne etwas davon zu sehen.

Ich erhielt immer größeren Einblick in das Geschäft und nach ein paar Jahren hatte ich allmählich alle damit verbundenen Schreibereien ziemlich selbstständig zu besorgen. Das war grade keine sehr verwickelte Korrespondenz und Buchführung! Requisitionen und Einkäufe besorgte Lars persönlich, sobald wir zur Stadt kamen. Nur selten wurde ein Brief an einen Kaufmann mit der Ordre geschrieben, uns eine besondere Waare, die uns auszugehen drohte, an einen bestimmten Ort zu schicken. Mahnbriefe schrieben wir noch seltener; wenn wir im Frühlinge Waaren auf Kredit lieferten, wollte Lars bei unserer Rückkehr im Herbste sein Geld haben und vice-versa. Bekam er es nicht, so begnügte er sich mit einer kleinen Anzahlung und stundete den Rest. Etwas ging uns wohl auf diese Weise verloren, doch lange nicht soviel, wie es heutzutage bei einer solchen Geschäftsführung der Fall sein würde. Die Bauern wohnten damals Generationen hindurch auf ihren Höfen, und da noch keine Freizügigkeit bestand, blieben die Dienstboten ebenfalls in dem Kirchspiele, in dem sie geboren waren. Die Schreibereien beschränkten sich also beinahe ausschließlich auf das »Borgebuch«. Ich habe noch mehrere Exemplare desselben im Schranke, wollte aber nicht gerne, daß meine jungen Herren dieselben in die Hände bekämen. Ein solches Borgebuch hat nicht die geringste Aehnlichkeit mit einem gewöhnlichen Reisecontra, das für jeden Kunden ein besonderes Conto hat. Nein, wir schrieben Datum, den Namen unseres Kunden, was er bekommen und was es kostete ohne Linien und Ziffernkolonnen, Reihe für Reihe, wie einen Brief in unser Buch. Deshalb konnten die verschiedenen Posten auch nie auf gewöhnliche Weise addirt werden, um so mehr, da die Zahlen nie untereinander standen, sondern wir mußten sie im Kopfe zusammenrechnen, was in einer Zeit, da Thaler, Schillinge, Rundstücke und Stüber cursirten, seine Schwierigkeiten hatte. Dann wurde ein dicker Strich unter das Conto gezogen und auf der nächsten Seite wieder neu angefangen. Ein Register für die vielen hundert, durcheinandergewürfelten Contos hatten wir nicht; dieselbe Person konnte an sieben oder acht Stellen im Buche verzeichnet sein, und wir mußten uns ganz auf unser Gedächtniß verlassen, das uns, so weit ich mich erinnern kann, auch keinen Augenblick im Stiche ließ.

Das Cassabuch hielt Händler Lars für eine total überflüssige Einrichtung. Wenn ein Kunde bezahlte, wurde der Posten durchgestrichen, und wollte Lars sich seine Geschäftsstellung klar machen, so rechnete er nach den von den Kaufleuten erhaltenen Ordercopien zusammen, was er ihnen schuldig war; dieses wurde von dem Ergebniß der Addition seiner verschiedenen Sparkassenbücher und dem Inhalte unserer Kasse subtrahirt, und der Rest mit dem Werthe unseres Lagers, unseres Packwagens und den sichern ausstehenden Forderungen zusammengerechnet. Die letzteren konnte Lars durch eine mittelst langjähriger Uebung erreichte, fast unglaubliche Fertigkeit binnen weniger Minuten approximativ berechnen. So konnte er denn in einer Stunde seine ganze Geschäftsstellung Revue passiren lassen, und das kann ich mit meinem Geschäfte nicht, obgleich wir mit dem Prokuristen drei Geschäftsleiter im Comptoire sind.

So verging die Zeit bis zu meinem neunzehnten Jahre. Jetzt war ich es, der vorn auf dem Wagen saß und die Zügel führte, und Reise-Lars, der hinter mir auf den Koffern zusammengekauert durch meinen breiten Rücken vor dem Winde geschützt wurde. Ohne daß wir wußten, wie es gekommen war, mußte ich jetzt in den Bauernhäusern das »Reden besorgen« und das Geschäft vertreten, während Lars still am Ofen saß und Bonbons unter die Kinder vertheilte.

Sein Rücken wurde immer gebeugter, Haar und Bart eisgrau und er blieb gern auf dem Wagen sitzen, wenn es bergauf ging. Auch Pålle war grau geworden, er stolperte oft auf unebenen Wegen, wenn ihn nicht eine liebevolle Hand aufrecht hielt und wenn er fraß, ging es nicht mehr in demselben Takte wie früher. Wir hatten jetzt stets einen Beutel Roggenmehl auf dem Wagen und versuchten den alten treuen Diener durch Mehlwasser bei Kräften zu erhalten.

