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Die Stunde war gekommen – die Stunde der Niederlage und Demütigung –, in der Sir William Howe die Schwelle der Statthalterei überschreiten mußte, um sich ohne den einst erträumten Siegesprunk auf der britischen Flotte einzuschiffen. Er hieß seine militärische Begleitung und die Dienerschaft vorausgehen und zögerte einen Augenblick in dem einsamen Hause, um die heftige Erregung zu bemeistern, die ihm fast die Brust zersprengte. Günstiger wäre ihm sein Los erschienen, wenn ein Soldatentod ihm das Recht auf ein enges Grab gegeben hätte in der Erde, die der König ihm zur Verteidigung anvertraut hatte. Er hatte das dunkle Vorgefühl, daß mit seinen scheidenden Schritten, die auf der Treppe widerhallten, die Herrschaft Britanniens für immer aus Neuengland entschwand. Er schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn und verfluchte das Geschick, das ihm die Schmach eines zerstückelten Reiches zur Last legte.
»Wollte Gott,« rief er und konnte kaum die Zornestränen zurückhalten, »die Rebellen stünden jetzt vor der Tür! Ein Blutfleck am Boden sollte dann bezeugen, daß der letzte britische Herrscher seiner Pflicht getreu war.«
Eine zitternde Frauenstimme gab Antwort auf seinen Ruf.
»Die Sache des Himmels und die des Königs ist nur eine,« sagte sie. »Geht hinaus, Sir William Howe, und vertraut darauf, daß der Himmel einen königlichen Statthalter im Triumph zurückführen wird.«
Sir William Howe unterdrückte sofort einen leidenschaftlichen Ausbruch, dem er nur stattgegeben hatte, weil er sich unbeobachtet glaubte und wurde gewahr, daß eine sehr alte Frau, auf einen Stock mit goldenem Knauf gestützt, zwischen ihm und der Tür stand. Es war die alte Esther Dudley, die seit fast unvordenklichen Jahren in diesem Hause wohnte, bis ihre Gegenwart so unzertrennlich damit verknüpft schien wie seine historischen Erinnerungen. Sie war die Tochter einer alten und einst hervorragenden Familie, die in Verarmung und Verfall geraten war und ihrem letzten Sproß nichts hinterlassen hatte als die Großmut des Königs und keinen anderen Schutz als in den Mauern der Statthalterei. Man hatte ihr eine Stellung im Haushalt mit vorgeblichen Pflichten übertragen als Vorwand für die Auszahlung einer kleinen Pension, von der sie den größten Teil ausgab, um sich in prächtigen, altertümlichen Staat zu kleiden. Die Ansprüche der vornehmen Abstammung Esther Dudleys wurden von allen aufeinanderfolgenden Statthaltern anerkannt, und sie behandelten sie mit der förmlichen Höflichkeit, für die sie eine große Schwäche hatte, die aber nicht immer von der gleichgültigen Welt berücksichtigt wurde. Ihr einziger wirklicher Anteil an den Geschäften des Hauses bestand darin, daß sie spät am Abend durch seine Gänge und Hallen glitt, um zu sehen, ob die Diener keine Funken von den wehenden Fackeln hatten fallen lassen, oder ob noch Kohlen in den Kaminen knisterten und glühten. Es war wohl dieser unabänderliche Brauch, in der Stille der Mitternacht ihre Runde zu gehen, der den Aberglauben der Zeit reizte, der alten Frau schreckliche und geheimnisvolle Eigenschaften beizulegen. Man erzählte, daß sie, ohne daß jemand wußte, woher sie gekommen, im Gefolge des ersten Statthalters das Portal des Hauses durchschritten habe, und daß es ihr bestimmt war, darin zu wohnen, bis der letzte es verlassen habe. Doch Sir William Howe hatte diese Fabel vergessen, wenn er sie je gehört hatte.
