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Pyrkon steht, wo er im ersten Akt zuletzt gestanden hat.
Pylades mit den zwei Begleitern tritt auf. Die Erscheinung des Pylades überschattet die Begleiter. Sie tragen Schwert und Helm bei sonst reicher Kleidung. Sie schreiten eilig auf Pyrkon zu.
Pylades
Erkennst du mich wohl, Hochehrwürdiger?
Pyrkon
Nein, nicht sogleich im ersten Augenblick.
Pylades
Ich bin – wer bin ich? Womit fang' ich an?
Ich bin des Fürsten von Mykene Freund,
des allerunglückseligsten der Menschen –
Orestens Freund. Er ist nie ohne mich,
wie ich nicht ohne ihn. Und Pylades
hat mich mein Vater zubenannt. Ich bin
des Strophios von Phokis einziger Sohn,
die Schwester Agamemnons nenn' ich Mutter.
Pyrkon
Wer, Fremder, maßest du dir an zu sein:
der tote Pylades – Orestens Freund,
des Toten?
Pylades
Er ist tot, solange noch
in ihm der schwarze Wahnsinn herrscht – doch nur
als Geist: als Mann und Mensch ist er lebendig.
Pyrkon
Ich fasse mich und suche zum Gerücht
zu stempeln, was von Grund aus meinen Sinn
erschüttert hat. Ein wüster Mensch beschwor:
Orest und Pylades – wie jeder weiß,
sein Freund und Schatten – seien beide tot.
Pylades
Wer dies berichtet, o Ehrwürdiger, log!
Pyrkon
Fast scheint es selbst mir so, was dich betrifft;
denn mehr und mehr mein' ich dich zu erkennen.
Kein Zweifel: Du bist wirklich Pylades!
Pylades
Und du bist Pyrkon, jener Weise, der
durch seiner Güte Herzschlag schon allein
beinah Genesung ist den Leidenden
und den Schutzflehenden der sichre Schutz.
Pyrkon
Ein hohes Lob: es zu verdienen sei,
solang ich lebe, meines Wirkens Ziel. –
Doch nun: ich will mich nicht dabei verweilen,
das Rätsel eurer Auferstehung mir
zu klären, sondern dessen mich befleißen,
was dir und mir zunächst am Herzen liegt.
Was bringst du mir?
Pylades
Zwiespältiges! Die Brust,
laut will sie jubeln, doch das Auge weint.
Vollbrachtes, unterm sichren Götterschutz,
von schwerster Bürde hat es uns befreit;
nun aber, da die Last ihn nicht mehr drückt,
brach er, der Träger, unter ihr zusammen. –
Kurz laß mich sein: was uns Pythonios
als letzten Preis der Sühne aufgetragen –
du weißt, von welcher Blutschuld –, ist erfüllt.
»Ich mag den Glauben nicht verlieren«, sprach
Orest, »daß Delphis Helfergott es ernst meint. –
Auch über alle Taten fürchterlich
war ja die meine! – Also lege ich
an Delphis Altar das Gelübde ab:
das Bild der Artemis herbeizuschaffen
aus Tauris oder ohne Wiederkehr
in schwarze Nacht des Wahnsinns zu versinken!«
Und was doch ganz unmöglich schien, gelang.
Laß mich verschweigen, wie unsinnige Mühen
wir hatten, unsre Schiffe auszurüsten,
Schiffsvolk zu werben, einen Steuermann,
gewillt, die Irrfahrt zu versuchen in
den Pontos und nach Tauris: beides ward
erreicht. Und jetzt nun war' es an der Zeit,
von einem Helden zu berichten, der
keinem von denen, die um Troja rangen,
zu weichen braucht: es sei denn dem Achill!
Und dieser Aias, dieser Hektor ist
kein andrer als Orest. – Der Tempel ward
im Sturm genommen und der Göttin Bild
samt ihrer vielberufenen Priesterin
glücklich und schnell auf unser Schiff geraubt.