Nie war die Rede davon, daß ich »Lohn« haben sollte, nie kam mir der Gedanke, meine alternden Freunde zu verlassen. Hatte ich nicht, wie Pålle, alles, was ich brauchte, und sollte ich weniger dankbar und anhänglich sein als er!

Wir schrieben jetzt Weihnachten 1853. Reise-Lars war den ganzen Winter hindurch nicht recht frisch gewesen. Er wollte lange Mittagsrasten machen und wenn er einkehrte, geschah es gewöhnlich auf zwei Nächte. Mit dem neuen Jahre wurde es schlimmer. Des Nachts hustete er und bei Tage war er heiser. So kamen wir an einem entsetzlich kalten Januarabende in eines unserer besten Quartire, den Hof des Gerichtsbauern in Bolsåkra auf der Grenze zwischen Schonen und Småland. Lars sprach wenig, er ging sofort zu Bett. Am nächsten Morgen weckte ich ihn um sieben Uhr.

»Gedulde Dich, Nils. Wir fahren um neun, Pålle war gestern Abend so müde,« sagte Lars und schlief auf der Stelle wieder ein.

Als ich ihn um halb neun Uhr zum zweiten Male weckte, antwortete er schlaftrunken:

»Warte noch ein bischen, Nils! Ich bin so müde.«

Wir ruhten den Tag über, und am folgenden Vormittage rief Lars mich an sein Bett:

»Gott weiß, was mir eigentlich fehlt, Nils, aber es hilft nicht, ich muß ein paar Tage im Bett bleiben. Fahr' Du nur heute nach Loushult und von da nach Killeberg und Ousby. Wenn Du zurückkommst, bin ich wieder besser.«

Mit schwerem Herzen stieg ich allein auf den Wagen, und hatte keine Ruhe, bis ich zwei Tage darauf wieder in Bolsåkra einfuhr. Ich warf Pålle die Zügel auf den Rücken und eilte ins Haus.

»Wie steht es mit Lars?«

»Er ist schwer krank und hat Dich mit Unruhe erwartet,« antwortete der Gerichtsbauer.

Als ich Pålle eingestellt hatte und in die Seitenkammer trat, ergriff mich eine namenlose Angst. Der Tod hatte Lars schon seinen Stempel aufgedrückt. Das fette, runde Gesicht war eingesunken und sah wachsbleich aus; die zitternde Hand, die sich mir zum Willkommen entgegenstreckte, war abgemagert und kraftlos.

»Es ist gut, daß Du hier bist, Nils ... ich warte auf den Pastor und den Gerichtsbauern ... mit Händler Lars geht es zu Ende ... ich will mein Testament machen, Nils,« flüsterte er mit heiserer Stimme.

Ich fiel neben dem Bette auf die Kniee, und heiße Thränen strömten über meine Wangen. Er war ja der Einzige, den ich auf der Welt hatte!!

Dann kam der Pastor und gleich nach ihm trat der Gerichtsbauer mit Tintenfaß, Papier und Gänsefeder ein.

Deutlich, obwohl mit schwacher Stimme traf Lars Andersson seine letzten Verfügungen über das, was er auf dieser Welt sein nennen konnte, und er machte es kurz genug.

» Ich sollte alles haben« ... Pferd und Wagen, Lager und alle ausstehenden Forderungen, sammt allen Sparkassenbüchern. »Alles, was ich besitze, vermache ich ohne Vorbehalt meinem lieben, jungen Mithelfer Nils Jönsson, der mir mehrere Jahre lang treu und anhänglich gedient hat.«

Selbst in den bitteren Augenblicken des Schmerzes kann man alles Leid vergessen, so lange man jung, warm und uneigennützig empfinden kann.

Noch heute ist es mein Stolz, daß ich beim Anhören des letzten Willens meines Freundes, der mich, den verachteten, verauktionirten Waisenjungen, mit einem Schlage zum wohlhabenden Manne machte, keine andere Freude empfand als die über Lars Anderssons Zuneigung zu mir. Doch der große überraschende Beweis dafür, daß er so viel von mir hielt, konnte nur meine Angst, ihn zu verlieren, steigern; ich legte mein Haupt neben das seine auf das Kopfkissen und schluchzte:

»Das ist zu viel, Lars! Um Jesu willen, werdet wieder gesund und behaltet es selbst noch viele Jahre!«

Er seufzte schwer und drückte mir die Hand.

