Gerhart Hauptmann
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Gerhart Hauptmann

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Und jetzt plötzlich schien Friedrich die Welt verrückt geworden. Der engere Hafen, von babylonischen Wolkenkratzern umgeben, mit seinen zahllosen, damals noch höchst grotesken, riesig getürmten Fährbooten, kam heran, ein Anblick, dessen ungeheure Phantastik vielleicht lächerlich sein würde, wenn sie nicht wahrhaft gigantisch wäre. In diesem Krater des Lebens bellt, heult, kreischt, brummt, donnert, rauscht, summt und wimmelt die Zivilisation. Hier ist eine Termitensiedlung, deren Tätigkeit verblüffend, verwirrend und betäubend ist. Es schien unbegreiflich, daß in diesem unentwirrbaren, tosenden Chaos eine Minute ohne Zusammenstoß, ohne Einsturz, ohne Mord und Totschlag vorübergehen konnte. Wie war es möglich, in diesem Kreischen, Hämmern, Schmettern auf Metallplatten und sonstigen tollen Wirrwarr ruhig eigenen Zielen, eigenen Geschäften erfolgreich nachzugehn?

Die unfreiwilligen Passagiere der »Hamburg« waren in diesen letzten Minuten ihres Zusammenseins ein Herz und eine Seele geworden. Friedrich hatte bei der Schiffskatastrophe seine Barschaft nicht eingebüßt und Ingigerd Hahlström bewogen, während der ersten Tage an Land seine Dienste nicht von der Hand zu weisen. Alle verabredeten außerdem, sie wollten sich in New York nicht aus den Augen lassen. Es ist natürlich, daß das Abschiednehmen mit vielen Wünschen und wirklicher Rührung schon seit einer Stunde und länger, bevor die »Hamburg« festmachte, lebhaft im Gange war.

Dabei übte der dithyrambische Lärm der mächtigen Stadt, mit ihren Millionen arbeitender Menschen, eine Wirkung aus, die erneute und umbildete. Es war wie ein Strudel des Lebens, in den man widerstandslos hineinmußte. Er duldete keine Grübelei und kein Vertiefen in Vergangenes. Alles darin rief und drängte vorwärts. Hier war Gegenwart, nichts als Gegenwart. Artur Stoß schien mit einem Fuß bereits auf der Bühne von Webster und Forster zu stehen. Es wurde viel über Ingigerds Auftreten hin und her geredet. Sie und Stoß waren von dem gleichen Tage an engagiert, und dieser Termin war bereits überschritten. Ingigerd sagte, sie könne unmöglich tanzen, mit der Unsicherheit über den Verbleib ihres Vaters in der Brust. Dagegen erklärte Artur Stoß, er werde, wenn er zurechtkäme, noch heut abend auf der Bühne seine Nummer erledigen. »Ich habe«, sagte er, »bereits zwei Abende mit rund fünfhundert Dollar pro Abend eingebüßt. Übrigens: ich muß arbeiten! ich muß unter Menschen!« Und um Ingigerd zu ihrem Vorteile zu beraten, führte er Beispiele solcher Leute an, die sich selbst in den schwersten Augenblicken von der Ausübung ihres Berufs nicht hatten zurückhalten lassen: irgendein Gelehrter hielt seine Vorlesung, während seine Frau im Sterben lag. Ein Bajazzo, dem die Frau durchgegangen war, trat auf, um dennoch, wenn auch mit blutendem Herzen, Späße zu machen. »Das ist unser Beruf«, sagte Stoß. »Und übrigens nicht allein unser Beruf, sondern jedermanns Beruf, gleichviel ob mit Lust oder Unlust, mit Qual oder Glück im Innern, seine Pflicht zu tun. Jeder Mensch ist ein tragikomischer Gaukler, obgleich er vielleicht nicht so wie wir dafür gelten muß. Ich sehe einen Triumph darin«, fuhr er fort, »nach dem, was ich durchgemacht habe, heut abend unter den Blicken von dreitausend sensationslüsternen Zuschauern ohne Zittern das Herz aus dem As zu schießen.« Und der Artist kam mehr und mehr, aber nicht unsympathisch und ebensowenig ohne Geist, in ein lebhaftes Renommieren hinein. »Wenn Sie nichts Besseres wissen, meine Herren«, wandte er sich an die beiden Ärzte, »so kommen Sie vielleicht heut abend in Websters und Forsters Varieté und sehen mich meine Sprünge machen. Arbeit! Arbeit!« Die Worte galten jetzt Ingigerd. »Ich wünschte sehr, Sie entschlössen sich! Arbeit ist Medizin! Arbeit ist alles! Dem Geschehenen nachtrauern hilft zu nichts. Und außerdem«, sagte er plötzlich ernst werdend, »vergessen Sie nicht, daß unsere Aktien augenblicklich in eine tolle Hausse geraten sind! Artisten dürfen so etwas nicht ausschlagen. Passen Sie auf, wie wir, wenn wir nur den ersten Fuß an Land setzen, von Reportern umlagert sind!«

»Wieso?« fragte Friedrich. Und Stoß fuhr fort: »Glauben Sie etwa, daß wir nicht längst mit allen Einzelheiten der ›Roland‹-Katastrophe von der Quarantänestation aus nach New York signalisiert worden sind? Sehen Sie mal diese riesigen Wolkenkratzer an, den mit der Glaskuppel, und so weiter: das ist die ›Sun‹, die ›World‹, die New-Yorker ›Staatszeitung‹. Da werden wir jetzt bereits mit Schnellpressen gedruckt und in Millionen von Zeitungsexemplaren breitgetreten. Es gibt die nächsten vier, fünf Tage keinen Mann und keine Frau in New York, die sich an Berühmtheit mit den Geretteten vom ›Roland‹ werden messen können.«

