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Zehntes Kapitel

In den letzten Wochen hatte sich der Lebensabend des Herrn Dr. Thorn durchaus nicht so ruhig gestaltet, als er es sich einst erträumt hatte, da er noch Tag für Tag sein Bureau aufsuchen mußte. Und daran war einzig und allein nur er selbst schuld. Seit er sein Amt verlassen hatte, entwickelte er einen Tatendrang, der mit seinem großen Ruhebedürfnis, das er vorgeschützt hatte, als er sein Pensionsgesuch überreichte, durchaus nicht in Einklang zu bringen war. Durch die Freundschaft, die ihn mit den Honoratioren des Ortes verband, war er auf den seltsamen Gedanken gekommen, irgendeine Stelle anzunehmen, die ihm Gelegenheit geben sollte, auf das Schicksal des Ortes, in dem er jetzt lebte, in dem er Grund und Boden hatte, bestimmenden Einfluß zu nehmen.

»Mir kommt's vor, als ob ich mit jedem Jahre jünger würde«, sagte er zu seiner Schwester, »ich glaube, einige Aufregungen würden mir gar nicht schaden!«

Im Orte war ein großes Fest geplant – die Feuerwehr beging die Feier ihres fünfundzwanzigährigen Bestandes in Verbindung mit der Feier von Kaisers Namenstag. Ein zwölfgliedriges Festkomitee war eingesetzt worden, das Herrn Dr. Thorn zu seinem Obmann wählte. Dies brachte dem alten Herrn eine Riesenfülle von Arbeit. Bald hatte er eine Besprechung mit dem Zimmermeister des Ortes, bald mußte er mit dem Hauptmann der Feuerwehr konferieren – jeden Tag gab es in Angelegenheiten des Festes etwas zu tun.

Bittere Sorge bereitete ihm das reichentwickelte gesellige Leben des Ortes. Der Schneidermeister Riener hatte hohe Stellen bei der Feuerwehr und im Veteranenkorps inne und könnte sich absolut nicht entscheiden, in welcher der beiden hochansehnlichen Vereinigungen er am Festtage auftreten sollte. Da die Feier der Feuerwehr galt, so drängte alles natürlich dazu, seine Pflichten als Feuerwehrmann auszuüben. Das Veteranenkorps schmolz dadurch auf die lächerlich geringe Zahl von elf Mitgliedern zusammen. Entrüstet erklärten diese elf Mitglieder, daß sie unter diesen traurigen Umständen auf ihre Mitwirkung lieber gänzlich verzichten wollten. Der Tischlermeister Wymetal, längst bekannt als aufrührerischer Geist, wiegelte die elf übrig gebliebenen Veteranen in gehässigster Weise auf. In einer glänzend besuchten Versammlung – außer den elf Mitgliedern war kein einziger Veteran erschienen – wurde mit Stimmeneinheit beschlossen, für den Festzug abzusagen. Die Stimmung wurde immer erregter, nach einer flammenden Rede Wymetals wurde einhellig auch der Beschluß gefaßt, aus dem Veteranenkorps überhaupt auszutreten.

Dieser übereilte Beschluß erregte im Festkomitee große Bestürzung. Für den geplanten Festzug waren die Veteranen unbedingt nötig; das Korps besaß eine prachtvolle Fahne, ohne die man sich in St. Ruprecht überhaupt keinen Festzug denken konnte. Es mußten nun Mittel und Wege gefunden werden, die streitenden Parteien wieder zu versöhnen.

Dr. Thorn berief eine Sitzung des Festkomitees ein, zu der auch Experten der beiden Streitteile geladen wurden.

Die Sitzung gestaltete sich stellenweise ungemein stürmisch. Wymetal hielt eine Rede, die an Schärfe und Rücksichtslosigkeit alles überbot, was man jemals von dem streitbaren Manne hatte hören können.

»Veterane!« rief er aus. »wie kommens imme mi dazu, hint stehn zu miesen! Wir seins gediente Soldaten, wir habens den Rock des Kaisers tragen, und wenn uns den Vaterland ruft, dann werdens wir zeigen! Dann werden wir nicht hintanstehen wie da in Ruprecht!«

Die letzte Phrase fand tönenden Beifall, nicht nur bei den elf übriggebliebenen Veteranen; auch in den Herzen jener Feuerwehrleute, die das schöne Recht besaßen, den Rock des gedienten Soldaten tragen zu dürfen, regten sich die stolzen Erinnerungen der Jugendzeit. Wymetal ward allseits beglückwünscht, obwohl es nur zu bekannt war, daß der Redner den größten Teil seiner Dienstzeit beim k. u. k. Heere nur in der bescheidenen Stellung eines »Pfeifendeckels« verbracht habe.

Die Volksgunst neigte sich bedeutend auf Seite der Veteranen und viele der tapferen Männer erwogen in ihren Herzen, ob es nicht passender sei, am vierten Oktober als Veteran statt als Feuerwehrmann zu erscheinen. Der Hauptmann der Feuerwehr, Herr Oberlehrer Dungl, fühlte das Interesse seiner Korporation schwer bedroht und fand sich bemüßigt, ebenfalls in flammender Rede für sein Institut einzutreten.

»Meine Herren, es steht mir vollkommen ferne, zu verkennen, welche große Verdienste sich die Veteranen von St. Ruprecht einst um das Vaterland erworben haben, da sie noch als aktiv dienende Soldaten stramm in Reih und Glied standen. Ich zweifle auch gar nicht daran, daß sie, wenn sie in Not und Gefahr vom Vaterland gerufen werden, mutvoll wieder einstehen werden für Kaiser und Reich!«

Diese demagogischen Sätze fanden ebenfalls stürmischen Beifall.

»Aber meine Herren, vergessen Sie ja darüber nicht«, fuhr unentwegt der Redner fort, »daß auch der Feuerwehrmann große und heilige Pflichten zu erfüllen hat. Wenn sein Wirken auch beschränkt ist auf den engen Kreis der Gemeinde, so dient er damit dem ganzen Vaterland!« (Stürmischer Beifall der Feuerwehr.) »Unsere hochgeschätzten Veteranen werden höchst selten in die Lage kommen, wieder in Reih und Glied zu treten und mit dem Schwert in der Faust das Vaterland zu beschützen, wir Feuerwehrmänner müssen bei Tag und Nacht, bei Hitze und Kälte hinaus, um unser Leben für unsere Mitbürger zu wagen, ihnen und ihren Kindern Habe und Leben zu retten. Fünfundzwanzig Jahre besteht glorreich unser Verein ...!«

Weiter kam der Redner nicht. Er wurde so stürmisch akklamiert, daß er auf die Fortsetzung verzichten mußte. Die allgemeinen Sympathien neigten sich wieder der Feuerwehr zu.

Durch die Rede Dungls, mehr aber durch seinen glänzenden Erfolg, fühlte sich Wymetal schwer verletzt.

»Wir sinds auch was! Herr Oberlehrer!« rief er entrüstet.

»Sehr richtig!« riefen die Veteranen.

Die Feuerwehr replizierte – es drohte ein fürchterlicher Streit auszubrechen. Dr. Thorn, der den Vorsitz führte, schwang mit aller Macht die Präsidentenglocke.

Allmählich beruhigten sich die Gemüter.

»Gestatten Sie mir«, begann der Vorsitzende, als die Versammlungsteilnehmer wieder ruhigen Erwägungen zugänglich erschienen, »daß ich in der Sache einige aufklärende Worte an die sehr geehrte Versammlung richte!«

»Bitte um Ruhe!« schrie Wymetal, der erst vor wenigen Tagen von Dr. Thorn eine Summe von 350 Kronen für gelieferte Tischlerarbeiten bezogen hatte, »wenn der Präsident spricht, muß alles stad sein!«

Zur Bekräftigung seiner Worte schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch. Er fühlte sich moralisch verpflichtet, sich für die wertvolle Kundschaft mit aller Gewalt einzusetzen.

»Ruhe!« schrie der Schneidermeister, »Ruhe für den Vorsitzenden!«

Es war derselbe Schneidermeister, der für Eugen den Lodenanzug und seither so manches andere für den Vorsitzenden geliefert hatte.

»Ruhe!« schrien der Schlossermeister, der Schuster, der Hafner, der die Öfen in dem Hause Thorns betreute, der Klempner, der Fleischhauer, ja selbst der Gemeindewirt beteiligte sich an dem allgemeinen Verlangen.

Sie alle waren schon in sehr erheblicher Weise von dem Vorsitzenden in Nahrung gesetzt worden und statteten ihm nun auf diese Art den Dank ab.

Infolge der unaufhörlichen Rufe konnte Thorn lange nicht zum Worte kommen.

»Hochgeehrte Versammlung!«

»Bravo, bravo, sehr gut!« schrie Wymetal.

»Ruhe!« schrien die anderen.

»Der vierte Oktober ist der Namenstag unseres glorreichen Kaisers. Es ist dies stets ein Festtag für die gesamte Bevölkerung, diesmal bekommt der Tag noch eine besondere Weihe dadurch, daß unsere Feuerwehr ihren fünfundzwanzigjährigen Bestand feiert. Es soll dies daher ein ganz besonderer Festtag werden!«

Die Menge bricht in stürmische Hochrufe auf die Feuerwehr aus. Wymetal und sein Anhang schweigen anfangs, als er aber einen strafenden Blick von seinem Gönner, dem Vorsitzenden, erhält, bricht auch er mit seinen zehn Anhängern in brausende Hochrufe aus.

Dr. Thorn fährt fort:

»›Viribus unitis‹ (›Mit vereinten Kräften‹), so lautet der Wahlspruch unseres erlauchten Herrschers. Mit tiefem Bedauern aber muß ich sehen, daß die zwei angesehensten Korporationen unseres Ortes wegen des Festes miteinander in Zwist geraten sind. Mitbürger, vereinigt euch wieder, vereinigt euch, damit dieses schöne Fest mit besonderem Glanze, verschönt durch eure Einigkeit, begangen werden kann. Seit Feuerwehr und Veteranenkorps bestehen, sind sie immer Hand in Hand gegangen. Es muß sich ein Ausweg finden, der uns wieder zum Frieden führt. Ich unterbreche auf unbestimmte Zeit die Sitzung, um sofort den maßgebenden Funktionären beider Körperschaften Gelegenheit zu geben, sich über die Sache auszusprechen.«

»Bravo!« brüllte die Menge. Die Funktionäre versammeln sich im Extrazimmer zur Besprechung. Dem Zureden Dr. Thorns gelingt es, die Streitenden zu vereinigen. Es wird beschlossen, die Macht der Veteranen fast auf das Doppelte, nämlich zwanzig Mann, zu erhöhen. Wohl zeigt der Feuerwehrhauptmann eine böse Miene, aber auf das Versprechen, daß die infolge des Beschlusses zu den Veteranen abkommandierte Mannschaft nachmittags in voller Rüstung als Feuerwehrleute verkleidet zur offiziellen Schauübung ausrücken wird, beschwichtigt auch den Herrn Hauptmann.

Im Plenum wird die Nachricht vom geschlossenen Frieden mit großem Jubel aufgenommen, der sich dadurch ins Unendliche steigert, daß Herr Dr. Thorn, der Obmann des Festkomitees, ein Fäßchen Bier auf dem Altar des Gemeinsinnes opfert.

Spät abends – im Extrazimmer sitzen nur mehr Herr Dr. Thorn, der Herr Pfarrer, der Förster, der Oberlehrer und der Doktor beisammen – erscheint erst der Herr Bürgermeister. Er ist in Wien gewesen und bringt seinen Sohn mit, der dort geistlichen Studien obliegt. Er ist ein hochgewachsener, schlanker, schöner Jüngling mit gewelltem braunen Haar und schönen dunklen Augen.

»Mein Sohn Ulrich«, stellt der Herr Bürgermeister – die Vaterfreude leuchtet ihm aus dem Gesicht – den Sohn der Versammlung vor. Die Begrüßung ist allgemein eine ungemein herzliche.

