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Ein Zimmer im ersten Stock des Saalbaues von Klas Olfers' Gasthaus; weiß getüncht, mit zwei Fenstern in der Hinterwand. Der Blick durch diese Fenster geht frei auf die See, die wiederum wie eine blaue Wand die Rahmen so weit ausfüllt, daß nur ein kleines Stück Himmel oben sichtbar ist. Wiederum ist ein strahlend heller Herbsttag. Je eine Tür links und rechts verbindet den Raum mit anderen Gastzimmern. Er hat links an der Wand die einfache helle Holzbettstelle mit Strohsack usw. und bunter Decke, rechts ein kleines Sofa mit Tisch davor, eine primitive Wascheinrichtung mit Spiegel, einen Kleiderschrank, darin Mäurer, der das Zimmer innehat, seine Garderobe unterbringt. An einigen Kleiderhaken hängen Mäurers Hut, Wettermantel, Stock usw. Auf dem Tisch, der mit einer grünlichen Decke bedeckt ist, steht eine Wasserflasche und Gläser. In einer Zimmerecke befindet sich Mäurers geschlossener Reisekoffer. Lucie sitzt am Tisch und schreibt Briefe. Hanna Elias kommt leise aus der Tür links.
Lucie. Schläft Schilling wieder?
Hanna. Jawohl, er schläft. Er ist eine Minute aufgewacht und hat nach Dr. Rasmussen gefragt. Wann kann Herr Rasmussen frühestens hier sein?
Lucie. Mäurer hat gleich, noch bevor Schilling gestern den Wunsch äußerte . . . gleich nach dem Anfall telegraphiert.
Hanna. Und meinen Sie, daß er die weite Reise machen wird?
Lucie. Aber ohne Zögern, ganz unbedingt.
Hanna nimmt am Tisch Platz. Er verlangt sehr dringend nach Dr. Rasmussen. Nach kurzem Stillschweigen fortfahrend. Ich werde den gestrigen Tag und die heutige Nacht nicht vergessen, die ich auf dieser Insel verlebt habe.
Lucie, abwechselnd zuhörend, schreibend oder über den Brief nachdenkend. Das glaube ich wohl.
Hanna. Sie sehen, wie gut es war, Fräulein Lucie, daß ich gekommen bin.
Lucie, verdutzt. Das kann ich nicht recht verstehen, Frau Hanna.
Hanna. Ich habe in der letzten Zeit gefühlt, daß mit Schilling eine tiefe Veränderung vorgegangen ist. Das hab' ich gewußt, und das hat mich beunruhigt.
Lucie. Dann hätten Sie sich aber doch sagen sollen, daß es gut für ihn wäre, mal für einige Zeit von seinen Sorgen befreit zu sein.
Hanna. Er ist von den schrecklichen Quälereien seiner echt deutschen Ehefrau so zerrüttet, daß er hundertmal zu mir gesagt hat: »Hanna, nur wenn du bei mir bist, habe ich ein Gefühl von Geborgenheit.« Es ist ein Verbrechen, was eine solche Frau an dem Manne begeht, mit ihren Vorwürfen, ihren ewigen Tränen und Anklagen, mit ihren täglichen Forderungen um Geld, wo er doch, trotz aller Arbeit, nichts verdienen kann, und sie könnte mit ihrem Klavierunterricht viel besser als er das Leben verdienen.
Lucie. Mag sein, daß Frau Eveline nicht sehr besonders tatkräftig ist; sie soll es ja früher, als sie von England als Gouvernante zurückkam, reichlich gewesen sein.
Hanna. Ich habe diesen Mann im Elend gefunden, im Elend geliebt! Weil er elend war, hab' ich ihn geliebt. Ich wollte ihm helfen in seiner Verzweiflung. Ich nahm nie einen Pfennig Geld von ihm. Eher sucht' ich es, wo ich es finden konnte! Ich wollte ihn aus der Sorge reißen. Ich wollte nicht, wie Eveline, durch ihn versorgt und erhalten sein. Sie wirft auf den armen Schilling jede Verantwortung. Ich trage selbst die Verantwortung. Ich weiß, seine Kunst ist viel zu gut! Und er kann unmöglich damit viel Geld machen. Er braucht mich, ich bin ihm unentbehrlich, ich teile mein letztes Stück Brot mit ihm.
Lucie. – Ich würde mir jedenfalls niemals einreden können, daß irgendein Mensch nicht ohne mich existieren kann.