»Verehrte Frau Dudley, warum zögert Ihr noch hier?« fragte er in etwas strengem Tone. »Ich möchte gern der Letzte im Hause des Königs sein.«
»Wenn Euer Gnaden erlauben, nein,« antwortete die altersgebeugte Frau. »Dieses Dach hat mich lange beschirmt. Ich will es nicht eher verlassen, als bis sie mich zur Gruft meiner Väter tragen. Wo soll die alte Esther Dudley Schutz finden, als im Province-House oder im Grab?«
›Der Himmel verzeihe mir,‹ dachte Sir William Howe. ›Fast hätte ich dieses arme, alte Geschöpf hier hungern und betteln lassen.‹ »Nehmt das, gute Frau Dudley,« fügte er hinzu und legte ihr eine Börse in die Hand. »König Georgs Kopf auf diesen Goldstücken ist noch vollgültig und wird es auch bleiben, das versichere ich Euch, selbst wenn die Rebellen John Hancock zum König krönen sollten. Diese Börse wird besseren Schutz kaufen als die Statthalterei jetzt zu bieten vermag.«
»Solange ich noch die Bürde des Lebens trage, will ich kein anderes als dieses Dach über mir haben,« beharrte Esther Dudley und stieß den Stock auf mit einer Bewegung, die unabänderlichen Entschluß kundtat. »Und wenn Euer Gnaden im Triumph zurückkehrt, dann will ich zur Tür wanken und Euch willkommen heißen.«
»Arme, alte Freundin,« antwortete der britische General, und sein ganzer männlicher und kriegerischer Stolz konnte einen bitteren Tränenstrom nicht mehr zurückhalten, »dies ist eine böse Stunde für Euch und mich. Die Provinz, die der König mir anvertraut hat, ist verloren. Ich scheide im Unglück von hier – vielleicht in Ungnade – um nie mehr zurückzukehren. Und Ihr, deren lebende Gegenwart so eng mit der Vergangenheit verknüpft ist, die Ihr Statthalter an Statthalter in prächtigem Aufzug diese Stufen habt ersteigen sehen – deren ganzes Leben mit der Beobachtung königlicher Bräuche erfüllt war und mit der Verehrung des Königs – wie wollt Ihr den Wechsel ertragen? Kommt mit uns! Sagt einem Lande Lebewohl, das seine Lehnstreue verraten hat und lebt weiter unter königlicher Oberherrschaft in Halifax.«
»Niemals, niemals!« sagte die starrköpfige alte Dame. »Hier will ich bleiben, und König Georg soll noch immer einen treuen Untertanen haben in dieser ungetreuen Provinz.«
›Verfluchte alte Närrin!‹ murmelte Sir William, den ihre Hartnäckigkeit ungeduldig machte, und der sich der Erregung schämte, die er verraten hatte. ›Sie ist die Verkörperung altmodischer Vorurteile und könnte nirgends existieren als in diesem dumpfigen Gebäude.‹ »Nun wohl, verehrte Frau Dudley, da Ihr durchaus bleiben wollt, gebe ich die Statthalterei in Eure Obhut. Nehmt diesen Schlüssel und verwahrt ihn wohl, bis ich oder ein anderer Statthalter des Königs ihn von Euch fordern wird.«
Er lächelte bitter über sich und über sie, nahm den schweren Schlüssel der Statthalterei, übergab ihn der alten Dame und hüllte sich in seinen Mantel, um wegzugehen. Als der General nach Esther Dudleys alter Gestalt zurückblickte, schien sie ihm wohlgeeignet für ein solches Amt, sie war eine so vollkommene Verkörperung der zerrütteten Vergangenheit eines vergangenen Zeitalters, dessen Sitten, Ansichten, Glauben und Empfinden der Vergessenheit oder Verachtung anheimgefallen waren – als dessen, was einst Wirklichkeit gewesen und jetzt nur noch der Abglanz verblaßten Prunkes war. Dann schritt Sir William Howe hinaus und rang die Hände krampfhaft in der wilden Qual seines Herzens, und die alte Esther Dudley blieb zurück, Wacht zu halten in dem verlassenen Hause und dort mit der Erinnerung zu hausen. Wenn jemals Hoffnung sie zu umflattern schien – es war doch nur verkleidete Erinnerung.
Die gänzliche Änderung der Dinge, die sich aus der Abreise der britischen Truppen ergab, konnte die würdige Dame nicht aus ihrer Festung vertreiben. Viele Jahre lang gab es keinen Statthalter von Massachusetts mehr, und die Behörden, die sich darum zu kümmern hatten, machten keine Einwendung gegen Esther Dudleys Verbleiben in der Statthalterei, besonders da sie sonst jemand hätten bezahlen müssen für die Bewachung des Hauses, was sie aus Liebe zur Sache tat. Und so blieb sie die ungestörte Herrin des alten historischen Gebäudes. Viele und seltsame Geschichten erzählten sich die Gevattern über sie an den Kaminen der Stadt.
