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Vierzehntes Kapitel

Die Weihnachtsfeiertage kamen heran.

»Herr Breuer, Sie werden doch den Heiligen Abend bei uns verbringen?« sagte Herr Thorn. »Infolge der durch unglückliche Schicksale und böse Menschen verursachten unangenehmen Verhältnisse können wir leider dem Gaste nichts Großes bieten, aber wir werden alles tun, damit der Abend in festlicher Stimmung verlaufe.«

Herr Breuer nahm dankbar an.

»Ich hätte mich selbst eingeladen«, sagte er, »ich habe wohl Freunde und Bekannte genug, aber es ist mir am liebsten, dieses schönste und fröhlichste aller Feste bei Ihnen zu erleben. Ich werde mir denken, ich hätte selbst eine Familie und Kinder, die ich beschenken kann.«

»Sehr richtig«, sagte Herr Thorn,, »die Familie geht mir über alles. Mein teures Weib Charlotte hat viel mit mir gelitten, aber wir sind ein Herz und ein Sinn!«

Herr Breuer war nahe daran, loszuplatzen wegen der öden Faseleien, aber er bezwang sich.

»Dann ist da mein Sohn Eugen, ein tüchtiger, braver Student, der einst seinem Vater alle Ehre machen wird. Und meine geliebte Tochter Elise. Treu geleitet von den Händen ihrer trefflichen Mutter, diesem echt deutschen Weibe, sie ist zu einer holden Jungfrau herangewachsen. Sie hängt mit rührender Liebe an ihren Eltern, und wenn sie einmal jenen so vielbedeutenden Weg zum Traualtar gehen wird, so wird sie: auch da nur dem weisen Rate ihrer guten Eltern folgen und nur mit meinem Willen ihre Hand in die Hand ihres Bräutigams legen. Heiraten Sie, Herr Breuer, das Glück der Familie ist ein wunderbares, heiraten Sie!«

Herr Breuer versprach, sich die Sache zu überlegen, und nahm dann kühlen, frostigen Abschied, der Herrn Thorn dermaßen verwirrte, daß er fragte, ob er vielleicht unwissend den Gast beleidigt habe.

»Nein, nein, durchaus nicht, Herr Thorn, aber ich bin den ganzen Tag schon etwas unwohl! Ich werde heute abends ruhig zu Hause bleiben!«

»Nein, nein, gerade in den Zeiten der Krankheit bedarf man treuer Freunde. Charlotte wird Ihnen russischen Tee mit Kognak kochen!« sagte Herr Thorn.

»Danke, danke, nicht nötig!« sagte Breuer und empfahl sich.

Die sonderbare, fast zudringliche Weise, mit der Thorn ihm seine Tochter aufdringen wollte, hatte ihn verstimmt. Der Mann war ihm mit seiner Phrasendrescherei in die Seele hinein zuwider, und alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, daß ein solcher Mensch das Schicksal des schönen Mädchens bestimmen sollte.

Als er in sein einsames Zimmer kam, konnte er den Gedanken nicht losbringen, wie es einmal sein werde, wenn Lise heiraten werde und er zusehen müsse, wie sie mit einem anderen, einem Fremden, zum Traualtar schreite. Und alle Qualen der Eifersucht fühlte er wie ein Jüngling, dem das erstemal das Glück der Liebe im Herzen aufgegangen war.

Breuer schalt sich selber einen Narren ... Wie konnte er mit seinen neunundvierzig Jahren daran denken, das Mädchen heimzuführen? Ja, die wäre die Rechte für ihn gewesen, aber zu solchem Glück war es viel, viel zu spät geworden. Ja vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, da wäre die rechte Zeit gewesen; wenn sie damals ihm in den Weg getreten wäre, das wäre ein heller Liebesfrühling und sein ganzes Leben ein einziger sonniger Sommertag geworden. Lächelnd erinnerte er sich eines hübschen Märchens, das er vor vielen, vielen Jahren gelesen hatte.

Ein alter Mann besaß einen Zauberspiegel, der die hübsche Eigenschaft besaß, daß, wenn ein Ehekandidat in den Spiegel sah, ihm darin das Bild jener Dame erschien, mit der er allein glücklich werden konnte. Als Stifter lauter glücklicher Ehen war er weit und breit bekannt und gesucht. Aber allgemein war die Verwunderung, daß der Besitzer dieses wundervollen Instruments nicht selber verheiratet sei.

»Ja, wenn ich in den Spiegel sehe, erscheint darin kein Bild«, sagte er denen, die ihn darum fragten. »Die, mit der ich glücklich werden könnte, ist entweder schon längst gestorben oder gar noch nicht auf die Welt gekommen.« Und der Mann war schon über die siebzig Jahre hinaus, und als er wieder einmal in den Spiegel sah – er hatte diese Frage an das Schicksal schon längst aufgegeben –, da erschien im Spiegel ein holdes kleines Mädchen.

»Zu spät, zu spät«, schrie er, und sank tot vor dem Spiegel zusammen.

Das ihm bestimmte Glück war auf einmal gekommen, aber viel zu spät.

Diese wehmütige Geschichte wollte Herrn Breuer gar nicht aus dem Kopfe.

Nichtsdestoweniger beteiligte er sich sehr eifrig in den Abendstunden an jenen gemütlichen Handarbeiten, die schon einen Vorgeschmack der seligen Weihnachtsfreude verspüren lassen. Im Verein mit Lise und Eugen. Nüsse und Äpfel wurden vergoldet, um zierlich geformtes Zuckerbackwerk feine Silberfäden geschlungen und aus buntgefärbtem Papier schöne Netze geschnitten, die bestimmt waren, goldene und silberne Nüsse oder Kanditen aufzunehmen. Die Materialien dazu brachte zumeist Herr Breuer mit, und immer, wenn er mit einem großen Pack anlangte, zeigte Herr Thorn eine ernste abweisende Miene.

