Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Besuch von Privatgesellschaften würde ein wenig dünn gesäet sein, wenn die eingeladenen Gäste ungesehen Zeuge sein könnten der Erwägungen, welche in der gastfreundlichen Familie den höflichen Einladungen vorauszugehen pflegen.
Zum mindesten ist es zweifellos, daß der Landschreiber Otto Alm niemals seinen Fuß in das Haus der Familie Birkenblatt bei ihrem großen Souper gesetzt hätte, wenn er die Debatte im Familienkreise hätte hören können, die vor seiner Einladung stattfand.
Die Frau Majorin sagte, es würde sehr eng werden, sie müßte aus Rücksicht auf ihre beschränkte Wohnung und ihr weniges Geschirr schon viel werthvollere Namen streichen, als den des Herrn Otto Alm.
Der junge Referendar Birkenblatt fand Herrn Alm unschädlich und ließ ihm sogar die freundliche Anerkennung zu Theil werden, daß er »ein bescheidenes Thierchen« sei, sah aber jede Beschränkung der Festgäste von Seiten seiner Mutter als einen entschiedenen Gewinn an, da das Essen in ihrem Hause ohnehin niemals auszureichen pflegte. Diese Offenheit eines theuern Sohnes seiner würdigen Mutter gegenüber giebt dem geehrten Leser vielleicht einen Fingerzeig, daß das Ereigniß im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts spielt, ohne daß dieses noch weiter gesagt zu werden braucht. Fräulein Lottchen Birkenblatt meinte, was das Ausreichen des Essens anbelangte, wäre die Anwesenheit des Herrn Alm, der sie gewiß aus anderen Gründen keinerlei Bedeutung beilegte, eher ein Vortheil, weil sein flachsgelbes Haar, sein häßliches Gesicht und seine überhaupt recht wenig salonmäßige Erscheinung unzweifelhaft im hohen Grade den Appetit der anderen Gäste vermindern würde. Die übrigen Fräulein Birkenblatt äußerten sämmtlich einige freundliche Worte darüber, daß es am richtigsten und nützlichsten wäre, wenn Herr Alm bei sich zu Hause bliebe, oder wo anders, als bei ihnen, diesen großen Abend verbrächte.
»Ja, vielleicht nicht am wenigsten um seiner selbst willen, der arme junge Mann. Nach dem, was ich aus Euren Bemerkungen entnehme, gehört Herr Alm zu jener Klasse junger Leute, die sich in einem Kreise, wie der unsrige, äußerst unglücklich fühlen!« Diese Worte klangen wie Musik, oder, da dieses ein recht abgenutzter Ausdruck ist, will ich lieber sagen, es klang wie ein Nocturno, das auf einem wohlgestimmten, vorzüglichen Flügel von den geläufigen Fingern einer Dame vorgetragen wird, die Gefühl, Gehör und Schule besitzt. Und diejenige, die also sprach, war ein Fräulein von einigen zwanzig Jahren, das auf den ersten Blick hin schön erschien.
Sie war kaum von Mittelgröße, hatte eine schlanke und schöne Figur, dunkles, reiches Haar, große, dunkle Augen, eine hohe, merkwürdige fast unschöne Stirn, die man aber um des prächtigen Haares willen übersah, einen holden Mund mit frischen, weißen Zähnen, überhaupt ein in jeder Beziehung einnehmendes Gesicht. Aber die schöne Figur wurde nicht übermäßig gerade gehalten und die ziemlich selbständige, emporgestreckte Haltung des Kinns und der Nase nahmen dem entzückenden Gesicht jenen Ausdruck regelmäßiger Schönheit, der bei einer Statue so herrlich ist, im Leben aber, wie auch auf dem Gemälde eines Künstlers, so charakterlos und uninteressant erscheint. Sie war in das Zimmer hineingekommen, ohne daß die Uebrigen es bemerkt hatten. Ihre Stimme verbreitete einen lichten Schimmer der Zufriedenheit über alle Gesichter, außer über das des jungen Referendars, welches in Purpurfarbe erglühte.
Dies war Fräulein Thyra Birkenblatt, die Tochter des Vetters des Majors, eine Waise ohne Angehörige, die ihr näher standen, als diese Familie. Sie pflegte sonst ihre Zeit meist auf Reisen im In- und Auslande oder in Badeorten zu verbringen; aber nun war sie zum ersten Mal für einen Monat hierher zum Besuch gekommen und hatte alle sofort gefesselt und entzückt, wozu vielleicht auch bei den Uebrigen ihr ererbtes und sicher angelegtes Vermögen von 73 800 Kronen das Seinige beigetragen hatte, während bei Referendar Arvid Birkenblatt die Gedanken noch nicht über ihre kleine liebenswürdige Person hinausgekommen waren, als sie auch schon völlig festsaßen.