Unter den schwachen Einrichtungsgegenständen, die im Hause zurückgeblieben waren, befand sich auch ein hoher, alter Spiegel, der wohl wert war, daß man von ihm allein eine Geschichte erzählte. Das Gold seines schwer gearbeiteten Rahmens hatte den Glanz verloren, und seine Glasfläche war so fleckig, daß die Gestalt der alten Frau, sooft sie davor stehen blieb, undeutlich und geisterhaft heraustrat. Aber man glaubte ganz allgemein, daß Esther Dudley die Statthalterei der gefallenen Dynastie, mit den schönen Damen, die einstmals ihre Feste schmückten, die indianischen Häuptlinge, die zur Statthalterei gekommen waren, um Rat zu halten oder Treubündnisse zu schließen, die grimmigen Krieger aus der Provinz, die strengen Priester, kurzum, das ganze Schaugepränge verflossener Tage – daß sie all das wiedererscheinen lassen und die innere Welt des Spiegels mit Schatten alter Zeiten beleben konnte. Solche Erzählungen, im Verein mit der Eigenartigkeit ihres vereinsamten Daseins, ihrem hohen Alter und der Gebrechlichkeit, mit der jeder neue Winter sie schwerer belastete, machten Frau Dudley zum Gegenstand der Furcht und auch des Mitleids; und diesen beiden Empfindungen war es zum Teil auch zuzuschreiben, daß bei all der schlimmen Zügellosigkeit der Zeit kein Unrecht und keine Beleidigung die schutzlose Frau jemals traf. Es lag aber auch ein solcher Hochmut in ihrem Benehmen gegen Eindringlinge, zu denen sie alle zählte, die im Namen der neuen Regierung handelten, daß wirklich allerhand Mut dazu gehörte, ihr ins Auge zu sehen. Und man muß zugeben, daß die Leute, wenn sie nun auch noch so starre Republikaner geworden waren, es doch gerne sahen, daß die vornehme, alte Dame im Reifrock und verblaßtem Schmuck noch immer umging in dem Palast vernichteten Stolzes und gefallener Macht, das Symbol einer entschwundenen Ordnung, das eine ganze Geschichtsepoche in sich verkörperte. So wohnte Esther Dudley Jahr um Jahr im Province-House, ehrte noch immer das, was andere beiseite warfen, und war noch immer ihrem König treu, von dem man sagen konnte, solange die ehrwürdige Dame ihren Platz ausfüllte, daß ihm ein treuer Untertan in Neuengland geblieben war und eine Stelle des Reiches, das man ihm entrissen hatte.
Und wohnte sie wirklich ganz einsam dort? Das Gerücht erzählte anders. Sooft ihr kaltes, welkes Herz sich nach Wärme sehnte, beschwor sie einen schwarzen Sklaven des Statthalters Shirley hervor aus dem trüben Spiegel und schickte ihn nach Gästen aus, die vor langer Zeit in diesen verlassenen Räumen heimisch gewesen waren. Da ging der schwarze Bote von Mondlicht und Sternenschein durchstrahlt, hinaus und richtete seinen Auftrag aus auf dem Begräbnisplatz. An die eisernen Türen der Grüfte pochte er oder an die Marmorplatten, die die Gräber deckten, und flüsterte den Toten dahinter zu: »Meine Herrin, Esther Dudley, lädt euch zur Mitternacht zum Province-House.« Und pünktlich, wenn die Uhr auf Old South die zwölfte Stunde verkündete, glitten die Schatten der Olivers, der Hutchinsons, der Dudleys – aller Großen vergangener Zeiten – durch das Tor des wohlbekannten Hauses, wo Esther Dudley sich unter sie mischte, selber einem Schatten gleich. Wenn auch die Wahrheit dieser Sagen nicht verbürgt ist, so steht doch fest, daß Esther Dudley bisweilen einige der unerschütterlichen, wenn auch niedergeschlagenen alten Tories versammelte, die während dieser Tage der Wut und Drangsal in der aufständischen Stadt geblieben waren. Aus einer dickverstaubten Flasche, deren Inhalt für die Zunge eines königlichen Statthalters edel genug war, brachten sie des Königs Gesundheit aus und drohten der Republik mit Hohn und Verrat und fühlten sich so, als werfe der Thron noch immer seinen schützenden Schatten über sie. Doch, wenn der letzte Tropfen geschlürft war, stahlen sie sich furchtsam nach Hause und gaben keine Antwort, wenn der rohe Pöbel sie auf der Straße schmähte.