»Sie überhäufen mich und meine Kinder mit Wohltaten. Es ist zu viel. Sie wissen, daß ich Ihnen das nie vergelten werde können. Und es ist so schwer, unter solchen Umständen Almosen entgegennehmen zu müssen!«

Auch den Weihnachtsbaum, eine ungeheure Tanne, besorgte Herr Breuer. Zwei Männer schleppten den Baum hinauf in die Wohnung des Herrn Thorn.

Nun ward allseits ein verzehrender Eifer entwickelt. Herr Breuer erschien jeden Abend schon um fünf Uhr. Der Baum ward mit Ketten und Silberfäden behängt und an seinem Gipfel ward ein wächserner Engel angebracht, der ein weißes, seidenglitzerndes Band in den Händen hielt, auf dem in Goldbuchstaben die Worte standen: »Ehre sei Gott in der Höhe!«

Da der Wipfel des Baumes bis nahe an die Zimmerdecke reichte, so mußte zur Dekoration der oberen Partien vom Hausmeister eine Doppelleiter beschafft werden, und Eugen ward damit betraut, den Dienst in jener Höhe zu versehen. Mangels jeglicher turnerischer Fertigkeiten hatte ihn Herr Breuer gebeten, diesen gefährlichen Teil der Ausschmückung zu übernehmen.

Mutter Thorn hatte keine Zeit, sich an dieser freudevollen Tätigkeit zu beteiligen, da sie stets alle Hände voll in der Küche zu tun hatte. Vater Thorn hielt ein sehr schwermütiger Grund ab, mitzutun.

»Für mein ernstes, durch Sorgen und mancherlei Leid verdüstertes Gemüt paßt solche Arbeit nicht; dazu gehört ein fröhliches Herz, und woher sollte ich das nehmen?«

Dann setzte er sich behaglich zu Tische und las in einem alten abgegriffenen Kolportageroman. Die Schilderung furchtbarer, spannender Ereignisse, die in solchen Werken üblich sind, entsprach den Bedürfnissen seines heroischen Gemütes besser als die Teilnahme an den Vorbereitungen zur Weihnachtsfreude.

Am Vorabende zum Weihnachtsfeste zeigte es sich, daß Herr Breuer den Bedarf an Weihnachtskerzen etwas unterschätzt hatte und daß noch mindestens dreißig solcher Beleuchtungskörper nötig seien.

»Ich hole sofort, was wir brauchen«, sagte Herr Breuer.

»Nein, nein, Herr Breuer, ich nehme meinen Mantel um, ich bin sogleich da«, wehrte Fräulein Lise ab.

»Ach nein ...!« meinte Breuer.

»Mir tut's aber gut, wenn ich etwas hinauskomme ... nein, nein, ich hol's schon 1«

Herr Breuer bot sich zur Begleitung an.

»Dann weiß ich nicht, was ich zu tun habe«, sagte Eugen, »Lisel kann ja ganz gut allein gehen, sie ist alt und groß genug dazu!«

»Eugen!« ermahnte ernst und streng der Vater.

»Nun was hat er denn weiter gesagt?« fragte pikiert Frau Charlotte, »kümmere dich um dein Buch und laß die Kinder in Ruh'.«

Lise ging – Herr Breuer hatte ihr die nötigen Geldmittel zum Einkauf mitgegeben. Das große Geschäft, in dem sonst Herr Breuer die Weihnachtsherrlichkeiten einzukaufen pflegte, war überfüllt mit Menschen, und Lise mußte lange warten, bis sie zum Verkaufstisch gelangte. Endlich hatte sie ihre dreißig Stück Kerzchen erhalten und schritt in tunlichster Eile hinaus auf die Straße.

»Guten Abend, Fräulein Thorn«, grüßte sie draußen ein bekannter junger Mann.

»Herr Ulrich ... ja ... sind Sie's denn wirklich?« stammelte das Fräulein.

»Weichen S' do aus«, sagte ein ungebildeter Herr, der eben in das Geschäft treten wollte. Er schob die beiden zur Seite. Sie spürten kaum die unglaubliche Roheit, die in dem Vorgange lag.

»Ja – was ist's mit Ihnen, Ulrich?« fragte mit leuchtenden Augen das schöne Fräulein. »Ich hätte Sie fast gar nicht mehr erkannt – in dem Anzug, den Sie jetzt tragen!«

»Ich bin kein Kleriker mehr – ich bin aus der Kutte gesprungen, wie man sagt«, erzählte Herr Ulrich. »Mein Vater hat mich hinausgeworfen ... Ich bin schon oft daher gekommen, um Sie zu sehen... leider ... leider ...«

»Ja – aber was tun Sie jetzt?«

»Ich tu schon etwas – ich bin Praktikant beim Handelsministerium. Ein guter Bekannter – Sie kennen ihn ja auch – hat mir diese Stelle verschafft.«

»Wer ist das?«

»Ein gewisser Dr. Gustav Thorn!«

»Onkel Gustav!« jubelte Lise.

»Aber daß ich hier mit Ihnen rede – ist gegen die Verabredung. Er hat mir streng verboten, mit Ihnen zusammenzukommen, bevor ich eine anständige Stelle erlangt habe!«

»Und dann ...? Wenn dies der Fall sein wird?«

»Ach, darüber hat er sich gar nicht ausgedrückt, ich glaube aber, wenn ich etwas geworden bin, dann darf ich schon herkommen!«

Fräulein Lise war höchst befangen.