Wir lichteten die Anker, und wir sind
nach einer ohnegleichen kurzen Fahrt
in Krisas Hafen heute angelangt.
Pyrkon ergriffen
Des Gottes sichtbarliches Wirken hat –
wie meine Ahnung mir bereits verriet –
an euch, ihr Freunde, glorreich sich erfüllt.
Pylades
An »euch«, Hochwürdiger? Nur fehlt Orest!
Und wir, samt unserm Schiffsvolk, sind dabei,
den jählings uns Entschwundenen zu suchen.
Pyrkon
Sei dessen sicher, Fürst, und tröste dich,
der Herr in Argos wird noch heut gefunden –
und mehr: wird der Verfolger ledig sein.
Plyades
Du meinst: der gnadenlosen göttlichen?
Pyrkon
So ist's! Doch sage jetzt mir eines, Fürst
von Phokis: bin ich darin recht belehrt,
daß dir Orest Elektren zugedacht
als Gattin, seine Schwester?
Pylades
Ja, bereits
als Knabe banden mich mit ihr Gelübde.
Dann brach das Fürchterliche auf uns ein.
Pyrkon
Und, wie es heißt: sie, deren Hände zwar
vom Blute rein sind, dünke sich nicht minder
von der Erinnyen blutigem Haß gehetzt.
Pylades
Ehrwürdiger, ich rufe wehe! wehe!
und zehnmal wehe! über dies Geschlecht,
das ganz so zärtlich, wie es grausam ist.
Es streiten zwei Dämonen sich in ihm;
ein ewiger Bruderkrieg mit giftigen Dolchen!
Seit Pelops ruht der Fluch des Hauses nicht.
Pyrkon
Wahrst du Elektren ebendiese Treu'
wie ihrem Bruder?
Pylades
Meines Herzens Kammern
sind ihrer zwei: in einer wohnt Orest,
Elektra in der andren immerdar.
Pyrkon
Nun denn, laß dir berichten: sie ist hier,
doch weniger als der Bruder nicht zerstört
vom schauerlichen Schicksal ihres Hauses.
Ich glaube fast, sie liegt im Pflegehaus,
wohin zwei junge Priester sie geleitet.
Pylades
Was wollte sie? Was tat sie hier?
Pyrkon
Sie legte
auf den Altar ein doppelschneidig Beil,
das scheußliche, das in der Mutter Stirn,
von ihres Bruders Faust geschwungen, eindrang.
Pylades
Bring mich zu ihr!
Pyrkon
Komm mit, es soll geschehn.
Pyrkon geht mit Pylades und seinen Begleitern vor dem Vorhang rechts ab.
Es ist während des vorigen Auftritts schon nach und nach dunkler geworden. Man hat Murren eines fernen Gewitters gehört. Es ist näher gekommen: die Blitze werden heller und folgen in geringeren Abständen, der Donner wird lauter, ein starker Regen fällt ein.
Allerlei Volk sucht Schutz unter dem Pronaos des Tempels: Wallfahrer mit vielerlei Gebresten sowie sühnesuchende Weiber und Männer in verschiedenen Altersstufen dringen schreiend und kreischend ein.
Drei schon greisenhafte Männer haben sich zusammengefunden: erster, zweiter und dritter Greis.
Erster Greis
Es kam urplötzlich, und vergeblich hättest
du eben noch den Himmel abgesucht
nach einem Wölkchen.
Zweiter Greis
Hundertfach erdröhnt
der Donner hier in unsern Felsenklippen.
Mir scheint es, daß die Götter Schweigen uns
gebieten und allein den heiligen Ort
besitzen wollen, etwas zu beginnen,
auch wohl zu enden, dessen Endschaft reif ist:
wenn dies der Fall ist, brauchen sie uns nicht.
Dritter Greis
Oh, schrecklich, wenn die Götter unter sich
allein sind, sich nicht mehr der Kreatur
erinnern, nicht der Tempel noch der Priester!
