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Ein Zimmer im Armenhause eines Gebirgsdorfes: Kahle Wände, eine Tür in der Mitte, ein kleines gucklochartiges Fenster links. Vor dem Fenster ein wackliger Tisch mit Bank. Rechts eine Bettstelle mit Strohsack. An der Hinterwand ein Ofen mit Bank und eine zweite Bettstelle, ebenfalls mit einem Strohsack und einigen Lumpen darüber. – Es ist eine stürmische Dezembernacht. Am Tisch, beim Scheine eines Talglichts, aus einem Gesangbuch singend, sitzt Tulpe, ein altes, zerlumptes Bettelweib.
Tulpe singt.
Ach bleib mit deiner Gnade
bei uns, Herr Jesu Christ,
daß uns hinfort nicht . . .
Hedwig, genannt Hete, eine liederliche Frauensperson von etwa dreißig Jahren, mit Ponylocken, tritt ein. Sie hat ein dickes Tuch um den Kopf und ein Bündel unterm Arm; sonst ist sie leicht und ärmlich gekleidet.
Hete, in die Hände blasend, ohne das Bündel unterm Arm wegzulegen. Ei Jesses, Jesses! is das a Wetter! Sie läßt das Bündel auf den Tisch gleiten, bläst sich fortgesetzt in die hohlen Hände und tritt abwechselnd mit einem ihrer zerrissenen Schuhe auf den andern. Aso toll haben mersch schonn viele Jahre nich gehabt.
Tulpe. Was bringst'n mit?
Hete fletscht die Zähne und wimmert im Schmerz, nimmt Platz auf der Ofenbank und müht sich, die Schuhe auszuziehen. O jemersch – jemersch – meine Zehen! – Das brennt wie Feuer.
Tulpe hat das Bündel aufgeknotet; ein Brot, ein Päckchen Zichorie, ein Tütchen Kaffee, einige Paar Strümpfe usw. liegen offen. Da wird woll fer mich ooch a bissel was abfalln.
Hete, die, mit dem Ausziehen der Schuhe beschäftigt, nicht auf Tulpe geachtet hat, stürzt nun wie ein Geier über die Gegenstände und rafft sie zusammen. Tulpe! – Den einen Fuß nackt, den andern noch im Schuh, humpelt sie mit den Sachen nach dem Bett an der Hinterwand. Ich wer 'ne Meile loofen, gelt? Und wer mer die Knochen im Leibe erfrieren, damit Ihr und kennt's Euch einsacken, gelt?
Tulpe. Oh, halt deine Gusche, alte Schalaster! An dem bissel Gelumpe vergreif' ich mich nich, – sie steht auf, klappt das Buch zu und wischt es sorgfältig an ihren Kleidern ab – was du dir da hast zusammengebettelt.
Hete, die Sachen unter den Strohsack packend. Wer hat ock im Leben mehr gefochten, ich oder Ihr? Ihr habt doch im Leben nischt andersch getan, aso alt wie Ihr seid: das weeß doch a jedes.
Tulpe. Du hast noch ganz andre Dinge getrieben. Der Herr Paster hat dir die Meenung gesagt. Wie ich a jung Mädel war wie du; ich hab' freilich andersch uf mich gehalten.
Hete. Daderfier habt Ihr ooch im Zuchthause gesessen.
Tulpe. Und du kannst neinkommen, wenn de sonst willst. Ich brauch' bloß amal a Schandarm zu treffen. Dem wer ich amal a Talglicht ufstecken. Mach du dich bloß mausig, Mädel, ich sag' dirsch!
Hete. Da schickt a Schandarm ock gleich mit zu mir, da wer ich'n gleich was mit erzählen.
Tulpe. Erzähl du meinswegen, was du willst.
Hete. Wer hat denn a Paleto gestohlen? Hä? – Vom Gastwirt Richter sein'n kleenen Jungen? Tulpe tut, als ob sie nach Hete spucke. Tulpe! verpucht! – nu gerade nich.
Tulpe. Vor mir! ich will von dir nischt Geschenktes.
Hete. Ja, weil Ihr nischt krigt.
Pleschke und Hanke sind von dem Sturm, welcher mit einem wütenden Stoß soeben wider das Haus fuhr, förmlich in den Flur hineingeworfen worden. Pleschke, ein alter, kropfhalsiger, halb kindischer Kerl in Lumpen, bricht darüber in lautes Lachen aus. Hanke, ein junger Liedrian und Nichtstuer, flucht. Beide schütteln, durch die offene Tür sichtbar, auf den Steinen des Flurs den Schnee von ihren Mützen und Kleidern. Jeder trägt ein Bündel.
Pleschke . O Hagel! o Hagel! – das schmeißt ja wie Teifel – die alte Kaluppe von Armenhaus, die wird's woll amal bei Gelegenheit, ja . . . bei Gelegenheit, ja, zusammenreißen.
Hete besinnt sich angesichts der beiden, holt ihre Sachen wiederum unter dem Strohsack hervor und läuft an den Männern vorüber, hinaus und eine Treppe hinauf.
Pleschke, hinter Heten dreinsprechend. Was laufst'n du . . . laufst'n du – fort? – Mir – tun der nischt . . . tun der nischt. – Gelt, Hanke? – Gelt?
Tulpe, am Ofen mit einem Kartoffeltopf beschäftigt. Das Frauvolk is nich gescheit im Koppe. Die denkt, mir wärn'r 'ne Sache wegnehmen.
Pleschke, eintretend. O Jes, Jes! Ihr Leute! Nu da . . . da heert's auf. – Gu'nabend . . . Gu'nabend ja. – Teifel, Teifel! – A Wetter is draußen . . . a Wetter is draußen –! Der Länge lang, ja . . . der Länge lang, ja – bin ich hingeschlagen – aso lang, wie ich bin. Er ist mit geknickten Beinen bis zum Tische gehinkt. Hier legt er sein Bündel ab und wendet den wackligen Kopf mit den weißen Haaren und triefigen Augen zu Tulpe herum. Dabei schnappt er noch immer vor Anstrengung nach Luft, hustet und macht Bewegungen, um sich zu erwärmen. Indessen ist Hanke auch ins Zimmer gelangt. Einen Bettelsack hat er neben die Tür gestellt und sogleich begonnen, vor Frost bebend, trocknes Reisig in den Ofen zu stopfen.