»Ich hoffe, Onkel Gustav wird Ihnen recht bald eine gute Stelle verschaffen ...«

»Ich glaube auch. Ich habe vom Herrn Pfarrer einen Brief erhalten – er schreibt – mit Gottes und des Herrn Thorn Hilfe wird schließlich alles gut gehen!«

Schweigend gingen die beiden Glücklichen erst eine Weile nebeneinander. Die weißen Schneeflocken wirbelten auf sie herunter, sie tanzten um die Straßenlaternen und bedeckten die Dächer der Einspänner und Fiaker mit weißen Decken. Eine mit Schachteln hochbepackte Dame stieß an Fräulein Lise an, ein Mann, der einen großen Christbaum trug, streifte mit dessen Ästen beinahe den Hut des Herrn Ulrich, herab und fragte ihn danach noch in grober Weise, oh er denn nicht aufschauen könne. Die beiden Liebenden merkten nichts davon, die Welt um sie war verschwunden, sie waren allein mit ihren seligen Gefühlen und Worten, und trotz Schnee und Wintersturm blühte in ihren Herzen der selige Frühling der ersten Liebe.

Die beiden nahmen Abschied.

»Leben Sie wohl, Herr Ulrich«, sagte Lise und reichte ihm die Hand, »wann werden wir uns wohl wieder treffen?« fragte sie.

»Mein liebes Fräulein, das kann ich Ihnen nicht sagen – ich habe Onkel Gustav versprechen müssen, Sie nicht aufzusuchen. Und dem herzensguten Mann gegenüber das Wort nicht halten, das wäre ein Verbrechen!«

»Aber wenn wir uns so ganz zufällig treffen?« gab Fräulein Lise zu bedenken.

»Natürlich – da können wir ja nichts dafür – da hat uns eben der Zufall zusammengeführt! Das ist kein Wortbruch!«

Und sie trennten sich mit dem heißen Wunsch, der Zufall möge sie recht bald wieder zusammenführen!

Als Lise mit den Kerzen zurückkam, merkten sofort alle, daß mit ihr eine erhebliche Veränderung vorgegangen sei. Zuerst war sie ungemein heiter, aber nach Verlauf einer Stunde bekam sie plötzlich schwer Kopfweh, so daß sie nach ihrer eigenen Aussage recht froh war, als der Christbaum vollständig geschmückt in der Stube stand und sie sich zu Bette legen konnte. Ein weiteres Symptom der beginnenden Krankheit war vollständige Appetitlosigkeit.

Breuer geriet in große Angst und wollte sofort den Doktor holen lassen, Charlotte kochte gleich Tausendguldenkraut und der Papa sprach die düstere Meinung aus, daß wahrscheinlich die schönen Weihnachtstage durch Lises Krankheit vollständig verdorben wurden, denn ihm sei es niemals gegönnt gewesen, ein Glück voll und ganz zu genießen. Etwas weniger schmerzlich äußerte sich Eugen über die Angelegenheit, er nannte Fräulein Lise eine »dumme Urschel«, die sich manchmal vor Fadigkeit nicht auskenne.

Schon der Morgen des so heiß und unter so großartigen Vorbereitungen erwarteten Tages brachte eine Fülle von Überraschungen.

Vor allem zeigte es sich, daß Fräulein Lise vollständig gesund sei, was den Vater zu dem pathetischen Ausspruch veranlaßte, daß Lise eben einem durchaus gesunden, von keiner Leidenschaft geschädigten Geschlecht angehöre. Weniger pathetisch legte sich Eugen die Sache zurecht. »Unkraut verdirbt nicht!« sagte er kurz.

»Eugen, mäßige dich!« rief der erzürnte Vater.

»Bitte, mische dich nicht unter die Kinder!« sagte mit gewohnter scharfer Stimme Frau Charlotte.

Den Erziehungsversuchen ihres Gemahls hatte sie stets den größten Widerstand entgegengesetzt.

Zu Lisens vollständiger Genesung trug ungemein viel die aus St. Ruprecht eingelangte Sendung von Onkel Gustav bei: eine prachtvolle Pelzjacke mit Kappe. Lise jubelte auf vor Freude.

An die P. T. Eltern langte ein ganzes Reh nebst zwei Hasen ein. Für den Festtisch am Heiligen Abend hatte der Gute noch eine besondere Einrichtung getroffen: zwanzig Stück ansehnliche Forellen.

»Immer und immer diese Sachen«, brummte Herr Thorn; »Gustavs Protzerei ist mir direkt unleidlich!«

»Ich bitte«, sagte Frau Charlotte streng, »wenigstens an diesem Tage möchte ich Ruhe haben!«

Nach diesem ernstlichen Verweis lenkte Vater Thorn sofort ein und untersuchte mit großer Sachkenntnis die Sendung. »Die Forellen sind großartig – wenn man die kaufen müßte, unter vierzig Kronen würde man sie nicht bekommen. Für Leute wie wir ist das nichts – das kann sich Gustav erlauben, aber unsereiner ....«

In dem »unsereiner« lag wieder eine unsagbare Fülle von Wehmut.

Trotzdem zollte er auch dem Bock und den beiden Hasen hohe Anerkennung.

»Es sind junge Tiere«, sagte er, »sie werden ein zartes, mürbes Fleisch haben. Wenn es nicht unter meiner Würde wäre, so würde ich dem Menschen einige Zeilen schreiben, aber diesen Schritt verbietet mir die Selbstachtung!«

Frau Charlotte empfahl dem Gemahl dringendst, sich aus dem Küchendepartement zu entfernen.

»Und für mich hat Onkel Gustav gar nichts geschickt?« fragte mit Tränen in den Augen Eugen.

Es wurden die Pelzjacke, die Kappe untersucht, selbst in das Innere des Rehbocks senkte Thorn die suchenden Blicke.

»Nun, es ist nichts da ...!«

Eugen konnte nur mit Mühe die Tränen unterdrücken.

»Mir scheint – Onkel Gustav ist böse auf mich!« sagte er.

