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Das enge, niedrige Wohnzimmer der Familie Klas Olfers in Klas Olfers' Gasthaus auf Fischmeisters Oye. Durch eine Tür in der Hinterwand erblickt man den Flur und eine leiterartige Stiege ins Dachgeschoß. Jenseits des Flurs durch eine andere offne Tür das geräumige Gastzimmer. Die Wand rechts im Wohnzimmer ist ebenfalls mit einer Türe versehen, die zu einem dunklen und überfüllten Ladenraume führt, worin Klas Olfers Waren für die Bedürfnisse der armen Fischer hält. An der gleichen Wand steht ein altes Ledersofa, davor ein Tisch, über diesem ist eine billige Hängelampe angebracht, um ihn herum stehen gelbpolierte Stühle aus Fichtenholz; etwas seitlich davon eine kleine Wanduhr. Die Wand links enthält ein kleines Fensterchen mit Mullgardinen. Am Fenster ein kleiner Nußbaumnähtisch; in der Ecke links ein Schreibsekretär aus gleichem Holz, in der Ecke rechts ein weißer Kachelofen, über dem Sofa ein Öldruck der kaiserlichen Familie, auf dem Fußboden ein Teppich aus zusammengestückelten Läppchen, eine rot und weiß karierte Decke auf dem Tisch. Auf einer Kommode an der Fensterwand eine Porzellanuhr mit Glocke und einige Steingutväschen mit Papierblumen. Auf dem gehäkelten Deckchen des Nähtisches Familienphotographien in stehenden Papprähmchen. Oben auf dem Nußbaumsekretär befindet sich eine ausgestopfte Seemöwe, die mit ihrem Kopf die weißgetünchte Zimmerdecke berührt. Das Ganze macht einen ungemütlichen, höchst bescheidenen Eindruck.
Es ist Morgen, gegen acht Uhr. Klas Olfers, über fünfzig Jahre alt, graubärtig, von pergamentener Haut und beängstigend bläulicher Gesichtsfarbe, sieht zu, wie die Magd den Tisch für das erste Frühstück zurechtmacht. Die Ereignisse des ersten Aktes liegen drei Tage zurück.
Vor der Tür wird lebhaft mit einer Peitsche geknallt.
Klas Olfers wird aufmerksam. Nanu? Wat wie det?
Die Magd. Det is de olle Mathias von de Fährinsel mit sinen loahmen Grauschimmel. He bringt twee fremde Doamens up sin Brettwoagen.
Klas Olfers, am Fenster. He, Mathies! Wat hest du woll bei die Herrgottsfrühe schon for'n Butt ut de Reus'n holt!
Stimme des Mathias. Tschä! Det is nu nich anders, Klas Olfers.
Klas Olfers. Ick komm' gliek rut! – Spring man fix tau, Dearn! Help de Doamens ut de Karreet!
Die Magd. Et is man bloß noch eene im Wagen drin.
Hanna Elias steht in der Flurtür. Auf dem rabendunklen Haar trägt sie einen dunklen, breiten Strohhut, mit Mohnblumen garniert. Die Haut ihres Gesichtes ist von wächserner Blässe und Durchsichtigkeit. Ihre Züge sind äußerst fein und dabei intelligent. Ihre Augen sind groß, dunkel, unruhig. Über all ihren Bewegungen liegt etwas Unstetes. Sie kann die Finger nicht still halten. Ein Zug des Nachdenkens, gleichsam über ein Problem, dessen Lösung ebenso aussichtslos als unbedingt notwendig ist, befällt sie immer, sofern nicht äußere Eindrücke sie ablenken. Ihre Kleidung im ganzen zeugt von exotischem Geschmack, wie denn überhaupt der Eindruck, den sie hervorruft, fremdartig ist. Sie ist zart, eher klein als groß und gehört jenen Frauen an, bei denen nicht ohne weiteres zu entscheiden ist, ob sie die Zwanzig kaum überschritten haben oder ob sie über die Dreißig sind.
Hanna, gut deutsch, nur leicht fremdartig im Ausdruck. Bekommt man hier auf ein bis zwei Nächte Unterkunft?
Klas Olfers. Tschä! gewiß! Dat schell uns woll keene Kopfschmerzen maken, min Freilein! Es is zwar alles knüppeldickvoll bei Klas Olfers, aber von die zwölf Gastzimmer . . . Stücker dreizehn sind deswegen immer noch frei. Wünschen Sie ein Zimmer oder zwei?
Hanna, in den Hausflur sprechend. Wir nehmen doch zwei Zimmer, Fräulein Majakin?
Fräulein Majakin, im Hereintreten. Wenn ich bitten darf, nehm' ich für mich ein Zimmer.
Fräulein Majakin ist eine siebzehnjährige Russin aus Petersburg. Obgleich sie nicht groß ist, muß man sie, da ihr alles Backfischartige, Halbreife abgeht, für älter halten. Ihre Kleidung ist durchaus schlicht und unauffällig.
Klas Olfers, der sein gesticktes Käppi in der Hand dreht. Se kennen twee Zimmer nebeneinander hebben, meine Doamens, nach See rut. Wollen Sie gliek auf't Zimmer gehn?
Fräulein Majakin. Wenn Sie hierbleiben wollen etwa, Frau Hanna, ich gehe doch vorher einmal hinauf.
Hanna, die unschlüssig schien. Ich auch, natürlich.