»– Vielleicht wäre es nicht zum mindesten um seiner selbst willen das beste –«
»Ach, Kinder«, unterbrach sie der Major ungeduldig. »Alm ist der Sohn meines alten Freundes! Es mag noch angehen, daß man sich über dergleichen in unserer praktischen Zeit hinwegsetzt. Als aber die Meierei-Aktien-Gesellschaft verkrachte und die Revisoren keine Decharge ertheilen wollten, denn das Rechnen ist niemals meine starke Seite gewesen, obwohl ich in die Geschichte nur honoris causa hineinkam – da war es Alm's Junge, der herkam und die Nächte aufblieb und so lange nachrechnete, bis man wenigstens sehen konnte, daß Hjalmar Birkenblatt kein Spitzbube sei. Was Thyras Rede anbetrifft, so wird es ihre Aufgabe und die unserer eigenen Mädchen sein, durch ein bischen Freundlichkeit gegen den Landschreiber Alm den Einwand selbst aus dem Wege zu schaffen. Und nun schreibst Du, Augusta, auch an ihn eine Einladung, und damit Punktum. –«
*
Der Gesellschaftsanzug des Landschreibers Alm war direkt für ihn selbst aus einem ganz neuen Stück Tuch zugeschnitten, und zu seinen Stiefeln hatte der Schuhmacher selbst Maß genommen, und auch sein Oberhemd war noch niemals vorher von einem anderen Menschen getragen worden; aber das konnte niemand vermuthen, der seinen Eintritt auf dem Souper bei Birkenblatts beobachtete. Ueberdies war der junge Mann wirklich krank. Er hatte sich erkältet, und das Fieber brannte in seinem Körper. Der Kanzleidiener hatte im Laufe des Vormittags für ihn zweimal Antifebrin holen müssen, und ein Mensch von weniger zäher Geduld hätte sich zu Bett gelegt, anstatt zum Souper zu gehen. Aber er wollte seinen Dienst am folgenden Tage nicht versäumen und er wollte einmal sehen, wie es bei einer feinen Gesellschaft zuging, und darum war er hier. »Außerdem hätte man sich ja beleidigt fühlen können, wenn er, der eingeladen war, nicht gekommen wäre.«
Die erste Stunde war für Otto Alm ein Augenblick berauschenden Salonlebens. Der Major drückte ihm die Hand und sagte: »Herzlich willkommen! Die Cigarren stehen drinnen bei Arvid!« Die Majorin fragte, »ob er seinen Thee sehr warm wünschte?« Der Referendar gab ihm ein Punschglas in die Hand und meinte: »Prosit, sollten wir Jungen nicht – hm – auf Grund der Freundschaft unserer Väter – hm – also Prosit, Du!« Und dann schlug Fräulein Augusta ihm ein Prachtwerk auf und sagte: »Ach, Herr Alm, Sie interessiren sich wohl für Ansichten!« – aber dann war es vorüber. Dann sprach volle zwei Stunden kein Mensch mehr mit ihm. Man hatte ihm ja ein Bilderbuch hingelegt, wie einem Kinde, und er wandte gewissenhaft Blatt für Blatt um. Plötzlich raschelte es an der anderen Seite des Tisches, und er blickte auf. Dann verschattete er einen Augenblick, gleichsam wie geblendet, das Auge mit der Hand und strich über seine schmerzende, feuchtkalte Stirn hin.
Froh, voll sprudelnden Lebens, noch mit leuchtenden Augen und mit in jeder Muskel bebenden Lippen nach einer lebhaften Unterhaltung mit den jungen Leuten drüben im anderen Zimmer, hatte Thyra Birkenblatt sich auf dem Stuhl an der anderen Seite des Tisches niedergelassen und begonnen, in einem Album zu blättern. Sie war hell gekleidet, und die feine Gestalt saß da, wie von einer Wolke umgeben, ein reizender, entzückender Anblick.
Otto sperrte seine unerhört hellblauen Augen auf, und das schmerzhafte Klopfen in seinen Schläfen hörte für einige Augenblicke auf. Ach, du himmlischer Vater, wie schön sie war! Er wagte kaum zu athmen! Ihn durchströmte ein sonderbares Gefühl; es war, als wenn alles Männliche, das in diesem demüthigen, ungeschickten, schüchternen jungen Menschen vorhanden war, sich emporbäumen und über so viel weibliche Anmuth laut aufjubeln wollte.