Doch Esther Dudleys häufigsten und liebsten Gäste waren die Kinder der Stadt. Zu ihnen war sie niemals strenge. Ein gütiges und liebevolles Gemüt, das sonst von tausend starren Vorurteilen eingedämmt war, strömte ganz auf diese Kleinen über. Mit selbstgebackenen Lebkuchen, auf denen eine Krone eingeprägt war, lockte sie ihren sonnigen Mutwillen unter das düstere Portal der Statthalterei, und oft verführte sie die Kinder, einen ganzen Spieltag dort zu verbringen. Dann saßen sie im Kreise rund um ihren Reifrock und lauschten gierig ihren Geschichten aus einer erstorbenen Welt.
Und wenn die kleinen Knaben und Mädchen sich wieder aus dem dunklen, geheimnisvollen Hause herausstahlen, waren sie verwirrt von alten Gefühlen, die gesetztere Leute längst vergessen hatten, rieben sich die Augen verwundert über die Welt ringsum, als hätten sie sich in alte Zeiten zurückverirrt und wären Kinder der Vergangenheit geworden. Wenn ihre Eltern sie zu Hause fragten, wo sie sich so furchtbar lange umhergetrieben und mit wem sie gespielt hätten, dann erzählten die Kinder von verstorbenen Großen der Provinz bis zum Statthalter Belcher zurück und zur hochmütigen Gattin des Sir William Phipps. Es war, als hätten sie auf den Knien dieser berühmten Leute gesessen, die das Grab seit einem halben Jahrhundert verbarg, hätten mit dem Schmuck auf ihren reichen Westen gespielt und übermütig an den langen Locken ihrer wallenden Perücken gezupft. »Aber Statthalter Belcher ist doch schon so viele Jahre tot,« sagte dann wohl eine Mutter zu ihrem kleinen Jungen. »Hast du ihn denn wirklich im Province House gesehen?« »O doch, Mutter, doch!« antwortete dann das Kind schon halb im Traume. »Aber als die alte Esther aufhörte, von ihm zu erzählen, schwand er plötzlich aus seinem Stuhl.« So führte sie ihre kleinen Gäste, ohne zu erschrecken, in die Kammern ihres vereinsamten Herzens und ließ die kindliche Phantasie die Geister erkennen, die dort umgingen.
Da sie so ständig in ihren eigenen Gedankenkreis eingesponnen war und sich niemals zu gegenwärtigen Dingen in Beziehung brachte und darauf einstellte, scheint Esther Dudley halb irrsinnig geworden zu sein. Man merkte, daß sie kein klares Bild vom Fortgang und Stand des Revolutionskrieges hatte, sondern dauernd am Glauben festhielt, daß die britischen Heere auf jedem Schlachtfeld erfolgreich und zum endgültigen Siege bestimmt waren. Jedesmal, wenn die Stadt voll Jubel war über einen Sieg von Washington, Gates, Morgan oder Greene – wie durch das elfenbeinerne Gitter der Träume ging die Nachricht durch die Tür der Statthalterei und ward dabei in eine seltsame Geschichte vom Heldenmut Howes, Clintons oder Cornwallis verwandelt. Es war ihr unerschütterlicher Glaube, daß früher oder später die Provinzen dem König wieder zu Füßen liegen müßten. Manchmal schien es ihr gewiß zu sein, daß das schon eingetreten sei. Einmal erschreckte sie die Bürger durch eine festliche Erleuchtung der Statthalterei. In jedem Fenster brannten Kerzen, und ein Transparent mit den Initialen des Königs und einer Lichterkrone stand im großen Balkonfenster. Die Gestalt der alten Frau in dem prunkvollsten ihrer moderigen Sammet- und Brokatgewänder sah man von Stockwerk zu Stockwerk gehen, bis sie am Balkon stehen blieb und einen ungeheuren Schlüssel über ihrem Haupte schwang. Ihr runzeliges Gesicht glühte förmlich vor Siegesfreude, als sei ihre ganze Seele eine festliche Fackel.