Hanna. Das ist bei Ihnen und Mäurer ein anderer Fall. Lucie lacht kurz und leicht auf. Aber ich habe zu ihm gesagt: Ich will deine Arbeit, ich will dein Glück. Ich werde gehen und nicht wieder auftauchen, wenn du mit deiner Frau glücklicher bist. Ich dachte, er schläft auf einer elenden Feldbettstelle in einem feuchten und eisigen Atelier. Soll er lieber bei seiner Frau schlafen, hab' ich gesagt, wenn es gut für ihn ist. Nun, er antwortet mir: nur das nicht! Er hat vor meiner Haustür gestanden, als ich russische Herren zu Besuch in meiner Wohnung hatte, bei achtzehn Grad Kälte, stundenlang. Um elf Uhr ist er darnach fortgegangen, weil ich nicht bemerkt hatte, daß er da war, und ist nachts halb ein Uhr, wo alles still war, wiedergekehrt und hat mich mit Steinchen ans Fenster geweckt. So habe ich ihn glücklicherweise entdeckt.
Lucie, trocken. Da wird der gute Schilling wohl etwas verfroren gewesen sein.
Hanna. Er war halbtot, als er zu mir kam, und hat sich erst gegen Morgen erwärmt.
Lucie. Hat er denn solche Anfälle wie den gestrigen schon früher gehabt?
Hanna. Ich weiß, seine Frau hat ihn aufgeregt. Sie hat ihm gedroht, sie wird sich töten, wenn er nicht seine Liebe zu mir aufgibt. Wie kann er denn diese Liebe aufgeben? Wo sie ihm doch der einzige Sinn seines Lebens ist, die Rettung von ihrer Banalität! Soll er denn seine Kunst aufgeben, wo er sagt, daß seine Liebe zu mir die innerste Seele von seiner Kunst ist?
Lucie. Leider hat er in den letzten Jahren nichts mehr gearbeitet.
Hanna. Oh, er hat ein süßes Kinderporträt von meinem kleinen Sohn Gabriel gemacht.
Lucie. Wenn man aber bedenkt, daß in mehreren Jahren nur dieses Bildnis entstanden ist, so kann man doch wohl nicht anders sagen, als daß seine Kraft darniederliegt.
Hanna. Sie liegt durchaus nicht gänzlich darnieder. Er bewundert wie nichts in der Welt meinen Akt. Nun, ich bin selber viele Monate krank gewesen und habe in seinem ungesunden und kalten Atelier nicht ohne Bekleidung stehn können, in einer sehr verbogenen Stellung als Modell für seine »Geburt der Venus«. – Ich habe es aber mit Anstrengung meiner letzten Kräfte getan, bis ich von der Kiste, auf der ich stand, ohnmächtig zusammengebrochen war.
Lucie. Ich setze voraus, daß es an Ihrem guten Willen nicht liegt; das Resultat ist aber doch klar. Und Sie sollten doch verständigerweise die Absichten Maurers unterstützen.
Hanna steht auf. Er sagt, daß Mäurer ihn deprimiert; er sagt mir, daß Mäurer ihn entmutigt.
Lucie lacht herzlich, mit einem Anflug von Bitterkeit. Nun, alles, was die Menschen Widersprechendes durcheinanderschwatzen, unter einen Hut zu bringen, verstehe ich nicht.
Schillings Stimme. Hanna!
Hanna. Sie sehen, er ruft mich, Fräulein Lucie. Sie geht zu Schilling hinein, ab. Kaum, daß Hanna Elias verschwunden ist, als ziemlich geräuschvoll Rasmussen eintritt. Er ist als Typus den Fischern der Insel verwandt. Sein Scheitelhaar ist ergraut, der rötlich blonde Bart noch ohne weiße Fäden. Seine Kleidung ist schlecht und recht. Sein Schuhwerk massiv. Er hat eine Ledertasche umgehängt, einen Sommerpaletot überm Arm, einen weichen schwarzen Hut in der Hand, in der Rechten einen kräftigen Stock.
Rasmussen, mit einem großen Schritt über die Schwelle, laut. Na, da bist du ja, Lucie; na, was gibt's? Was habt ihr denn wieder ausgefressen? Guten Tag! Wo ist denn Ottfried? Wie geht's euch denn?
Lucie, beschwichtigend. Pst! Stille! Schilling liegt nebenan.
Rasmussen. Pst! Ach so. Entschuldige, Lucie.
Lucie, in halbem Humor. Für einen Arzt, der nicht praktiziert, hast du eine ziemlich lebhafte Praxis, Rasmussen.