Dann fegen jählings alles sie hinweg,
der Boden bebt, die Felsentürme wanken
und bröckeln, furchtbar polternd, in den Abgrund –
und Weihgeschenke stürzen ihnen nach
wie nichtiges Geröll.
Erster Greis
Ein Ziegenhirt,
berauscht, kam mir entgegen: nicht von Wein,
sein Seherauge war vom Gott berührt,
denn aus der Spalte unterm Dreifuß quillt
der Dunst heut, alles um sich her betäubend,
so Mensch als Tier. Er schwor: die Todesgöttin,
die Fackelträgerin, die Jägerin,
kurz, eine gnadenlose Hekate
stehe vor Delphis Tor und heische Einlaß.
Zweiter Greis
Schütz uns, Apoll! Nimm aus der Schwester Händen
die Waffen! Ihrer sind ja Legion,
allein du hast die Macht, sie abzustumpfen.
Erster Greis
Nacht rauscht empor aus der kastalischen Schlucht
der Phädriaden: schwarze Wasser ahnen
der Engverwandten gnadenlose Nähe,
der Nächtlich-Schönen, die den Tod regiert.
Wir sind nicht mehr: wir brauchen sie, die Götter,
doch sie nicht uns. Was sie verhängen, sind
grausame Martern, denen sie mit Lust
zuschauen: Martern über Mensch und Tier.
Unauffällig, gleichsam wie zum Volk gehörig, sind Elektra und Theron (Orestes) erschienen.
Elektra
Nimm weg, Mensch, deine widerliche Faust
von meinem Handgelenk!
Theron (Orestes)
Nicht eher, bis
ich ins Gewahrsam dich gebracht des Tempels.
Elektra
Das haben zwei Grünschnäbel schon versucht,
des Phoibos noch nicht flügge Priester.
Theron (Orestes)
Mir,
o Schwester, muß es um so mehr gelingen.
Elektra
Du gabst den Tod mir, Bube, sei verflucht!
Theron (Orestes)
Vom Abgrund hab' ich dich zurückgerissen,
auf hohem Felsen, eh er dich verschlang.
Elektra
So ist's! Du häufst Verbrechen, wie mir scheint:
nichts ist in mir noch lebend, so wie so. –
Allein, fort, fort! Hinweg aus Götternähe,
wo menschliches Gewürm in Furcht und Not
kriechend sich häuft, Rechtlosigkeit in Kot
sich blutig wälzt und das so Niedrige
sich nicht in Niedrigkeit genug zu tun
vermag! Wenn Götter sich der Herrschaft brüsten,
weil Bettlerelend, das vom Aussatz starrt,
Pfennige opfert und Gebete lallt
mit faulem Atem: sind sie darum mehr?
Die Götter sind geworden wie die Menschen
und haben so wie diese sich bekriegt.
Hebt irgendeine Macht sie über uns,
so die, das Böse ungestraft zu tun. –
Sind Götter groß? Sie haben sich in mir
wie kleines Ungeziefer eingenistet,
wovon kein Lorbeer, kein kastalischer Quell
zu reinigen vermag. – Mir scheint, sie haben
von mir gelernt, nicht ich von ihnen, was
den Menschen klein – und groß die Götter macht.
Oh, große Lüge! große Lüge! Bist du nicht
die schwarze Kuh, aus der wir weiße Milch
wie süßes Leben einzutrinken glauben
und die uns doch nur eins: den Wahnsinn bringt?
Theron (Orestes) von ihrer Empörung gleichsam angesteckt
Ja, ja! – Wer bist du, große Seherin,
die um der Hölle Dreifuß gräßlich zwitschert
wie eine Fledermaus? Von neuem Schwester –
und immer wieder Schwester nenn' ich dich!
Es schwelt in uns, ich schwör's, das gleiche Blut.
Er nimmt seine Kappe ab, in der sein Haar verhüllt gewesen ist. Es fällt nun als schneeweißes, dichtes Gelock über seine Schultern.
Orestes starb: nimm mich an seiner Statt.