Klas Olfers. Fix, Dearn, spring vorut! Die Magd drückt sich eilig an den Damen vorbei in den Flur, und man hört sie laut polternd die Holzstiege hinaufstürmen. Klas Olfers fährt fort. Denn dürft' ick woll freundlichst gebeten haben!? Er postiert sich, das Käppi in der Hand, an der Flurtür, die Damen folgen, nachdem Hanna das Zimmer mit den Augen durchforscht und ihr Sonnenschirmchen an einen der Stühle gelehnt hat, dem Dienstmädchen, Klas Olfers den Damen, so daß der Raum leer bleibt.
Ein Fischer in blauer Jacke steckt seinen hellblonden, bärtigen Kopf aus dem Laden herein. Es ist Schuckert.
Schuckert. He! – Klas Olfers! – Ick wull gern een Stücker twelf Meter Tau hebben! – He, Klas! Respekt vor der guten Stube, dem gedeckten Frühstückstisch bewirken, daß Schuckert seine Stimme dämpft.
Durch den Hausflur trägt der alte, mächtige, schwarzhaarige Fischer Mathias das Gepäck der Damen vorüber. Klas Olfers kommt ihm die Treppe herab entgegen.
Klas Olfers, im Hausflur. Lat et man lieber unnen stehn, Mathies! 'n Kierl wie du mit dine Transtebel bricht mi sünst noch mine Stiegen dörch! – Komm in de Gaststub', trink'n Glas Beer!
Mathias läßt den Gepäckhaufen liegen, richtet sich auf, nimmt die blaue Schildmütze ab, so daß die Luft an den Scheitel kann, hält sie aber in einiger Entfernung über dem Kopfe fest und streift mit dem Handrücken der Rechten den Schweiß von der Stirn. Dabei pustet er erleichtert. 't makt warm, Klas Olfers! 't makt wedder warm hüt!
Klas Olfers, zu dem Mädchen, das eilig die Treppe herunterkommt. Bring dat Gepäck na baben, Dearn!
Schuckert hat über den Vorgängen im Flur den Zweck seines Kommens vergessen. Erinnert sich nun wieder und ruft. He! – Klas Olfers! Ick wull giern een Enn Tau hebben! – Klas! – Unn twee Meter . . . twee Meter Sägellinwand . . . Als niemand auf ihn hört. Sägellinwand wull ick giern hebben.
Klas Olfers, indem er mit Mathias die Gaststube gegenüber betritt. Na, Mathies, wie is? Wenn kenn wi mal wedder scheunen fetten Oal hebben?
Sie verschwinden im Gastzimmer. Man hört zuweilen von dort den schweren Schritt des Fischers, Klappern von Bierseideln und das undeutliche Geräusch plattdeutscher Unterhaltung. Nun kommt die Treppe herunter und in das Zimmer herein Mäurer, ein Buch und einige Drucksachen in der Hand. Er nimmt am Tisch Platz. Schuckert hat seinen Kopf zurückgezogen. Mäurer entfaltet eine Karte und blickt kopfschüttelnd auf, als das geschäftige, laute Gepolter von Tritten auf der Treppe nicht abreißt. Plötzlich steckt Lucie ihren Kopf zum Fenster herein.
Lucie. Guten Morgen, Herr Mäurer!
Mäurer. Na, endlich jemand. Wo steckt ihr denn? Glaubt ihr, ich kann von der Luft leben?
Lucie. Bist du allein?
Mäurer. Mutter-Hund, sozusagen, eine geschlagene Stunde lang.
Lucie verschwindet vom Fenster, kommt schnellfüßig durch den Hausflur ins Zimmer, schließt die Türe hinter sich, die Tür nach dem Laden ebenfalls, geht wortlos auf Mäurer zu, umhalst ihn, zieht ihn nach rückwärts, so daß der Stuhl kippt, und küßt ihn zu vielen Malen mit frischer, gesunder Leidenschaftlichkeit. Sie ist im fußfreien Leinwandkleidchen vom Baden gekommen, trägt die Wäsche noch unterm Arm und das Haar zum Trocknen offen. Mäurer wehrt sich zunächst nicht, dann zieht er das Mädchen auf seinen Schoß und küßt sie, merklich erwärmt, auf den Mund, wobei er den Duft ihres erfrischten Körpers einzusaugen scheint.
Mäurer. Frische Seejungfer!
Lucie. Gott sei Dank, daß ich dich endlich mal allein habe. Das kommt jetzt gar nicht mehr bei uns vor.
Mäurer. Außer, wenn die Hunde den Mond anbellen! Stillschweigen und erneute Küsse.
Lucie. Ich schlafe hier furchtbar wenig, Ottfried. Es war wieder taghell diese Nacht. Ich habe nach zwölf Uhr noch ohne Kerze gelesen. Sie küßt ihn wieder.
Mäurer, von ihr umhalst. Halt, Lucie, sei nicht so unvorsichtig!
Lucie stutzt und verstummt einen Augenblick, dann lacht sie mit verdoppelter Lustigkeit aus gesunder, übermütiger Kinderseele heraus, toll und hinreißend. Man merkt, daß du heuer noch kein Seewasser geschluckt hast, Ottfried! Sonst würden dir sämtliche Spießbürger der Welt, so wie mir, piepschnuppe sein. Sie gerät wieder in einen neuen gesunden Lachkrampf von innen heraus, dann Olfers nachahmend. »Heute mittag woll wi zur Abwechslung wieder mal Kabeljau essen!« Bis zur Übelkeit Kabeljau! Jau, jau, Kabeljau!
Mäurer. Kriege bloß keinen Lachkrampf, liebe Lucie!
Lucie. Und dann lassen wir uns von Klas Olfers seinem gestickten Käppi eine Bouillon kochen.
Mäurer. In solchen Fällen pflegte meine Schwester früher immer zu mir zu sagen: du ahnst etwas!