Rasmussen. Nächstens erheb' ich Honorar. Ihr macht mir wirklich ein bißchen viel Umstände. Übrigens muß irgendein böser Stern in diesen Jahren über uns Freunden wirksam sein; vor noch nicht dreizehn Monaten habe ich meinen Vater verloren, letzten Dezember den Bruder, gleich darauf rieft ihr mich, und ich habe das nahe Ende deiner Mutter prognostiziert; dann liegt noch der Tod einer alten Wohltäterin dazwischen, und nun ist womöglich hier wieder was los. Übrigens kannst du mir glauben, daß die Reise mit Eveline keine angenehme Zugabe gewesen ist.
Lucie. Die Reise mit wem?
Rasmussen. Mit Eveline. Sie kann übrigens noch nicht unten sein. Ich habe mich gleich auf der Fährinsel, wo wir gelandet sind, losgemacht und bin zu Fuß durch die Dünen gelaufen. Eh der Wagen sich durch die Sandwege mahlt, vergeht sicher noch gut eine halbe Stunde. – Denk mal, ich habe jetzt über drei Jahre die See nicht gesehn, obwohl ich geborner Wolliner bin.
Lucie. Erlaube mal, Rasmussen, das ist nicht gut möglich, was du da sagst; denn Hanna Elias ist drin bei Schilling.
Rasmussen. Ja, um Gottes willen, ich denke, die Sache ist abgetan?!
Lucie. Das ist leicht gesagt – und schwer durchgeführt bei einer Natur wie Hanna Elias.
Rasmussen. Du kannst mir glauben, daß Eveline ebenfalls dieser Überzeugung ist, die Sache sei aus. – Das ist ja aber ein Unglück, Herrschaften! – Warum habt ihr mir eigentlich nicht ein Sterbenswort in eurer Depesche angedeutet?
Lucie. Ich wundre mich auch, daß Ottfried, der mir sonst immer wegen meiner Gedankenlosigkeit Vorwürfe macht, in diesem Falle nicht überlegter handelt.
Rasmussen. Was soll ich denn tun? Ich lese: »Herkommen, Schilling erkrankt«! – Natürlich lauf ich zu seiner Frau Eveline. Ich nahm doch an und mußte doch annehmen, daß sie besser als ich unterrichtet ist. Und wenn man als Arzt auf eine weltabgeschiedene Hallig berufen wird, so muß man doch irgend'n Anhalt haben! Apotheke und sonstige Hilfsmittel gibt's doch hier nicht. – Du siehst übrigens auch nicht besonders aus!
Lucie, ausweichend. Wir haben alle wenig geschlafen.
Rasmussen. Donnerwetter noch mal, was machen wir nu!? Ich kann mir an dieser fatalen Geschichte eine Schuld unter keiner Bedingung beimessen. Sogar . . . ich habe sogar noch versucht, als ich merkte, daß Eveline nicht unterrichtet war, sie von der Reise zurückzuhalten. Schließlich und endlich: ich wußte nicht, was geschehen war, und also, da sie partout doch mitwollte, was konnte ich ernstlich dagegen tun? Ich hatte im Grunde kein Recht dazu.
Lucie. Dem armen Schilling soll gar nichts erspart bleiben!
Schillings Stimme, singend.
Am Woasser, am Woasser,
am Woasser bin i z' Haus.
Rasmussen horcht und lacht. Na, da wird's ja so schlimm noch nicht sein, Kinder. – Was ist denn also mit Schilling passiert?
Lucie. Ach, wir waren eigentlich sehr froh und vergnügt, bevor diese Fledermäuse hier auftauchten. Wir hatten Reisepläne und große Ideen. Jetzt hab' ich dafür nur einen Plan: irgendwie unabhängig tätig zu sein.
Rasmussen. Wo ist denn Ottfried?
Lucie. Er wandelt auf Pfaden höheren Lebens mit einer Verehrerin, Fräulein Majakin.
Rasmussen. Kinder, seid ihr denn alle verdreht geworden? Ich hätte nun wirklich drauf geschworen, daß ein strammer, kurznackiger Kerl wie Mäurer, in seinem Alter, nach dem, was er alles erfahren hat, und mit – ich bin kein Schmeichler, Lucie! – dem unverdienten Glück in der Hand, von Experimenten kuriert sein würde. Aber obgleich er das ganze Gegenteil von dem armen Schilling ist, so kriegt er zuweilen doch einen Raptus, der ihn auf einmal eigensinnig und unzuverlässig macht – kurz nachdem man vielleicht zehn Eide auf seine Verläßlichkeit geschworen hätte.
Schillings Stimme. Ist das nicht Rasmussen?
Rasmussen, laut. Jawohl!
Schillings Stimme. Immer rein!
Rasmussen öffnet die Tür zu Schillings Zimmer ein bißchen und ruft hinein. Na, mein Junge, werd' ich nu wieder zu Gnaden angenommen?