Das nachfolgende Gespräch dreht sich selbstverständlich um das zu erwartende Fest; der Herr Bürgermeister entwickelt seine Ansichten in der bekannten markigen Weise.

»Sie bleiben doch über den vierten Oktober hier?« fragte Dr. Thorn den angehenden Geistlichen.

»Selbstverständlich, Herr Doktor«, sagte Ulrich, »der Vater will es so ...!«

»Es wird eine Menge Leute geben ...«, sagte Doktor Thorn, »ich habe sogar meine Nichte, die Lisel, eingeladen, morgen nachmittags kommt sie an. Da wird wieder einmal Leben in die Bude kommen!«

Ulrich schwieg.

»Aufrichtig gesagt, wenn dem Vater nicht so darum zu tun gewesen wäre ... ich wäre' nicht mitgekommen. Mir tut's fast weh, wenn ich unter so vielen Menschen sein muß«, sagte er dann.

Dr. Thorn wollte eben seine Verwunderung über eine solche, bei jungen Leuten höchst seltene Sinnesart aussprechen, als der Herr Bürgermeister sich erhob, um dem Leiter des Festkomitees herzlichen Dank der Gemeinde auszusprechen für die vielfachen Bemühungen, die er nun habe. Er hörte sich ungemein gern sprechen und hielt mit Vorliebe Tischreden, deren unschätzbarster Vorteil darin besteht, daß sie ausnahmslos den größten Beifall finden.

Nachdem das Gläsergeklirr verklungen war, erhob sich der Herr Pfarrer zum Abschiede. Dies erachtete der Herr Bürgermeister als gemessenen Wink, mit dem dereinst heiligen Diensten gewidmeten Sohne ebenfalls den Ort zu verlassen. Es war überhaupt in St. Ruprecht Sitte, daß die weltliche Obrigkeit ihr Verhalten genau nach dem der geistlichen einrichtete.

Nachdem die beiden Herren die Stube verlassen hatten, begann das beliebte, übliche Gespräch über die bereits Gegangenen.

»Ein hübscher Junge, der Ulrich«, sagte der Doktor.

»Schade um ihn ... er war mein fähigster Schüler«, sagte Herr Oberlehrer Dungl, »daß er nicht weiterstudiert hat; der hätt's zu was gebracht!«

»Das war a Jagabursch word'n«, meinte der Förster.

Im weiteren Verlaufe des Gespräches kam es zutage, daß der Herr Bürgermeister nicht nur in der Gemeinde ein von unstillbarem Ehrgeiz besessener Tyrann sei, sondern auch in der Familie, und daß er sich gar nicht scheue, seiner unbezähmbaren Ehrsucht das Wohl und Glück von Menschen zu opfern. Selbst seine politische Gesinnung ward arg kritisiert, und mit harten Worten erklärte ihn der Doktor als einen Klerikalen.

»Ulrich will gar kein Geistlicher werden ... er hat mir selbst erklärt, er fühlt in sich nicht die Berufung dazu!« erzählte der Oberlehrer.

Es ward noch viel, viel über diesen Gegenstand gesprochen. Als Dr. Thorn, der infolge der Aufregungen und Anstrengungen des vergangenen Tages todmüde war, aufstand, folgten auch die anderen seinem glorreichen Beispiel. Man begleitete den Vorstand des Festkomitees in gewohnter Weise zu seinem Haustor.

Als Dr. Thorn in seiner Schlafstube die Lampe entzündete und auf die Uhr sah, entdeckte er zu seinem Schrecken, daß es zwölf Uhr längst vorüber sei.

»Hm, hm«, sagte er verweisend zu sich selbst. »Das ist ein recht ruhiger Lebensabend! Wenn ich im Amte auch so lange zu tun gehabt hätte, ich hätt mich schon längst aufgehängt!«

Auch der nächste Tag, der zweite Oktober, nahm Herrn Dr. Thorn höchst ungebührlich in Anspruch. Er hatte wieder unzählige Konferenzen. Die erste fand im Forsthause statt; der Herr Förster hatte bereits in der k. k. Guts- und Domänenverwaltung interveniert wegen kostenloser Lieferung des zu den Triumphpforten, Girlanden und Kränzen nötigen Reisigs. Die Bewilligung war höheren Ortes bereits herabgelangt und der Herr Förster konnte nicht umhin, anläßlich des freudigen Ereignisses Herrn Dr. Thorn mit einigen Gläschen vom Besten aus seinem Keller aufzuwarten. Nach langem Sträuben und einer sehr bedeutsamen Rede über die tiefen Schädigungen, die der Menschheit durch den Dämon Alkohol widerfahren, nahm Dr. Thorn an und trank in Anbetracht dessen, daß sich die Oberbehörde des Herrn Försters so zuvorkommend erwiesen hatte, drei Gläschen. Vom Förster weg begab sich Herr Dr. Thorn zum alten Grabwinkler, einem der reichsten Bauern der Gemeinde, der voll patriotischer Gesinnung es übernommen hatte, mit seinem Fuhrwerk das Reisig nach Hause zu befördern. Herr Grabwinkler fühlte sich außerordentlich geschmeichelt, den Herrn Doktor bei sich begrüßen zu können. Er wäre tödlich gekränkt gewesen, wenn Herr Dr. Thorn nicht ein Glas Most aus seinem Keller angenommen hätte.

Als Dr. Thorn von seinen Amtsgängen endlich nach Hause gekommen war, war es bereits dreiviertel zwölf Uhr geworden, Frau Pauline sah sehnsüchtig zum Fenster hinaus. Denn Gustav hatte bei sich die ländlich altväterische Art eingeführt, wenige Minuten nach elf Uhr zu speisen, hatte aber, seit er zum Obmann des Festkomitees erhöht worden war, regelmäßig dieses von ihm geschaffene und sanktionierte Gesetz übertreten, was seitens Frau Paulinens lebhafte Rekrimination hervorrief. Auch Kathi, die Köchin, gab ihrer Entrüstung über den unordentlichen Herrn unverhohlen Ausdruck, denn durch seine Nachlässigkeit verloren ihre gastronomischen Meisterwerke bedeutend an Wert, der Braten wurde dürr und trocken und die Mehlspeise in der Suppe, zum Beispiel Grießnockerl, gewannen eine unleidliche Festigkeit.

»Ich kann wirklich nichts dafür«, sagte Thorn beim Eintreten, »aber diese Geschichte mit dem Fest gibt mir ungeheuer zu tun. Die Leute haben hier die Manier, über jede Kleinigkeit ungeheure Reden zu halten. Ich werde herzlich froh sein, wenn die Sache vorüber sein wird!«

Als sie bei Tische saßen, sagte Frau Pauline: »Ich habe geglaubt, du werdest wenigstens heute etwas früher kommen, nachmittags trifft Lisel ein! Wir haben noch manches für sie zu richten!«

»Richtig, richtig, im Trubel der Geschäfte habe ich das ganz vergessen. Ja, ja, wenn ich daran gedacht hätte – freilich – damit hätte ich mich entschuldigen können!« sagte er. »Wir holen selbstverständlich beide das Mädchen ab. Ich freue mich schon auf den Fratzen!«

»Als Eugen kam, warst du erst wütend, und dann ist dir leid gewesen, als er fortfuhr; vielleicht ist's diesmal bei der Lisel gerade umgekehrt!« meinte Pauline.

»O nein, wenn Lisel kommt, so kommt mit ihr heller Sonnenschein ins Haus. Ich denke mir immer, so wie sie muß einst meine Großmutter ausgesehen haben, als sie jung war. Ich erinnere mich noch heute recht gern an die alte, liebe, lustige Frau!«

Herr Dr. Thorn kam leider nicht dazu, beim Empfang der Nichte anwesend zu sein, denn nach drei Uhr erschien Herr Ulrich, der Sohn des Bürgermeisters, um Herrn Doktor Thorn pflichtgemäß seine Aufwartung zu machen. Frau Pauline, der von jeher ein Stich ins Religiöse anhaftete, war sehr erfreut, den Gast zu sehen. Nach den üblichen Begrüßungen führte Dr. Thorn den Besuch in seiner Besitzung herum, und der junge Herr sprach in klugen, verständigen Worten aufrichtiges Lob des Gesehenen aus. Bei Paschas Grab blieben die beiden eine Weile stehen. Ulrich sah über die Planke hinaus auf die Straße. Draußen zog eben ein wandernder Geschirrhändler vorüber, Mann und Weib hatten sich in den Karren gespannt, drei Kinder im Alter von vielleicht vier bis neun Jahren liefen hinten nach.

»Wissen Sie, Herr Doktor, woran ich jetzt denken muß«, fragte mit beinahe wehmütigem Lächeln Ulrich.

»Nun, das wäre?«

»Das ist so der richtige Lebenskontrast: draußen auf der Landstraße mühseliges Hasten und Treiben in Sonnenglut und Regensturm, – hier innen, von der übrigen Welt durch Planke und Mauer vornehm geschieden, Frieden und ruhige Sicherheit. Ich gratuliere Ihnen, Herr Doktor, nochmals, Sie haben es wirklich verstanden, Ihren Lebensabend freundlich und sonnig zu gestalten!«

»Nun, Herr Ulrich ...«, entgegnete Dr. Thorn, »Sie gehen ja auch einem ruhigen, stillen, weltabgeschiedenen Leben entgegen – einem Leben, in das der häßliche Kampf der Welt nicht hineindringt! Ich kann mir nichts Schöneres denken, Herr Ulrich, als das Leben eines Herrn Pfarrers auf dem Lande – geehrt, geliebt von allen, neben dem Betrieb der Landwirtschaft hat er sich vielleicht noch irgendein Steckenpferd zugetan, das ihm seine stillen Lebensstunden verklärt.«

»Sie wissen es schön zu schildern, Herr Doktor ... auch ich denke oft an jene mir beschiedene und noch so ferne Zeit ... ach, lassen wir das! ...« Er brach jäh ab und schritt fortan schweigend mit Dr. Thorn durch den Garten hindurch.

Im Hof, unter dem großen Kastanienbaum, hatte Frau Pauline die Jause gedeckt. Sie lud in liebenswürdigster, fast feierlicher Weise den jungen Herrn ein, hier Platz zu nehmen.

»Ich werde Lisel allein abholen, Gustav«, sagte sie, »ich bitte, Herr Ulrich, sich zu bedienen; Gustav mach schön den Wirt!«

»Pardon, gnädige Frau, wenn ich störe ... ich bitte, mich zu entschuldigen, ich werde meinen Besuch gelegentlich wiederholen!« sagte Ulrich und griff nach seinem Hute.

»Nein, nein, Herr Ulrich«, wehrte Thorn ab, »ich lasse Sie nicht fort, ich habe Ihnen ja gar nicht meine Situla gezeigt – ah – früher laß ich Sie nicht hinaus! Pauline bringt Lisel schon ganz allein hieher!«

Herr Ulrich ließ sich durch vieles Zureden bewegen, noch zu bleiben und im Anschluß an die Jause dem Museum einen Besuch abzustatten.

Im Museum saßen die beiden als gute Freunde beisammen. Ulrich horchte in guter verständiger Art auf die gelehrten Ausführungen des Hausherrn. Die herrliche etrurische Situla, das Schlachtschwert aus der Karolingerzeit wurden nach Gebühr bewundert, und manches kluge Wort fiel aus Ulrichs Mund über den im Museum aufgehäuften, aus uralter Zeit stammenden Hausrat.

Die beiden bewunderten eben eine uralte Bronzefibula mit köstlicher Arbeit, als plötzlich die Tür aufging und Lisel mit Frau Pauline hereinkam. In stürmischer Freude fiel sie dem Onkel um den Hals – im Dämmer der Stube hatte sie den fremden Besuch nicht bemerkt – und küßte den Onkel unzählige Male.

»Aber Lisel ... Lisel ...!« wehrte der Onkel die Nichte ab, »laß dir Zeit ...!«

»Aber ich bin so froh, daß ich bei dir einige Tage sein kann!«

Und sie haschte in überströmender Freude nach seiner Hand, um sie zu küssen.