»Nein – das ist wieder so eine Tücke von ihm – er versteht es mit außerordentlichem Raffinement, Zerstörung und Wirrnis in die Familie zu bringen«, sagte Thorn. »Weine nicht, Eugen – dieser Mensch ist keine Träne wert!« setzte er dann fort.

In diesem Augenblick ward Herr Thorn von seiner Gemahlin kräftigst beim Arm genommen und mit aller Entschiedenheit aus der Küche geschoben.

»Hinaus – ich mag diesen Quatsch nicht mehr anhören!«

In diesem Moment trat der Briefträger ein. Er lächelte mild, als er sah, wie der große Mann mit dem furchtbar ernsten Antlitz so rücksichtslos hinausgefuhrwerkt wurde.

Er hatte ein rekommandiertes Schreiben an einen gewissen Herrn Eugen Thorn abzugeben.

Eugens Kummer schmolz im Nu dahin. Mit vor Freude zitternden Händen unterschrieb er den Empfangsschein. Beim öffnen des Kuverts entfiel diesem eine Zwanzigkronennote.

»Geld?« fragte betrübt Eugen.

Er hatte auf etwas anderes gewartet.

Dann las er den Brief. Er lautete:

»Lieber Eugen!«

Das Christkind hat soeben bei mir für Dich ein Paket abgegeben. Allem Anschein nach enthält es ein Jagdgewehr. Ich wollte es Dir schon zuschicken, überlegte es mir aber zum Glück im letzten Moment. Denn wisse, Eugen, ein Jagdgewehr unterscheidet sich in vielfacher Beziehung von den sogenannten pneumatischen Stoppelbüchsen, die in sehr einfacher Konstruktion pro Stück um sechzehn Heller bei den Krowotten zu erhalten sind. Ein solches Jagdgewehr, wie eines das Christkind Dir geschickt hat, erfordert eine sehr subtile Behandlung, sonst ist es bald verdorben. Auch die Hantierung damit ist eine sehr gefährliche. Du könntest ohne den nötigen Unterricht im Gebrauch einer Feuerwaffe leicht zum Massenmörder werden.

Da ich nun genau weiß, daß Dein Herr Väter noch niemals eine andere Waffe getragen hat als einen Spazierstock, so bin ich gewillt, Dir Schießunterricht zu erteilen. Du hast ja bis Neujahr Ferien. Ich erwarte Dich am Sankt Stephanstag bei mir. Das Reisegeld liegt bei.

Grüße herzlichst Deine Eltern und auch Lise.

Sei auch Du bestens gegrüßt von Deinem Onkel

                                   Gustav.«

Nun jubelte auch Eugen in heller Freude auf ... Aber in seine Jugendfreude fielen knarrend die Worte des besorgten Vaters hinein.

»Niemals – niemals darfst du mir hin. Jetzt wirst auch du, Charlotte, einsehen, mit welcher List und Tücke der Mensch unser Kind zur heiligsten Zeit im Jahre vom väterlichen Hause weglocken will. Und ein Gewehr hat er ihm gekauft, ein Jagdgewehr. Wahrscheinlich ein solches, das mit Pulver und Blei geladen wird! Niemals würde ich eine solche gefährliche Mordwaffe im Hause dulden. Der Bub spielt sich damit und schießt seine Eltern tot. Und dann, das eine muß man noch bedenken, wie ein solcher Sport, wie, es der Jagdsport ist, das Herz der Jugend verroht. Zeugt das vielleicht von einem edlen Sinn, harmlose Rehe und Hasen wegzuschießen? Und diese Gefahr – der Rehbock, der Eugen in so gefährlicher Weise damals von hinten faßte, war nur ein zahmes Tier. Was kann geschehen, wenn Eugen auf der Jagd ein wilder Rehbock entgegentritt! Ich vermag mir den Gedanken gar nicht auszudenken!«

Frau Charlotte machte den Herrn Gemahl streng darauf aufmerksam, daß höchste Zeit sei, in das Amt zu gehen.

»Der Staat ruft dich«, mahnte auch Eugen mit vielem Ernst, der aber so humoristisch zum Ausdruck kam, daß Fräulein Lise schleunigst ihre Siebensachen zusammenpackte, um auch ihrerseits ihrer Nahrung nachzugehen.

»Lisel, ich begleite dich«, sagte Eugen.

Lange, bevor Vater Thorn so weit war, seinen Gang in das Amt anzutreten, hatten die beiden Kinder das Haus verlassen.

»Lisel, und ich fahr doch nach St. Ruprecht! Und wenn ich daheim durchgehen müßt«, sagte Eugen, der ein ungeheures Bedürfnis empfand, sich wenigstens mit der Schwester über das zu erwartende Glück auszusprechen.

»Ach Gott, Eugen, das wird gar nicht notwendig sein, die Mutter wird ihm schon den Kopf zurechtsetzen«, meinte die unartige Tochter, »fahr nur hin, Eugen, ich möchte gern mit dir fahren.«

Da fiel ihr plötzlich ein, daß ja Herr Ulrich nicht mehr dort sei, und sie sagte mit einem Ausdruck, der ein Übermaß von Pflichttreue verriet: »Es geht aber nicht, beide können wir gleichzeitig nicht fort!«

Eugen plauderte glückselig von dem zu erwartenden Glück.

»Ich weiß schon, wo die Schießübungen vorgenommen werden. Draußen heim Förster, da ist ein alter Steinbruch, der nicht mehr bearbeitet wird. Dort wird Onkel eine Scheibe aufstellen und da wird geschossen, daß es nur so kracht. O, ich werde mir Mühe geben, daß ich auch mit der Kreisjagd mitgehen darf! Nur muß man da vorsichtig sein, weil da auch Leute dabei sind, die von der Jagd gar nichts verstehen!«

Und er tat, als ob er schon ein ganzes Lebensalter dem edlen Weidwerk gewidmet hätte.