Schillings Stimme. Rede bloß keinen Unsinn, Rasmussen!
Rasmussen. Nee, das muß ich erst wissen, sonst schmeißt du den Kunstbarbaren womöglich zur Türe hinaus. – Nu sag mal, was heißt denn das, Gabriel? Er geht zu Schilling hinein und schließt die Tür hinter sich.
Lucie legt ihre Schreibutensilien zusammen, nachdem sie ihren Brief adressiert und mit einer Marke beklebt hat. Darnach tritt Ottfried Mäurer ein, sogleich ohne weiteres Hut und Stock an den Kleiderhaken hängend.
Mäurer. Herrliches Wetter! Man hört auch wieder den ganzen Morgen deine Glockenboje oder was es ist; als ob die Fische im Wasser Sonntag feierten. Das Inselchen gefällt sogar jetzt Fräulein Majakin. Wir haben den Leuchtturmwärter besucht. Ich habe dir sogar einen wirklichen toten Kuckuck mitgebracht, den wir am Fuße des Turms unter einem wahren Massenmordfeld aller unserer Vogelarten gefunden haben.
Lucie. Einen toten Vogel bringst du mir mit, Ottfried?
Mäurer. Bewundere meinen Edelmut, Schusterchen. Da du neulich behauptet hattest, der Kuckuck beehre auch Fischmeisters Oye auf seiner Wanderschaft – du weißt ja, als Schilling so gruselig das Echo herausforderte –, so wollte ich dir das noch extra bestätigen.
Lucie, beziehungsreich. Da bringst du mir also einen Vogel, der die Dummheit beging, im Stockfinstern gegen ein »großes Licht« zu fliegen, und der sich bei dieser Gelegenheit den Schädel zerschmettert hat.
Mäurer. Jawohl: der betrogene Idealist liegt unten auf dem Tisch in der Gaststube. Ich gebe dir zu, daß dieser eigentümliche Mißbrauch gläubiger Sehnsucht der Kreatur ohne einen zehnfach eingeteufelten Teufel, einen gesteinigten höllischen Satan, schwer zu erklären ist.
Lucie. Hat Fräulein Majakin sich an die schreckliche Sprache der Fischer einigermaßen gewöhnt?
Mäurer. Sie sagt, wenn die Fischerweiber und -männer sich unterhielten, das klänge wie eine Versammlung von Seemöwen. Dann hat sie noch eine andere, äußerst nette Bemerkung gemacht: das Geräusch der Brandung erzeuge aus einiger Ferne die Vorstellung eines gewaltigen Stiers, der eifrig Gras rupft und dann wieder ausschnauft. Genau so klingt es, beobachte das mal! Und nun ist sie der Meinung, daß dadurch die Sage von Zeus als Stier und von der Europa entstanden ist.
Lucie. Ich glaube, daß diese Idee, die du vor zwei Jahren mal hier improvisiert hast, den Weg über mich zu Schilling, von Schilling zu Hanna, von Hanna zu Fräulein Majakin genommen hat.
Mäurer. Von mir soll das stammen? Das glaub' ich nicht!
Lucie. Übrigens, Rasmussen ist bei Schilling.
Mäurer. Rasmussen ist angekommen?
Lucie. Er wundert sich, daß du ihm gar kein Wort von Hanna Elias gedrahtet hast.
Mäurer. Inwiefern denn, Lucie, von Hanna Elias?
Lucie. Wenn du ihn unterrichtet hättest, daß sie hier ist, dann hätte er Eveline Schilling nicht mitgebracht.
Mäurer. Eveline ist hier? Er wird bleich, zuckt aber etwas verstockt die Achsel. Ja, das tut mir leid! Man soll eigentlich überhaupt seine Hände nicht in fremde Angelegenheiten hineinstecken; aber man will immer wieder Herrgott spielen und Schicksal sein. Er rafft sich zusammen und tut einige Schritt gegen Schillings Tür. Na, man muß doch mal Rasmussen guten Tag sagen.
Lucie. Hast du also die Idee ganz aufgegeben mit Griechenland?
Mäurer. Es geht nicht, glaub' ich; die Sachen machen sich nicht; ich muß diesen Winter in Berlin bleiben.
Lucie. Wann hast du denn diesen Entschluß gefaßt?
Mäurer. Ich hab' ihn nach Durchsicht meiner Verträge leider fassen müssen, Schusterchen.
Lucie, beziehungsreich. Der alten oder neuer Verträge?
Mäurer. Der alten natürlich! Neue schließt man auf Fischmeisters Oye doch nicht! Er ist zu ihr getreten und streichelt sie.