»Laß das, dummes Mädel, und erlaube, daß ich das Fräulein Elise Thorn Herrn Ulrich Kirchmaier, meinem lieben Gaste, vorstelle!«

Ulrich war während der Szene neben dem Kasten gestanden, der die herrliche Situla barg. Verlegen stand er, eine Hand auf den Tisch gestützt, auf dem noch das verrostete Schlachtschwert aus der Karolingerzeit lag, vor dem schönen Mädchen.

Es war ein sonderbarer Kontrast. In den Kasten ringsum uraltes Gerät aus grauester Vorzeit, morsche Tier- und Menschenknochen, und mitten im Zimmer zwei junge, blühende, sonnige Menschenkinder, die aussahen, als ob sie beide erschrocken wären darüber, daß es so viel Jugend und Schönheit in der Welt geben könne.

»Guten Tag – Fräulein«, sagte Herr Ulrich mit leiser, fast tonloser Stimme.

»Guten Tag, Herr Ulrich«, sagte das Fräulein ebenso leise.

Dann schwiegen sie. Aber gründlich! Herr Ulrich hatte plötzlich eine äußerst gesunde Gesichtsfarbe bekommen, und auch das Fräulein sah aus wie eine eben aufgeblühte Pfingstrose.

»Ja – was ist's denn?« fragte erschrocken Dr. Thorn. »Die zwei sind ja ganz paff ...!«

»Na, komm Lise – du mußt eine Jause nehmen«, löste Frau Pauline den Bann.

Es war eine höchst förmliche Verbeugung, mit der Lise von dem jungen Mann Abschied nahm, fast noch förmlicher war Ulrichs Abschied.

In gewohnter zartsinniger Weise huschte Herr Doktor Thorn über diesen Zwischenfall hinweg und begann neuerdings seinen Gast auf verschiedene großartige Schönheiten seines Museums aufmerksam zu machen. Aber Herr Ulrich hatte momentan alles Interesse an den prähistorischen und anthropologischen Schätzen des Herrn Dr. Thorn verloren. Zerstreut hörte er auf die weiteren gelehrten Ausführungen, die schönste Fibula und die wertvollsten Pfeilspitzen und Äxte aus der Steinzeit waren ihm auf einmal höchst schnuppe geworden. Als gewiegter Menschenkenner stellte daher Dr. Thorn seinen Vortrag ein.

Unterm Kastanienbaum im Hofe saß Frau Pauline bei der geleerten Kaffeeschale. Lise fütterte die hübschen Zwerghühner mit kleinen Kuchenstücken und freute sich wie ein Kind über die zahmen Tiere, besonders über den kecken, kleinen Hahn, der ihr ohne weiteres das Kuchenstückchen aus der Hand nahm, ohne jegliche Scheu ihr dabei fast zur Brust hinauf springend.

Die beiden Herren kamen in den Hof hinaus, um von den Damen Abschied zu nehmen. Herr Ulrich mußte sich auf Einladung der Frau Pauline auf noch einen Moment zum Tische setzen. Frau Pauline hatte eine Menge zu fragen, Herr Ulrich gab sehr einsilbige Antworten, er mußte fortwährend auf das schöne Mädchen sehen, dessen helles, frohes Lachen – der kleine Hahn war ihr auf den Schoß gesprungen – durch den Garten tönte.

Der Abschied des jungen Herrn war um eine Nuance etwas weniger formell.

»Wie gefällt es Ihnen hier, Fräulein?« fragte Ulrich. »Sie sind zum erstenmal hier?«

»Ja ... o ... hier ist es hübsch ... etwas schöner als in dem öden Komptoir in der Bankgasse. Onkel, das war eine glänzende Idee von dir, daß du mich daher verschrieben hast ... Gehst du ... weg, ist das ein kecker Kerl ... husch ...!«

Sie mußte mit Gewalt den kleinen Hahn wegjagen, der mit zornigen Flügelschlägen immerfort neues Futter verlangte.

»Den haben Sie schon gründlich verzogen, Fräulein«, meinte Ulrich, »er ist schon sehr keck geworden!«

Man begleitete den Gast zum Flureingang. Plötzlich lachte Lise laut auf.

»Schaut's doch die Bande an!« rief sie.

Während die Herrschaften durch den Hof schritten, hatten sämtliche Zwerghühner auf dem Tisch Platz genommen.

»Marsch ihr ...,« rief Thorn und klatschte in die Hände.

Die Hühner flatterten vom Tisch herab, nur ein kleines braunes Hühnchen trippelte ängstlich längs des Tischrandes hin und her.

Lise lief hin und ergriff es.

»Das ist lieb ... Herr Ulrich ... was? Und wie Ihm das Herz klopft! Nein, nein ... es geschieht dir nichts ... nein, nein!«

Herr Ulrich ging. Herr Dr. Thorn winkte ihm noch über die Straße hin einige Male nach.

Nun begann der obligate Rundgang durch die Besitzung des Herrn Dr. Thorn. Das größte Entzücken des Fräuleins erregte der Hühnerhof. Als Tante Pauline die Gittertür öffnete, entstand unter dem Federvieh eine ungeheure Aufregung. Mit Glucksen, Schnattern und freudigem Geknurr ward die Ernährerin begrüßt. Die ersten waren die perlgrauen Hühner, die sich um die Eintretenden versammelten, mit stolzen Schritten kam auch der Hahn herzu, die Enten verließen den Teich und watschelten in komischer Eile näher, selbst der Truthahn führte seine beiden Gattinnen herbei, und als er den fremden Gast erblickte, breitete er kollernd den Schwanzfächer aus und der Fleischwulst über dem Schnabel ward fast blau. Das Taubenvolk flatterte aus dem Schlage und von den Dächern herab, und der dickkröpfige Tauber trippelte höchst aufgeblasen herum, als bilde er sich ein, der Herr dieses vielstimmigen und vielfarbigen Volkes zu sein.

Tante Pauline hatte Lise eine Schwinge voll Futter übergeben und Lise streute nun dem hungrigen Volke in überreicher Weise die gelben Körner hin. Das gab ein Durcheinander! Die Hühner glucksten, die Tauben gurrten, die Enten sagten: »Schnapp, schnapp!« und die Sperlinge schlüpften geschickt zwischen den Füßen der großen Vögel durch, um auch ihren Anteil an dem reichlichen Mahle zu haben. Und mitten unter dem glucksenden, schnatternden und knurrenden Volke stand Lise; es war ein wunderhübscher Anblick, ihr frohseliges Gesicht glänzte in Lust und Freude!

»Ich werd' sie photographieren lassen«, sagte lachend Dr. Thorn, »sie sieht wirklich hübsch aus.«

»Onkel, schön ist's bei dir«, sagte Lise, als sie nach vollendetem Rundgange wieder im Hofe ankamen, »mit Grausen denk ich daran, wenn ich wieder zur Stadt zurück muß ... in das finstere, düstere Bureau und ...«

Hier stockte sie. Sie dachte auch an das trübselige Heim und mußte mit Gewalt an sich halten, um nicht mit bitteren Worten sich über die unangenehmen Verhältnisse im Vaterhause auszusprechen. »Jetzt verstehe ich es, daß Eugen geweint hat, als ich zu dir fuhr. Ich glaub es ihm von Herzen, daß er gern, gern mit mir gefahren wäre«, sagte sie darauf.

Marie, das Dienstmädchen, kam in den Hof und meldete, daß der Herr Förster einen ganzen Wagen voll Tannenreisig geschickt habe.

»Bravo, bravo«, sagte befriedigt Herr Thorn, »das heiß' ich eine prompte Bedienung, die Damen haben von morgen an alle Hände voll zu tun. Es gibt auch Gesellschaft! Ein großer Teil der jungen Damen des Ortes wird sich hier im Hof versammeln, um für das Fest Kränze und Girlanlanden zu winden. Auch das Fräulein Lise wird hierzu freundlichst eingeladen.«

»Fräulein Lise hat aber noch niemals Kränze gewunden«, wehrte die Nichte ab, »es hat sich für sie noch keine passende Gelegenheit dazu ergeben.«

»Tante Pauline wird Fräulein Lise Unterricht in diesem Gegenstand geben«, antwortete mit komischem Ernst Herr Dr. Thorn, »auch Fräulein Marie wird sich morgen nach beendigter Tagesarbeit in den Dienst unserer großen Sache stellen.«

»Vielleicht auch Frau Pauline?« fragte sich bescheiden die Schwester an.

»Frau Pauline wird im Verein mit der Köchin Kathi sorgen, daß die fleißigen Arbeiter nicht hungern und dürsten müssen. Es müssen mindestens fünfundzwanzig Kilo Wuchtel und anderes feines Gebäck bereitet werden. Zur Zubereitung des nötigen Kaffees muß der Waschkessel genommen werden, vorausgesetzt, daß er den nötigen Kubikinhalt aufweist!«

Während dieses amüsanten Gespräches kam der Herr Förster herein, ihm nach folgten zwei Arbeiter mit gewaltig großen Reisigbündeln. Auf Befehl des Dr. Thorn wurden die Reisigbündel in einer Ecke des Hofes niedergelegt.

»Meine Nichte Elise«, stellte Herr Dr. Thorn seinen Gast vor.

»Donnerwetter – ist das ein Mädel!« begrüßte sie der rauhe Forstmann, »Herr Doktor – Respekt – aber – aber –« fuhr er zweifelnd fort, »wenn ich Ihnen einen guten Rat geben kann, dann lassen Sie die Nichte ja nicht mit dem Festzug mitgehen, sonst gibt's einen Heidenskandal. Dann streiken uns alle Ehrenjungfrauen!«

»Und ich hab mich so gefreut, als Ehrenjungfrau prangen zu können«, sagte Lise und machte ein Gesicht, als wenn sie wirklich zu Tode betrübt wäre.

Thorn lachte.

»Nein, meine Lise, das ginge wirklich nicht an; nimm dir das als eine weise Lehre von deinem Onkel auf deinen ferneren Lebensgang mit: der Neid ist wohl ein häßliches Laster, aber er ist eine gewaltige Triebfeder im Menschenleben!«

Lise mußte bei dieser weisen Sentenz unwillkürlich an ihren Herrn Papa denken.

Der nächste Tag brachte wirklich Leben in die Bude. Schon um acht Uhr morgens fand sich die Damenwelt von St. Ruprecht bei Herrn Dr. Thorn ein. Die jungen Damen erwiesen sich Fräulein Lise gegenüber von einer geradezu honigsüßen Freundlichkeit. Wie sie sich beeiferten, der Unerfahrenen beim Kränzewinden mit Rat und Tat an die Hand zu gehen, wie sie den ersten Kranz, der aus Lises Hand hervorging, als ein Meisterwerk priesen, ist geradezu unbeschreiblich. Und was die jungen Damen alles zu plaudern hatten! Schon auf der Straße vernahm man das Stimmengewirr. Die Tochter des Herrn Oberlehrers machte den Vorschlag, einige Lieder zu singen, was mit allgemeiner Begeisterung angenommen wurde.

»Hier sitz ich am Rasen, mit Veilchen bekränzt«, »Da drunten in der Mühle«, »Sah ein Knab' ein Röslein steh'n«, und noch so manches der lieben deutschen Volkslieder. Thorn war ganz entzückt.

»Wenn mich meine Kollegen, die jetzt drinnen im Amt schwitzen, hier in dem Kreis der jungen Damen sehen würden, sie möchten vor Neid vergehen!« sagte er mit vergnügtem Lachen.