Mein Haar ist weiß – indessen meine nicht,
daß ich ein Greis sei! Nein, ich bin ein Mann,
wie je nur einer war: an Arm und Lenden
gleich stark! Mein Haar, wie das Orestens, ist
erbleicht zu Schnee, als ich zum erstenmal
der Schlangenhaarigen eine im Gemach
entdeckte, wie sie unbeweglich stand:
verwester und bemalter Stein, nichts mehr.
Was einzig an ihr lebte, rann aus Mund
und Auge ihr, schwarz war's und purpurn: Blut!
Elektra
Weißhaarig starb Orest?
Theron (Orestes)
So weiß wie ich
durch der Erinnys Anblick, die – in Meuten –
nun täglich, stündlich mir Gesellschaft ist.
Elektra
Fremder, was ist's mit deinem weißen Haar?
Es zieht mich an sich: darf ich es berühren?
Theron (Orestes)
So scher es ab! Wie gerne geb' ich's hin,
als Opfer hin, auf unseres Vaters Grab.
Elektra
Wie unauflöslich kann der Wahnsinn doch
verstricken: unsres Vaters, sagst du, wie?
Theron (Orestes)
Nun magst du wissen, daß ich mit Orest
nach Tauris fuhr und nachts mit seiner Flotte
in Krisa landete.
Elektra
Doch ohne ihn?
Theron (Orestes)
Ja, ohne ihn; doch mit dem Götterbild,
des Raub Pythonios von ihm verlangte,
und überdies mit jener Priesterin
der Artemis, auf deren Altar noch
dein Bruder als ihr letztes Opfer starb.
Die Ruhe in der Natur ist zurückgekehrt. Wolken geben die Sonne frei, die nun hell über allem leuchtet. Pyrkon, Proros und Aiakos treten ganz in der Weise auf wie im sechsten Auftritt des ersten Aktes. In einigem Abstand hinter ihnen nimmt Pylades mit seinen Begleitern Aufstellung.
Heilrufe einer Volksmenge nähern sich.
Pyrkon
Ein heilig Jauchzen schallt von ferne her
und nähert sich; bald wird es sich verbreiten
und selig Fels und Klüfte überschwemmen,
wird Berg und Täler klingen machen, wird
die Stadt der Städte, diese Tempelstadt,
beseligen. Man wird Gesang der Neun,
der Ardaliden, laut und lauter hören,
herniederschwebend von Parnassos' Höhn,
im Schmelz, dem nichts, was hart ist, widersteht.
Und dieses Fest – Fest aller Feste! –, das
sich vorbereitet, heißt: Versöhnung! und
aus Himmelsgrund durchdringt es alle Welt:
daß Artemis und Phoibos, lang entzweit,
sich in Geschwisterliebe wieder einen.
Der Wagen, mit zwei Hirschen angeschirrt,
steht golden glänzend am Olymp bereit,
und beide werden wieder ihn besteigen.
Erst aber naht sie sich, voll Schwesterliebe –
die selbst sich ins Barbarenreich verbannt –,
glückseliger Rückkehr in ihr Vaterland.
Sie naht allein mit ihrer Priesterin,
ihr, die, von einem Rätselhauch umweht,
gleichsam das heilige Haus der Göttin selbst,
das wandelnde, bedeutet, drin sie wohnt:
und Artemis, wer glaubt sie nicht zu sehn,
der sie erblickt? – Noch sei euch dies vertraut:
Der Götterbote, dessen Phoibos sich
diesmal bediente, die Versöhnte heim-
zuführen, war nicht Hermes, sondern war
ein Sterblicher, ein Held aus hohem Stamm,
der dadurch sich nicht nur von dem Gelübde
gelöst, das er getan, nein, der vielmehr
mit unvergänglich hohem Ruhme sich
gekrönt! Und wißt: es haben ihn die Zwölf,
nach Götterlaune, heut zu ihrem Liebling
erkoren und zum Mittelpunkt der Festlust
ernannt, als Stifter himmlischer Vermählung;
und drum hat heut sich der Parnaß bewegt,
aus seinen Gipfeln rasen die Thyiaden,
Apoll zu ehren und Dionysos
und dieses Pelopiden heilige Tat.