Lucie. Warum nicht!? – – Du bist ja so zärtlich, Ottfried?
Mäurer. Wie immer, Schusterchen.
Lucie sieht ihn groß und ruhig an. Na, geh nur zu deinem armen, verunglückten Griechenlandfahrer hinein!
Mäurer. Bist du verstimmt, Lucie?
Lucie. Nein, nur etwas nachdenklich. Sie blickt vor sich nieder und tippt mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch. Mäurer küßt ihre herabhängende Linke und begibt sich zu Schilling hinein, ab. Lucie stößt einen resignierten Seufzer aus und will sich durch die Tür rechts hinausbegeben, wird aber durch Klopfen an dieser Tür zurückgehalten. Herein! Bitte eintreten!
Die Tür wird geöffnet, und Klas Olfers bedeutet einer mageren, dürftig gekleideten, tief verschleierten Frau einzutreten. Es ist Gabriel Schillings Frau, Eveline Schilling.
Klas Olfers. Ich denke, et würd' det beste sin, wi fragen bei det gnädige Freilein mal nach.
Lucie, schnell gefaßt, hält Frau Schilling unauffällig im Türrahmen zurück.
Lucie. Herr Olfers, das muß wohl ein Irrtum sein. Die Dame will wahrscheinlich zu Herrn Rasmussen.
Eveline, ohne den Schleier zu öffnen. Ist Rasmussen nicht hier?
Lucie, tief errötend. Sie sehen, nein!
Eveline. Sie sind Fräulein Lucie Heil, meine Dame.
Lucie, wie vorher. So heiße ich. Woher kennen Sie mich?
Eveline. Sie haben mal bei einer Matinee in der Singakademie eine Sonate von Schubert gespielt. Klas Olfers entfernt sich achselzuckend. Darf ich bei Ihnen etwas ablegen? Sie werden vielleicht schon erraten haben, daß ich die unglückselige Frau von Gabriel Schilling bin. Sie nimmt Schleier und Hut ab, ohne Luciens Erlaubnis abzuwarten.
Lucie, sehr unruhig. Dies ist hier Professor Mäurers Zimmer. Wenn es Ihnen recht wäre, gnädige Frau, könnten wir lieber in mein Bereich hinübergehn.
Eveline. Vor allen Dingen, wo ist mein Mann? Frau Schilling enthüllt sich nun als eine verhärmte, gealterte Frau mit tiefliegenden Augen, hervorstehenden Backenknochen und hektischer Röte auf den Wangen. Sie ist über das fünfunddreißigste Jahr hinaus, erscheint aber älter und ohne weiblichen Reiz.
Lucie. Sie werden den Wunsch haben, sich etwas zu restaurieren, gnädige Frau? Ich nehme an, Sie sind die Nacht durchgereist; vielleicht ruhen Sie auch erst eine halbe Stunde? Herr Schilling schläft, und jedenfalls dürfte ein Grund zu unmittelbarer Besorgnis nicht vorhanden sein.
Eveline läßt sich auf einen Stuhl nieder. Heiraten Sie niemals, liebes Fräulein! Sie weint still in sich hinein.
Lucie, in peinlicher Verlegenheit. Sie sind übermüdet, gnädige Frau! Sie sind von der Nachtfahrt nervös überreizt und abgespannt. Wollen Sie sich bitte in meine Hand geben. Sie brauchen Ruhe, ich kenne das. Ich habe eine lange Pflege bei meiner armen Mutter hinter mir. Mit Denken und Grübeln ist gegen nervöse Depressionen nicht anzukämpfen.
Eveline, mit dem Versuch, sich zu raffen. Es geht schon vorüber, lassen Sie mich!
Lucie. Ich möchte Sie aber wirklich gern dazu bewegen, mit mir auf mein Zimmer zu gehn!
Eveline. Wissen Sie, wie mir mein Leben vorkommt, Fräulein? – Sie sind eine Frau, warum soll ich nicht offen zu Ihnen sein? – Man baut mit unendlicher Mühe, mit blutigem Mörtel und schweren Steinen ein festes Gebäude, und wenn es fertig ist, ist es ein Kartenhaus.
Lucie. Sie sehen in diesem Augenblick die Welt in einem zu trüben Lichte.
