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Epilog.
(Ein interessanter Typhusfall.)


»Das war ein sehr interessanter Typhusfall«, murmelte Kreisphysicus Norberg in Naalköping, mehr zu sich selbst, als zu der alten Krankenwärterin Anna-Stine auf Westermalm, als er an einem Vormittag des Spätsommers in dem kleinen niedrigen Gemach links vom Corridor, Pfeilgasse Nr. 24 an dem Krankenbett des Landschreibers Alm stand, sein Handgelenk gefaßt hielt und aufmerksam die Pulsschläge verfolgte. »Ein sehr interessanter Fall: genau fünf Wochen krank, die ganze Zeit besinnungslos mit Fieberphantasieen, eine Sprache, die sich über seine gewöhnliche Redeweise erhebt, keinen Augenblick bei klarem Bewußtsein, das Hirn ernsthaft angegriffen, und nun kommt die Krisis.«

»Kann der arme Herr wieder gesund werden?« fragte Anne-Stine.

»Aufkommen thut er schon wieder, aber Gott weiß, was für ihn am besten wäre, denn es ist fraglich, wie es mit seinem Verstande steht. Viel Witz brauchen sie dort oben auf der Landeshauptmannschaft zwar nicht, um einem Scherereien zu machen mit den Reiseliquidationen, wenn man Amtsreisen macht, aber etwas müssen sie wohl doch auch davon haben. – So, nun geben wir ihm das hier, dann wacht er wohl gegen drei Uhr auf, und dann schicken Sie seine alte Aufwärterin nach mir, Anne-Stine.«

Der Doctor ging. Die alte Anne-Stine sah erstaunt nach ihrem Schützling in dem schmalen Feldbett hin. Der ängstliche, unruhige Ausdruck, der die ganze Zeit in seinem Gesicht vorherrschend gewesen war, war nun dem friedlicher Ruhe gewichen. Er schlief so tief und gut, der arme Herr Landschreiber. »Nein, sieh 'nmal, wirklich nu träumt er wohl auch etwas; aber das muß ein froher und heiterer Traum sein, denn es liegt wie Sonnenschein über dem abgemagerten Gesicht, und sein Mund lacht.«

Er murmelte undeutliche, unverständliche Worte, viel undeutlicher, als zu jener Zeit, da die Krankheit auf ihrem Höhepunkt stand. Die alte Anne-Stine hatte schon viele Kranke gewartet, die phantasirten, zum Beispiel den Major auf Staalvik, der während zweier Monate im Nervenfieber lag und fluchte und die ganze Zeit Rekruten exercirte, und die Bürgermeisterin, die alte, würdige Frau, die Herzentzündung hatte; aber so etwas, wie von Herrn Alm hatte sie noch niemals gehört. Bisweilen fuhr der Arme mit einem Pferde herum, bisweilen lockte er Kühe heran, dann hörte er drinnen im Zimmer Vogelstimmen und ein anderes Mal wieder hatte er fürchterlich viel mit Mettwürsten, Käse und Butter zu schaffen.

Die Zeiger schritten langsam weiter. Es wurde ein und zwei Uhr; nun sollte er bald erwachen, hatte der Herr Doctor gesagt! Unbegreiflich, wie das magere, häßliche Gesicht vor Freude strahlte. Anne-Stine hatte schon mehreren die Augen zugedrückt, von denen dann in der Todes-Anzeige gestanden hatte, »daß sie sanft im Glauben an den Erlöser eingeschlummert seien,« aber nie in ihrem Leben hatte sie auf einem weißen Kopfkissenbezug ein Gesicht mit einem so verklärten, glückseligen Ausdruck gesehen.

Nun wurde er unruhiger, drehte und wandte sich und griff mit den Armen vor sich hin in die Luft.

Es war schon ziemlich dämmerig in dem Gemach; der Doctor hatte gesagt, es wäre am besten, die Rouleaux unten zu lassen, damit die lange geschlossenen Augen nicht vom Tageslicht litten, wenn sie sich öffnen würden.

Er bog sich vor und streckte die Arme aus. Anne-Stine trat näher heran, denn es sah gerade so aus, als wenn der Landschreiber aus dem Bett fallen würde.

Nun richtete er sich mit Anstrengung empor, schlang die Arme um ihren Hals und jubelte:

»Na, habe ich Dich denn endlich hier, und nun willst du niemals, niemals mehr von mir gehen?«

»Nich, bevor Se wieder frisch sind, Herr Landschreiber. Ich hab' ja meine Krone per Tag, wie Se wissen!« meinte Anne-Stine und machte sich aus seinen Armen los, die sie mit einer für einen so ausgemergelten, elenden Kranken rein unbegreiflichen Kraft an seine eingefallene Brust preßten.

Als er aber ihre Stimme hörte, sank er kraftlos auf das Kissen zurück, mit aufgerissenen Augen, in deren Blick der Schreck geschrieben stand, und stöhnte:

»Hilf! Hilf mir! Geliebte! Ich träume so gräßlich! Ich kann mir nicht helfen! Licht! Licht!«

Es lag eine solche Angst in seiner Stimme, daß Anne-Stine, trotz des Verbotes des Doctors, sogleich an's Fenster eilte und die Rouleaux aufzog.