Nachdem er die Schwester verlassen hatte, ging er über die Rotenturmstraße und den Graben nach Hause.

Bei jeder Waffenhandlung blieb er stehen und betrachtete mit leuchtenden Augen die in den Auslagen ausgestellten Waffen und malte es sich in den schimmerndsten Farben aus, wie es einmal sein werde, wenn er mit der Flinte durch Wald und Feld ziehen werde.

Er spann die allerherrlichsten Jugendträume, er war so froh – so glücklich.

Eugens Augen leuchteten in sonnigem Glanz; und alle Leute, die vorüberkamen, hatten ihre Freude an dem hübschen Burschen, der so mit lachenden Augen durch die Welt schritt.

Der Heilige Abend ließ sich zuerst recht geheimnisvoll an. Herr Breuer hielt den Zugang zum Speisezimmer, in dem der Christbaum aufgestellt war, abgesperrt, nicht einmal Papa Thorn durfte diesen mystischen Raum betreten.

Er war ganz erhabene Feierlichkeit; angetan mit dem schwarzen Salonrock, bewegte er sich aus dem Vorzimmer zur Küche, in der Mutter Charlotte zusammen mit Lise eine ungeheure Tätigkeit entwickelte.

Während die Forellen blaugesotten wurden, kam er herein. Er war in tiefster Bewegung.

»Es gibt nichts Wundervolleres als solch ein Bild eines geordneten Hausstandes. Frieden und Freude im Herzen feiert man Feste, der Tisch ist opulent gedeckt ...« deklamierte er.

Da die Küche sehr klein war, so ersuchte ihn Frau Charlotte, sich einen anderen Vortragssaal zu wählen, worauf er gekränkt in das Schlafzimmer hinüberging und sich beim Scheine einer niederträchtig qualmenden Petroleumlampe in das Studium des hochinteressanten Romans »Hinko der Freiknecht oder die Totenglocke um Mitternacht« vertiefte.

Eugen war Herrn Breuer beim Christbaum behilflich.

Endlich ertönte das Glöcklein zum Zeichen, daß das Christkind die Wohnung des Herrn Thorn betreten habe.

Herr Thorn machte in seinem Roman ein mächtiges Eselsohr, damit er ja gewiß die Stelle wieder finde, wo er die Lektüre dieses so überaus spannenden Werkes unterbrochen habe. Frau Charlotte war eben mit der Zubereitung der Forellen fertig geworden und stellte den Teller mit dem köstlichen Fischbraten zur Seite.

Alles eilte in das Speisezimmer. Dort prangte in Pracht und Fülle der Weihnachtsbaum.

»Schön, wunderschön«, jubelte Lise.

»Sehr schön – prachtvoll«, sagte Frau Charlotte und wischte sich die Augen mit dem Zipfel der Küchenschürze aus.

»Ich bin tief gerührt«, begann Herr Thorn, »es ist gut eingerichtet, daß die Wüste unseres Lebens dann und wann durch eine Oase häuslicher Freuden unterbrochen wird.«

Und dann begann die Verteilung der Gaben.

Mama Charlotte hatte einen kostbaren Seidenstoff erhalten, zu dem Läse und Eugen nicht ganz ein Drittel, das übrige Herr Breuer beigesteuert hatte. Die Geschenke des Papas bestanden in Tabak und Zigarren und einer vollständigen Ausgabe von Karl Mays Romanen. Etwas komisch, gestaltete sich die Ankündigung von Lises Weihnachtsgeschenk.

Herr Breuer kündigte die verschiedenen Sachen an, als wenn er ein Auktionator wäre:

»Zum ersten: Eine Jacke aus Marderpelz, dann eine Boa aus dem gleichen Stoff und eine Mütze – außerdem ein höchst moderner Muff –, selbstverständlich ebenfalls aus Marderpelz!

Zum zweiten: Wieder eine Jacke aus Marderpelz mit Boa, Kragen, Mütze und Muff.

Zum dritten: Eine Mütze unbekannter Herkunft; dürfte Sealskin oder anderes sein. Nach den beiliegenden Dokumenten hat das Christkind diese Rauhware für Fräulein Lise hier deponiert.«

Lise errötete tief.

»Das eine ist vom Onkel – das andere von Ihnen, ich danke Ihnen, danke vom ganzen Herzen«, sagte sie und reichte Herrn Breuer die Hand.

Herr Breuer fuhr weiter fort:

»Ferner ein wertvolles Werk über das Bankwesen – leider bereits etwas veraltet – auch für Fräulein Lise!« »Ich schenke nur geistig wertvolle Sachen«, sagte Thorn und wehrte würdevoll die Danksagung der Tochter ab, die tat, als ob sie der alte Schmöker überglücklich gemacht hätte.

»Und dann ist hier noch ein wissenschaftliches Werk, eine illustrierte Naturgeschichte aus der Zeit vor Darwin, als Antiquität bemerkenswerter als wegen seines Inhalts. Es gehört für Eugen.«

Auch Eugen bedankte sich sehr lebhaft bei seinem Papa.

»Wenn ich aber Naturgeschichte aus diesem Buche lerne«, fügte er weise hinzu, »so kann's mir passieren, daß ich mit Glanz durchfalle. Herr Breuer, schauen Sie her, hier beginnen die Insekten mit den Käfern, in den heutigen Naturgeschichtsbüchern wird mit den Hautflüglern begonnen.«

»Sei zufrieden«, meinte Herr Breuer.