Eveline. Ja, ich sehe sie wie etwas vollkommen Fremdes, etwas vollkommen Uninteressantes, abschreckend Gleichgültiges an. Trostlos ist sie, leer und stockfinster. – Sie glauben, ich übertreibe, Fräulein! Aber ich habe wahrhaftig keine unbescheidnen Wünsche gehegt! Ein Familienleben! Ein bescheidnes Auskommen! Selbst das wenige hat mir der Himmel in seiner unergründlichen Güte versagt. Ja, er hat sich erschlichen, was ich mir verdient habe. Ich war jung wie Sie und vielleicht unternehmender, als Sie sind. Ich weiß es nicht. Ich ging nach England, ich machte Ersparnisse. Ich war gut gekleidet. In meinen Ferien konnte ich reisen. Meine Freundin und ich, wir besuchten Holland, die Normandie, wir brauchten nicht knausern, wir speisten in den ersten Hotels an der Table d'hote! Und nun kam Schilling! Ich dachte, er ist ein redlicher Mensch! Ich dachte, er wird seine Pflichten achten, und mein bißchen Erspartes ist bei ihm, dacht' ich, in guter Hand. Ja freilich! Sehen Sie mich nur an. Sie zeigt die großen Flicken in ihrem Rock und das zerrissene Futter ihres schäbigen Jacketts. Ich habe alles hingegeben, alles umsonst zum Opfer gebracht.
Lucie, mit Überwindung. Es werden bessere Zeiten kommen!
Eveline. Immer morgen, morgen, heute nicht. Heute borg' ich mir, was sag' ich, erbettle ich mir zwanzig Mark zur Reise von Dr. Rasmussen, und morgen zahl' ich vielleicht ein Billett erster Klasse rund um die Welt. Heute leb' ich mit meiner Tochter von einer altbacknen Schrippe und etwas abgelassener Milch, und morgen werd' ich bei Dressel und Uhl essen. Das ist mir nichts Neues, ich kenne das! Von diesem »morgen« wird man nicht satt. Das ist höchstens für arme, hungrige Säuglinge der mit Essig und Galle getränkte Lutschpfropfen. Man denkt: dein Mann hat dich heute verlassen, und morgen kommt er wieder zu dir zurück. Jawohl. Aber wie? Von vier Männern getragen, vielleicht auf dem Sterbebette. – Ich muß ihn sehn! Wo ist Gabriel?
Lucie. Sie werden sich jedenfalls erst beruhigen! Vielleicht sehen Sie ein, daß eine Begegnung in diesem Zustand für beide Teile nicht ratsam ist!
Eveline. Was heißt das? Was tut ihr alle mit mir? Warum laßt ihr mich nicht zu Gabriel? Warum sagt ihr mir nicht, was geschehen ist? Es ist mir alles hier so unheimlich! Was sind das für Stimmen hier nebenan?
Lucie lügt. Fremde! Vater und Sohn aus Stralsund! Hanna Elias tritt aus Schillings Zimmer. Die Frauen betrachten sich einige Sekunden lang mit grenzenlosem Staunen.
Eveline, in einem Tone des Erstaunens, in dem keine Spur der eben noch vorherrschenden, angstvoll weinerlichen Erregung mehr ist. Hanna, du bist es? – Was treibst du hier?
Hanna. Laß uns vor allen Dingen, Eveline, da wir nun einmal unbegreiflicherweise hier zusammengetroffen sind, wie zwei vernünftige Menschen sein.
Eveline. Unbegreiflicherweise zusammengetroffen?
Hanna. Zufälligerweise jedenfalls!
Eveline. Also ist deine Anwesenheit hier zufällig!? Oder meinst du, daß es unbegreiflicherweise und zufällig ist, wenn sich eine Frau zu ihrem angetrauten Manne begibt, nachdem sie erfahren hat, daß er vielleicht lebensgefährlich krank geworden ist? Wie kommst du hierher, was willst du hier?
Hanna. Es handelt sich nicht um uns augenblicklich, sondern meinethalben um deines Mannes Wohlergehen. Also bitt' ich dich, frage mich jetzt nicht weiter. Jedenfalls nicht hier, denn ich sage dir, daß es Schilling erspart werden muß, einen Zank zwischen uns zu sehn. Ich gehe mit dir an den Strand hinunter. Dort will ich dir Rede und Antwort stehn.
Eveline. Bitte, bitte, Hanna, ganz ohne Umschweife: wie kommst du hierher, was suchst du hier? Das Rätsel möcht' ich gerne gelöst wissen. Wie kommt's, daß ihr auseinander seid, und ich betrogener armer Esel von einer Frau glaube daran, daß es aus mit euch ist, und ihr lacht mich aus hinter meinem Rücken! – Hast du ihn wieder rumgekriegt? – Hast du ihm wieder weisgemacht, daß du keine Allerweltsdame bist? Oder muß man vielleicht Allerweltsdame sein, um dem eigenen Gatten zu gefallen
Hanna, für einen Augenblick ohne Selbstbeherrschung. Eher bist du eine Allerweltsdame! – Und ich bitte dich, höre jetzt auf damit! – Wenn du ein Gefühl von weiblicher Würde hast, so höre jetzt auf mit diesem Ton und solchen Beleidigungen, in diesem Augenblick.