Tulpe . Wo kommst'n her?
Pleschke . Ich? Ich? Wo ich herkomme? Gar – gar von weit her. 's Oberdorf hab' ich . . . hab' ich abgeloofen.
Tulpe . Bringste was mit?
Pleschke . Ja, ja, scheene Sachen. Scheene Sachen – hab' ich. – Beim Kanter – kricht' ich . . . kricht' ich – 'n Finfer, ja – und oben beim Gastwirt . . . oben – beim Gastwirt – kricht' ich . . . kricht' ich'n Topp voll, ja . . . 'n Topp voll . . . Topp voll Suppe kricht' ich.
Tulpe . Ich wer'n glei ufsetzen. Gib amal her. Sie zieht den Topf aus dem Bündel, setzt ihn auf den Tisch und wühlt weiter.
Pleschke. A Ende . . . Wurscht, ja – is ooch . . . ooch dabei. Der Fleescher . . . der Seipelt-Fleescher – hat mirsch . . . hat mirsch gegeben.
Tulpe. Wieviel bringst'n Geld mitte?
Pleschke. Drei Beehmen, ja . . . drei Beehmen – sind's – gloob' ich.
Tulpe. Na gib ock her. Ich wer dersch ufheben.
Hete, wieder eintretend. Ihr seid scheen tumm, daß Ihr alles weggebt. Sie geht zum Ofen.
Tulpe. Bekimmer du dich um deine Sachen.
Hanke. A is doch der Breit'gam.
Hete. O jemersch, jemersch!
Hanke. Da muß a doch ooch d'r Braut was mitbringen. Das liegt halt eemal so in a Verhältnissen.
Pleschke. Du kannst zum Narren haben . . . kannst zum Narren haben – wen de willst, ja . . . wen de willst, ja. An alten Mann . . . an alten Mann – den laß du zufriede.
Hete, die Sprechweise des alten Pleschke nachäffend. Der alte Pleschke . . . der alte Pleschke . . . der kann bald gar nich . . . gar nich mehr labern. Der wird bald . . . wird bald – gar gar gar gar gar kee Wort . . . Wort mehr mehr raus . . . rausbringen, ja.
Pleschke, mit seinem Stecken auf sie zugehend. Jetzt zieh aber – Leine . . . zieh aber . . . Leine.
Hete. Vor wem denn, hä?
Pleschke. Jetzt zieh aber – Leine!
Tulpe. Immer gib'r a Ding.
Pleschke. Jetzt zieh aber – Leine!
Hanke. Laßt ihr die Tummheet.
Tulpe. Ihr gebt Ruhe!
Hete benutzt hinter dem Rücken Hankes den Moment, in welchem er, sie verteidigend, mit Pleschke zu tun hat, um ihm aus dem Bettelsack blitzschnell etwas herauszugreifen und damit fortzurennen. Tulpe, die es bemerkt hat, schüttelt sich vor Lachen.
Hanke. Da gibt's nischt zu lachen.
Tulpe, immer lachend. Nu! da! nu da! da soll eens nich lachen.
Pleschke. O Jeses, Jeses! sieh ock dernach.
Tulpe. Sieh d'r ock deine Sachen an. Kann sein, se sein was weniger geworn.
Hanke wendet sich, merkt, daß er gefoppt ist. Luder!! – Er stürzt Hete nach. Wenn ich dich kriege! Man hört Trampeln, eine Treppe hinauf, Jagen, unterdrücktes Schreien.
Pleschke. A Teifelsmädel! – A Teifelsmädel! Er lacht in allen Tonarten. Tulpe will sich ebenfalls ausschütten vor Lachen. Plötzlich hört man die Haustür heftig gehen. Das Lachen beider bricht ab. Nu? Was is das?
Heftige Windstöße wuchten gegen das Haus. Körniger Schnee wird gegen das Fenster geworfen. Einen Moment Stille. Jetzt erscheint Lehrer Gottwald, ein schwarzbärtiger Zweiunddreißiger; auf dem Arm trägt er das etwa vierzehnjährige Hannele Mattern. Das Mädchen, dessen lange rote Haare offen über die Schulter des Lehrers herabhängen, wimmert fortwährend. Es hat sein Gesicht am Halse des Lehrers verborgen, seine Arme hängen schlaff und tot herab. Man hat es nur notdürftig bekleidet und in Tücher eingehüllt. Mit aller Sorgfalt läßt Gottwald, ohne sich irgendwie um die Anwesenden zu bekümmern, seine Last auf das Bett gleiten, das rechts an der Wand steht. Ein Mann, Waldarbeiter, namens Seidel, ist mit einer Laterne ebenfalls eingetreten. Er trägt, neben Säge und Axt, ein Bündel nasser Lumpen und hat einen alten Jägerhut ziemlich verwogen auf den schon stark angegrauten Kopf gesetzt.
Pleschke, dumm und betroffen starrend. Hee, hee, hee, hee! – Was geht denn da vor? – Was geht denn da vor?
Gottwald, Decken und seinen eignen Mantel über das Mädchen breitend. Steine heiß machen, Seidel! schnell!
Seidel. Attent, attent! a paar Ziegelsteine. Allo, allo! immer macht, daß was wird.
Tulpe. Was hat's denn mit'r?
Seidel. I, laßt das Gefrage. Schnell ab mit Tulpe.
Gottwald, beruhigend zu Hannele. Laß gut sein, laß gut sein! Ängste dich nicht. Es geschieht dir nichts.
Hannele, mit klappernden Zähnen. Ich fürcht' mich so! Ich fürcht' mich so!
Gottwald. Du brauchst dich aber vor gar nichts zu fürchten. Es wird dir ja niemand etwas tun.
Hannele. Der Vater, der Vater . . .
Gottwald. Der is ja nicht hier.
Hannele. Ich fürcht' mich so, wenn der Vater kommt.
Gottwald. Er kommt aber nicht. So glaub mir doch nur.
Jemand kommt in höchster Schnelligkeit die Treppe herunter.