»Ich habe dir dieses Buch mit Vorbedacht gekauft«, erklärte Herr Thorn. »Ich verachte Darwins Theorie, die den Menschen so sehr herabwürdigt.«

Unentwegt fuhr Herr Breuer fort: »Und hier ist noch ein Buch, ein sehr altes, aber eben in diesem Jahre neu herausgegeben und nach den neuesten Erfahrungen auf diesem Gebiet ergänzt. Es ist Diezels ›Niederjagd‹ und wird dem angehenden Weidmann Eugen Thorn hoffentlich einige Freude bereiten.«

Er reichte den prachtvoll ausgestatteten Band Eugen hin, der ihn in stürmischer Freude ergriff. »Danke, danke«, jubelte er, schlang seinen Arm um Herrn Breuers Nacken und küßte den gütigen Mann herzhaft auf beide Wangen.

»Schon gut, schon gut«, sagte Herr Breuer und löste sich sanft aus der Umarmung des Jünglings. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er solch stürmischen Dank und die Küsse für die Rauhware erhalten hätte.

Nun erbat sich Herr Eugen das Wort.

»Hier sind noch zwei Sachen: Zum ersten ein prachtvoll gestickter Polster von Fräulein Elise. Wie sie mir gesagt hat, gehört der nur dazu, daß man ihn auf das Sofa legt und dann anschaut.«

Herr Breuer lächelte.

»Aber Eugen!« ermahnte zornig Fräulein Lise den ungezogenen Bruder.

Der Polster ward mit innigen Dankeskundgebungen seitens Breuer hingenommen und die Stickerei gebührend allseits bewundert.

»Das Beste aber kommt zuletzt«, fuhr Herr Eugen fort, und wickelte aus einer Papierhülle ein Bild in schmalem, dunkelbraunem Rahmen heraus.

»Hier ein Meisterwerk des rühmlichst bekannten Aquarellisten Thorn – ein Original, direkt von der Hand des Künstlers für Herrn Breuer gemalt!«

Er reichte das Bild dem herzlich erfreuten Breuer hin. Es stellte ein Forsthaus am Waldrand dar. Trotzdem der Himmel etwas zu blau und die Bäume sehr stark grün waren, fand es allgemeine Bewunderung.

»Es ist eine Freude für einen Vater, so hochbegabte Kinder zu haben«, begann Herr Thorn.

Da zu befürchten stand, daß Vater Thorn wieder eine längere Rede halten werde, so drängte Frau Charlotte.

»Aber jetzt zum Essen«, sagte sie, »sonst verdirbt alles!«

Trotzdem Herr Thorn so schnöde in seiner Rede unterbrochen worden war, klang die Aufforderung wie Musik in seinen Ohren. Er verfügte über einen neidenswerten Appetit, und hatte schon mehrere Male abends den Versuch unternommen, sich widerrechtlich eine der Forellen anzueignen, die bereits in Essig, garniert mit den angenehmsten Gewürzen, in einer umfänglichen Schüssel lagen. Er wollte sie ungesehen im stillen Schlafzimmer während der anregenden Lektüre von »Hinko, der Freiknecht« verzehren, aber die stete Anwesenheit Frau Charlottens verhinderte den räuberischen Überfall.

Das Mahl brachte Frau Charlotte reiche Ehren; die Forellen erwiesen sich als mustergültig.

»Ich geb es ja gern zu«, begann Herr Thorn, »daß mein Stiefbruder hie und da eine angenehme Seite hat ...«

»Vater, paß auf«, mahnte Charlotte, »daß dir keine Gräte in die unrechte Kehle kommt, du weißt, wie gefährlich es ist, während des Essens von Fischen zu sprechen!«

»Aber die Forellen haben ja keine so spitzigen Gräten«, erklärte Eugen, »ich habe damals beim Onkel Forellen gegessen ...«

»Ja, wo du ins Wasser gefallen bist, ich denke heute noch mit Schaudern daran ... nein ... niemals ... würde ich dir erlauben, nach St. Ruprecht zu gehen!«

Eugen wollte eben etwas sagen, aber Herr Breuer versetzte ihm einen leichten Rippenstoß.

»Sei ruhig, ich werd' es schon machen«, sagte, er leise.

Das Mahl verlief in ausgezeichneter Weise. Die verschiedenen Gerichte fanden den größten Beifall, und Frau Charlotte ward mit Auszeichnung überhäuft.

»Ja, ja«, nahm in recht angenehmer Weise Herr Thorn das Wort, »Lise, bilde dich an dem glorreichen Beispiel deiner Mutter. Wenn du einst heiraten wirst, dann beherzige das Wort, das dir dein Vater auf deinen Lebensweg mitgibt: Der Weg zum Herzen des Mannes geht immer durch den Magen! Ich glaube, die Küchentätigkeit deiner Mutter war die Hauptursache unseres glücklichen Ehelebens!«

Frau Charlotte wollte scharf erwidern – der Gedanke, daß sie jemals mit ihrer Kochkunst um die Liebe ihres Mannes geworben habe, empörte sie – aber sie besann sieh und beschloß in ihrem Innern, dem Gatten mehrere Male in der Woche Kohlrüben aufzutischen, deren Geruch dem Teuren in der Seele zuwider war.

Zum Schluß des Mahles kam noch eine ganz besondere Überraschung. Herr Breuer entfernte sich einen Moment aus dem Zimmer. Erst ward allgemein angenommen, daß ein dringendes Bedürfnis den seelenguten Menschen genötigt habe, sich dem Kreise seiner Freunde auf einige Minuten zu entziehen, als aber auch die Tür, die aus dem Vorzimmer auf den Gang hinausführte, geöffnet und geschlossen wurde, ward der Korona etwas ängstlich zumute.

»Er ist fortgegangen«, sagte erschrocken Frau Charlotte.

»Ja – er ist, fortgegangen«, sagte Lise, »was er nur haben mag?«

»Ja – ja – er ist fort«, sagte Eugen betreten; er hatte im Vorzimmer draußen die Tür des geheimen Kabinetts geöffnet und dasselbe leer gefunden.