Lucie. Die See! Die See! Die See! Die See! Wenn ihr wollt, daß ich wieder lebendig und fuchsfidel munter werde, wenn ich mal sollte gestorben sein, so braucht ihr mich bloß in Seewasser zu tunken! Sie nimmt vor einem kleinen Spiegelchen ihr Haar zusammen.
Mäurer. Sag mal, hast du Schilling gesehen?
Lucie. Schilling treibt's mit dem Baden viel toller als ich. Er schwimmt, bis man ihn aus den Augen verliert; der kann aus dem Wasser erst recht nicht herausfinden.
Mäurer. Ich finde, daß seine Laune zusehends besser wird.
Lucie. Na, ganz gewiß.
Mäurer. Auch sein Betragen ist wieder viel offner und freier; mehr, wie es in alten Zeiten war.
Lucie. Ich finde ihn geradezu ausgelassen. Ich habe ihn so überhaupt nicht gekannt.
Mäurer. Da hast du wohl recht. Das kannst du wohl sagen. In der Zeit, als du ihn zum erstenmal sahst, hatte er schon seinen Klaps weggekriegt.
Schilling erscheint am Fenster.
Schilling, mit blauen Lippen und vor Frost klappernd. Jetzt aber ein Königreich für einen heißen Kaffee, Kinder!
Mäurer. Schilling, ich sage dir, wenn du so wahnsinnig übertreibst, wirst du noch mal so oder so dran glauben müssen: entweder ersaufst du, oder du kriegst einen Schnupfen weg, an dem du dein Lebelang zu niesen hast!
Schilling. Den brauch' ich nicht kriegen, den hab' ich schon.
Lucie. Haben Sie jemals in Ihrem Leben eine solche wasserscheue Unke gesehen?
Schilling. Landratze! Unverbesserliche, feige Landratze! – Er singt.
Am Woasser, am Woasser,
am Woasser bin i z'haus!
Singend und mit den Fingern schnipsend wie ein Schuhplattlertänzer, entfernt er sich vom Fenster. Lucie und Mäurer lachen ununterbrochen, während Schilling singend durch den Flur und ins Zimmer kommt.
Mäurer. Nanu aber Frühstück! Kaffee! Wirtschaft!
Schilling. Klas Olfers! Wirtschaft! Wir demolieren das ganze Haus!
Alle drei trommeln in ausgelassener Lustigkeit auf dem Tisch herum. Klas Olfers kommt mit komischem Entsetzen aus der Gaststube über den Flur herein.
Klas Olfers. Um Gottes willen! Wo fehlt et denn, meine Herrschaften?
Mäurer. Im Magen, Herr Olfers.
Klas Olfers. Dat is immer better als im Kopp.
Schilling. Oder in der Westentasche.
Das Dienstmädchen kommt feuerrot mit einem schwerbeladenen Kaffeebrett.
Klas Olfers. Dearn, bring Kaffee!
Die Magd. Gehn Se man aus'n Weg, Herr Olfers! Olfers drückt sich schnell beiseite.
Lucie. Sehn Sie, Herr Olfers, Ihre Bemühungen um die Wirtschaft werden noch nicht mal anerkannt.
Klas Olfers. Mit de Fruenslüt möt een klogen Mann dat gewehnt sin, Freilein!
Mäurer. Sie haben wohl neue Gäste gekriegt?
Klas Olfers. Twee Fruenslüt von Breege droben per Sägelboot. Se sünd all in Breege up Rügen droben to Boadekur.
Schilling. Jung oder alt?
Klas Olfers. Scheune Matjeshäringe! Ick segg' awer, det et unbedingt müssen ausländ'sche Doamens sin!
Mäurer. Fischmeisters Oye wird Weltbad, Olfers!
Die Magd hat den Tisch geordnet und sich entfernt. Mäurer, Schilling und Lucie fangen sogleich an, lebhaft einzuhauen. Milch und Kaffee werden eingegossen, Eier zerklopft, Brote mit Butter gestrichen, Aufschnitt geschnitten. Formen werden dabei nicht pedantisch gewahrt.
Klas Olfers steht, sieht zu und dreht befriedigt einen Daumen um den andern. Nach einer Weile sagt er. Die See macht App'tit! Na, wenn't man schmeckt!
Mäurer. Vorzüglich! – Sagen Se mal, Herr Olfers, kriegen wir heut mittag Schweinebraten?
Klas Olfers. Joa! Det kann am End wohl lickt angängig sin.
Mäurer. Ich dachte mir's.
Klas Olfers. Worum dachten sich det?
Mäurer. Na, ich denke, das Schwein is heut nacht an Rotlauf drauf gegangen!
Klas Olfers. Tschä! Got, dat ich versichert woar. – Lucie und Schilling platzen heraus. Klas Olfers, dem der Spaß jetzt einleuchtet. I wat? Von düß Swin Swinebroten? Nee, Herrschaften, dat gift et bi Klas Olfers nu und nimmermehr!
Schilling. Wo beziehen Sie denn Ihren Kaffee her?
Klas Olfers. Allet ut Stroalsund.
Schilling. Gibt's denn in Stralsund so große Kornfelder?
Klas Olfers. Ooi, oi, oi! Mine Herrschaften, Si foppt mi! Er läuft mit Zeichen gemütlichen Entsetzens hinaus.
Lucie. Kinder, ärgert den alten Trottel nicht immer so schrecklich!
Schilling. So! Und jetzt kann man sich endlich in aller Ruhe eine Importe für zehn Pfennig ins Gesicht stecken. Er lehnt sich zurück und zieht sein Zigarrenetui.