Hete hält ein Reibeisen in die Höhe. Nu seht bloß: aso was krigt Hanke geschenkt.
Hanke ist hinter ihr dreingejagt, erreicht sie, will ihr das Reibeisen entwinden, sie aber wirft es mit einer schnellen Bewegung von sich mitten ins Zimmer hinein.
Hannele, schreckhaft auffahrend. Er kommt! Er kommt! Halb aufgerichtet, starrt sie, den Kopf vorgestreckt, mit dem Ausdruck höchster Angst in dem blassen, kranken, gramverzehrten Gesichtchen in der Richtung der Geräusche. Hete hat sich dem Hanke entwunden und ist fort in das Hinterzimmer. Hanke tritt ein, um das Reibeisen aufzuheben.
Hanke. Ich wer dirsch anstreichen. Dare du!
Gottwald, zu Hannele. Du kannst ruhig sein, Hannele. – Zu Hanke. Was wollen Sie denn?
Hanke, erstaunt. Ich? Was ich will?
Hete steckt den Kopf herein, ruft. Langfinger! Langfinger!
Hanke, drohend. Sei du ganz geruhig, dir zahl' ich's heem.
Gottwald. Ich bitte um Ruhe, hier liegt'n Krankes.
Hanke hat das Reibeisen aufgehoben und zu sich gesteckt; ein wenig verschüchtert zurücktretend. Was ist denn da los?
Seidel kommt wieder; er bringt zwei Ziegelsteine. Hier bring' ich einstweilen.
Gottwald faßt die Steine prüfend an. Schon genug?
Seidel. A bissei wärmt's schonn. Er bringt einen der Steine an den Füßen des Mädchens unter.
Gottwald bedeutet eine andere Stelle. Den andern hierher.
Seidel. Se hat sich eemal noch nicht erwärmt.
Gottwald. Es beutelt sie förmlich.
Tulpe ist hinter Seidel hergekommen. Ihr sind Hete und Pleschke gefolgt. An der Tür werden einige andere Armenhäusler, fragwürdige Gestalten, sichtbar. Alle sind voll Neugier, flüstern, werden allmählich lauter und bewegen sich näher heran.
Tulpe, zunächst dem Bette stehend, die Hände in die Seite gestemmt. Heeß Wasser und Branntwein, wenn's was dahat.
Seidel zieht eine Schnapsflasche, ebenso Pleschke und Hanke. Hier is noch a Neegel.
Tulpe, schon am Ofen. Her damitte.
Seidel. Is heeß Wasser?
Tulpe. O Jes, da kann man 'n Ochsen verbriehn.
Gottwald. Und bißchen Zucker reintun, wenn's gibt.
Hete. Wo sollen mir ock a Zucker herhaben?
Tulpe. Du hast ja welchen. Red ni so tumm.
Hete. Ich? Zucker? Nee. Sie lacht gezwungen.
Tulpe. Du hast doch welchen mittegebracht. Ich hab's doch gesehn, im Tiechel, vorhin. Da lieg ock nich erscht.
Seidel. Na mach. Bring her.
Hanke. Nu lauf, Hete, lauf!
Seidel. Du siehst doch, wie's mit dem Mädel steht.
Hete, verstockt. Oh, vor mir.
Pleschke. Sollst Zucker holen.
Hete. Beim Kaufmann hat's 'n. Sie drückt sich hinaus.
Seidel. Nu haste Zeit, daßte Beene machst, sonst setzt's a paar Dinger hinter die Lauscher. Kann sein, du hätt'st damitte genug. – Nach mehr sähst du dich gewiß nich um.
Pleschke war einen Moment hinausgegangen, kommt wieder. Aso is das Mädel . . . so is das Mädel.
Seidel. Der wollt' ich woll ihre Mucken austreiben. Wenn ich und wär' wie der Ortsvorsteher, ich nehm' mir a ticht'gen weidnen Knippel, und – haste gesehn – die wer' schonn arbeiten. A Mädel wie die . . . die is jung und stark. Was braucht die im Armenhause zu liegen!
Pleschke. Hier hab' ich – noch a klee Brickel . . . Brickel . . . a klee Brickel Zucker – hab' ich noch . . . hier noch ja – gefunden.
Hanke, schnüffelnd in den Grogduft. Da wär' ich ooch gerne genug amal krank.
Amtsdiener Schmidt, mit einer Laterne, tritt ein. Eindringlich und vertraulich. Macht Platz, der Herr Amtsvorsteher kommt.
Amtsvorsteher Berger tritt ein. Hauptmann der Reserve, wie nicht zu verkennen. Schnurrbärtchen. Noch jugendliches, gutes Gesicht, schon stark angegrautes Haar. Langer Überrock, Anflug von Eleganz. Stock. Der Kramphut schief und keck aufgesetzt. Etwas Burschikoses liegt in seinem Wesen.
Die Armenhäusler. Gu'nabend, Herr Amtsvorsteher! Gu'nabend, Herr Hauptmann!
Berger. 'nabend! Er legt Hut, Stock und Mantel ab. Mit einer bezeichnenden Gebärde. Nu mal rrraus hier! Schmidt befördert die Armenhäusler hinaus und drängt sie ins Hinterzimmer. Gu'nabend, Herr Gottwald. Reicht ihm die Hand. Nu, wie steht's hier?
Gottwald. Wir haben sie halt aus dem Wasser gezogen.
Seidel tritt vor. Sie werden entschuldigen, Herr Amtsvorsteher. Er schlägt dabei in alter militärischer Gewohnheit grüßend mit der Hand an die Stirn. Ich hatte noch was in der Schmiede zu tun. Ich wollt' mer a Band um de Axt lassen machen. Und wie ich nu raustrete aus der Schmiede . . . da is doch unten an der Jeuchner Schmiede . . . da is doch a Teich. Man mechte bald sprechen, a halber See. Zu Gottwald. Na ja, 's is wahr. A is bald aso groß. Und wie Se vielleicht wem wissen, Herr Vorsteher: da hat's ane Stelle, die de nicht zufriert. Und nie und nimmer friert Ihn die nich zu. Ich war noch a ganz a kleener Junge . . .
Berger. Na – und? Was war da?