Eine sehr angenehme Abwechslung wurde den Damen durch die Zehnerpause geboten. Kathi, die Köchin, hatte wunderbares Gebäck für diesen Tag vorbereitet, und Herr Dr. Thorn kredenzte höchst eigenhändig kleine Gläschen mit wundervoll süßem Wein. Die Damen sträubten sich lange, davon zu kosten; als aber Lisel ihr Gläschen mit einem Zuge leergetrunken und dem Onkel mit den Worten: »Saperment, Onkel, der ist aber gut!« ihre belobende Anerkennung ausgedrückt hatte, konnten die jungen Damen nicht mehr widerstehen. Sie nippten erst vorsichtig, dann tranken sie einige Tropfen – und schließlich leerten sie mit einer Miene, die das größte Entzücken verkündete, das Gläschen in einem Zuge.

»Was für ein Wein ist das?« fragte Lisel.

»Das ist echter Madeira, wird nur Kranken verordnet!« sagte Dr. Thorn.

»Onkel, mir ist plötzlich so riesig schlecht, geh gib mir noch ein Gläschen Madeira!« bat Lisel.

Alles lachte.

»Na, da hast du«, sagte Thorn und goß ihr ein Gläschen ein. »Ich will es durchaus nicht haben, daß du mir vor dem Feste stirbst.«

»Bitte, mir ist auch schlecht!« rief eine andere Dame.

»Bitte, mir auch, mir auch!« hallte es im Chorus.

Im Nu war Herr Dr. Thorn von den Mädchen umringt, und er hatte alle Hände voll zu tun, die hingereichten Gläser zu füllen.

Es war ein ganz eigenartiger Anblick, den alten, frohsinnigen Herrn zu sehen, wie vergnügt er die Gläser vollschenkte, wie er lachte, und für jedes der Mädchen ein fröhliches Wort hatte.

Lise hatte im Sturm die Herzen der Damen gewonnen, sie war so lieb und gut gegen alle, und die Mädchen vergalten ihr's mit einem ungeheuren Aufwand von Herzlichkeit.

Der Nachmittag gestaltete sich noch amüsanter. Bei der Austeilung des Jausenkaffees war Lise der Frau Pauline behilflich und sie servierte mit solcher Grazie und Anmut, sprach alle mit »liebes Fräulein« an, welche ungewohnte Ansprache die Damen derart entzückte, daß sie übereinstimmend erklärten, Fräulein Lise sei das liebenswürdigste Mädchen, das sie jemals kennengelernt hatten.

Zahllose Kränze lagen fertig auf dem Boden, unzählige Meter von Beisiggirlanden waren unter den fleißigen Händen entstanden, als Herr Dr. Thorn einen unerwarteten Besuch in den Hof führte, Herrn Ulrich, den Kandidaten der Theologie.

Es war interessant zu beobachten, welchen faszinierenden Eindruck die Erscheinung, dieses Jüngers der Gottesgelahrtheit auf die jungen Mädchen machte. Alle arbeiteten plötzlich mit ungeheurem Eifer und taten so, als ob sie vor lauter Anstrengung weder sehen noch hören würden.

»Kommen Sie nur, Herr Ulrich, und schauen Sie sich die fleißigen Leute da an«, sagte Thorn, »ist das nicht ein lieblicher Anblick? Hier das viele Grün – die frischen Gesichter der Damen heben sich wie Blumen aus dem vielen Laub und Tannenreisig hervor.«

Herr Ulrich begrüßte in seiner stillen Weise die Anwesenden, errötend dankten die Damen, senkten die lieblichen Häupter und setzten mit verzehrendem Eifer ihre Arbeit fort. Er trat zu Lise hin.

»Das ist Ihnen wohl eine seltene Arbeit, Fräulein?« fragte er.

»Ja freilich, wann käme man denn in Wien dazu, Kränze und Girlanden zu winden? Wenn man derartiges braucht, kauft man es beim Gärtner. Aber mich freut's, ich habe die Geschichte gleich weggehabt ..., da sehen Sie ...« sie zog eine wohl zwanzig Meter lange Girlande aus Tannenreisig zu sich heran; »diese große grüne Raupe habe ich schon ganz allein gemacht!«

Dr. Thorn ging von Gruppe zu Gruppe, mit überschwenglichen Worten den Fleiß und die Ausdauer der Damen bewundernd.

»Bitte, Herr Doktor, wie viel Uhr ist es bereits«, fragte Fräulein Dungl, die Tochter des Herrn Oberlehrers.

»Halb fünf«, sagte Thorn, nachdem er einen Blick auf seine prachtvolle Glashüttenuhr geworfen hatte.

»Was ... halb fünf?« rief zu Tode erschrocken Fräulein Dungl, »ja, da muß ich sofort gehen, ich sollte um vier Uhr schon zu Hause sein!«

Sie raffte in möglichster Eile ihre Sachen zusammen und empfahl sich von Herrn Dr. Thorn und Frau Pauline. In ihrer Eile vergaß sie, auch von Fräulein Elise und Herrn Ulrich Abschied zu nehmen, die plaudernd unter dem Kastanienbaum saßen.

Das Beispiel des Fräuleins Dungl wirkte ansteckend auf die übrigen Damen, sie erhoben sich scharenweise, nahmen von Herrn Dr. Thorn und Frau Pauline überaus herzlich, von Herrn Ulrich und Fräulein Elise nur kühl formell Abschied.

»Ja, was war denn das auf einmal?« fragte verwundert Lisel.

»Glücklich, wer der Dinge geheimste Ursachen erkennt«, deklamierte Herr Dr. Thorn. »An diesem raschen Abschied seid nur ihr schuld – du Lisel – und der Herr Gottesgelahrte!«

»Ja, was soll das heißen?« fragte ganz erzürnt Herr Ulrich.

»Auch die anderen Damen wollten von Ihrer Gottesgelahrtheit profitieren«, meinte Dr. Thorn mit aller Ironie, die ihm zu Gebote stand, »da Sie sich aber einzig und allein meiner Nichte zur Verfügung stellten, haben Sie die anderen Damen alle tief verletzt!«

»Das ist doch nicht möglich!« rief geärgert Herr Ulrich aus.

»Aber Onkel – du machst Spaß«, sagte tief gekränkt Fräulein Lise.

»Es ist so, meine Lieben!« sagte Thorn mit weiser, aber höchst düsterer Miene. »Ich möchte jetzt eine unsichtbar machende Tarnkappe haben und zuhören, was die Damenwelt von St. Ruprecht alles über euch beide zu reden hat.«

Am Abend des 3. Oktober war die Dekoration von St. Ruprecht vollendet. Es war über alle Maßen prachtvoll. Herrlich präsentierte sich das Haus des Herrn Doktor Thorn, dessen Front reich mit Girlandenbogen, in deren Mitte Blumenkränze hingen, geziert war. Auch die anderen Häuser hatten reichen Schmuck erhalten, doch wurde von Dr. Thorn mit tiefem Schmerz bemerkt, daß der weitaus größte Teil der Dekoration nicht aus lebendem Laub und Reisig, sondern aus schnödem, gefärbten Papier bestand. Am vergangenen Sonntag war im Ort ein Handelsmann erschienen, der in solchen Sachen »machte«. Er hatte gleich am ersten Tag so reißenden Absatz gehabt, daß er, um den allseits anstürmenden Aufträgen zu genügen, sich ein großes Paket frischer Ware mußte nachschicken lassen, dessen Inhalt schon in wenigen Stunden in festen Händen war. In jenen Tagen gab es in St. Ruprecht keinen patriotischer gesinnten Mann als Herrn Hermann Blau von der Firma Goldstein und Blau in Wien. Leider fand der Zwist zwischen Feuerwehr und Veteranenkorps auch in der Ausschmückung der Häuser sinnigen Ausdruck. Jene Baulichkeiten, die von begeisterten Feuerwehrleuten bewohnt waren, trugen nur Wappen mit den Emblemen der Feuerwehr und der Aufschrift: »Einer für alle, alle für Einen«, woraus zu ersehen war, daß trotz aller Zerwürfnisse der Sinn für Einigkeit in den Herzen der wackeren Männer lebte. Die Häuser der Veteranen waren durchweg mit kriegerischen Emblemen geziert und trugen stolze Aufschriften, zum Beispiel: »Mit Gott, für Kaiser und Vaterland.« Großartig prangte das Haus des Bürgermeisters mit schwarzgelben und weißroten Fahnen, Kaiserbildern und Wappenschildern. Leider wurde viel zu spät entdeckt, daß die Adler auf den Wappenschildern alle nur einen Kopf hatten. Diese Schilder stammten nämlich aus deutschen Fabriken und waren den dortigen Einrichtungen und Empfindungen gemäß angefertigt worden. Beinahe wäre wegen dieser Sache zwischen Doktor und Bürgermeister abends im Gemeindegasthaus ein heftiger Streit entstanden. Der Doktor war von seinen Studentenjahren her noch ein Deutschnationaler und hielt in vorgerückten Stunden gern flammende Reden, in denen er die Anwesenden flehentlichst beschwor, ja deutsch zu reden, zu denken und zu handeln. Er war oft mit dem Bürgermeister in Konflikt geraten, denn Herr Kirchmaier war ein überzeugter Österreicher mit religiösem Einschlag. Die einköpfigen Adler auf den Dekorationen des bürgermeisterlichen Hauses gaben nun dem Doktor angenehmen Anlaß, den politischen Gegner aufzuziehen. Er führte aus, daß nunmehr, wenn auch etwas spät, im Gemeindeoberhaupt der deutsche Gedanke zum Durchbruch gekommen sei, und beglückwünschte mit drei donnernden Heil den Bürgermeister zum erfolgten Gesinnungswechsel. Der Bürgermeister sträubte sich heftigst gegen die Lobrede und versprach, noch in der Nacht die Wappenschilder von den Wänden seines Hauses herabzureißen, tat es aber nicht, zunächst weil ihm diese patriotische Handlung Geld gekostet hätte, und nebenbei auch aus dem Grunde, weil neue Wappenschilder wegen der Kürze der Zeit nicht zu beschaffen gewesen wären. So blieb denn Deutschlands Wappenvogel an der Wand des Bürgermeisterhauses hängen. Manche ärgerten, manche freuten sich darüber, was übrigens auch der Fall gewesen wäre, wenn der doppelköpfige Aar an der Hausfront geprangt hätte.

Am nächsten Morgen wurde Fräulein Elisabeth Thorn etwas unsanft aus dem Schlafe geweckt. Sie träumte eben, auf dem Rathausplatze der Regimentsmusik zuzuhören. Die Musik spielte immer stärker und stärker, schließlich so stark, daß sie aufwachte. Und, sonderbar, die Musik spielte noch fort, als das Fräulein schon munter war und sich bereits mühselig den Schlaf aus den Augen gerieben hatte.

Vor dem Hause des Doktors war die Musik des vereinigten Veteranen- und Feuerwehrkorps aufgestellt und blies, daß es mächtig über den Markt schallte. Es war mehr Kraft als Reinheit in dem Spiele.

»Lise komm – komm!« rief Frau Pauline, »schnell, so was siehst und hörst du in Wien nicht.«

Lise schlüpfte schnell in einen Schlafrock und strich das blonde, lockige Haar zurück. Beinahe wären beide zur Produktion zu spät gekommen, schon erklangen die letzten Takte des Marsches. Als aber das schöne Mädchen neben dem Onkel den blonden, sonnigen Kopf zum Fenster hinausneigte, kam dem Kapellmeister eine glorreiche Idee. Er flüsterte seinen Untergebenen einige kurze Kommandoworte zu, die mit freudigem Zunicken seitens der Herren Musiker beantwortet wurden. Dann erklang mächtig und brausend Suppés »Hab' ich nur deine Liebe, die Treue brauch' ich nicht«.

Onkel und Tante kannten das Lied und sie wußten sofort, daß der Vortrag desselben eine Huldigung für die Nichte bedeute. Herr Dr. Thorn klatschte stürmisch Beifall.

»Lisel, bedank dich!« rief er aus.

Das schöne Fräulein neigte sittsam das blonde Haupt vor der huldigenden Musika.

Der Flügelhornist blies mit aller Macht, es war, als ob er alles in seinem Herzen vorhandene Gefühl in seine Töne legen wollte.