Mäurer. Du hast aber gar nicht so viel Hunger gehabt!
Schilling. Meistens Durst. – Leichtes Getränk! – Sogar das einfache Lagerbier ist mir zu schwer. – Es muß was sein, wovon man viel trinken kann! – Das grasgrüne sogenannte Trinkwasser hier auf der Insel ist ganz scheußlich! Geradezu eine Kalamität!
Mäurer, sich zurücklehnend. Na, wie denkst du heut über Griechenland?
Schilling. Wie immer! Ein formidabler Gedanke!
Mäurer. Möchtest du nicht mal endlich dorische Säulen sehen, dort, wo sie gewachsen sind?
Schilling. Na ob und wie!
Mäurer. Nu aber mal ernsthaft! Wir müssen darüber mal ernsthaft nachdenken.
Schilling. Darüber denke ich seit meinem sechzehnten Jahre ernsthaft nach.
Mäurer. Aber nicht über meine präzisen Vorschläge.
Lucie. Diese Nacht im Traum bin ich ununterbrochen mit ziemlichen Schwierigkeiten von einer griechischen Insel zur andern voltigiert.
Schilling. Redet mir bloß nicht von Träumen, Kinder! Meine Seele war diese Nacht in dem Aal, den ich gestern abend gegessen habe. Wahrhaftigen Gott! Und ich schrie als der Aal, weil ich schreckliche Angst vor einem ekligen Aalnetze hatte!
Mäurer, lachend. Bleiben wir mal bei der Stange, mein Sohn. Es ist jetzt die Rede von Griechenland. Du weißt, daß ich mir bei einigem guten Willen einreden kann, daß ich hin muß. Und es ist auch mein fester Vorsatz. Nun weiß ich nicht, was du dagegen haben kannst, mit uns mal zum Zwecke einer allgemeinen Aufpolsterung dort unten herumzusteigen?
Schilling, mit verändertem Ton. Mein Junge, ich ziehe mir morgens die Kleider an und finde das manchmal schon zu umständlich. Ich ziehe sie abends wieder aus und habe etwas mehr Spaß daran; damit habe ich mehr als genug zu tun. Was darüber hinausgeht, ist mir zu weitläufig.
Mäurer. Ist das die Wirkung von euren Seebädern?
Schilling. Weiß Gott, wovon das die Wirkung ist! Sieh mal, es gab mal bei mir eine Zeit, da braucht' ich an einem grauen Tag nur in der Ferne, zum Beispiel an einem Berg oder an einem der märkischen Seeufer, irgendeinen von der Sonne beschienenen Fleck zu erblicken, sofort verlegte ich auch ein Stück Eden dahin. Was sollte ich heute in Griechenland? Ich kann in die Dinge nichts mehr hineinlegen. Äh, stellen wir erst die Uhr mal ab. Er steht auf und stellt den Pendel der Wanduhr still.
Mäurer. »Es gab eine Zeit« – was tu' ich damit? Du solltest eine so schwächliche, sentimentale Altweibersommermeditation wahrhaftig anderen überlassen. Und die Uhr wird auch nicht mehr abgestellt! Er springt auf und stößt den Pendel der Uhr wieder an, so daß sie geht. Lucie bricht in Gelächter aus. Taten, mein Junge! Malen! Arbeiten! Was meinst du wohl, wie gesund das ist!
Schilling. Na, nu will ich dir mal was anderes sagen: ich reise seit meinem sechzehnten Jahre jedes Frühjahr und jeden Herbst mittels einer sehr lebhaften Phantasie nach Griechenland. In Wirklichkeit bin ich nie hingekommen; da glaubt man nu mal so recht nicht mehr dran.
Lucie nimmt eine Gitarre vom Sofa und zupft darauf leise Beethovens »Ruinen von Athen«.
Mäurer. Das ist Sache der Berlin-Wien-Triester Eisenbahn und des Österreichischen Lloyd, keine Glaubenssache. Man kauft ein Billet, und dann ist man dort. Und wenn man erst dort ist – in lumpigen vier, fünf Tagen kann man es sein, Schilling –, so sieht man das bißchen Kehricht im Winkel eines Berliner Ateliers ganz anders an. Man sieht's überhaupt nicht mehr, kann ich dir sagen. – Man muß doch mal deutlich mit dir sein.
Schilling, mit lauter, scheinbarer Zustimmung. Na los, Kinder, wolln wir heut mittag abreisen! – Ich rauche noch meinen Glimmstengel aus, und dann fang' ich an, meine Sachen zu packen, und nu red' aber einer noch'n Wort.
Lebhafter Heiterkeitsausbruch von Lucie und Mäurer ob des drolligen Auftrumpfens. Schilling ist aufgestanden und geht heftig paffend im Zimmer umher. Mäurer erhebt sich ebenfalls, hält eine Zigarre in der Hand und versucht mehrmals vergeblich, ein Streichholz anzuzünden.
Mäurer. Weiß der Teufel, ich kann vor Erregung kein Streichholz mehr ankriegen, sooft die Idee, das Land des goldelfenbeinernen Zeus – das Land, in dem beinahe mehr Götter aus Erz und Marmor als Menschen gewesen sind – mal wiederzusehen, mich packt. Die Welt der Barbarenhorden, in der wir leben, ist ja doch nur von grimassenschneidenden Affen erfüllt!
Schilling. Anwesende hoffentlich ausgeschlossen.
Mäurer. Allerdings; denn nach Rasmussen ist es klar, daß die alten Griechen, genau wie wir, langschädlige, blonde Kerle gewesen sind.