Seidel, wieder mit der Hand an die Stirn schlagend. Nu wie ich also und tret' aus der Schmiede – der Mond kam grade a bissei durch –, da heer' ich Ihn halt aso a Gewimmer. Erseht denk' ich, 's macht der bloß was vor. Da seh' ich aber ooch schonn, daß jemand uff'n Teiche is. Und immer zu uff de offne Stelle. Ich schrei' – da is a ooch schonn verschwunden. Na ich, kenn Se denken, ich in de Schmiede, a Brett genomm, erscht gar nischt gesagt und rum um a Teich, 's Brett aufs Eis. Ich eens, zwee, drei – und da hatt' ich se doch ooch schonn beim Wickel.
Berger. Das lass' ich mir doch mal gefallen, Seidel. Sonst hört man bloß immer von Keilereien, Köpfe blutig schlagen, Beine gebrochen. Das is doch wenigstens mal was anders. Da habt Ihr sie gleich hierhergebracht?
Seidel. Der Herr Lehrer Gottwald . . .
Gottwald. Zufälligerweise ging ich vorüber. Ich kam aus der Lehrerkonferenz. Da hab' ich sie erst mal zu mir genommen. Meine Frau hat schnell was zusammengesucht, damit sie nur trocken am Leibe wurde.
Berger. Wie hängt denn nun die Geschichte zusammen?
Seidel, zögernd. Na – 's is halt vom Mattern-Mäuer die Stieftochter.
Berger, einen Moment lang betreten. Von wem? Der Lump der!
Seidel. De Mutter is vor sechs Wochen gestorben. Das übrige weeß man ja von alleene. Die hat Ihn gekratzt und um sich geschlag'n, bloß weil se dachte, ich wär' der Vater.
Berger murmelt. So'n Wicht!
Seidel. Nu sitzt a doch wieder im Niederkretscham und sauft seit gestern in eenem Biegen. Der schenkt'n doch ein aso viel, wie a will.
Berger. Das wolln wir dem Kerl doch mal eklich versalzen. Er beugt sich über das Bett, um Hannele anzureden. Du! Mädel! sag mal! Du wimmerst ja so. Du brauchst mich gar nicht so furchtsam ansehn. Ich tu' dir nichts. Wie heißt du denn? – Was sagst du? Ich hab' dich nicht verstanden. – – – Er richtet sich auf. Ich glaube, das Mädel ist etwas störrisch.
Gottwald. Sie ist nur verängstet. – Hannele!
Hannele haucht. Ja.
Gottwald. Du mußt dem Herrn Amtsvorsteher antworten.
Hannele, zitternd. Lieber Gott, mich friert.
Seidel kommt mit dem Grog. Komm, trink amal, hier!
Hannele, wie vorher. Lieber Gott, mich hungert.
Gottwald, zum Amtsvorsteher. Und wenn man's ihr vorhält, will sie nicht essen.
Hannele. Lieber Gott, mir tut es so bitter weh.
Gottwald. Wo tut dir's denn weh?
Hannele. Ich hab' solche Furcht.
Berger. Wer tut dir denn was? Wer? Nur raus mit der Sprache. – Ich versteh' keine Silbe, liebes Kind. Das kann mir nichts helfen. – Hör mal auf mich, Mädel! hat dich dein Stiefvater schlecht behandelt? – Geschlagen, mein' ich? – Eingesperrt? Aus dem Hause geworfen, so was, wie? – – – Du lieber Gott, ja . . .
Seidel. Das Mädel ist schweigsam. Das soll schonn schlimm kommen, eh die ein Wort sagt. Die is, möcht' man sprechen, stumm wie ein Lamm.
Berger. Ich möchte nur was Bestimmtes wissen. Vielleicht kann ich doch den Kerl nun mal fassen.
Gottwald. Sie hat unsinnige Angst vor dem Menschen.
Seidel. Das is doch nischt Neues mehr mit dem Kerle. Das weeß, mecht' ma sprechen . . . das weeß doch a jed's . . . Da kenn Se doch fragen, wen Se wollen. Mich wundert bloß, daß das Mädel noch lebt. Man sollte denken, 's war' gar nicht meeglich.
Berger. Was hat er denn mit ihr angestellt?
Seidel. Nu – halt – aso allerhand, mecht' man sprechen. Um neune abends jagt'r se naus – und wenn's so a Wetter war wie heute –, da sollt' se an Finfbeehmer mit nach Hause bringen. – Na, was denn sonste, halt zum Versaufen. Wo soll Ihn das Mädel an Finfbeehmer hernehmen? Da blieb se halt halbe Nächte im Freien. – Denn wenn se kam und brachte keen Geld . . . de Leute sind Ihn zusammengeloofen, so hat se geschrien, geprillt, mecht' man sprechen.
Gottwald. An der Mutter hatte sie noch'n Rückhalt.
Berger. Ich werde den Kerl jedenfalls gleich einstecken. Er steht ja schon längst auf der Säuferliste. Nu komm mal, Mädel, sieh mich mal an.
Hannele, flehentlich. Ach bitte, bitte, bitte, bitte!
Seidel. Aus der wern Se woll aso leichte nischt rauskriegen.
Gottwald, mild. Hannele!
Hannele. Ja.
Gottwald. Kennst du mich?
Hannele. Ja.
Gottwald. Wer bin ich denn?
Hannele. Der – Herr Lehrer – Gottwald.
Gottwald. Schön. Na siehst du. Ich mein' es doch immer gut mit dir. Nu kannst du mir auch mal gleich erzählen . . . Du warst doch unten am Schmiedeteich. – Weshalb bist du denn nicht zu Hause geblieben? Nu? Warum nicht?
Hannele. Ich fürchte mich so.
Berger. Wir werden uns ganz beiseite stellen. Sag's nur dem Herrn Schullehrer ganz allein.
Hannele, scheu und geheimnisvoll. Es hat gerufen.
Gottwald. Wer hat gerufen?
Hannele. Der liebe Herr Jesus.
Gottwald. Wo – hat dich der liebe Herr Jesus gerufen?
Hannele. Im Wasser.
Gottwald. Wo?
Hannele. Nu unten – im Wasser.