»Was soll dieser Lichterglanz? Was bedeutet diese Freude der alten Esther?« flüsterte ein Beschauer. »Es ist schrecklich anzusehen, wie sie durch die Zimmer gleitet und frohlockt, ohne daß eine Seele bei ihr ist.«
»Es ist, als feiere sie Feste in einer Gruft,« sagte ein anderer.
»Ach was! Das Geheimnis ist nicht so groß,« bemerkte ein alter Mann, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, »Frau Dudley feiert den Geburtstag des Königs von England.« Da lachten die Leute laut und hätten wohl Schmutz nach dem schimmernden Transparent mit der Königskrone und den Initialen geworfen, hätte ihnen die arme, alte Dame nicht leid getan, deren Jubel so trostlos wirkte in dem Verfall und Untergang des Systems, dem sie angehörte. Oftmals kletterte sie die beschwerliche Wendeltreppe zur Kuppel hinauf und strengte ihre getrübten Augen an, schaute seewärts und landwärts und wartete auf eine britische Flotte oder einen feierlichen Aufzug, der unter dem wehenden Königsbanner herannahte. Die Leute auf der Straße sahen ihr angstvolles Gesicht und riefen hinauf – »Wenn der goldene Indianer auf dem Province-House seinen Pfeil abschießt und der Hahn auf dem Turm von Old South kräht, dann könnt Ihr wieder nach einem königlichen Statthalter Ausschau halten!« Denn das war sprichwörtlich geworden in der Stadt. Und schließlich, nach langen, langen Jahren, wußte Esther Dudley, vielleicht träumte sie es auch nur, daß die Rückkehr eines königlichen Statthalters ins Province-House bevorstand, der den schweren Schlüssel empfangen sollte, den Sir William Howe ihr anvertraut hatte. Tatsächlich lief eine Nachricht unter den Bürgern um, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Esthers Fassung davontrug. Sie setzte das Haus, so gut es ihre Mittel erlaubten, instand, schmückte sich in Seide und verblaßtes Gold und stand lange vor dem blinden Spiegel, ihren eigenen Prunk zu bewundern. Dabei bewegte die graue, verwelkte Dame die aschfarbenen Lippen, murmelte halblaut und redete zu Gestalten, die sie im Spiegel sah, zu Schatten ihrer eigenen Phantasie, zu unvergeßlichen Freunden des Hauses und bat sie, sich mit ihr zu freuen und herauszutreten, den Statthalter zu begrüßen. Und noch versunken in diese Unterhaltung, hörte sie den Schall vieler Schritte auf der Straße, schaute zum Fenster hinaus und erblickte, was sie für den Aufmarsch des Statthalters hielt.
»O glücklicher Tag! O gesegnete Stunde!« rief sie aus. »Nur noch ihn willkommen heißen unter dem Portal und meine Aufgabe auf Erden ist erfüllt!«
Dann eilte sie mit strauchelnden Schritten, die Alter und zitternde Freude unsicher machten, die breite Treppe hinab. Ihr Seidengewand raschelte und fegte hinter ihr drein, so daß es sich anhörte, als drängte sich ein ganzer Zug gespenstischer Hofleute aus dem blinden Spiegel hervor. Und Esther Dudley glaubte fest, sobald die weite Tür sich auftäte, hielte der ganze Prunk und Glanz vergangener Zeiten majestätisch seinen Einzug im Province House, und die golddurchwirkte Tapete der Vergangenheit erglänzte neu im Sonnenschein der Gegenwart. Sie drehte den Schlüssel um, zog ihn aus dem Schloß, öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Durch den Vorhof schritt ein Mann von sehr würdevoller Haltung, mit allen Merkmalen, wie es Esther schien, edler Abkunft, hohen Ranges und langgewohnten Aussehens, die sich selbst im Gang und in jeder Bewegung ausdrückten. Er war reich gekleidet, trug aber einen pelzgefütterten Schuh gegen die Gicht; doch das tat der Stattlichkeit seiner Haltung keinen Abbruch. Um ihn und hinter ihm drängten sich die Leute in einfacher Bürgerkleidung, und zwei oder drei kriegsmüde Veteranen, augenscheinlich Offiziere in der Uniform der Whigs. Aber Esther Dudley, fest in dem Glauben, der in ihrem Herzen Wurzel gefaßt hatte, sah nur die Hauptfigur und zweifelte keinen Augenblick, daß das der langersehnte Statthalter sei, an den sie ihr Amt abtreten müsse. Als er näherkam, sank sie unwillkürlich in die Knie und hielt ihm zitternd den schweren Schlüssel entgegen.