Ein paar junge Kavaliere waren herbeigeeilt, um ihre Plätze an der Seite Fräulein Thyra's einzunehmen und ihren Kommentar zu den Bildern des Albums zu geben. Als sie beim Blättern zu dem Bilde eines alten, würdigen, uniformirten Herrn mit einem Ordensstern auf der Brust kam und sie ihren kleinen weißen Finger auf dessen stolze Brust legte und fragte:
»Wer ist dieser?«, da wurde einer ihrer Trabanten von einer älteren Dame abgerufen und der andere mußte gerade eine Frage eines anderen jungen Mädchens beantworten.
»Und dieser –?«
Otto Alm erröthete bis hinter die Ohren. Aber betreffs dieses Porträts fühlte er sich zu Hause und sagte mit einer Stimme, als wenn ihm der Ton in der Kehle stecken bleiben wollte: »Das ist der Herr Landeshauptmann.«
Fräulein Thyra sah auf. Sie hatte bisher nicht bemerkt, daß noch jemand auf der anderen Seite des Tisches saß. Dann blitzte es in ihren großen schelmischen Augen auf und ihre Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln.
Ihr fiel das Gespräch vom Tage vorher ein und, fest entschlossen, nun auch ihren Antheil zum Vergnügen des umstrittenen Gastes beizutragen, erhob sie sich, streckte ihm ganz unkonventionell ihre schöne, weiße Hand hin und sagte:
»Herr Landschreiber Alm, wenn ich nicht irre? Mein Name ist Thyra Birkenblatt. Ich bin die Nichte vom Hause. Verzeihen Sie daher, wenn ich Sie ohne alle Ceremonie – aber bitte, behalten Sie doch Platz, Herr Alm!«
Thyra besaß im allgemeinen die Fähigkeit, das Gespräch auf ein Thema hinüberzuführen, das diejenigen interessirte, denen gegenüber sie sich artig erzeigen wollte, und auf dem sie sich gut zu Hause fühlten. Nun bekam sie den Einfall, gegen diesen schüchternen jungen Mann sehr liebenswürdig zu sein, und indem sie das Porträt des Landeshauptmanns als Ausgangspunkt nahm, plauderte sie von ihm und seiner ganzen Familie: wie er als Leiter der Landeshauptmannschaft, als Präfekt des Landstandes und als Landeskämmerer wäre, über seine Thätigkeit in der Kanzlei und alles mögliche dahin Gehörige, und Alm ging mit wahrem Feuereifer darauf los:
»Nein, Fräulein, nein! Keineswegs! Keine Gemeinde darf Viehmärkte an einem neuen Platz anordnen, bevor nicht das königliche Amt seine Zustimmung –«
Da biß sich der Sohn vom Hause in die Lippe, kam mit munter spielenden Augen näher und verneigte sich vor Thyra, um sie zu Tisch zu führen. Die Uebrigen drängten sich heftig und stießen sich ein wenig, um zu den, wie gewöhnlich etwas knapp bemessenen Rebhühnern und dem Weingelee mit halbechten Mandelkränzen zu gelangen. Otto Alm drängte sich mit einem für einen so schüchternen jungen Mann auffälligen Eifer zu einem Platze hin, von dem aus er Fräulein Thyra erblicken konnte.
Es war, als wenn ihm ein dichter Schleier von den Augen gefallen wäre. Noch niemals hatte er solch ein Weib gesehen. So konnten die Frauen also sein! Aber es gab wohl nur die eine auf der Erde, so schön, wie sie!
Er fühlte und ahnte gar nicht den sozialen Abstand zwischen ihnen; er schenkte der Möglichkeit, ihr mit einem Worte nahe zu treten, nicht einen Gedanken. Er machte sich nichts daraus, daß sie wahrscheinlich niemals mehr in ihrem Leben eine Silbe mit ihm sprechen würde. Wenn er sie nur sehen durfte, nur sehen, nur noch ein einziges Mal sehen!
Er taumelte spät in der Nacht nach Hause und kroch in sein schwankendes Feldbett hinein. Um 2 Uhr erwachte er, in Schweiß gebadet, gerade, als er im Traume als Gärtnergehilfe in einer Gärtnerei Handgeld genommen hatte, wo, wie man sagte, Fräulein Birkenblatt in jedem vierten oder fünften Jahre hinzukommen pflegte, um ganze drei Tage dort zu bleiben.
Er war ganz erschüttert darüber, daß diese Glückseligkeit nicht Wirklichkeit war, und nachdem er ein Weilchen später abermals seine Augen geschlossen hatte, gingen die ersten der wundersamen, theilweise geheimnißvollen, theilweise unendlich schönen Ereignisse vor sich, die das Thema zu dieser Erzählung geboten haben.