»Da bist sicher du schuld«, fuhr Frau Charlotte auf, »ich sag dir's ein- für allemal, am besten ist's, wenn du das Maul hältst, wenn Gäste da sind, Johann. Mit deinem öden Gequatsch verdirbst du immer alles!«

»Aber der Papa hat doch gar nichts gesagt«, verteidigte Lise den Vater.

»Aber er hat doch gar nichts geredet«, meinte auch Eugen.

»Ruhig –!« fuhr die Mutter auf. »In unserem Hause ist es eben nicht möglich, daß etwas gut ausgeht. Ihr habt's alle miteinander keine Lebensart. Ihr beleidigt ja die Gäste!«

»Charlotte, mäßige dich«, sagte Vater Thorn. Die Zustimmung seiner Kinder schuf ihm den Mut, der grimmen Gattin entgegenzutreten.

»Was – du willst auch etwas sagen – du? Dein ödes Gequatsch muß jeden vernünftigen Menschen vertreiben!«

Mitten in den Wirbel hinein ertönte plötzlich die Glocke der Wohnungstür. Alles sprang dienstbeflissen auf, um dem späten Eindringling zu öffnen. Die Wirkung der Türglocke war eine geradezu katastrophale. Der etwas unbeholfene Vater Thorn stieß an der Tür überaus heftig mit der Mama zusammen, so daß Frau Charlotte ihren schon ergrauten Kopf an der Türkante anschlug. Den Preis im Wettrennen errang Eugen; nachdem er Lise einmal heftig auf die Zehen getreten hatte, so daß sie mit Tränen in den Augen in die Ecke taumelte, erreichte er die Tür und öffnete.

Und, o Entzücken! Vor der Tür stand der Hebe Herr Breuer und neben ihm ein schön geschmückter Korb mit vier Flaschen, deren Hälse mit Gold verziert waren.

Trotzdem Frau Charlotte der Kopf wie eine große Kirchenglocke brummte, sagte sie mit den süßesten Tönen, die sich in ihrem Register fanden: »Aber Kinder – Kinder – laßt euch doch Zeit!« Und dann setzte sie mit womöglich noch hebevollerer Stimme fort: »Es ist ja Herr Breuer – ah – großartig!«

»Großartig – zu viel – verehrter Freund!« sagte Thorn, auf dessen Gesicht sonniges Leuchten lagerte. Er hatte es bereits kennengelernt, daß der Genuß edlen Weines imstande sei, die bösen Dämonen in der Brust bedrängter Menschen zu bannen, und erhoffte von der neuen Sendung eine genußreiche Lebensstunde.

»Aber Herr Breuer«, flötete Lise, trotzdem sie die rechte kleine Zehe heftig schmerzte.

Eugen machte kurzen Prozeß; er faßte den Korb und trug ihn in das Zimmer.

Die Herrschaften drängten freudig erregt nach.

Herr Breuer brachte aus der Tasche ein seltsam geformtes Instrument zutage.

»Wollen wir den Pfropf' springen lassen?« fragte er.

»Ja, ja!« jubelte Eugen und klatschte in die Hände.

»Ja, ja, daß es recht knallt, das ist so lustig!« sagte Lise.

»Ja – es ist das ein fürstliches Vergnügen – wie man in den besseren Romanen liest«, sagte Vater Thorn.

Der erste Pfropfen knallte.

»Bravo!« rief Eugen.

»Ach!« sagte Charlotte und hielt sich die Ohren zu. Sie war so viel nervös.

»Großartig!« sagte Elise und winkte dem alten Knaben mit bezaubernden Blicken zu.

»Er ist gut frottiert«, sagte Vater Thorn, der immer das Unglück hatte, seine Weisheiten an der unpassendsten Stelle vorzubringen.

Das köstliche Naß perlte in den hohen Gläsern. Breuer hob seinen Kelch und brachte einen kurzen Trinkspruch aus:

»Ich habe heute hier in Eurem Kreise einen fröhlichen Weihnachtsabend verbracht. Einen Abend, der meinem Herzen wohlgetan hat. Eigenartige Schicksale haben es gefügt, daß ich immer ein einsamer Mensch gewesen bin; diesmal ist es mir nach langen Jahren gegönnt gewesen, diesen Abend, der sonst immerdar einander in Freundschaft und Liebe geneigte Herzen zu neuer Freude zusammenzuschließen bestimmt ist, wieder einmal in einem traulichen Kreise zu verbringen. Für mich ist es dadurch im vollen Sinne des Wortes ein geweihter Abend geworden. Dankend bringe ich Ihnen für dieses Glück einer frohen Stunde mein Glas!« Es klang wie helle Silberglocken, als die hohen Kelche einander berührten.

Frau Charlotte verneigte sich tief, als ihr Glas an das des Herrn Breuer anklang. Seine Worte weckten helle Glücksflammen in ihrem Herzen auf. Sie sah sich bereits als Schwiegermama des Herrn Breuer.

»Prosit, Herr Breuer!« schrie Eugen.

»Prosit!« rief Fräulein Elise, und als ihr Glas an das des Herrn Breuer anklang, war es, als ob sein heller Klang sonnigen Schimmer auf dem Antlitz des gütigen Mannes weckte.

»Prosit!« sagte auch Herr Thorn und rüstete sich zu längerer Rede. Er setzte sich zuerst eine Weile nieder, um das rhetorische Meisterwerk etwas zu überdenken.

»Verehrte Versammlung«, fing Thorn dann in gewohnter pathetischer Weise an, »dieser Abend ist mir ein Beweis, daß es mir gelungen ist, kraft der mir eigenen persönlichen Eigenschaften einen Familienkreis zu begründen, in den aufgenommen zu werden jedem eine ganz besondere Ehre sein muß.«

In diesem Moment bekam Vater Thorn einen ganz gewaltigen Rippenstoß von Frau Charlotte.

»Ja – meinst du nicht ...« fragte etwas betreten der gewaltige Mann.