Berger zieht sich, seinen Entschluß ändernd, den Überrock an. Hier muß vor allen Dingen der Doktor her. Ich denke, er wird noch im »Schwerte« sitzen.
Gottwald. Ich hatte auch gleich zu den Schwestern geschickt. Das Kind muß unbedingt Pflege erhalten.
Berger. Ich gehe und sage dem Doktor Bescheid. Zu Schmidt. Sie bringen mir mal den Wachtmeister ran. Ich warte im »Schwert«. Gutnacht, Herr Gottwald. Wir wollen den Kerl gleich heute noch aufheben. Ab mit Schmidt. Hannele schläft ein.
Seidel, nach einer Pause. A wird sich hitten und wird den einsperren.
Gottwald. Warum denn nicht?
Seidel. Der weeß schonn, warum. Wer hat denn das Kind in die Welt gesetzt?
Gottwald. Ach Seidel, das ist ja bloßes Gerede.
Seidel. Na wissen Se: der Mann hat Ihn gelebt.
Gottwald. Was lügen die Leute nicht alles zusammen! Da kann man doch nich mal die Hälfte glauben. – Wenn nur der Doktor bald kommen wollte!
Seidel, leise. Ich gloobe, das Mädel steht nich mehr uff.
Dr. Wachler tritt ein, ein etwa vierunddreißigjähriger, ernster Mann.
Dr. Wachler. Gut'nabend.
Gottwald. Gut'nabend.
Seidel, beim Pelzausziehen behilflich. Gu'nabend, Herr Dokter!
Dr. Wachler wärmt am Ofen seine Hände. Noch ein Licht möcht' ich haben. Im Hinterzimmer wird ein Leierkasten gedreht. Die scheinen da drüben verrückt zu sein.
Seidel, schon an der geöffneten Tür des Hinterzimmers. Ihr sollt euch a bissel ruhig verhalten. Der Lärm schweigt, Seidel verschwindet im Hinterzimmer.
Dr. Wachler. Herr Gottwald? nicht wahr?
Gottwald. Ich heiße Gottwald.
Dr. Wachler. Sie hat sich ertränken wollen, hör' ich.
Gottwald. Sie hat sich wohl keinen Rat mehr gewußt.
Kleine Pause.
Dr. Wachler, ans Bett tretend, beobachtend. Sie spricht wohl im Schlaf?
Hannele. Millionen Sternchen. Dr. Wachler und Gottwald beobachten. Mondschein fällt durchs Fenster und beleuchtet die Gruppe. Was ziehst du an meinen Knochen? Au, au! Es tut mir in der Seele weh.
Dr. Wachler lockert ihr vorsichtig das Hemd am Halse. Der ganze Leib scheint mit Striemen bedeckt.
Seidel. So lag Ihn die Mutter ooch im Sarge.
Dr. Wachler. Erbärmlich! Erbärmlich!
Hannele, mit verändertem, störrischem Ton. Ich mag nicht. Ich mag nicht. Ich geh' nicht zu Hause. Ich muß – zu der Frau Holle – in den Brunnen gehn. Laß mich doch – Vater. Pfui, wie das stinkt! Du hast wieder Branntwein getrunken. – Horch, wie der Wald rauscht! – Heute morgen hat ein Windbaum auf den Bergen gelegen. Wenn nur kein Feuer ausbricht! – – – Wenn der Schneider keinen Stein in der Tasche und kein Bügeleisen in der Hand hat, fegt ihn der Sturm über alle Berge. Horch! es stürmt! – – –
Die Diakonissin Schwester Martha kommt.
Gottwald. Guten Abend, Schwester.
Schwester Martha nickt.
Gottwald tritt zur Diakonissin, die alles zur Pflege bereitmacht, und spricht mit ihr im Hintergrund.
Hannele. Wo ist meine Mutter? Im Himmel? Aach! aach, so weit! – Sie schlägt die Augen auf, blickt fremd um sich, fährt mit der Hand über die Augen und spricht kaum hörbar. Wo – bin ich – denn?
Dr. Wachler, über sie gebeugt. Bei guten Menschen.
Hannele. Mich dürstet.
Dr. Wachler. Wasser! Seidel, der ein zweites Licht gebracht hat, geht, Wasser zu holen. Hast du irgendwo Schmerzen?
Hannele schüttelt den Kopf.
Dr. Wachler. Nicht? Na sieh mal an: da ist es ja gar nicht so schlimm mit uns.
Hannele. Sind Sie der Doktor?
Dr. Wachler. Gewiß.
Hannele. Da bin ich – wohl krank?
Dr. Wachler. Ein bißchen, nicht sehr.
Hannele. Wollen Sie mich gesund machen?
Dr. Wachler, schnell untersuchend. Tut es hier weh? Da? Schmerzt es hier? Hier? – Hier? – Du brauchst mich gar nicht so ängstlich ansehn, ich tu' dir nicht weh. Wie ist es hier? Hast du Schmerzen hier?
Gottwald tritt wieder ans Bett. Antworte dem Herrn Doktor, Hannele!
Hannele, mit inniger, bittender, in Tränen zitternder Stimme. Ach, lieber Herr Gottwald.
Gottwald. Jetzt paß nur auf, was der Doktor sagt, und antworte schön.
Hannele schüttelt den Kopf.
Gottwald. Warum denn nicht?
Hannele. Weil . . . weil . . . ich möchte so gern zu Muttern.
Gottwald streicht ergriffen über ihr Haar. Na laß das nur gut sein.
Kleine Pause. Der Doktor richtet sich auf, holt Atem und ist einen Moment lang nachdenklich. Die Schwester Martha hat das zweite Licht vom Tisch genommen und leuchtet damit.
Dr. Wachler winkt Schwester Martha. Ach bitte, Schwester! Er tritt mit ihr an den Tisch und gibt ihr mit leiser Stimme Verhaltungsmaßregeln. Gottwald nimmt nun seinen Hut und steht abwartend, Blicke bald auf Hannele, bald auf den Doktor und die Diakonissin werfend. Dr. Wachler, das leise Gespräch mit der Schwester abschließend. Ich werde wohl noch mal wiederkommen. – Die Medikamente schicke ich übrigens. Zu Gottwald. Er soll arretiert sein, im Gasthaus »Zum Schwert«.