Des Berges Hirten tanzen, Flöte spielend,
des Marsyas Weisen aber neigt sein Ohr
sogar der Musengott heut willig. Ja,
heut quillt die Freude überall, sie gluckst
in jedem Bache, rauscht in allen Hainen
der Himmlischen, in Blum' und Grashalm springt
sie auf, weil Bromios mit dem Thyrsosstab
wider die Erde stößt und sie erweckt. –
Doch nun gebiet' ich Ruhe, heilige,
ehrfürchtige Stille: denn die Göttin naht!
Eine Prozession bewegt sich von links in den Tempelhof. Junge Priesterinnen, wie Nonnen dunkel gekleidet, schreiten voran.
Von ebensolchen Priesterinnen getragen, erscheint eine Bahre, auf der das alte Holzbild der Artemis steht.
Dieser Bahre folgt, in Purpur gekleidet, die hoheitsvolle Gestalt der Oberpriesterin. Sie überragt die andern an Größe und bewahrt ein unbewegliches archaisches Lächeln.
Der Zug ist bis in die Mitte des Raumes gelangt, und die Stille hat einen beinahe bänglichen Grad erreicht, als plötzlich ein Schrei die Luft zerreißt.
Elektra die den Schrei ausgestoßen hat
Was sagst du, Unglückseliger: sie ist
die Mörderin, die meinen Bruder totschlug?
Theron (Orestes)
Und Griechen abgeschlachtet ohne Zahl!
Elektra stellt sich, das Doppelbeil in der Faust, drohend vor die Oberpriesterin
Fluchwürdige, steh still und sieh mich an!
Du, die vom Blute meines Bruders trieft:
steh still und sieh mich an! Wo ist Orest?
Gib ihn mir wieder! Grab ihn aus der Erde!
Hol ihn vom finstren Hades mir herauf,
reiß ihn dem Höllenhunde aus dem Rachen –
und von den Meuten der Erinnyen,
den zähnefletschend bellenden, sei selbst
umstellt und durch die Ewigkeit gehetzt!
Kein Tod erblühe dir, verruchtes Weib,
so wenig wie er mir noch jemals blüht;
denn ich, ich war's, die ihn zum Muttermord
rastlos gepeitscht und so an seinem Tod
gleichschuldig ward: so fall' ich nun
zugleich mit dir und trete Hand in Hand
mit dir vor Hades' Thron und gebe kreischend
uns hin der blauen, knochennagenden
Persephoneia. Deine Schuld, Apoll,
und deine, Artemis, wir nehmen sie
auf uns! Als du den Tod der Mutter
verlangtest, Loxias, warst du ein Gott –
und Götter morden heiter, ungestraft.
Wer darf sie Mörder nennen? Mörder du,
Apoll! Dich heiß' ich Mörder meiner Mutter.
Und rein und schuldlos starb mein Bruder drum.
Dies Beil, das meiner Mutter Leben trank:
an dir, verruchtes Werkzeug, räche es –
mit Iphigeniens dereinst zugleich –
Orestens schuldlos-blutigen Opfertod.
Pylades ist herangesprungen, hat Elektra das Beil entwunden und fortgeschleudert und faßt nun mit beiden Händen ihre Handgelenke.
Pylades
Erwache jetzt, Elektra! Weiter treibe
des Traumes wüste Blindheit dich nun nicht!
Entsetzt verflüchtigt sich die Menge, die
dein Tun und deine Worte nicht begreift.
Knie nieder, nimm zurück, was deinem Gram
und deinem wirr gewordnen Sinn entfloh!
Wach auf! Langmütig sind die Himmlischen.
Elektra
Gönn einen Augenblick Besinnung mir,
denn was ich höre und zu sehen meine
in diesem Augenblick, kann ein Erwachen
nicht sein, o Pylades, nur neuer Traum.