Schilling. Ich bitte dich, rede mir bloß nicht von Rasmussen.
Mäurer. Er mag manchmal so lächerlich und so verbohrt wie möglich sein: wenn du ihn mal brauchst, so wirst du ihn finden!
Schilling. Gott sei gedankt, getrommelt und gepfiffen, ich brauche ihn nicht.
Lucie legt die Gitarre weg und springt auf. Kinder, ich werde mich jetzt ein bißchen umziehen und anziehn gehn; dann werde ich einige Kreutzeretüden herunterhaspeln, denn wenn ihr wirklich nach Griechenland reist, so lass' ich mich unten in Athen doch natürlich vor der Königin hören. Sie eilt durch den Flur die Treppe hinauf ab, gleich darauf hört man von oben Geigenspiel.
Schilling. Nee, Hellas und Rasmussen vertragen sich nicht.
Mäurer. Laß ihn, es handelt sich jetzt nicht um Rasmussen. Es handelt sich jetzt um dich und mich. Meine Idee wäre, daß wir vielleicht erst ein bißchen nach Kleinasien gehn, von da nach Athen, dann bleiben wir in Korfu zwei, drei Wochen lang; und im März sind wir unten in Florenz, wo ich ja Gott sei Dank meine Ateliermiete vor kurzem, und zwar noch im letzten Augenblick, für drei Jahre erneuert habe. Dort kannst du auch, von den Uffizien gar nicht zu reden, mal wieder nackte Modelle sehn.
Schilling. Ich möchte dran glauben, wahrhaftig, Ottfried! Beinahe kann ich's, es geht aber nicht! – Sieh mal, mir dreht sich die Galle im Leibe um, wenn ich denke, wieviel ich in den letzten fünf Jahren endgültig und unwiederbringlich verlumpt habe. Es ist zu spät, man holt's nicht mehr ein!
Mäurer. Bis zum siebenunddreißigsten Jahr kommt niemand ohne Blessur durch die Welt. Wir haben alle ein verknotetes Schicksal als Aufgabe, und die Lösung kann immer wieder nichts anderes sein als die Tat.
Schilling. Du stehst breit und fest und kraust dir den Bart. Dir gereicht eben alles zum Guten schließlich, und mir schlägt es zum Miserablen aus.
Mäurer. Nein, ich habe nur immer den Grundsatz gehabt, den ich auch dich zu befolgen bitte und der »Nimm Kraft aus deiner Schwäche« heißt.
Schilling. Ich hab' keinen Pfennig Geld in der Tasche.
Mäurer. Daß du das immer wieder betonst, ist bei einer alten Freundschaft wie unserer lächerlich.
Schilling. Das hab' ich auch schon . . . das klingt sehr verlockend! . . . das hab' ich auch schon von Frauenzimmern gehört. Und dann ist es mir ziemlich übel bekommen.
Mäurer. Frauenzimmer und Freund ist ein ander Ding. Muß ich dich dran erinnern, Schilling, daß ich in alten Zeiten als Hungerleider mal vor deiner Tür um fünfzig Pfennig bitten gewesen bin, um nur mal wieder zu Mittag zu essen?
Schilling. Es hält mich nichts, es hindert mich nichts. Ich bin bereit, und im Augenblick meinethalben, mit dir nach dem Monde zu reisen. Und doch glaub' ich an die Geschichte nicht! – Sieh mal, von meiner »Gattin« Eveline bekam ich noch gestern abend hier diesen Brief. Du weißt vielleicht nicht, daß sie über die neue Wendung der Dinge mit . . . mit Hanna im siebenten Himmel ist. – Ja, ich hatte ihr scherzweise etwas von deinen Absichten angedeutet. Ich hatte das Maul etwas voll genommen, so etwa wie: meine ganze bisherige Tätigkeit wäre eigentlich lauter Vorarbeit und so weiter, und ich hoffte jetzt wirklich mit dem wirklichen Werk mal anzufangen; was man so, um Seiten zu füllen, schreibt. Und da lies mal gefälligst den Dithyrambus! Er wirft Mäurer den Brief hin. Also! Was sollte mich also festhalten? – vorausgesetzt, daß von dem Reisegeld etwas für die Mäuler zu Hause übrigbleibt.
Mäurer. Was willst du mit siebenunddreißig Jahren, mein Junge, denn anders gemacht haben als die Vorarbeit? Der Japaner Hokusai sagt, alles, was er im Alter vor siebzig Jahren gemalt habe, sei nicht der Rede wert. Und du willst im Alter des Schülers verzweifeln.
Schilling. Na, Teufel, da will ich mir noch eine anstecken! – Merkbar erregt, zündet er seine zweite Zigarre an. Weshalb auch nicht? – Na, alsdann! Versuchen wir's eben noch mal. – Schneid hätt' ich eigentlich immer, bloß eigentlich keine Traute nicht. Es ist wahr, ich fühle mich hier etwas anders. Ich fühle mich hier – ich finde wirklich, daß feste Entschlüsse ganz günstig wirken –, ich fühle mich hier sogar aufgefrischt! Ich könnte beinahe glauben – beinahe wieder glauben, es gibt außer dem jammerwürdigen Sackhupfen nach der Krume Brot und ähnlichen kläglichen Amüsements noch einen anderen Zustand in der Welt. Die Erinnerung an . . . an . . . an den Gestank fängt an zu verblassen in . . . in der salzigen Inselluft. Man bildet sich ein . . . ganz ohne Spaß, man bildet sich ein . . . man fragt sich, ob man sich denn tatsächlich in diesen verdammten rückwärtigen Trichter muß hineinziehen lassen? – Warum denn? Nein! Ich glaube das nicht! Ich werde mal ganz entschieden nein sagen! Warum lass' ich nicht alles mal sitzen und liegen und hocken und quetschen und stinken nach Herzenslust? Warum nicht? Denkst du vielleicht, ich kann das nicht? Was denn? Sie saugen sich an wie die Blutegel, sie binden einem Hände und Füße delilahaft, sie gießen einem Blei ins Hirn, sie knebeln einem das Maul mit Gemeinplätzen und pauken einem mit einem täglichen Hagel von faustdicken Dummheiten das letzte bißchen Ehrgefühl aus dem Tempel raus. Sucht mich im Peloponnes, meine Herrschaften! Während seines halb ernsten, halb drolligen Ausbruchs hat Schilling sich erhoben und läuft umher. Gemeinsames Gelächter beider Freunde beschließt die Rede.