Fräulein Lise Thorn dankte nochmals mit jungfräulichem Erröten, als die sinnige Huldigung zu Ende war. Die Herren Musiker salutierten stramm, formierten sich zum Marsch, und mit Pauken und Trompeten gings die Dorfstraße weiter.

Etwas unsicher erklang die Musik, denn mancher der Herren Musikanten fand es für nötig, noch einmal den Kopf nach dem schönen Mädchen zurückzuwenden, was immer einen erheblichen Gickser zur Folge hatte. Ja der Klarinettist wäre infolge seiner Unachtsamkeit fast über einen Pflasterstein gestolpert, der sich übermäßig hoch über das Niveau der Dorfstraße erhob.

Dem tief religiösen Sinn der Bevölkerung entsprechend, begann die Feier mit einer Feldmesse, die draußen auf dem Anger abgehalten wurde. Es war ein wunderbar herrlicher Herbsttag. Der Himmel strahlte in hellklarer Bläue. Um den improvisierten Altar waren die Mannschaften aufgestellt, Kopf an Kopf umdrängte die Menge die geheiligte Stätte, mit feierlicher Macht erklang das alte Meßlied »Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar«, vorgetragen von der Musikkapelle.

Es liegt etwas von einer wunderbaren Eindringlichkeit in solch feierlicher Handlung, ihre Weise schlug auch mit Macht in Elisens Seele. Als das Glöcklein erklang, und trotz der Menschenmenge, die im Kreise herumkniete, weit und breit nichts zu hören war als die Stimme des Priesters, da kam es ihr auf einmal in den Sinn, wie es sein würde, wenn einst Herr Ulrich als Geweihter des Herrn im goldenen Ornat am Altar stehen werde. Ihr war so ganz eigen ums Herz – am liebsten hätte sie weinen mögen.

»Hörst du, is dir dös net eh, als wann a Engel da knien tat!« stieß ein alter Bauer den Nebenstehenden in die Seite und wies auf die knieende Elise.

Sie hatte die Worte gehört, purpurrot im Gesicht stand sie auf.

Nach der Messe ward in den Ort hineinmarschiert. Vor dem Hause des Onkels stand Herr Ulrich. Er wurde von der Tante mit lauten Äußerungen der Freude begrüßt.

Lise reichte ihm kaum die Hand.

Herr Dr. Thorn bat den jungen Herrn doch einzutreten, eine Aufforderung, die von Frau Pauline mit einem Schwall liebenswürdiger Worte unterstützt wurde. Die Herrschaften nahmen am Tische unter dem Kastanienbaum Platz.

»Ich muß mich aber entschuldigen«, sagte Thorn, »wir haben im Gemeindehause alle Hände voll zu tun, einige der geladenen Feuerwehren sind bereits erschienen, das Gros rückt jetzt an, wir sind verpflichtet, sie mit feierlichen Worten zu begrüßen!«

Er entfernte sich in höchst lebhafter Eile.

»Der Bruder ist ganz verändert«, sagte lächelnd Frau Pauline. »Er hat immer von einem stillen, frohen Lebensabend geschwärmt, und jetzt macht er solche Sachen! Aber er ist ganz Feuer und Flamme – wie ein Jüngling ist er bei allem dabei! Ich bin ganz froh darüber, sonst würde er wieder den ganzen Tag bei seinem alten Gerümpel im Museum stecken!«

Frau Pauline offerierte ein kleines Frühstück, das dankbarst angenommen wurde.

»Auch mich müssen Sie entschuldigen«, sagte sie, als das Frühstück auf dem Tische stand, »ich habe an diesem hohen Festtage in der Küche alle Hände voll zu tun. Mein geliebter Herr Bruder hat zwei hervorragende Feuerwehrhauptleute der Umgebung bei sich zu Gast geladen und zu Ehren der beiden wackeren Männer für Küche und Keller weitestgehende Aufträge erlassen.«

Als Ulrich und Elise allein waren, ergriff zögernd der junge Gottesgelehrte das Wort.

»Wie hat Ihnen, Fräulein, die Feier draußen auf dem Felde gefallen?« fragte er.

»Sie hat mich mächtig ergriffen«, sagte Lisel, »und wissen Sie, woran ich hab denken müssen? Wir haben im Lyzeum auch von der Religion der alten Deutschen gehört, wie die in Wald und Flur ihre Götter ehrten, heute hab ich ihre Art des Gottesdienstes verstehen gelernt!«

»Wieso ... wie meinen Sie dies?« fragte verwundert Herr Ulrich.

»Ich gehe gern in Wien an einem Sonn- oder Feiertag zum Hochamt. Mir hat das immer imponiert, Pauken und Trompeten tönen vom Chor, dazu vielstimmiger Gesang ... die Kirche beleuchtet ... am Hochaltar allein flammen hundert Kerzen, dazu in goldenem Ornat die geistlichen Herren ... es ist alles großartig und prächtig... aber so schön wie heut war's doch niemals. Nichts als der blaue Himmel über uns, am Altar der liebe alte Herr Pfarrer ... und alles umflutet vom hellen Sonnenschein, von Luft und Glanz ... ich hab mich an das Uhlandsche Gedicht erinnert, mir war zumute, als knieten im weiten Feld Tausende lichter Engel!«

»Einen lichten Engel hab ich geseh'n ...« sagte mit wehmütigem Lächeln Herr Ulrich.

Lise sah ihm fragend in das Gesicht.

»Wie meinen Sie das?« sagte sie.

»Ich bin ganz abseits gestanden und hab zu Ihnen hinübergeschaut. Als Sie bei der Wandlung niederknieten – die Sonnenstrahlen spielten in Ihren blonden Haaren, daß es aussah, als umgebe ein lichter Heiligenschein Ihr Haupt – da kam's mir vor, als kniete wirklich ein Engel im Feld und betete mit.«

Der Herr Gottesgelehrte war bei diesen Worten recht ernst geworden.

»Ich müßt fast bös werden über das, was Sie sagen«, erwiderte mit recht ernsthaftem Gesicht Fräulein Lise, »wenn ich dasselbe nicht schon heute gehört hätte.«

»Nun ja, wer Sie gesehen hat, muß ja auf diesen Gedanken kommen«, meinte Herr Ulrich.

»Zwei alte Bauern standen neben mir; der eine stieß den anderen in die Seite, deutete auf mich und sagte ...«

»Ja, was sagte er?« fragte Herr Ulrich.

»Nun, eben dasselbe ... genau weiß ich seine Worte nicht ... er sprach auch von einem Engel ...«

»Na, da sehen Sie, Fräulein, wie sehr ich recht habe. Wenn sogar im Herzen des biederen Landmannes, das sonst poetischen Regungen absolut nicht zugänglich ist, ein solch seliges Bild emporsteigt ... dann ...«

Diesmal stockte der Gottesgelehrte.

»Ich hab aber auch an Sie gedacht«, sagte Lise.

»An mich?« Auf des jungen Gottesgelehrten Angesicht leuchtete der hellste Freudenschimmer. »An mich ... Fräulein?«

»Ja, ich hab mir das vorgestellt, wie es einst sein wird, wenn Sie im goldgestickten Meßgewande am Altar stehen und segnend die Hände über das Volk ausbreiten werden.«

In diesem Moment verblich der helle Sonnenschein auf dem Antlitz des Herrn Ulrich und dunkle Schatten lagerten auf dem noch eben so frohseligen Gesicht.

»Daran haben Sie gedacht?« fragte er und runzelte finster die Stirn.

»Ja ... aber was haben Sie denn auf einmal?« fragte sie erschrocken; »ich wollte Ihnen ja gar nicht wehtun. Wie der alte Herr Pfarrer dort am Altar stand, kam es mir vor, als sei der liebe alte Gott selber heruntergestiegen vom Himmel ... es kam mir das so schön, so rührend vor!«

»Wollen Fräulein nicht einen kleinen Spaziergang machen?« fragte aufstehend Herr Ulrich.

Das Fräulein war sehr gern bereit dazu. Sie gingen durch den Blumengarten, in dem eben Astern und Georginen blühten, die Totenblumen des Jahres. Auf der Bank im Kiefernforst rasteten sie.

»Warum sind Sie auf einmal so verstimmt, Herr Ulrich«, fragte verwundert Fräulein Lise.

»Mir war's gar nicht recht, Fräulein, daß Sie mich schon als Priester gesehen haben!« sagte er mit leiser Stimme.

»Aber du lieber Gott, warum denn nicht?« fragte sie.

Ulrich stand auf und sah schweigend über die Planke des Gartens auf das Gebreite der Felder hinaus. Im hellen Sonnenschein glitzerten die weißen, feinen Fäden des Altweibersommers, die im leisen Lufthauch vorn Felde hereinzogen über die Planke. Die Weite draußen lag im zauberischen Lichte des Herbsttages in wunderbarer Verklärung da.

»Ich will ja gar nicht Priester werden«, sagte Ulrich und wendete sich nach dem Mädchen um.

»Ja, warum denn nicht?« fragte mit maßlosem Erstaunen Fräulein Lise.

»Die Welt ist mir zu schön dazu! Glauben Sie wirklich, Fräulein, daß der, der all diese Herrlichkeiten, diese von Licht und Glanz erfüllten Weiten geschaffen hat, will, daß man verzichte auf das irdische Glück?«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Ulrich«, sagte Lise.

»Ich bitte, sagen Sie nichts von dem, was ich Ihnen jetzt erzähle, anderen Leuten. Ich bin nach St. Ruprecht gekommen, um meinem Vater zu erklären, daß ich nicht Priester werden will.«

»Um Gottes Willen, was wird Ihr Herr Vater dazu sagen?«

»Ich habe daran oft und oft gedacht; er wird toben, er wird mich mit aufgehobenen Händen bitten – in tausend Ängsten bin ich hergefahren, ich hab gezweifelt daran, daß ich fest bleiben werde. Aber jetzt, jetzt bleib ich fest, jetzt, Fräulein, nachdem ich Sie gesehen habe!«

»Nachdem Sie mich gesehen haben ... Herr Ulrich, wie meinen Sie das?«

Der angehende Gottesgelehrte schwieg erst eine Weile. Dann sagte er, überwältigt von heißem Gefühl: »Fräulein, ich bin zagenden Herzens hieher gefahren, im Bewußtsein, es wird eine bitterböse, schwere Stunde werden, in der ich meinem Vater mitteile, daß ich nicht Priester werden will – nein, daß ich es nicht kann – als der Zug in die Station einfuhr, bin ich erst ganz kleinmütig, ganz verzagt gewesen – ich hatte allen Mut verloren – und dann, dann habe ich Sie gesehen – und jetzt, jetzt mag kommen was will – er soll mich hinauswerfen – mir liegt gar nichts daran – mir stehen so viele Wege dann offen, hinaus in das Glück – in die Freude – und wenn ich hungern und darben muß – auf dem Wege zu Ihnen Fräulein Lise ...!«

In übermächtiger heißer Bewegung reichte er plötzlich dem schönen Mädchen beide Hände hin.

Lise wich scheu zurück.

»In Ihrem sonnigen Antlitz habe ich die Botschaft vom schönen, herzerfüllenden Glück gelesen. Der liebe Gott da oben, der weiß ja, was er tut ... er weiß auch, warum er es so gefügt hat, daß wir beide zusammenkommen mußten. Fräulein, Sie können mir die Hand ruhig geben...«

»Herr Ulrich«, sagte sie leise, »ja, ja ... ich weiß nicht, was ich sagen soll ...« Sie reichte ihm die eine Hand hin, er ergriff sie, sie mit unzähligen Küssen bedeckend, sie wendete sich ab, den schönen Kopf an den Stamm einer jungen Kiefer gelehnt, schluchzte sie, daß es zum Erbarmen war.

»Ja, was ist's denn ... ja, was ist's denn?« erklang in diesem Moment Herrn Dr. Thorns Stimme. Er stand bei Paschas Grabmal und sah bekümmert auf die beiden jungen Menschen hin. »Herr Ulrich ... Lise ... ja, was ist denn geschehen?«

Errötend barg Fräulein Lise den Blondkopf an der breiten Brüst des Herrn Dr. Thorn.