Schon, daß ich Pylades gesagt: wie käme
so süßer Klang so süßen Namens je
in mein Gemüt zurück und er, er selbst –
ein übergöttlich Bild – vor meine Augen?
Pylades
Und doch, begreife, ich bin Pylades,
bin wirklich Pylades! bin es wahrhaftig!
Elektra
Wie einfach wird die Welt, wie schlicht und still
auf einmal! Wenn wir zwei zusammen sind,
gehören Erd' und Himmel uns allein.
Pylades
Es war einmal. Doch jetzt gehören wir,
ja unterstehen wir den hohen Mächten
der Gottesstadt, die – über Hellas weit
hinaus – die Welt erleuchtet und beherrscht.
Füg dich dem Augenblick, füg dich dem Wunder!
Elektra
Du einzig bist das Wunder, Pylades!
Und in dies Wunder fügt sich alles ein,
wie mit Genesungsbalsam mich durchdringend.
Stoß mich nicht von dir, o Geliebter, laß
an deiner Brust mich endlich einmal ausruhn
und weinen, weinen, weinen!
Sie hat ihre Arme um seinen Hals gelegt und bricht in Schluchzen aus. Dann macht sie sich sanft los und fährt fort
Linder nun
wird jeder Schmerz. Allein, jetzt sage mir,
du, den ich einstens von mir ziehen ließ
nur um Orestens, meines Bruders, willen,
damit du ihm als Freund und Helfer stets
zur Seite seist, nicht bloß vor tückischen
Bluträchern ihn bewahrend, sondern mehr
noch vor sich selbst! – So sage mir: wie kam
das fürchterliche Ende über ihn?
Ihr wäret eins in jeglicher Gefahr,
nie dacht' ich anders als: sie sind ein Leben!
Für sie bereitet ist im Rat der Keren
ein und derselbe Tod. Ich irrte mich:
denn du bist hier und lebst, er aber fehlt.
Oh, Pylades! Oh, wehe uns! Getilgt
ist Agamemnons Stamm nun von der Erde.
Pylades
Du irrst, Elektra, und dein Bruder lebt!
Auch du erwache nun, Orest, und tritt
aus deines Grames fürchterlicher Nacht
heraus ins reine Tageslicht der Gottheit!
Orestes mit erstaunlicher Gelassenheit
Ich bin erwacht, und was um mich geschieht,
wird in der schlichten Form mir wiederum
erkennbar, wie gesunder Sinne Kraft
dem Sterblichen sie schenkt.
Elektra
Wer bist du, sprich?
Orestes
Befreit von Krankheit durch den Arzt Apoll,
nenn' ich Orest mich und Elektra dich!
Elektra sinkt bewußtlos um. Pylades und Orestes lassen sie sanft zur Erde gleiten.
Oberpriesterin
Welch einen Fluch sprach diese Fremde aus,
und wem wohl galt er, o hochheiliger Mann?
Die Göttin, der ich diene, trennte mich
nach ihrer strengen Satzung von den Freuden
der Welt. Blut, wie es in mir fließt,
ist mehr verwandt mit des Olympos Schnee
als mit des Göttervaters Himmelsfeuer.
Ihr irrt nicht, nennet ihr mich tagesfremd.
Der Purpur, den ich trage, gelte niemand –
so glutvoll er auch äußerlich erscheint –
als Merkmal etwa, daß ich Irrtum rede.
Er spricht und deutet hin auf jedes Blut,
das abwärts frei zum Hades sich ergießt
und Opferspeise auf dem Herd zurückläßt.
Mir ist nicht unvertraut, was ich erfuhr
in diesem Augenblick: die Gnadenlose –
so nenn' ich Hekate – hat mich geschult.
Kalt bleibt ihr Götterblick, ihr Mund bleibt stumm,
ob ihre Opfer schreiend sie verfluchen.
In Wahrheit ist bei euch mir alles fremd.