Mäurer. Bravo! Man muß sich die Leber mal freipulvern!
Schilling entdeckt plötzlich das Schirmchen der Hanna Elias. Er nimmt es auf und besieht es von allen Seiten.
Schilling immer noch in Betrachtung des Schirmchens vertieft. Sage mal, wem gehört denn das?
Mäurer, das Schirmchen prüfend. Das wird'n Schirmchen von Lucie sein! – Aber nein: die trägt ja nie solche Dinger.
Schilling betrachtet das Schirmchen, blickt dann mit einem fragenden Ausdruck in Maurers Augen, dann wieder auf den Schirm, den er aufspannt. Er untersucht den Griff, liest von einem Silberplättchen »Zum 13. Juni 99«, sieht wiederum Mäurer an, tut wie abwesend einige Schritte langsam und dumm lächelnd auf die Flurtür zu, bleibt stehen, schließt das Schirmchen, sagt halb abwesend, mit dem Ausdruck der Verlegenheit Ganz unbegreiflich!, scheint dann aufzuwachen und geht mit den Worten Entschuldige mich mal einen Augenblick! durch den Flur in das Gastzimmer, um Klas Olfers zu suchen. – Mäurer ergreift einen Spazierstock und stößt dreimal gegen die Zimmerdecke. Sogleich verstummt das Geigenspiel, und Lucie kommt die Treppe heruntergepoltert und ins Zimmer.
Lucie. Ist Schilling hier?
Mäurer. Nein. Was ist denn los?
Lucie. Ich habe in diesem Augenblick oben auf dem engen Gange zwischen den Zimmern eine Dame getroffen, die sah wie Hanna Elias aus!
Mäurer. Hanna Elias? Das ist ja unmöglich. Hast du sie angeredet?
Lucie. Nein. Ich war so verdutzt, ich hätte kein Wort hervorgebracht. Und außerdem war ich auch nicht ganz sicher. Es ist in dem Gange nicht hell genug.
Mäurer. Deshalb wirst du dich auch wahrscheinlich getauscht haben; das heißt –: Schilling hat eben jetzt hier ein kleines grünes Schirmchen entdeckt! – Sollte das Unheil doch in der Luft liegen? – Na, jedenfalls red' ich mit ihr kein Wort.
Lucie hält noch immer die Klinke der Tür, die sie hinter sich zugezogen hat, fest. Fragen wir doch mal Olfers, Ottfried!
Mäurer. Oder hole doch mal das Fremdenbuch! Ich sah vorhin schon den Olfers, der ja doch neugierig wie ein Rotschwanz ist, mit der fettigen Kladde um die Zimmertüren der Fremden herumschleichen. Lucie eilt resolut in das Gastzimmer hinüber und ist sogleich mit dem Fremdenbuch wieder bei ihm.
Lucie hat das Fremdenbuch auf den Tisch gelegt, blättert hastig. Also –: »Frau Hanna Elias«! – Hier steht's.
Mäurer tritt heran, überzeugt sich, daß der Name wirklich dasteht, und Lucie und er blicken einander längere Zeit sprachlos an, dann sagt er. Das ist doch tatsächlich ein – Aas, dieses Frauenzimmer!
Lucie. Pst, Ottfried! Ich glaube, sie kommen schon.
Mäurer. Dann kriech' ich durchs Fenster, liebes Kind. Ich kann diese blutleere Fratze nicht sehen. Diesen lemurischen Wechselbalg. Ich kriege das Grausen vor dieser Larve. Ich fürchte mich, wenn ich nachts unter einem Dache mit diesem Gespenste bin. Ich bin überzeugt, es springt ihr nachts eine weiße Maus oder was Ähnliches aus dem offenen Mund und saugt sich einem im Schlaf an die Pulsader. Adieu: komm nur nach, ich kneife aus! Er steigt, während man die Stimmen von Hanna Elias und Schilling laut auf der Treppe hört, eilig zum Fenster hinaus.
Lucie. Ottfried, Ottfried! Sei doch nicht unsinnig. Sie ist allein und wird von lautlosem Lachen geschüttelt. Nachdem sie ein wenig die Fassung gewonnen hat, horcht sie an der Tür und wischt dann, diese aufstoßend, ebenfalls schnell hinaus. Hanna Elias und Schilling kommen jetzt die Treppe herunter, dieser voran ins Zimmer, sie folgt.