Die Augustsonne ergoß ihren Schein über den Raum.

Er richtete sich auf seinen zitternden Ellenbogen auf, und sein Blick war der eines Wahnsinnigen. Dann fiel er wieder kraftlos nieder und schrie mit verzweiflungsvoller Angst, wobei jede Silbe den Stempel schneidenden Schmerzes trug:

»Haben die Menschen uns gefunden? Haben sie uns gerade in dem Augenblick gefunden, da uns das Leben lachte, und Thyra kam und –«

Er war wieder bewußtlos.

Nach einer halben Stunde kam der Doctor, – und nachdem er sich eine Weile mit dem Kranken zu schaffen gemacht hatte, kam derselbe wieder zum Bewußtsein. Aber er blieb still liegen, mit halbgeschlossenen Augen und phantasirte noch davon, daß man sie entdeckt hätte, und alle die andern, die mit zu der Schaar gehörten, welche sie gefunden hatte, sich um sie, das arme, junge, schöne, interessante Mädchen versammelt hätten, während dieser eine Herr und diese alte Frau sich allein seiner annahmen.

Abgesehen davon, daß er auf wiederholte eindringliche Fragen ja und nein antwortete und daß er sich ganz wohl fühlte, verharrte er in eigensinnigem Schweigen. Nur einmal, als der Arzt nicht da war, fragte er die Alte:

»Wo ist Fräulein Thyra? Hat sie gar nicht nach mir gefragt?«

»Was für 'ne Thyra? Jetzt müssen Se nich an de Frauenzimmer denken, Herr Landschreiber, denn dazu sind Se nu doch vill zu matt! Vorläufig muß die alte Anne-Stine für Sie das nett'ste Frauenzimmer sein, das Se haben können!«

Und dann schob sie mütterlich die Hand unter das Kissen, um seinen Kopf emporzuheben, indem sie einen Topf mit einem kühlenden Getränk an seine trockenen Lippen führte.

Allmählich wurde es in seinem Hirn klarer. Ein paar andere Personen hatten einmal den Doctor mit hineinbegleitet. Man sprach von seiner langen Krankheit und von Naalköping als einer lebenden Stadt. Einmal sprang er auch aus dem Bett und wankte an's Fenster. Diese Straße, deren sämmtliche Häuser er in Schutt und Trümmern gesehen hatte, lag und wärmte sich in der Sonne mit ihren Reihen von Menschenwohnungen auf beiden Seiten, jetzt, wie früher. Kaum eine Dachrinne lag unregelmäßig, denn die Naalköpinger sind ordentliche Leute.

Dann begann er über die Details von alle dem nachzudenken, was er durchlebt zu haben glaubte. Lange brauchte er nicht zu sinnen, so stieß er auf offenbare Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in alle dem, was ihm während des Fiebers so logisch und natürlich erschienen war.

Nach einigen Tagen war er wieder vollständig in der Welt der Wirklichkeit zu Hause.

Bald konnte er in einem Lehnsessel am Fenster sitzen und auf die Straße hinaussehen und Anne-Stine für mehrere Stunden hintereinander beurlauben. Aber einmal, als sie gerade im Zimmer war, zuckte er heftig zusammen und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Die Alte eilte ans Fenster, noch zeitig genug, um ein junges Paar, Arm in Arm vorbeigehen zu sehen. Der Reconvalescent hatte sich mit zitternden Knieen erhoben und starrte den beiden mit verwunderten Augen nach.

»Kreuz noch e'mal! Die kennen Se wohl, Herr Landschreiber? Das is der Ref'rendar Birkenblatt mit dem reichen Freilein von Major's; se haben sich vor bald drei Wochen verlobt. Is es nich e schenes Paar, Herr Landschreiber?«

Bald kamen sie wieder am Fenster vorbei; es giebt nicht so viele Straßen in Naalköping, zwischen denen man die Wahl hat. Allmächtiger Gott, wie hold sie war, holder, als jemals! Und er stattlich schön, mit dem Siegerglanz der Jugend und Liebe auf seinem Gesicht.

Arvid Birkenblatt warf zufällig einen Blick nach dem Fenster hin. Er grüßte freundlich, nickte lachend und machte eine lebhafte Handbewegung mit seinem freien Arm. Die Herren hatten ja Brüderschaft getrunken. Und ihr Blick folgte dem seinigen und blieb mit einem fremden, fragenden Ausdruck auf dem häßlichen, abgezehrten, eingefallenen Gesicht hinter der Scheibe ruhen. Dann wandte sie sich ihrem Bräutigam zu und sagte etwas; offenbar fragte sie ihn, wer das wäre, und dann antwortete er, worauf sie alle beide lachten.

Er hatte sich sicher auf dem großen Souper bei Major Birkenblatt's sehr komisch ausgenommen!

*


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