»Dank für Deine langjährige Begleitung, Nils! Du bist mein treuer Diener gewesen und ich hoffe, daß ... es Dir wohl gehe ... wenn Du Dein eigener ... Herr bist ... Weine nicht, Nils ... Ich fühle es ... jetzt geht ... Händler-Lars zum letzten Male ... auf die Reise ... oh ... das ist ... so schön ...«

Den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht saß ich am Bette meines alten Freundes und hielt seine Hand in der meinen. Der Pastor hatte Lars die Beichte abgehört, lange mit ihm gesprochen und ihm darauf das Abendmahl gegeben. Eine Kinderseele hatte sich dabei ohne Rückhalt enthüllt. In der weltlichen Bedeutung des Wortes hatte er nie etwas Böses gethan und selten etwas Unrechtes gedacht; aber jetzt auf der Schwelle der Ewigkeit fühlte er, daß dies nicht ausreichte, daß die Sorgen des Lebens seine Gedanken zuviel von dem einen Nothwendigen abgelockt hatten, was sein frommer Sinn wohl nie ganz aus den Augen verloren, wonach er aber auch nicht als nach dem Wichtigsten von allen getrachtet hatte.

Das Glück wollte, daß es ein guter, warmherziger Prediger, keiner von den lauen Miethlingen und auch kein Fanatiker war, der am Sterbebette des alten Hausirers saß. Milde, sanft und tröstend fielen seine Worte in dieses zuckende, blutende, alte Herz.

In den langen, stillen Nachtstunden rief mich Lars mehrmals bei Namen und gab mir mündliche Erläuterungen zu seinem Testamente.

»Nils!«

»Ja Herr!«

»Jödde in Gryteryds junge Frau soll nichts für das Seidentuch bezahlen, das wir für sie gebucht haben. Ich habe bei ihr Gevatter gestanden.«

*

»Bist Du wach, Junge?«

»Wie könnt Ihr glauben, daß ich schlafen kann, Lars!«

»Ich weiß, daß Du Pålle nicht verkaufst und ihm das Gnadenbrod giebst. Nicht wahr, Nils?«

Als er den alten, treuen Diener, den Dritten in unserm Bunde, nannte, versagte mir die Stimme; ich drückte ihm stumm die Hand, und Lars nickte befriedigt. – – – – – – – – – –

»Noch eins Nils!«

»Was denn, Herr?«

»Wenn Du sie triffst – – oder ihr begegnest – – oder hörst – – daß sie in großer Noth ist – – die Frau – – die wir – – auf dem Hallandsås Hallandsås = holländischer Landrücken. trafen – – so thue an ihr – – was ich gethan haben – – würde – .«

»Ich verspreche es Euch, Lars!«

Bei Tagesanbruch entschlummerte Lars sanft und ruhig, und drei Tage darauf wurde er auf dem Gottesacker des Kirchdorfes begraben. Dazumal gab es auf dem Lande noch keine Leichenwagen; ich mußte also das Lager in den Wagenschuppen stellen, den Packwagen reinwaschen und Händler-Lars mit seinem eigenen Fuhrwerk zu Grabe fahren.

Als der Sarg vor der Thür auf den Wagen gehoben wurde, wandte Pålle den alten, zottigen Kopf mit den jetzt tief eingesunkenen Augen um und wieherte, und als er, seine Kraft der gewöhnlichen, schweren Hausirerlast anpassend, anzog und fühlte, wie leicht der Wagen war, schüttelte er den Kopf, und konnte augenscheinlich nicht begreifen, wie die Sache zusammenhing.

Auf Händler-Lars' Grab steht jetzt ein Granitmonument mit seinem Namen in großen, vergoldeten Buchstaben, und darunter etwas von unersetzlichem Verlust und ewiger Dankbarkeit. Meine Frau und meine Kinder haben davor das Knie gebeugt und es mit kostbaren Kränzen, die ich mit Thränen befeuchtet habe, geschmückt. Am elften Juni 1855 ging Pålle schmerzlos, glatt und rund und neubeschlagen ins Grab, ohne daß vorher auch nur ein Haar aus seinem Schwanze gezogen worden wäre, und Jödde in Gryteryds junge Frau hat nicht nur das seidene Tuch, sondern auch ein neues Kleid geschenkt erhalten. Und sie, die Lars einst geliebt hat, und die ihn so treulos verließ, habe ich aufgesucht und ihr die letzten Jahre sorgenfrei gemacht.

Doch kann mir Jemand sagen, was ich noch thun kann, um auf Lars Anderssons Gesicht, wenn es verklärt auf uns herabblickt, ein Lächeln hervorzurufen, was ich noch thun kann, um das Andenken des besten Menschen, der mir im Leben begegnet ist zu ehren: so werde ich ihm auf ewig verpflichtet sein!


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