Schwester Martha. So hat man mir wenigstens eben gesagt.
Dr. Wachler zieht seinen Pelz über. Zu Seidel. Sie kommen wohl mit zur Apotheke! – – –
Der Doktor, Gottwald und Seidel begrüßen die Schwester Martha im Abgehen leise.
Gottwald, angelegentlich. Wie denken Sie über den Zustand, Herr Doktor?
Alle drei ab. Die Diakonissin ist nun bei Hannele allein. Sie gießt Milch in ein Töpfchen. Währenddessen öffnet Hannele die Augen und beobachtet sie.
Hannele. Kommst du vom Herr Jesus?
Schwester Martha. Was sagtest du?
Hannele. Ob du vom Herr Jesus kommst?
Schwester Martha. Kennst du mich denn nicht mehr, Hannele? Ich bin doch die Schwester Martha, nicht wahr? Du warst doch bei uns, weißt du nicht mehr? Wir haben miteinander gebetet und schöne Lieder gesungen. Nicht wahr?
Hannele nickt freudig. Ach, schöne Lieder!
Schwester Martha. Nun will ich dich pflegen in Gottes Namen, bis du wieder gesund wirst.
Hannele. Ich mag nicht gesund werden.
Schwester Martha, mit einem Milchtöpfchen bei ihr. Der Doktor sagt, du sollst etwas Milch nehmen, damit du wieder zu Kräften kommst.
Hannele weigert sich. Ich mag nicht gesund werden.
Schwester Martha. Du magst nicht gesund werden? Nun überleg dir's nur erst ein Weilchen. Komm, komm, ich will dir die Haare aufbinden. Sie tut es.
Hannele weint leise. Ich will nicht gesund werden.
Schwester Martha. Warum denn nur nicht?
Hannele. Ich möchte so gern . . . ich möchte so gern – in den Himmel kommen.
Schwester Martha. Das steht nicht in unsrer Macht, gutes Kind. Da müssen wir warten, bis Gott uns abruft. Aber wenn du deine Sünden bereust . . .
Hannele, eifrig. Ach, Schwester! ich bereue so sehr.
Schwester Martha. . . . und an den Herrn Jesus Christus glaubst . . .
Hannele. Ich glaube an meinen Heiland so fest.
Schwester Martha. . . . dann kannst du getrost und ruhig zuwarten. – Ich rück' dir jetzt deine Kissen zurecht, und du schläfst ein.
Hannele. Ich kann nicht schlafen.
Schwester Martha. Versuch es nur.
Hannele. Schwester Martha!
Schwester Martha. Nun?
Hannele. Schwester Martha! gibt es Sünden . . . gibt es Sünden, die nicht vergeben werden?
Schwester Martha. Jetzt schlafe nur, Hannele! Reg dich nicht auf.
Hannele. Ach, sagen Sie mir's, bitte, bitte recht schön.
Schwester Martha. Es gibt solche Sünden. Allerdings. Die Sünden wider den Heiligen Geist.
Hannele. Wenn ich nun eine begangen habe . . .
Schwester Martha. Ach wo! Das sind nur ganz schlimme Menschen. Wie Judas, der den Herrn Jesus verriet.
Hannele. Es kann doch aber . . . es kann doch sein.
Schwester Martha. Du mußt jetzt schlafen.
Hannele. Ich ängst' mich so.
Schwester Martha. Das brauchst du durchaus nicht.
Hannele. Wenn ich so eine Sünde begangen habe.
Schwester Martha. Du hast keine solche Sünde begangen.
Hannele klammert sich an die Schwester und starrt ins Dunkle. Ach, Schwester, Schwester!
Schwester Martha. Sei du ganz ruhig.
Hannele. Schwester!
Schwester Martha. Was denn?
Hannele. Er wird gleich reinkommen. Hörst du nicht?
Schwester Martha. Ich höre gar nichts.
Hannele. Es ist seine Stimme. Draußen. Horch!
Schwester Martha. Wen meinst du denn nur?
Hannele. Der Vater, der Vater – dort steht er.
Schwester Martha. Wo denn?
Hannele. Sieh doch.
Schwester Martha. Wo?
Hannele. Unten am Bett.
Schwester Martha. Hier hängt ein Mantel und hier ein Hut. Wir wollen das garstige Zeug mal wegnehmen – und rüber zum Vater Pleschke tragen. Ich bringe mir gleich etwas Wasser mit und mache dir einen kalten Umschlag. Willst du ein Augenblickchen allein bleiben? Aber ganz, ganz ruhig und stille liegen!
Hannele. Ach, bin ich dumm. Es war bloß ein Mantel, gelt? und ein Hut!?
Schwester Martha. Aber ganz, ganz still, ich komme gleich wieder. Sie geht, muß aber umkehren, da es im Hausflur stockfinster ist. Ich stelle das Licht hier heraus auf den Flur. Noch einmal liebevoll mit dem Finger drohend. Und ganz, ganz ruhig. Ab.
Es ist fast ganz dunkel. Sogleich erscheint am Fußende von Hanneles Bett die Gestalt des Maurers Mattern. Ein versoffenes, wüstes Gesicht, rote, struppige Haare, worauf eine abgetragene Militärmütze ohne Schild sitzt. Sein Maurerhandwerkszeug trägt er in der Linken. Er hat einen Riemen um die rechte Hand geschlungen und verharrt die ganze Zeit über in einer Spannung, wie wenn er im nächsten Augenblick auf Hannele losschlagen wollte. Von der Erscheinung geht ein fahles Licht aus, welches den Umkreis um Hanneles Bett erhellt.
Hannele bedeckt erschrocken ihre Augen mit den Händen, stöhnt, windet sich und stößt leise wimmernde Laute aus.
Die Erscheinung, heisere, in höchster Wut gepreßte Stimme. Wo bleibst du? Wo bist du gewesen, Mädel? Was hast du gemacht? Ich wer dich lehren. Ich wer dirsch beweisen, paß amal uff. Was hast du zu a Leuten gesagt? Hab' ich dich geschlagen und schlecht behandelt? Hä? Ist das wahr? Du bist ni mei Kind. Mach, daß du uffstehst. Du gehst mich nischt an. Ich kennte dich uff die Gasse schmeißen . . . Steh uff und mach Feuer. Wird's bald werden? Aus Gnade und Barmherzigkeit bist du im Hause. Gelt, nu noch faulenzen obendruff. Nu? Wird's nu werden? Ich schlag' dich so lange, biste, biste . . .