Doch etwas legt sich warm hier um mich, so,
als wollt' es etwas in der Brust mir tauen:
auch regt sich's in mir wieder wie ein Herz. –
Geduld! Ich fürchte fast, ich rede irr.
Man sagt mir, und ich weiß es, Hekate
bereitet, enger mit Apoll vereint,
sich nun in Hellas einen neuen Dienst.
Nach ihrer Wandlung fürcht' ich, sie bedarf
nun auch wohl einer neuen Priesterin.
Auch dieser Blitz, der vor mir niederging,
war furchtbar von den Unterirdischen
geschleudert, schoß vom Abgrund schwarz zurück.
Bleibt ruhig, Tote, in des Hades Nacht,
ihr seid es, ihr nur, denen ich gehöre!
Orestes tritt langsam vor die Priesterin.
Orestes
Erinnerst du dich meiner?
Oberpriesterin
Ja, du bist
Führer der Griechenschiffe, deren Männer
das Bild der Göttin raubten.
Orestes
Weißt du noch,
daß du mit deinem starren Blick mir sagtest:
»Ich kenne dich«?
Oberpriesterin
Ich tat's – und leugn' es nicht.
Orestes
Ich hob mein Schwert, um blutig dich zu strafen
für blutiges Wüten gegen Hellas, und
ohnmächtig ward mein Arm bei deinem Wort.
Die Reinigung ist nah, bald wird die Schmach
von mir gespült.
Pyrkon
Dein Glaube schon beweist
die Wahrheit deines Worts.
Orestes
Nun, Priesterin,
ich bitte dich, steh weiter Red' und Antwort:
unmöglich doch, daß Agamemnons Name,
des Göttergleichen, bis zu dir nicht drang.
Oberpriesterin
Mich kommt ein Grausen an bei diesem Namen,
trotzdem ich ihn zu Tauris nie gehört.
Orestes
Der Heros hatte Ähnlichkeit mit dir,
nur daß du zahllos Griechen hingeopfert
und er – derselben schlimmen Artemis –
ein einzig Weib nur: seine eigene Tochter.
Oberpriesterin
Was hier sich um mich, was sich an mich nestelt,
ohnmächtig stirbt es an dem Priesterkleid,
das mich umgibt. Ward eine Jungfrau einst
der Göttin auf dem Altar dargebracht,
nun, so geschah es auch dereinst mit mir.
Ich will und mag nicht wissen, wie's geschah.
Genug: ich starb ins Göttliche hinein
und mag im Sterblichen nicht wieder leben.
Orestes
O du Unnahbare, was treibt mich doch,
in das geheimnisschwangre Reich zu dringen,
darin du lebst? Nur du allein vermagst
sein undurchdringlich Dunkel aufzulichten.
Dein Auge sagt's, daß dir, du Seherin,
nichts dunkel sein kann. So erbarm dich, sprich:
drang auch der Name Iphigenie
nie bis zu dir nach Tauris?
Oberpriesterin zieht einen langen Nonnenschleier über ihr Gesicht.
Pyrkon
Fürst Orest,
laß ab! Ob eine dunkle Wolke auch
für Augenblicke unser Fest verdüstert,
sie macht nur strahlender des Gottes Licht.
Zum Holzbild gewendet
Du aber, Göttin, die du uns besuchst,
kehr ein ins Allerheiligste des Bruders,
Willkommene, samt deiner Priesterin!
Und nun entfeßle Bromios die Lust!
Unter immer anschwellender Harfenmusik bewegt sich die Prozession mit dem Holzbild und der Priesterin die Treppe empor durch den Pronaos. Der Vorhang geht auseinander und zeigt das Allerheiligste, in das der Zug eintritt. Vor dem goldenen Dreifuß erwartet ihn eine Gruppe prunkvoll gekleideter Priester.
Hierauf schließt sich der Purpurvorhang.
Die beiden Begleiter des Pylades sind auf den Stufen, das Gesicht nach dem Allerheiligsten und dem Vorhang gewendet, niedergekniet.