Eveline, zu Lucie. Diese Dame spricht von weiblicher Würde!
Hanna. Ich spreche von weiblicher Würde, gewiß!
Lucie. Meine Damen, Sie sind hier in einem kleinen Gasthause, bedenken Sie das! Wir dürfen kein solches Aufsehen machen. Es ist unmöglich, daß Sie so fortfahren. Schon allein um des Kranken willen nicht.
Eveline, zu Lucie. Lassen Sie sich mal von dieser Dame erzählen, Fräulein, mit welchen Mitteln, welchen Schlichen sie hinter Gabriel her gewesen ist, bis sie ihn so weit bekommen hat. Wie sie mir erst hat Freundschaft geheuchelt: »Du bist zu geduldig! Du mußt mehr beanspruchen! Du mußt ihm klarmachen, daß du ein gleichberechtigter Mensch und nicht seine Sklavin bist. Ihr deutschen Frauen seid alle Sklavinnen.« So hieß es, so ging es in einem fort, und ich bin auch zuerst drauf reingefallen, bis ich dann merkte, worauf es hinauslief und daß sie sich Gabriel kapern wollte, weil der eigene Mann ihrer überdrüssig war. Eine schöne Gesellschaft! Eine brave Familie! Erzähle doch! Immer erzähle doch! Da hast du Gesprächsstoff, beste Hanna! Da hast du für deine Suade genug!
Hanna. Solche phantastische, krankhafte Märchen, ausgebrütet von einer sich beleidigt glaubenden Frau, berühren mich nicht.
Rasmussen fährt wild aus Schillings Tür heraus, die er hinter sich sorgfältig ins Schloß klinkt, ehe er spricht.
Rasmussen. Donnerwetter, was ist hier los, Herrschaften?! Was macht ihr euch eigentlich von Schillings Zustand für eine Vorstellung? Er wird unruhig, er fragt; was soll ich ihm antworten? Verlegt euren Kampfplatz woandershin!
Eveline vergißt Hanna und starrt Rasmussen an. Hanna weicht mit Entschluß und geht zur Tür rechts hinaus.
Eveline will an Rasmussen vorüber zu Schilling hinein. Wo ist mein Mann?
Rasmussen, sie zurückhaltend. Immer erst hübsch abwarten!
Schillings Stimme. Rasmussen!
Rasmussen, Eveline energisch festhaltend, die bestrebt ist, sich loszumachen. Ich sage dir, wenn du noch einen Funken Besinnung hast, wenn du noch einen Funken Liebe aufbringen kannst für deinen Mann, wenn dir daran liegt, ihn noch einige Zeit zu behalten, am Leben überhaupt zu erhalten, mein' ich, so geh jetzt nicht zu ihm hinein.
Eveline, mit einem unwillkürlich hervorbrechenden, hilferufartigen und eigensinnigen Schrei. Gabriel!
Schillings Stimme, schnell und erschrocken. Hier bin ich! Schilling erscheint in der Tür. In dem edlen, aber furchtbar veränderten Gesicht liegt Bestürzung und Staunen. Was ist denn passiert??
Rasmussen. Nichts! Es ist gar nichts weiter passiert! Es hat sich nur wieder herausgestellt, daß eine Frau und gesunde Vernunft nicht vereinbar sind.
Eveline, die Worte mühsam hervorwürgend. Du hast mich belogen, Gabriel! Warum hast du mich hintergangen, gerade in einem Augenblick, wo ich wieder in meinem Innern Hoffnung schöpfte? Du sagtest, du habest dich frei gemacht. Du sagtest, du habest mit Hanna gebrochen, und gerade in diesem Augenblick entdecke ich, daß du ein kalter, grausamer, hartgesottener Betrüger bist. Gabriel, warum tatest du das? Warum zerstörst du in mir den letzten erbärmlichen Rest von Achtung für dich? – Nein, ich kann einen Menschen wie dich nicht mehr achten!
Schilling hat, abwechselnd errötend und erblassend, mit einem gespannten, fast blöde fragenden Ausdruck zugehört. Er läßt seinen Blick, wie um Auskunft bittend, von Lucie zu Rasmussen wandern und sagt dann mit einem erstickten kurzen Auflachen. So! Diese Ansicht teile ich. – – – Was führt dich eigentlich her, Eveline?
Eveline. Frage lieber, was Hanna hierherführt, Gabriel.