»Empfangt das anvertraute Pfand! Nehmt es schnell!« rief sie, »denn mir scheint, der Tod will mir den Triumph entreißen. Doch er kommt zu spät. Dem Himmel sei Dank für diese gesegnete Stunde! Gott schütze König Georg!« »Das ist ein seltsames Gebet zu solcher Stunde,« erwiderte der unbekannte Gast des Province-Houses, nahm höflich den Hut ab und bot der alten Dame den Arm zum Aufstehen. »Doch der Himmel verhüte, um Euer grauen Haare und langen Treue willen, daß jemand hier Euch widerspreche. In den Gebieten, die noch unter seinem Zepter stehen, möge es heißen ›Gott schütze König Georg‹!«
Esther Dudley riß sich hoch, zog hastig den Schlüssel an sich und starrte dem Fremden mit furchtbarem Ernst ins Gesicht. Schwach und undeutlich, als sei sie plötzlich aus einem Traume erwacht, erkannten ihre verwirrten Augen halb seine Züge. Vor Jahren hatte sie ihn unter dem Adel der Provinz kennen gelernt. Aber der Bann des Königs war auf ihn gefallen: Wie kam nun dieser Gerichtete hierher? Geächtet und von aller Huld verbannt, hatte des Fürsten am meisten gefürchteter und verhaßter Feind, dieser Kaufmann aus Neuengland, siegreich der Gewalt des Königreiches widerstanden. Nun trat sein Fuß auf die gedemütigte Königswürde, als er die Stufen der Statthalterei erstieg, des Volkes erwählter Statthalter von Massachusetts.
»O ich Unglückselige!« murmelte die alte Frau mit so herzzerreißendem Ausdruck, daß Tränen in die Augen des Fremden traten. »Habe ich einen Verräter willkommen geheißen? Komm, Tod! komm schnell!«
»Arme, ehrwürdige Frau!« sagte Statthalter Hancock und stützte sie mit aller Ehrerbietung, die nur ein Hofmann einer Königin erweisen könnte. »Euer Leben hat so lange gedauert, bis die Welt um Euch sich verändert hat. Ihr habt alles aufgespeichert, was die Zeit entwertet hat, Grundsätze, Gefühle, Sitten, Sein und Handeln, das die nächste Generation beiseite geworfen hat, und seid ein Symbol der Vergangenheit, und ich und die mich hier umgeben – wir stellen eine neue Menschenrasse dar, die nicht mehr in der Vergangenheit lebt, kaum noch in der Gegenwart, sondern ihr Leben ausstrahlt in die Zukunft hinein. Wir haben aufgehört, uns nach veralteten Vorurteilen zu richten, und unser Glaube und Grundsatz heißt: vorwärts! vorwärts! Dennoch,« fuhr er fort und wandte sich an seine Begleiter, »laßt uns zum letztenmal den prunkvoll glänzenden Vorurteilen einer wankenden Vergangenheit huldigen!«
Während der republikanische Statthalter sprach, stützte er immer weiter die hilflose Gestalt Esther Dudleys; langsam wurde sie schwerer in seinem Arm. Doch schließlich suchte die alte Frau sich plötzlich frei zu machen und sank an einem der Pfeiler des Portals zu Boden. Der Schlüssel fiel aus ihrer Hand und klirrte gegen den Stein.
»Ich war treu bis zum Tode,« murmelte sie. »Gott schütze den König!«
»Sie hat ihre Pflicht erfüllt!« sagte Hancock feierlich. »Wir wollen ihr voll Ehrfurcht zu der Gruft ihrer Väter folgen, und dann, Mitbürger, vorwärts – vorwärts! Wir sind keine Kinder der Vergangenheit mehr!«