Schilling, dessen Antlitz jäh von einer beängstigenden Blässe befallen ist. Sie sind nicht mehr da. – Sie sind schon fort. – Wahrscheinlich schon an den Strand gegangen. – Wart, ich häng' deine Jacke auf, oder . . . willst du den Hut aufbehalten? – Seine Bewegungen sind unsicher, seine Hände zittern vor Erregung. Er steckt den Kopf durchs Fenster hinaus und ruft. Ottfried! Ottfried! Fräulein Lucie! – Nein! – Nun setz dich, Hanna. Das ist unsere separate Klause hier. Olfers hat sie uns eingeräumt, damit wir nicht immerfort von den Gemeinplätzen der anderen Gäste belästigt werden. So! – Die Tür ist geschlossen, er schließt auch noch das Fenster. Jetzt aber bitte ich dich, kläre mich auf.
Hanna, nur auf dem Rande eines Stuhles sitzend, die Arme ausgestreckt auf dem Tisch ruhen lassend, zerpflückt ein Papier. Du bist nicht sehr froh, daß ich bei dir bin?!
Schilling. Ich bin zunächst mal überrascht, liebe Hanna. Das kann schlechterdings auch nicht anders sein, wie du zugeben wirst. Alles andere ist dabei Nebensache.
Hanna, wie vorher. Ja, das sagst du –: für mich leider noch immer nicht.
Schilling. Hanna, du sollst mich nicht falsch verstehen. Natürlich freu' ich mich, daß du da bist, aber sag mal selbst – erwarten konnt' ich dich doch nach dem, was geschehen ist, nicht; und nun gar auf dieser entlegenen Insel. Er reißt plötzlich wieder das Fenster auf und ruft. Ottfried! – Es war mir, als ob ich seinen Schritt hörte.
Hanna, wie vorher. Das klang ja beinah wie ein Hilferuf!
Schilling. Mich beunruhigt nur, wenn sie nicht Bescheid wissen. Wir pflegen nämlich fast jeden Morgen in die Gegend des Leuchtturms hinaufzugehn oder treffen uns an der Kirchhofsmauer in Kloster, wo man einen umfassenden Ausblick hat. Ich will nur, daß sie nicht auf mich warten.
Hanna. Laß dich nicht stören, Gabriel, wenn du vielleicht eine Verabredung hast.
Schilling, gutmütig aufbrausend. Wie? Was? Du spaßest wahrscheinlich, Hanna.
Hanna, nach längerem Stillschweigen. Ja – um dir nun doch die Aufklärung einigermaßen zu geben, die ich dir vielleicht schuldig bin: wir wohnen zur Kur in Breege auf Insel Rügen drüben. Und zwar war ich letzten Freitag beim Arzt, und er also hat uns dorthin geschickt – und da hörten wir auf dem Schiff ganz zufällig von Ottfried Mäurer, daß er auf Fischmeisters Oye ist. Und da ich schon in Berlin erfuhr, du bist mit Ottfried Mäurer zusammen, so wußt' ich auch deinen Aufenthalt.
Schilling, mißtrauisch. Der Arzt hat dich nach Breege geschickt?
Hanna. Ich hatte wieder drei Tage lang Bluthusten.
Schilling, nervös, als habe er selbst diesen Husten. Menschenskind! Daß du nicht einmal gründlich Wandel schaffst! Es ist ja horrend, was du armes, schwaches Geschöpf mußt durchmachen. Er hat impulsiv ihre Hand ergriffen. Leise macht sie sich los und nestelt ihren Hut vom Kopfe.
Hanna. Und dabei kam ich eigentlich für den Arzt nicht einmal in Betracht. Ich hatte ihm gar nicht von mir gesprochen.
Schilling streicht über das nun freigelegte Haar. Und also von wem?
Hanna. Ach, es betraf nur, du weißt, meinen Kleinsten. Es betraf nur . . .
Schilling. . . . den kleinen Gabriel?
Hanna. Er kann sich noch immer nicht recht grade aufrichten.
Schilling verfinstert sich plötzlich und geht mit düsterem und verbittertem Gesichtsausdruck auf und ab, nachdem er seine Hand von dem Scheitel Hannas genommen hat. Liebe Hanna, ich habe die Welt nicht gemacht. Es tut mir leid: ich bin für die grausige Spaßhaftigkeit des Daseins nicht verantwortlich. Wenn ich könnte, so würd' ich den kleinen, erbärmlichen armen Schlucker von Jungen sofort gesund machen. Es ist mir unmöglich. Ich kann es nicht! – Ich habe Tage und Nächte gehabt . . . es geht nicht! – Hanna, ich kann nicht mehr! – Ich kann nur dem Fatum seinen Lauf lassen.
Hanna. Es ist gut, daß das Fatum ist!
Schilling. Wieso?
Hanna. Man kann auf das Fatum vieles abwälzen.
Schilling schweigt, hält mit beiden Händen seine Schläfen und blickt, von Hanna abgekehrt, verzweifelt gegen die Zimmerdecke; so stehend, sagt er nach einer Weile. Weshalb bist du gekommen, liebe Hanna?
Hanna, wie vorher, ruhig, aber mit bebender Stimme. Weil ich nicht ohne dich sein kann, Lieb.
Schilling, aus gepeinigter Seele, wie unter einem neuen Peitschenschlag. Das ist eine Lüge! Das glaub' ich dir nicht!
Hanna, sehr ruhig, sehr bleich. Wieso ist das eine Lüge, Liebling?
Schilling, nach einigem Stillschweigen, mit scheinbarer Festigkeit. Hanna, dies alles liegt hinter mir. Ich bin so weit . . . ich habe es hinter mich gebracht . . . mit Gottes Hilfe nun überwunden. Ich habe es mit unendlicher Mühe, sag' ich dir, endlich in den gehörigen Abstand von mir gebracht. Es ist nicht anders. Es ist zu Ende!