»Onkel ... Onkel ...!« rief sie.

Herr Ulrich kam herbei.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor«, begann er mit höchst unsicherer Stimme, »darf ich Ihnen etwas erzählen ... ich habe niemanden sonst, dem ich mich anvertrauen kann!« bat Ulrich.

Herr Dr. Thorn löste sich milde aus der Umarmung der Nichte.

»Sei nicht so dumm«, sagte er darauf, »geh hinein zur Tante, sei ihr behilflich an ihrem heutigen schweren Tagewerke; zwei hervorragende Feuerwehrhauptleute werden sofort erscheinen, und zu ihren Gunsten wird heut' alles aufgeboten, was Küche und Keller zu liefern vermag. Trockne deine höchst überflüssigen Tränen, komme Tante Pauline mit deiner Jugendkraft zu Hilfe, das übrige werde ich mit dem jungen Herrn hier besprechen.«

Lise ging. Im Blumengarten begegnete ihr der Rehbock mit der ledernen, Grenadiermütze. Er schmiegte sich schmeichelnd an das Mädchen an.

»Er hat sie gern«, sagte befriedigt Dr. Thorn, »ich hab es immer gesagt – Hansl ist ein ganz gescheiter Kerl!«

Ulrich erzählte in fliegender Eile seine Leidens- und Herzensgeschichte. Es war ein recht beweglicher Anblick, dem jungen Mann in das Gesicht zu sehen, in dem Leidenschaft, Angst und Sorge in raschem Wechsel zum Ausdruck kamen.

»Hm, hm«, sagte Dr.« Thorn, »schöne Pastete das, schnell Feuer gefangen – wer soll das denken. Donnerwetter, das kann ein hübscher Lebensabend werden! Junger Herr, ich will Ihnen vorläufig eines sagen, überlegen Sie sich die Sache recht gut – und machen Sie sich das Herz dadurch nicht noch schwerer, daß Sie meine Nichte öfters aufsuchen. Sie scheint auch leicht entzündlich zu sein ...!«

»Sie werfen mich aus Ihrem Hause hinaus?« sagte Ulrich.

»Gott bewahre – Gott bewahre«, wehrte Thorn lebhaft ab, »was Ihnen einfällt – ich meine nur, so lange Lise da ist – denn wozu soll die Sache führen? Ich will es auch durchaus nicht haben, daß Sie sich wegen meiner Nichte mit ihrem Vater entzweien!«

»Ich glaube, es wäre auch so gekommen, wenn ich Fräulein Lise nicht kennen gelernt hätte; die Absicht hatte ich schon längst, den Mut, sie auszuführen, gab mir der Anblick Ihrer Nichte!«

In diesem Moment ging die Haustür auf, herein traten in silber- und goldglänzenden Helmen, die breite Brust mit unzähligen Auszeichnungen bedeckt, die eine frappante Ähnlichkeit mit Ordensdekorationen besaßen, die beiden Gäste. Die Begrüßung war, wie dies bei solch älteren, jovialen Herren üblich ist, eine höchst stürmische. Es war gut, daß die beiden Herren bereits in verschiedenen Wirtshäusern des Ortes gewesen waren, so daß sie es nicht bemerkten, daß Herr Dr. Thorn ein etwas gedrücktes Wesen zur Schau trug und das junge, schöne Gesicht des Klerikers Spuren des inneren Leides zeigte.

Nur als Ulrich Abschied nahm, fiel es Herrn Lederer, Kommandant der Feuerwehr und Gutsverwalter des Marktes Steinholen auf, wie gedrückt, mit fast tonloser Stimme der Scheidende diese gesellschaftliche Formalität ausführte.

»Schade um den hübschen Burschen«, sagte er, als der Hausherr die Gäste in das Speisezimmer geleitet hatte, »aber man sieht's, wie die Pfafferei den Kerl schon verdorben hat. Er hat keinem von uns offen ins Gesicht sehen können!«

Herr Verwalter Lederer war in der ganzen Umgebung bekannt als wütender Antiklerikaler, und seine Kämpfe mit dem Pfarramt von Steinhofen bildeten eine stehende Rubrik der hierortigen Wirtshausgespräche. Der Verwalter, der Pfarrer und der Kaplan hatten sich gegenseitig bereits unzählige Male vor das Bezirksgericht Markenau zitiert, und alle drei waren zu unterschiedlichen Malen zu erheblichen Geldstrafen, der Herr Verwalter sogar einmal zu acht Tagen Arrest verurteilt worden, und es hatte ungeheure Anstrengungen gekostet, die Strafe in eine Geldbuße von zweihundert Kronen umzuwandeln, denn der Herr Verwalter liebte frische Luft und Sonnenlicht über alles.

Herr Dr. Thorn nahm den jungen Herrn in Schutz.

»Nein, nein, Herr Verwalter«, sagte er, »da tun Sie dem jungen Herrn schwer Unrecht, der ist sicherlich kein Klerikaler!«

»Dann soll er aus der Kutte springen, der Kerl!« rief mit donnernder Stimme der kirchenfeindliche Verwalter.

Frau Pauline kam herein und begrüßte in ihrer stillen Weise die beiden martialischen Gäste.

»Wo ist Lise?« fragte Dr. Thorn.

»Drüben in meinem Zimmer«, sagte leise die Schwester, »laß sie – sie ist ganz erschüttert!«

Das Mahl, das Herr Dr. Thorn seinen Gästen gab, war ein ganz exquisites. Forellen aus dem Forellenbach des Herrn Dr. Thorn und Rehbraten, den der Herr Förster gegen das ortsübliche Entgelt beigesteuert hatte. Herr Dr. Thorn war in den letzten Tagen durch die Festangelegenheiten derart in Anspruch genommen gewesen, daß er sich in seinem Revier nicht hatte dem Dienst St. Hubertus widmen können. – Wein, den er aus der Kellerei des Klosters Göttweih um schweres Geld bezogen hatte, und feines Backwerk, das der Köchin Kathi großartige Lobsprüche eintrug, bildeten so die Hauptbestandteile der Mahlzeit. Die beiden Herren pampften, daß ihnen förmlich die Augen aus dem Kopfe traten.

Beim schwarzen Kaffee ward der Herr Verwalter Lederer lyrisch gestimmt.

»Frau Paulin – Donnerwetter noch einmal – sagen Sie mir doch – wer war denn das hübsche Mädel, das Sie heute bei der Feldmesse mit hatten? Ich habe sie immer anschauen müssen!«

»Das war Lise, unsere Nichte, sie ist auf einige Tage zu Besuch gekommen«, sagte Thorn.

»Und wir bekommen sie nicht zu sehen, Herr Doktor? Ist sie vielleicht heute schlimm gewesen, daß sie am Katzentischl hat speisen müssen«, sagte Lederer, »wenn man auch schon längst über die Fünfzig hinaus ist, für so'n altes Herz ist es immer noch ein Labsal, ein junges, frisches Gesicht zu sehen.«

Auch Herr Kern, der andere Kommandant, seines Zeichens wohlbestallter Müllermeister zu Maierhof, sprach den dringenden Wunsch aus, dem schönen Fräulein vorgestellt zu werden.

»Geh red' ihr zu, Pauline, vielleicht kommt sie herüber«, sagte Thorn. Das allgemeine Lob, das seiner Nichte zuteil wurde, tat dem Onkel ungemein wohl.

»Ach laß sie doch gehen«, wehrte Frau Pauline ab, aber den stürmischen Bitten der beiden gemütlichen Herren konnte sie schließlich doch nicht widerstehen. Sie ging hinüber in ihr Zimmer, wo Lise, sorgsam von der ganzen Damenwelt des Hauses betreut, einsam und ganz ohne Appetit ihr Mittagmahl verzehrt hatte. Mit den Forellen war's noch gegangen, der Rehrücken war unberührt geblieben.

»Geh, Lise, komm, der Onkel will, daß du die Gäste begrüßt, geh, komm auf einen Moment herüber!« sagte Frau Pauline.

»Ach, Tante ... laß mich ...« bat Lise.

»Lisel ... laß die Dummheit, wirst im Leben noch ganz anderes erfahren ... sei ein frisches, gescheites Mädel, tue dem Onkel den Gefallen, er hat eine so große Freude an dir. Komm nur, komm nur!«

Sie nahm das Mädchen bei der Hand und führte es hinüber. Die Gäste erhoben sich mit einer Geschwindigkeit von ihren Sitzen, die den alten Knaben niemand zugetraut haben würde. Sie salutierten mit noch nie dagewesener militärischer Strammheit. Es war, als wenn ein hoher Offizier das Mannschaftszimmer betritt und alle darin Anwesenden mit Macht von ihren Sitzgelegenheiten aufrumpeln. Nur des Herrn Kommandanten Lederer Begrüßung war eine höchst unmilitärische.

»Donnerwetter!« rief er mit markiger Stimme, »heut geht die Sonne zweimal auf!«

Lise mußte trotz ihres Herzeleides lächeln. Es war, wie wenn nach einem Frühlingsregen die Sonne durch die Wolken bricht und Wiese und Felder auf einmal im feuchten Schimmer erglänzen läßt.

Den alten Knaben ward das Herz butterweich; sie taten höchst verlegen, als sie das schöne Mädchen begrüßten. Lise mußte eine Weile bei ihnen sitzen bleiben.

Die Wirkung, die die Gegenwart des Mädchens auf die beiden machte, war eine grundverschiedene. Der Herr Müllermeister Kern saß schweigend da und wendete keinen Blick von dem Fräulein ab. Der Herr Verwalter, die aggressivere Natur, fing an, ungeheure Heldentaten zu erzählen, die er einst verübt hatte, und tat auch sonst noch verschiedenes, von dem er hoffte, daß es ihn dem jungen Mädchen interessant mache. Er ließ sich das Wort durchaus nicht nehmen; obwohl Herr Dr. Thorn mehrmals versuchte, das Gespräch auf Angelegenheiten der Feuerwehr zu bringen, redete Herr Verwalter Lederer unentwegt weiter. Wenn nicht die Glocken zum Segen geläutet hätten, nach dem programmäßig der geplante Festzug stattfinden sollte, er würde fortgeredet haben bis hinein in die späte Nacht.

Die Herren nahmen Abschied, Dr. Thorn schloß sich ihnen an.

Herr Feuerwehrkommandant Lederer sprach den bestimmten Wunsch aus, die junge Dame beim Festzug zu sehen; als dies verneint wurde, stellte er es als unabweisliche Forderung auf, sie auf dem Tanzplatze zu begrüßen, und erbat sich in jugendlichem Ungestüm sofort den ersten Walzer.

Dieses Intermezzo hatte den Sturm in Lisens Brust etwas besänftigt, und Frau Pauline hütete sich, an die Wunde zu rühren.

Der Verlauf des Festzuges, dem die Damen vom Fenster aus zusahen, bot auch manches Erheiternde. Zuerst kam die Musik, die einen Heidenlärm machte. Hinter der Musik schritten die weißgekleideten Ehrenjungfrauen, umfangreiche Blumensträuße in den Händen tragend, um die Schulter rotweiße oder schwarzgelbe Schärpen geschlungen. Die ungefüge Grazie, mit der St. Ruprechts junge Damenwelt dahinschritt, entlockte den beiden Herrschaften am Fenster ein mildes Lächeln.

Hinter den Ehrenjungfrauen schritt der Senat von St. Ruprecht, Bürgermeister und Gemeinderäte, soweit diese nicht in einem der beiden wehrhaften Korps beschäftigt waren. Zwischen dem Herrn Doktor und dem Förster schritt im schwarzen Festkleid Herr Dr. Thorn. Er versuchte, sehr ernsthaft und würdig dreinzusehen, aber dieser Ausdruck paßte so gar nicht zu seinem fröhlichen, wohlwollenden Gesicht.