»Ja, ja, red nur weiter ..., aber überleg dir, was du sprichst!«

Herr Thorn war etwas aus dem Konzept geraten und sah hilflos im Kreise herum.

Eugen amüsierte sich wie ein Schneekönig.

Lise schämte sich wegen ihres Herrn Papas, der so unbehilflich am Tische stand.

»Na, so red' weiter – daß die Sache einmal zu Ende kommt«, drängte Frau Charlotte.

»Diesen Wein«, hob in neuem Anlaufe Herr Thorn an, »wollen wir unserem verehrten Gaste darbringen – Herrn Breuer, den wir heute schon als Glied unserer Familie begrüßen können – Herr Breuer gestatten Sie mir noch einige Worte ...«

»Hoch, hoch, Herr Breuer!« schrie mit Stentorstimme Eugen und ließ sein Glas an das des verehrten Gastes anklingen.

»Hoch, hoch, Herr Breuer!« rief Elise mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

»Hoch!« sagte Frau Charlotte und machte dabei einen tiefen, achtungsvollen Knicks.

Herr Thorn stand hilflos, das Glas in der Hand, die schön ausgedachte Rede, war ihm wie mit einem Rasiermesser mitten auseinander geschnitten worden. Er verbeugte sich mit mildem Lächeln gegen den gefeierten Gast und das gesamte Auditorium, trank sein Glas in einem langen Zuge aus und setzte sich, fröhlich um sich blickend, nieder.

Fortan hielt er keine Rede mehr. Sein weitreichender Geist machte sich nur mehr in kurzen Aussprüchen Luft.

»Ich bin so glücklich!«

»Ein herrlicher Abend!«

Und jedesmal trank er ein Kelchglas leer.

»Johann ...!« rief einmal Frau Charlotte mit besorgter Miene.

»Ich könnte heute meinem größten Feinde keine Bitte abschlagen« ...«, sagte er gerührt.

Herr Breuer stieß Eugen in die Seite.

»Red, jetzt ist's Zeit«, flüsterte er ihm zu.

»Papa, du hast gesagt, du kannst heute niemandem eine Bitte abschlagen; gilt das auch für mich?«

»Ja, mein lieber Sohn«, antwortete gerührt der Vater. »So darf ich also am Stephanitag zu Onkel Gustav fahren?«

Thorn stutzte ein wenig. Frau Charlotte richtete sich bereits drohend empor.

»Ja, fahre, mein Kind, zu deinem Onkel; er ist wohl mein Todfeind. Aber am Heiligen Abend will ich ihm alles – alles vergeben, was er mir angetan hat. Du kannst getrost am Stephanitag nach St. Ruprecht fahren. Aber du mußt mir versprechen, sehr vorsichtig zu sein. Ein Feuergewehr ist eine ungemein gefährliche Sache. Ich werde auch dem Onkel schreiben, daß er dem Rehbock einen Beißkorb umgibt für die Zeit, da du oben bist.«

»Aber Papa!« sagte Lise, »der Hansl beißt ja nicht, er stoßt nur. Und Onkel Gustav hat ihm über die Hörner eine Lederhaube machen lassen, daß er nichts mehr tun kann. Mit mir war der Hansl ja sehr gut.«

»Das glaub ich«, bemerkte Herr Breuer.

»Dann ist es recht, dann ist mein Vaterherz befriedigt.«

»Also ich darf fahren?« jubelte Eugen.

»Ja, fahre hin«, sagte Thorn und trank ein Glas Sekt leer.

Die Unterhaltung wogte weiter. Eugen saß neben Breuer und machte ihn unaufhörlich auf die Schönheiten von Diezels »Niederjagd« aufmerksam, und Lise ward nicht müde, ihre Freude über das prachtvolle Pelzwerk zum Ausdruck zu bringen.

»Morgen gehe ich damit in das Hochamt«, sagte sie.

»Darf ich Sie begleiten?« fragte schüchtern Herr Breuer»

»Warum nicht?«

Vater Thorn trank unterdes ein Glas nach dem andern. Auf einmal erhob er sich.

»Geliebte Gattin, geliebte Kinder, mein teurer Freund!« begann er mit schluchzender Stimme, »ich kann nicht umhin, Ihnen allen zu sagen, wie tief betrübt ich bin. Das Schicksal hat es mir vom Anfang an versagt ...«

Frau Charlotte sprang auf, um den Unglücklichen sofort aus der Gesellschaft zu entfernen.

»Er hat das heulende Elend«, sagte sie, »er verträgt keinen Wein.«

»Charlotte, laß mich sprechen«, bat er.

»Nein, geh lieber schlafen!«

»Aber so laß ihn doch reden, wenn es ihm einmal eine Freude macht«, bat Lise.

Aber die Fürsprache kam zu spät. Vater Thorn konnte sich kaum mehr dunkel erinnern, was er sagen wollte, und nahm tiefgerührten Abschied von allen.

Dann wurde es noch recht gemütlich. Eugen entwarf die herrlichsten Zukunftsbilder in betreff seines Aufenthaltes in St. Ruprecht und bestimmte schon im vorhinein die Stelle an der Wand, wo er sein erstes Rehkrickel anbringen werde. Lise sah sich schon im prachtvollen Pelzwerk bewundert und beneidet von den anderen jungen Damen, und Frau Charlotte entwickelte umfassende Pläne wegen der Verwertung des prachtvollen Seidenstoffes.

Es war schon ziemlich spät, als Herr Breuer Abschied nahm. Lise begleitete ihn zur Tür.

»Also, Sie wissen nicht, von wem die Sealskinkappe war, die Ihnen heute das Christkind brachte?«

Sie wußte es wohl, sagte aber kurzweg »Nein«.

»Gute Nacht! Fräulein Lise.«

»Gute Nacht! Herr Breuer.«


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