Rasmussen. Und nun ist die Kontroverse geschlossen. – Ich bin Arzt, Eveline, dein Mann ist krank . . .
Schilling. Red keinen Unsinn, ich bin nicht krank! – Du hast doch nicht am Ende gedacht, Eveline, es ist Matthäi am letzten mit mir? – Den Gefallen tu' ich der Welt noch nicht! – Wenn du's nicht glauben willst, frage mal Rasmussen! Die ganze Geschichte, Eveline, läuft einfach auf einen etwas geschmacklosen Spaß hinaus, den ich mir leider gestern gemacht habe.
Eveline faßt sich an den Kopf, wie besinnungslos. Fort, fort, sonst verliere ich meinen Verstand! Sie will hinaus.
Schilling. Eveline, du wirst jetzt hierbleiben.
Eveline. Ich kann nicht bei einem Menschen bleiben, der mein Mann, mein angetrauter Ehemann, Vater meines Kindes und dabei willenloser Sklave einer gemeinen Dirne ist.
Rasmussen. Na, na, na, na! Jetzt aber Schluß, Eveline!
Schilling, nach kurzem Schweigen, mit demselben hilflos fragenden Ausdruck wie vorher. Ja, woran liegt das alles? Ich weiß es nicht. Ich habe nach etwas . . . wie soll ich sagen? Ich habe nie bewußt nach dem Schlechten gestrebt! Ich hatte wirklich nie böse Absichten!
Eveline. Stelle dich gleichgültig, Gabriel; es wird ein Tag kommen, wo du den Unterschied zwischen einer Frau, die du jetzt mißhandelst, und einer Hanna Elias einsehen wirst.
Hanna Elias stürzt in vollständig zügelloser Raserei herein und auf Eveline los, kreischend und mit geballten Fäusten.
Hanna. Es ist mir gleichgültig, was du von mir sagst! Ich speie darauf, es ist mir gleichgültig! Ich speie auf deine verfluchte Liebe! Du hast keine Liebe! Du lügst, du lügst! Du hast dicken, geschwollenen Vipernhaß! Du hast Gift, du hast Stacheln, du hast keine Liebe! Wie quälst du jetzt deinen kranken Mann! Pfui! Schamlose, Schlechte, Niederträchtige! Keinen Funken von Herz, keinen Funken von Gott! Da, stich mich! Triff mich mit deinen Augen! Triff mich mit deinem Dolch von Blick! Triff mich mit einer richtigen Dolchspitze! Da! Was ist mir Leben! Was liegt mir daran? Nur geh, geh und laß meinen Gabriel! Er ist nicht dein! Du hast ihn verspielt! Mein, mein! Ich fühl's! Er ist mein, mein Gabriel!
Unter den Fenstern erschallt plötzlich das mißtöniqe Geräusch eines kleinen erregten Janhagels. Kinder, Weiber und halbwüchsige Burschen miauen, husten und schreien. Hoho! Der Lärm wird durch die energische Stimme von Klas Olfers beschwichtigt. Ruhe, macht, dat ji wegkommt! Wat wollt ihr hier! Rasmussen hat, um sie zu beruhigen und ihre wahnsinnige Erregung zu dämpfen, Hanna in seine Arme geschlossen. Er drängt sie langsam hinaus. Mäurer hat den größten Teil der letzten Szene miterlebt, hinter Schilling in der Tür stehend. Eveline ist stumm und besinnungslos vor Entsetzen. Ihr Blick bleibt, solange sie im Zimmer ist, mit grauenvollem Staunen auf Schilling haften. Dieser steht bewegungslos und schluckt nur einige Male krampfhaft. Seine weitgeöffneten Augen stehen voll Wasser. Das Taschentuch wie einen Knebel im Mund, geht Eveline an Schilling vorüber, von Lucie geführt, hinaus. Stillschweigen.
Rasmussen, nach einigem Stillschweigen zu Schilling. Na, es kommt auch mal wieder anders, Schilling!
Mäurer legt mit einem leichten Schlag seine Hand auf Schillings Schulter.
Duck dich und laß vorübergahn,
das Wetter will sein Willen han.
Schilling, mit unendlichem Grauen im blutlosen Gesicht. Wir sind keine Griechen, mein lieber Junge! – Mäurer klopft ihm weiter auf die Schulter, sehr bewegt; unwillkürlich umarmt er ihn. Eine Weile herrscht Schweigen. Rasmussen tritt dazu. – Schilling, indem er beide ein wenig beiseite zieht, mit qualvollem innerem Ausbruch. Der Ekel erwürgt mich. Gift! Gebt mir Gift! Ein starkes Gift, Rasmussen!