Dann kamen erst die verschiedenen Feuerwehren. Sie wurden mit tosendem Jubel empfangen. Von den Fenstern aus wurden den marschierenden Feuerwehren mächtige Kränze zugeworfen, die die wackeren Männer geschickt auffingen, um sie erhobenen Gemütes während des Festzuges mitzuschleppen.

Beim Hause des Herrn Dr. Thorn gab es eine höchst bemerkenswerte Szene. Auch Lise warf, dem allgemeinen Brauchs entsprechend, selbstgeflochtene Kränze den Männern zu. Alles riß sich um die Gaben des schönen Mädchens.

»Von derer muaß i an Kranz hab'n«, sagte ein junger, stämmiger Feuerwehrmann und drängte sich ungestüm durch die Menge, als eben Lise wieder ausholte, um einen Kranz hinunterzuwerfen. Unzählige Hände griffen danach, und im nächsten Moment krachten vier bis fünf Helme aneinander. Ein kleiner, dicker Feuerwehrmann war durch diesen Anprall zu Falle gekommen und der junge Mann war über ihn gestürzt. Beide hatten den Kranz ergriffen, keiner wollte ihn loslassen, und als sie sich keuchend erhoben, rissen sie eine Weile damit herum. Sie hatten beide hochrote Gesichter und gebrauchten sehr heftige Worte. Die anderen Herren wollten beschwichtigen, dadurch kam der Zug in Unordnung, und es dauerte eine Weile, bis man wieder weitermarschieren konnte. Selbst St. Ruprechts hoher Senat mußte stehen bleiben.

Als Herr Dr. Thorn erfuhr, daß ein von den Händen seiner Nichte geschleuderter Kranz die Verwirrung angerichtet habe, schüttelte er unwillig das Haupt.

»Ich muß trachten, daß das Mädel wieder weiterkommt. Sie bringt mir sonst noch das ganze Dorf in Aufregung!« sagte er.

Auf dem Festplatz vor der Kirche war eine große Rednertribüne aufgestellt. Zuerst ergriff der Herr Bürgermeister das Wort. Er sprach patriotisch und sehr religiös, stockte aber mehreremal, und der Doktor mußte ihm soufflieren. Es war ihm das ein leichtes, da er schon mehrere Reden des Bürgermeisters gehört hatte, von denen eine der anderen immer auf ein Haar geglichen hatte, so daß er genau wußte, was jetzt usw. kommen müsse.

Dann sprach Herr Feuerwehrhauptmann Oberlehrer Dungl und begrüßte in schwungvollen Worten die erschienenen fremden Feuerwehren. Herr Hauptmann Lederer dankte auch ungemein schwungvoll. Da er aber immer während der Rede unter der Zuhörerschaft nach Fräulein Lise suchte – ihre Anwesenheit hätte seinen Worten unerhörten Glanz und Feuer verliehen –, so blieb der Phrasengewohnte trotz vieljähriger Übung einmal derart stecken, daß er mit einem höchst merkwürdigen Übergang sehr unmotiviert zum Schluß eilte und in seiner Verwirrung statt der Gemeinde St. Ruprecht für den solennen Empfang zu danken, ein Hoch auf den Kaiser ausbrachte, wodurch der Herr Bürgermeister zu seinem größten Leidwesen um seine Schlußrede kam.

Die Menge schrie »Hoch!«, die Musik intonierte die Volkshymne, Kommandorufe ertönten, und der Zug setzte sich zum Spritzenhaus in Bewegung, wo programmäßig eine Schauübung stattfand.

Es wurden wahre Wunder von Bravour unter dem Kommando des Herrn Oberlehrers verrichtet. Mit einer Tollkühnheit sondergleichen erstiegen die wackeren Feuerwehrleute die fast zwei Stockwerke hohe Bretterwand mit Fensteröffnungen und hackten sich dort in den Fensterrahmen ein. Die Ehrenjungfrauen und so manche andere Dame im Publikum konnten vor Schauder zu den Kühnen, die da oben an der eingebildeten Hausfront hingen, gar nicht aufblicken. An der Spritze arbeiteten sechs andere der wackeren Männer; zwei der Herren stiegen, ungeheure Schläuche wie graue Riesenschlangen nach sich schleppend, an gewaltigen Schiebleitern empor. Auf ein etwas vergickstes Hornsignal flog knatternd der Wasserstrahl in die Fenster, und es war nur das allgemeine Interesse des Publikums, das sich, jede Warnung mißachtend, allzu dicht an die Akteurs herandrängte, schuld, daß das großartige Schauspiel dadurch eine unangenehme Wendung fand, daß ein Teil der Wassermassen einen durch kein Feuerwehrstatut vorgeschriebenen Weg in das Publikum fand. Nicht nur die Zylinder einiger Mitglieder des Gemeinderates, selbst einige Ehrenjungfrauen wurden arg begossen; schreiend stob die Menge auseinander. Die Mitglieder der fremden Feuerwehren, soweit sie nicht von dem unangenehmen Ereignis mitbetroffen wurden, zeigten sich von dem Verlauf der Schauübung höchst befriedigt und versicherten dem Herrn Oberlehrer, niemals noch einer so gediegenen Produktion beigewohnt zu haben.

Nach der Schauübung zerstreuten sich die Mannschaften in den verschiedenen Restaurants des Ortes, in denen sich bald ein höchst bewegtes Leben entwickelte. Der Bierkonsum steigerte sich ins Ungemessene, unzählige Verbrüderungen fanden statt, unzählige Hochs wurden ausgebracht, es schien, als ob der ganze Ort in einen allgemeinen Freudentaumel verfallen wäre. Schon am frühen Abend sah man Feuerwehrleute und Veteranen Arm in Arm durch die Straßen in einer Verfassung ziehen, die von der vormittägigen Strammheit wenig mehr erkennen ließ.

Frau Pauline und Lise waren zu Hause geblieben. Von dem Ereignis des Vormittags war weiterhin nicht mehr die Rede gewesen. Lise war sehr schweigsam; man sah es ihr an, daß ihre Gedanken ganz wo anders weilten als bei den Dingen, von denen Tante sprach.

»Also, was ist's?« fragte plötzlich Frau Pauline. »Begleiten wir nicht abends den Onkel und sehen uns die Tanzunterhaltung ein wenig an?«

Das Fräulein teilte mit, daß es ihr weit lieber wäre, zu Hause zu bleiben.

»Du bist ungeschickt, Lisel, du hast so etwas noch nie gesehen, und Onkel würde sicher die größte Freude haben!«

»Wenn Onkel durchaus will, so geh ich schon mit!«

»Der Tanz der Ehren Jungfrauen ... Du, das mußt dir anseh'n!«

»Ja, wenn ich nur ein weißes Kleid hätte!«

»Weißt Lisel, du ziehst dein Dirndlgewand an; wenigstens sehen die Ehrenjungfrauen, daß du durchaus nicht mit ihnen konkurrieren willst. Die kommen heute im Stadtputz, und du kommst als Bauernmädel.«

Lises Antlitz wurde um eine Nuance freundlicher bei der Aussicht, heute zum erstenmal mit dem Dirndlgewand Staat machen zu können.

Knapp vor sechs Uhr kam der Onkel nach Hause. Auch er hatte in passiver Weise an der Schauübung teilgenommen, und sein feiner Zylinder zeigte untrügliche Spuren der erhaltenen Taufe.

»Diesen Esel, den Hofstädter Karl, haben sie mit dem einen Schlauch hinaufgeschickt«, erklärte er das Unglück. »Wenn der Kerl nur heruntergefallen wäre!«

»Und wie du am Rücken ausschaust ...« sagte entsetzt Pauline.

»Ja, er hat mich »auch von hinten erwischt«, bestätigte Onkel Gustav. »Ich habe sofort Unheil geahnt, als ich den Lackl hinaufsteigen sah. Natürlich, wie ich die erste Ladung erhielt, habe ich mich sofort umgedreht, um den Schauplatz zu verlassen, und so traf mich der zweite Strahl in den Rücken!«

Er putzte leidenschaftlich an seinem Zylinder.

»Das Spritzwasser enthält sehr viel erdige Bestandteile«, sagte er.

»Gib her, Marie wird den Rock ausputzen!« sagte Frau Pauline.

»Ja, ja ... denn ich muß ihn abends zum Kränzchen anziehen. Ihr müßt's mitkommen! Lisel – es wird dich aufheitern, du närrisches Mädel, du! Siehst du, man muß alles von der lustigen Seite anschauen. Ich war zuerst sehr indigniert, als mir der Wasserstrahl fast den Hut vom Kopf trieb, konnte mich aber nicht enthalten, laut aufzulachen, als der Herr Bürgermeister, seinen Zylinder mit beiden Händen festhaltend, davonlief. Auch der Herr Verwalter Lederer ist schlimm zum Teil gekommen; er sah lange Zeit nichts, da ihm das Wasser und der feine Sand direkt in die Augen kamen. Ich glaube, er muß sich noch abends seine Tränensäcke ausbaggern lassen, übrigens, wie schon oft gesagt, mein Lebensabend gestaltet sich recht ruhig und angenehm; statt in aller Stille meinen Kohl zu bauen, meng ich mich da unnötigerweise in alle möglichen Angelegenheiten, die mich im Grunde eigentlich gar nichts angehen!«

Trotz dieser höchst weisen Erkenntnis bestand Thorn darauf, daß Pauline und Lise abends mit zur Tanzunterhaltung gingen. Selbst Marie und Kathi erhielten eine Extragratifikation, damit auch sie sich an dem Tanzvergnügen beteiligen könnten.

Mit vieler Mühe ließ sich Fräulein Lise schließlich doch bewegen, mitzukommen.

Marie und Kathi waren ganz außer sich, als sie in das Zimmer berufen wurden, um Lise als Dirndl zu bewundern.

»A Engerl«, sagte Marie.

»Fräulein san S' su schön!« meinte Kathi.

»Donnerwetter«, sagte Onkel Thorn, als er zur Besichtigung geladen wurde. »Lisel, du bist wirklich ein Prachtmädel. Ja – woher hast du denn die Silberkette? Das ist nichts Gewöhnliches ... das ist ... man könnte beinahe sagen ... ein Altertum!«

»Herr Breuer hat sie mir geschenkt, sie gehört zum Kostüm, es soll schon seine Urgroßmutter die Kette als Braut getragen haben!«

»So, so ... aha ...« meinte trocken Herr Dr. Thorn. Dann aber siegte der Ethnograph und Kunstkenner in ihm.

»Prachtvolle Arbeit ... stammt aus Oberösterreich ... siebzehntes Jahrhundert ...« sagte er.

Um acht Uhr ward der Weg in das Vergnügungslokal angetreten. Das Eintreten Lises erweckte die gewohnte Sensation.

Am Honoratiorentisch saßen die weltliche und geistliche Obrigkeit, der Herr Doktor, der Postmeister, der Stationsvorstand, der Oberlehrer, die Kommandanten der Feuerwehren, der Hauptmann des Veteranenkorps, kurz alle, die Anrecht auf hervorragende Behandlung hatten; neben dem Herrn Bürgermeister hatte sein Sohn Ulrich Platz genommen.

Die Begrüßung war eine außerordentlich herzliche – Lise ward mit anerkennenden Worten geradezu überhäuft. Eine sonderbare Szene gab es, als sie den Herrn Bürgermeister begrüßte.

»Sehr schön Fräulein ... daß Sie auch zu unserem Feste kommen ...« sagte er und schüttelte ihr wohlwollend, aber recht ausgiebig die feine Hand.

»Hier mein Sohn Ulrich ...« stellte er dann vor.

Ulrich war längst aufgestanden.

»Guten Tag, Fräulein ...« sagte er. Sein Gesicht war bleich – die Stimme fast tonlos.

Fräulein Lise knickste und reichte Herrn Ulrich schweigend die Hand.

Wenigen am Tische war die Szene entgangen; alles sah verwundert auf die jungen Leute.