Hannele ist mühsam und mit geschlossenen Augen aufgestanden, hat sich zum Ofen geschleppt, das Türchen geöffnet und bricht nun ohnmächtig zusammen.
In diesem Augenblick kommt Schwester Martha mit Licht und einem Krug Wasser, und die Mattern-Halluzination verschwindet. Sie stutzt, gewahrt Hannele in der Asche liegen, erschrickt, stößt einen Ruf aus: Herr Jesus!, stellt das Licht und den Krug weg, läuft zu Hannele und hebt sie vom Boden auf. Der Ruf lockt die übrigen Armenhausbewohner heran.
Schwester Martha. Ich habe nur müssen Wasser holen, da ist sie mir aus dem Bett gestiegen. Ich bitte Sie, Hedwig, helfen Sie mir!
Hanke. Nu, Hete, da kannste dich in Obacht nehmen, sonst brichste der alle Knochen im Leibe.
Pleschke. Ich gloobe – dem Mädel . . . ich gloobe, dem Mädel . . . dem hat's eens . . . hat's eens angetan, Schwester!
Tulpe. Kann sein – das Mädel – is gar verhext.
Hanke, laut. Das geht hier zu Ende, aso viel sag' ich.
Schwester Martha hat mit Hilfe Hedwigs Hannele wieder aufs Bett gelegt. Sie haben vielleicht ganz recht, lieber Mann, aber bitte, nicht wahr, Sie sehen das ein: wir dürfen die Kranke nicht länger aufregen!?
Hanke. Aso viel machen wir gar nich her.
Pleschke, zu Hanke. A Laps bist du . . . a Laps bist du . . . a Laps, daß d's weeßt's, ja – und weiter . . . weiter nischt. A Krankes . . . a Krankes – das weeß ja a Kind . . . a Krankes muß seine Ruhe haben.
Hete macht ihm nach. A Krankes . . . a Krankes . . .
Schwester Martha. Ich möchte recht dringend bitten, recht herzlich . . .
Tulpe. Die Schwester hat recht, macht ihr, daß ihr nauskommt.
Hanke. Wir gehn schonn alleene, wenn mer Lust hann.
Hete. Mir solln woll im Hiehnerstalle schlafen?
Pleschke. Fer dich wird Platz sein . . . fer dich is Platz, ja – du weeßt, wo de bleibst.
Die Armenhäusler alle ab.
Hannele öffnet die Augen, ängstlich. Ist . . . ist er fort?
Schwester Martha. Die Leute sind fort. Du hast dich doch nicht erschrocken, Hannele?
Hannele, immer in Angst. Ist Vater fort?
Schwester Martha. Er war ja nicht hier.
Hannele. Ja, Schwester, ja!
Schwester Martha. Das wirst du geträumt haben.
Hannele, mit tiefem Seufzer von innen betend. Ach lieber Herr Jesus! Ach lieber Herr Jesus! Ach schönstes, bestes Herr Jesulein: so nimm mich doch zu dir, so nimm mich doch zu dir! Verändert.
Ach, wenn er doch käm',
ach, daß er mich nähm'
und daß ich den Leuten
aus den Augen käm'.
Ich weiß es ganz gewiß, Schwester . . .
Schwester Martha. Was weißt du denn?
Hannele. Er hat mir's versprochen. Ich komm' in den Himmel, er hat mir's versprochen.
Schwester Martha. Hm.
Hannele. Weißt du, wer?
Schwester Martha. Nun?
Hannele, geheimnisvoll ins Ohr der Schwester. Der liebe Herr – Gottwald.
Schwester Martha. Jetzt schlaf aber, Hannele: weißt du was!
Hannele. Schwester, gelt? Der Herr Lehrer Gottwald ist ein schöner Mann. Heinrich heißt er. Gelt? Heinrich ist ein schöner Name, gelt? Innig. Du lieber, süßer Heinrich! Schwester! weißt du was? Wir machen zusammen Hochzeit. Ja, ja, wir beide: der Herr Lehrer Gottwald und ich.
Und als sie nun verlobet warn,
da gingen sie zusammen
in ein schneeweißes Federbett
in einer dunklen Kammer. –
Er hat einen schönen Backenbart. – Verzückt. Auf seinem Kopfe wächst blühender Klee! – Horch! – er ruft mich. Hörst du nicht?
Schwester Martha. Schlaf, Hannele, schlaf, es ruft niemand.
Hannele. Das war der Herr – Jesus. – Horch! horch! jetzt ruft er mich wieder: Hannele! – ganz laut: Hannele! ganz, ganz deutlich. Komm, geh mit mir.
Schwester Martha. Wenn Gott mich abruft, werd' ich bereit sein.
Hannele, nun wieder vom Mond beschienen, reckt den Kopf, wie wenn sie süße Gerüche einsöge. Spürst du nichts, Schwester?
Schwester Martha. Hannele, nein.
Hannele. Den Fliederduft? In immer gesteigerter, seliger Ekstase. So hör doch! So hör doch! Was das bloß ist? Es wird wie aus weiter Ferne eine süße Stimme hörbar. Sind das die Engel? Hörst du denn nicht?
Schwester Martha. Gewiß, ich hör's, aber weißt du was, du mußt dich nun still auf die Seite legen und ruhig schlafen bis morgen früh.
Hannele. Kannst du das auch singen?
Schwester Martha. Was denn, Kindchen?
Hannele. Schlaf, Kindchen, schlaf!
Schwester Martha. Willst du es gern hören?
Hannele legt sich zurück und streichelt die Hand der Schwester. Mutterchen, sing mir's! Mutterchen, sing mir's.
Schwester Martha löscht das Licht aus, beugt sich über das Bett und spricht mit leichter Andeutung der Melodie, während die ferne Musik forttönt.
Schlaf, Kindchen, schlaf!
Im Garten geht ein Schaf . . .