Hanna. Gut! Sie erhebt sich. Du bist gegen mich eingenommen durch irgendwen. Irgend jemand, den ich nicht fassen kann, hat mich in deine Ohren verleumdet. Gut! Ich werde dir aus dem Wege gehen. Obgleich ich nicht weiß, womit ich gefehlt habe. Aber, Liebling, ich bitte dich, sofern es dir irgend genehm sein sollte: nimm mir den marternden Schmerz der nagenden Grübelei aus der Brust; gewähre mir, wenn es sein kann, die eine letzte Gelegenheit, den Schandfleck von meinem Leibe zu waschen, der ihn in deiner Erinnerung sonst für ewig entstellen wird: Wie habe ich dich belogen, Liebling?
Schilling. Frage, wo du mich nicht belogen hast! Ich gebe ja zu, daß es für eine Frau wie dich, für eine so geniale Frau, nicht immer so absolut leicht ist, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Aber laß das! Erpresse mir diese bittren Bekenntnisse nicht! – Es ist nicht schön, wenn die Leute abrücken; glaube mir, es war kein erhabener Moment, als mir der erste den Rücken kehrte – dann der zweite, der dritte, der vierte Schlaukopf im Künstlerklub. Das ist keine spaßhafte Überraschung, die einem da widerfahren ist! Aber Teufel, was wäre mir schließlich das!? Auch daß ihr beide, dein Herr Gemahl und du, mich in eure östliche Schmutzfinkenwirtschaft eingewickelt habt, in eure kaltblütig vorher abgekartete Trennungskomödie, ist es nicht! Eure Vorurteilslosigkeit ließ das erwarten. Was aber hernach deine wunderbare Liberalität gegen deine Landsleute dir tatsächlich noch möglich machte, das zu berühren fehlt mir der Handschuh auf der Hand.
Hanna. Verleumdung!
Schilling. Richtig! Er zündet die ausgegangene Zigarre wieder an und sagt kalt, mit verändertem Ton. Sag mal, Hanna, wann wirst du abreisen! Ihn überkommt nun plötzlich eine auffallende Gleichgültigkeit. Er läßt sich auf das Sofa fallen, pafft und scheint sich ausschließlich seiner Zigarre zu widmen. Hanna dagegen schreitet nun erregt im Zimmer umher.
Hanna. Dies ist, wie mir scheint, hier ein Gasthaus für jedermann, der die Zeche nicht schuldig bleibt! Ich werde reisen, wann mir's beliebt. Ich werde keinesfalls vor dem morgenden Tage abreisen. Schon deshalb nicht: ich habe eine Freundin aus Rußland mit und kann mich unmöglich lächerlich machen.
Schilling. Warum hast du die Freundin mitgebracht?
Hanna. Warum lebst du denn hier mit deinem Freunde? – Mir liegt nichts an ihr, ich brauche sie nicht. Nun also: Sie hat sich an mich gehangen, sie ist ohne Bekannte in Berlin; – sie ist eine harmlose kleine Person; und ich bin ein Weib, von allen verlassen. Sie steht am Fenster und weint leise.
Schilling, nach längerem Stillschweigen, leise. Ich rate dir, wieder zu deinem Mann zu gehn.
Hanna fährt auf, mit leidenschaftlicher Heftigkeit. Nie! Niemals! Warum sagst du das, Gabriel? Wo du doch weißt, wie bis ins Herz hinein mich das kränkt. Ich habe nichts mehr mit ihm zu tun. Ich werde mit meinem Kind trockenes Brot essen, aber niemals werd' ich auch nur einen Pfennig bei ihm erbitten gehn. Viel lieber selbst nach Odessa zurück und von dort mit dem Kinde im Arm nach Sibirien. Schilling erhebt sich, seufzt tief und geht umher. Ihr quält eine Frau, das vermag nur der Deutsche!
Schilling. Gut, Hanna, nehmen wir das mal an! – Jetzt sei so gut, Hanna, beruhige dich! Ja? Laß deinen bewährten Verstand mal aufleuchten. – Laß mich! Verfolge mich einige Wochen, einige Monate lang nicht! Die Sache ist die: Ich bin nicht mehr ich! Mein ganzes Wesen, meine ganze ursprüngliche Art zu sein, ist durch das Leben mit dir umgebildet; glaube mir, daß ich mir selber entfremdet bin. Ich bin alledem entrückt und entfremdet worden, womit und wozu ich geboren bin und wodurch ich allein existiere und wachse. Das hab' ich verloren, das suche ich nun. Und dazu muß ich allein sein, Hanna. Ich muß mich besinnen, ich muß blindlings fast wieder zum Kinde werden! Erst wieder neu gehen lernen, genau wie ein Kind!
Hanna. Oh, ich weiß wohl; ich kenne die ganze Intrige. Ich kenne den Mann, der ihr Urheber ist. Er hat mich gemieden von Anfang an; schon als du uns das erste Mal vorstelltest, wußte ich gleich, er ist mein Feind. Nun, ich verlange von ihm nicht Gerechtigkeit – aber wenn er behauptet und wenn er sagt, er wolle dein Bestes mehr als ich . . . wenn Ottfried Mäurer das sagen will, Gabriel, so achte ich diese niedrigen Lügen auch nur im allergeringsten nicht!
Schilling preßt ihr Handgelenk, wird von einer anderen Empfindung mehr und mehr überwältigt. Verstehe! Begreife, geliebte Hanna! Ich möchte schreien . . . ich möchte dir klarmachen . . .
Hanna. Und ich wünschte, ich wäre weit fort von hier!
Schilling, in heißer Umarmung. Bleib! Bleib! Verzeih mir, geliebte Hanna!