Dr. Thorn bemühte sich krankhaft, die Aufmerksamkeit der Leute von den beiden abzulenken. Er sprach begeistert über den Festzug, über die Reden und lobte selbst die Schauübung, bei der ihm doch ein so unangenehmes Malheur passiert war. Seine Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg, in wenigen Minuten war die Unterhaltung im Gange. Lise saß zwischen Frau Pauline und dem Herrn Verwalter Lederer; sie war sehr schweigsam. Lederer gab sich alle Mühe, das schöne Fräulein zu unterhalten, und zeigte wieder mit tönenden großen Worten, was für ein bedeutender, hochgesinnter Mann er sei. Er übte an der Schauübung eine vernichtende Kritik, die den Herrn Oberlehrer Dungl derart verärgerte, daß er im spitzen Ton fragte, warum er in seiner Rede auf einmal stecken geblieben sei.

So wogte das Gespräch hin und her, mindestens die Hälfte der am Tisch sitzenden Personen sprach gleichzeitig.

»Was ist das?« fragte Fräulein Lise. Ein sonderbares, dumpfes Geräusch war ihr aufgefallen, wie unterdrückter Gesang aus rauhen Bauernkehlen, vermengt mit Stampftritten und höchst unordentlichem Getön einer Musikkapelle. Es schien ihr, als ob die Decke über ihr erzittern würde.

»Der Ball ist bereits im Gange«, sagte Lederer; »Fräulein werden sich doch das Fest ansehen! Wenn es angenehm ist, werde ich Sie hinaufführen!«

Lise lehnte ab.

»Fräulein haben mir einen Walzer versprochen«, sagte er dann, »Sie müssen Ihr Versprechen einlösen.«

Eine Menge Leute kam in diesem Augenblick in den Saal herein, weißgekleidete Ehrenjungfrauen, die roten, erhitzten Gesichter mit den Sacktüchern trocknend, junge und auch ältere Herren, alle sichtlich erschöpft von der Anstrengung des Tanzes.

Verwundert sah Lise, wie die Herren ihre Damen zu den Tischen geleiteten und dort mit einer höchst ungelenken Verbeugung ihren Dank ausdrückten; die ungenierte, robuste Art des Verkehres amüsierte sie.

Nach einer Weile vernahm man schrille Trompetentöne. Die anwesenden jungen Herren forderten a tempo ihre Schönen in mehr oder minder eleganter Art zum Tanze auf. Die jungen Damen kamen der galanten Aufforderung mit den verschiedensten Mienen nach; die einen senkten verschämt das Köpfchen und wagten gar nicht aufzusehen, die anderen taten, als wenn sie über eine solche Aufforderung höchst indigniert wären, die dritten nahmen die Sache mit gleichgültigen Mienen hin, als wenn diese Huldigung eine veraltete Selbstverständlichkeit sei.

Herr Kommandant Lederer fuhr ebenfalls stramm salutierend in die Höhe, mit äußerst gewählten Worten bat er Lise um die hohe Gnade, mit ihr ein Tänzchen wagen zu dürfen. Lise lehnte errötend ab. »Verzeihen Sie, Herr Lederer, aber ...« sagte sie. Der abgewiesene Hauptmann machte ein sehr sonderbares Gesicht; in seinem Innern stritt der Schmerz wegen des verloren gegangenen angenehmen Vergnügens mit dem wegen der Abweisung verletzten Mannesstolz.

»Aber Lise – wirst doch den Herrn Hauptmann nicht abweisen«, drängte der Onkel.

»Aber Lise – tanz einen Walzer mit!« sagte Tante Pauline.

Lise stand auf und reichte Herrn Lederer den Arm. Stolz wie ein König schritt er mit dem schönen Mädchen durch den Saal.

Als Lise mit ihm bei Ulrich vorüberkam, sah sie, wie sich dieser erregt auf die Lippen biß. Am liebsten hätte sie den Arm des Herrn Hauptmannes losgelassen und wäre wieder zu ihrem Platz zurückgekehrt.

Herr Dr. Thorn, Frau Pauline, ja selbst der Herr Bürgermeister gingen den beiden nach, um sich des lieblichen Schauspieles zu erfreuen, das die tanzende Lise bieten werde.

Der Tanzsaal machte auf Lise einen etwas sonderbaren Eindruck. Der Raum war von einer dicken, schwülen, mit Tabak- und Lampenrauch gemengten Luft erfüllt. Auf einer Estrade standen sechs Musiker, zwei Geiger, ein Flötist, ein Trompeter, ein Baßgeiger und ein Mann mit einer großen Trommel, die er mit Wucht bearbeitete. Die Musik paßte zur Atmosphäre – sie war so unrein wie diese.

Herr Hauptmann Lederer tanzte mit dem Aufgebote aller Grazie, die seinen alten Beinen noch abzuringen war. Thorn und Frau Pauline sahen entzückt auf das schöne Mädchen, das, ein heller Sonnenstrahl, durch den Raum schwebte. Auch der Förster, der Herr Bürgermeister, der Herr Doktor, der Herr Stationsvorstand gaben unverhohlen ihrer Bewunderung Ausdruck. Als der Herr Hauptmann Lederer das schöne Mädchen mit einer eleganten Verbeugung zu Dr. Thorn, der mit Frau Pauline und den anderen Herren am Saaleingang stand, zurückführte, trat sofort der unverheiratete Herr Stationsvorstand vor, um sich ebenfalls die Gnade eines Tänzchens mit Fräulein Lise zu erbitten.

Aber auch der Herr Förster und der Herr Doktor erhoben gleichartige Ansprüche.

»Na, Lisel, um dich geht's zu!« meinte erfreut Herr Dr. Thorn.

Schon wollte Lise mit dem Herrn Stationsvorstand zum Tanz antreten, als ihr Blick auf das totenbleiche Antlitz Ulrichs fiel, der in der halbdunklen Ecke bei der Tür stand. Unwillkürlich ließ sie den Arm des Stationsvorstandes los und trat einen Schritt auf Ulrich zu.

»Nein – nein – tanzen Sie nur, Fräulein«, sagte er in übermächtiger Bewegung.

»Wie sehen Sie aus – Sie sind ja totenbleich«, sagte erschrocken Elise.

»Ach nein – es ist nichts – tanzen Sie nur! Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich!«

»Aber Lise – Lise!« sagte tiefbekümmert Frau Pauline.

»Ulrich – was hast denn?« fragte der Herr Bürgermeister. »Du wirst doch nicht ...«

Dr. Thorn war sprachlos, die anderen Herren sahen sich mit sonderbaren Blicken an.

Es war gut, daß in diesem Moment die Musik aussetzte. Während des wütenden Klatschens, das sich jetzt erhob, verließen die Herren den Saal. Pauline führte die Nichte hinab.

»Wir gehen nach Hause, es ist das beste«, sagte Frau Pauline zu ihrem Bruder.

Unter allseitigem Bedauern nahmen die beiden Damen Abschied.

»Es braucht sich so ein Pfaff nur wo einzudrängen«, knurrte Herr Lederer, »gleich ist das Unglück fertig.«

Er begleitete die Damen bis auf die Straße hinaus. Auch der Förster, der Doktor, der Stationsvorstand und der Herr Postmeister beteiligten sich an dem Ehrengeleite.

Im Saale wurden die Herren noch eine Weile von einem jungen Landmann, der schon diverse Viertel hinter die Binde gegossen hatte, aufgehalten. Er bestand hartnäckig darauf, mit Lise zu tanzen. Den sanften Ermahnungen Dr. Thorns und der anderen Herren gab er kein Gehör. Der Hausknecht führte ihn dann mit dem Versprechen, ein nächstesmal dürfe er mit Fräulein Lise tanzen, gewaltsam aus dem Saale hinaus.

Marie und Kathi hatten sich auch recht lebhaft am Tanzvergnügen beteiligt. Als sie hörten, daß ihre Herrschaften das Fest zu verlassen im Begriffe seien, wollten auch sie zum Leidwesen ihrer Tänzer sich anschließen, erhielten aber die Erlaubnis, hier zu bleiben, von der sie auch nach einiger gutgespielter Weigerung dankbar Gebrauch machten.

Dr. Thorn begleitete die Damen bis zum Hause, sperrte auf, machte Licht und ging dann wieder zum Festplatz zurück, über die Affäre sprach er kein Wort.

Auch Frau Pauline unterließ es, über die Sache ein Wort zu verlieren. Sie half Lise beim Auskleiden, sprach noch einige Worte der Bewunderung über das herrliche alte Silberhalsband und wünschte schließlich dem unglücklichen Fräulein »Gute Nacht«.

Während sich Frau Pauline anschickte, selbst zu Bette zu gehen, hörte sie aus Lises Schlafgemach unterdrücktes Schluchzen klingen. Sie ging hinüber und fand Lise bitterlich weinend auf dem Bett sitzend.

»Aber, du armes Kind«, rief sie erschrocken aus, »was hast du denn? Kind, du machst uns wirklich schwere Sorgen!«

Lise umschlang den Hals der Tante mit beiden Armen Und drückte ihr Köpfchen an ihre Brust.

»Tante, ich kann nicht anders«, sagte sie weinend. »Ich muß immer und immer an ihn denken.«

Tante Pauline ließ sie ruhig gewähren. Durch ihre Seele zogen die Bilder langst vergangener Tage, jener so süßen und so wehen Zeit, da auch einst ihr junges Herz von den Qualen erster Liebe erfüllt wurde.

»Ich glaub, Kind, es wird am besten sein, du fährst wieder heim«, sagte sie dann. »Daheim wirst du wieder ruhig werden.

Lise faßte sie mit beiden Händen. Wild aufschluchzend bat sie: »Tante, Tante, bitte, schick mich nicht fort! Ich hab ja daheim niemand, mit dem ich reden kann; laßt mich doch bei euch!«

Und sie weinte, daß es Steine erbarmen hätte können.

Tante Pauline redete ihr zu, so gut sie es vermochte. Endlich versiegten allmählich die Tränen der Nichte. Sie schlief ein. Tante Pauline horchte bis ihre Atemzüge ruhig und gleichmäßig geworden waren, dann löschte sie die Lampe aus und verließ leise das Zimmer.

Sie konnte lange nicht zur Ruhe kommen. Es war aber nicht der Seelenschmerz der Nichte allein, der ihr den Schlaf raubte, die Straße war heute so unruhig wie noch nie. Das schöne Fest war eben im Ausklingen – ganze Banden von Burschen durchzogen johlend und singend die Straße, Gruppen von Männern ständen beisammen und unterhielten sich äußerst geräuschvoll über die Vorgänge des heutigen Tages oder besprachen erregt Angelegenheiten, durch die sie einst in Differenzen geraten waren, im Rausch den alten Zwist erneuernd.

Gegen drei Uhr morgens kam Herr Dr. Thorn nach Hause. Pauline erwachte durch ein ungewöhnliches Geräusch an der Haustür, das daher rührte, daß der Hausherr lange nicht ins Schlüsselloch finden konnte. Dann vernahm sie die Stimme des Herrn Hauptmannes Lederer; hierauf knarrte der Schlüssel im Schloß, und im Hausflur wurden noch mehrere Stimmen laut. Schließlich klopfte es ganz leise an die Tür des Schlafzimmers.

»Sei nicht böse, Pauline, aber ich finde die Schlüssel zur Kredenz nicht. Es sind hier einige gute Freunde, denen ich mit einem Glas Kognak aufwarten möchte«, bat flehentlich Herr Dr. Thorn.

Pauline reichte ihm die Schlüssel hinaus.

»Machts keinen Lärm; Lise ist eben eingeschlafen; vorher hat sie furchtbar geweint.«

»Ich muß dir dann auch noch etwas erzählen. Es ist Furchtbares vorgefallen«, flüsterte er.

»Morgen, Gustav, morgen, denn heute ist wirklich keine Zeit mehr dazu.«

Tante Pauline hörte noch eine Weile dumpfes Stimmengewirr und Gläserklingen herüber und schlief dann todmüde ein.


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