Nun singt sie, und es wird ganz dunkel.
. . . im Garten geht ein Lämmelein
auf dem grünen Dämmelein,
schlaf, Kindchen, schlaf!
Ein Dämmerlicht erfüllt nun das ärmliche Gemach. Auf der Bettkante, nach vorn gebeugt, sich mit den bloßen, mageren Armen stützend, sitzt eine blasse, geisterhafte Frauengestalt. Sie ist barfuß; das weiße Haar hängt offen und lang an den Schläfen herab und fällt bis auf die Bettdecke. Das Gesicht ist abgehärmt, ausgemergelt; die in tiefe Höhlen gesunkenen Augen scheinen, obgleich fest geschlossen, auf das schlafende Hannele gerichtet. Ihre Stimme ist wie die einer Schlafwachenden monoton. Bevor sie ein Wort hervorbringt, bewegt sie, gleichsam vorbereitend, die Lippen. Mit einiger Anstrengung scheint sie die Laute aus der Tiefe ihrer Brust hervorzuholen. Vor der Zeit gealtert, hohlwangig, abgemagert und aufs dürftigste gekleidet.
Frauengestalt. Hannele!
Hannele, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Mutterchen, liebes Mutterchen, bist du's?
Frauengestalt. Ja, ich habe die Füße unseres lieben Heilands mit meinen Tränen gewaschen und mit meinem Haupthaar getrocknet.
Hannele. Bringst du mir gute Botschaft?
Frauengestalt. Ja.
Hannele. Kommst du von weit her?
Frauengestalt. Hunderttausend Meilen weit durch die Nacht.
Hannele. Mutter, wie siehst du aus?
Frauengestalt. Wie die Kinder der Welt.
Hannele. In deinem Gaumen wachsen Maiglöckchen. Deine Stimme tönt.
Frauengestalt. Es ist kein reiner Klang.
Hannele. Mutter, liebe Mutter, wie glänzest du doch in deiner Schöne.
Frauengestalt. Die Engel im Himmel sind vielhundertmal schöner.
Hannele. Warum bist du nicht auch so schön?
Frauengestalt. Ich litt Pein um dich.
Hannele. Mutterchen, bleibe bei mir!
Frauengestalt erhebt sich. Ich muß fort.
Hannele. Ist es schön, wo du bist?
Frauengestalt. Weite, weite Auen, bewahrt vor dem Winde, geborgen vor Sturm und Hagelwettern in Gottes Hut.
Hannele. Ruhst du aus, wenn du müde bist?
Hannele. Hast du Speise zu essen, wenn's dich hungert?
Frauengestalt. Ich stille meinen Hunger mit Früchten und Fleisch. Mich dürstet, und ich trinke goldnen Wein. Sie weicht zurück.
Hannele. Gehst du fort, Mutter?
Frauengestalt. Gott ruft.
Hannele. Ruft Gott laut?
Frauengestalt. Gott ruft laut nach mir.
Hannele. Das ganze Herz ist mir verbrannt, Mutter!
Frauengestalt. Gott wird es mit Rosen und Lilien kühlen.
Hannele. Wird Gott mich erlösen?
Frauengestalt. Kennst du die Blume, die ich in der Hand hab'?
Hannele. Himmelsschlüssel.
Frauengestalt legt sie in Hanneles Hand. Du sollst sie behalten, als Gottes Pfand, lebe wohl!
Hannele. Mutterchen, bleibe bei mir!
Frauengestalt weicht zurück. Über ein kleines wirst du mich nicht sehen, und aber über ein kleines, so wirst du mich sehn.
Hannele. Ich fürchte mich.
Frauengestalt weicht weiter zurück. Wie dem weißen Schneestaub auf den Bergen vom Winde geschieht, so wird Gott deine Quäler verfolgen.
Hannele. Geh nicht fort.
Frauengestalt. Des Himmels Kinder sind wie die blauen Blitze der Nacht. – Schlafe!
Es wird nun wiederum allmählich dunkel. Dabei hört man, von lieblichen Knabenstimmen gesungen, die zweite Strophe des Liedes »Schlaf, Kindchen, schlaf«.
Schlaf, Kindchen, feste,
es kommen fremde Gäste . . .
Jetzt erfüllt mit einem Schlage ein goldgrüner Schein das Gemach. Man sieht drei lichte Engelsgestalten, schöne, geflügelte Jünglinge mit Rosenkränzen auf den Köpfen, welche den Schluß des Liedes von Notenblättern, die zu beiden Seiten herunterhängen, absingen. Weder die Diakonissin noch die Frauengestalt ist zu sehen.
. . . die Gäste, die jetzt kommen sein,
das sind die lieben Engelein,
schlaf, Kindchen, schlaf!
Hannele öffnet die Augen, starrt verzückt die Engelsgestalten an und sagt erstaunt. Engel? Mit wachsendem Staunen, hervorbrechender Freude, aber noch nicht zweifelsfrei. Engel!! Im Jubelüberschwang. Engel!!!
Kleine Pause. Die Engel sprechen nun nacheinander folgendes zur Musik.
Erster Engel
Auf jenen Hügeln die Sonne,
sie hat dir ihr Gold nicht gegeben;
das wehende Grün in den Tälern,
es hat sich für dich nicht gebreitet.
Zweiter Engel
Das goldene Brot auf den Äckern,
dir wollt' es den Hunger nicht stillen;
die Milch der weidenden Rinder,
dir schäumte sie nicht in den Krug.
Dritter Engel
Die Blumen und Blüten der Erde,
gesogen voll Duft und voll Süße,
voll Purpur und himmlischer Bläue,
dir säumten sie nicht deinen Weg.
Kleine Pause.
Erster Engel
Wir bringen ein erstes Grüßen
durch Finsternisse getragen;
wir haben auf unsern Federn
ein erstes Hauchen von Glück.
Zweiter Engel
Wir führen am Saum unsrer Kleider
ein erstes Duften des Frühlings;
es blühet von unsern Lippen
die erste Röte des Tags.
Dritter Engel
Es leuchtet von unsern Füßen
der grüne Schein unsrer Heimat;
es blitzen im Grund unsrer Augen
die Zinnen der ewigen Stadt.