Unter solchen und ähnlichen Aussprachen hatte sich die »Hamburg« an den Pier gelegt, und der Abschied begann nun Ernst zu werden. Da war es tatsächlich höchst wunderlich zu bemerken, welche Bewegung diese einander im Grunde doch fremden Menschen ergriff. Frau Liebling weinte, und Friedrich wie Doktor Wilhelm mußten sich ihre Dankesküsse gefallen lassen. Rosa küßte Bulke und dann unter wirklichem Heulen immer wieder Doktor Wilhelm und Friedrich die Hand. Es versteht sich von selbst, daß auch zwischen den Damen Zärtlichkeiten gewechselt wurden. Der Matrose und Krankenpfleger Flitte wurde belobt, Kapitän Butor und Maschinist Wendler, wie überhaupt die Mannschaft der »Hamburg«, als Biedermänner und Retter gepriesen. Die Matrosen vom »Roland« wurden von den Ärzten und Stoß als »unsere Helden!« tituliert. Ein Wiedersehen wurde verabredet, und Kapitän Butor und Maschinist Wendler sowie der rüplige Maler Fleischmann für übermorgen mittag von Doktor Wilhelm in die Hofmann-Bar bestellt, von dort aus wollte man dann gemeinsam bummeln.

Der arme Maler Fleischmann war angesichts dieser tobsüchtigen Stadt etwas verwirrt und kleinlaut geworden. Er verstand kein Englisch, seine Barschaft war klein, sein Bilderkapital war verlorengegangen. Er versuchte sich auf die beste Manier an seine Schicksalsgenossen anzuklammern. Man kam überein – selbst der armlose Stoß gab gute Ratschläge –, sich für den Künstler zu interessieren. »Sollten Sie Schwierigkeiten bei der Agentur finden«, erklärte ihm Stoß, »so führe ich Sie bei meinem Freunde, dem Chef der New-Yorker ›Staatszeitung‹, ein.«

 

Wenige Augenblicke später spürte Friedrich mit einer Art Schwindel den festen Steingrund des Piers unter sich. Ingigerd hing an seinem Arm, Cheers wurden ausgebracht, Hooray geschrien, und eine brüllende, schreiende, ja tobende Menschenmenge umdrängte ihn. Plötzlich schob sich ein kleiner Japaner vor, der mehrmals hastig die Worte sagte: »How do you do, Herr Doktor? Kennen Sie mich?« Friedrich sann nach. Er wußte im Augenblick kaum, wer er selber war, während ihm brüllende Hochs dicht in die Ohren gedonnert und die Hände von allen Seiten geschüttelt wurden. Freundliche Fäuste fuchtelten hinter ihm, über ihm und dicht vor seiner Nase herum. »Sie kennen mich nicht, Herr Doktor?« wiederholte grinsend der Japaner. – »Ja, zum Donnerwetter«, rief Friedrich jetzt, »Sie sind ja doch Willy Snyders, mein alter Schüler!? Willy! wie kommen denn Sie hierher?« – Friedrich hatte in Breslau studiert und, da er nicht reich war, seinen Wechsel durch eine sehr gut bezahlte Privatstunde aufgebessert, die ein dortiger Industrieller seinem desperaten Sohn geben ließ. Friedrich hatte dann in dem Früchtchen einen ebenso amüsanten als braven Schlingel gefunden, der ihm bald mit Leib und Seele ergeben war. Diesen Schlingel, zum jungen Manne herangereift, erkannte er jetzt in dem lustigen Japaner.

»Wie ich hierherkomme? Herr Doktor, das erkläre ich Ihnen nachher«, sagte, mit vor Freude des Wiedersehens weitgeöffneten Nasenlöchern, Willy Snyders. »Jetzt möchte ich Sie nur fragen, ob Sie Quartier haben und ob ich Sie auf Schleichwegen um die verfluchte Reporterbande, frei nach Cooper, herumbringen soll. Oder wünschen Sie interviewt zu werden?« – »Um keinen Preis der Welt, Willy«, sagte Friedrich. – »Dann muß ich schon bitten«, schrie Willy, »bleiben Sie mir an den Fersen. Ich habe für alle Fälle ein Cab engagiert, und wir fahren sofort zu unseren Leuten!« Friedrich stellte Ingigerd vor und fuhr dann fort: »Ich habe Pflichten! Ich muß erst diese verehrte junge Dame in einem guten Hotel in Sicherheit bringen. Und übrigens kann ich sie auch dann überhaupt nicht allein lassen.« Willy Snyders begriff sofort. Das änderte seinen Vorschlag nicht, er erneute ihn jetzt noch dringlicher. »Nämlich«, sagte er, »die junge Dame wohnt in unserem Privathaus bei weitem angenehmer und sicherer. Die einzige Frage ist, ob sie italienische Küche verträgt.« – »Lieber Willy«, antwortete Friedrich, der Ingigerds Bereitwilligkeit erkannt hatte, »in Ihren Makkaroni sehe ich keine Schwierigkeit, also will ich, wie Sie vor Jahren meiner Leitung, mich zur Abwechslung heute mal Ihrer bewährten Leitung anvertrauen.« – »Allright, also vorwärts!« gab Willy zurück, und man sah ihm die Freude darüber an, daß er einen so guten Fang getan hatte. Sie sahen noch, wie Stoß einem Kreis von Reportern mit den Mundbewegungen eines Zahnbrechers Vortrag hielt, und wollten eben nach einem fluchtartigen Lauf durch die Menge das Cab besteigen, als ein atemlos keuchender Herr mit einem »Entschuldigen Sie, habe ich wohl die Ehre?« vor Ingigerd Hahlström stand. »Ich bin von Webster und Forster entsendet«, sagte der trotz des windigen Tages stark schwitzende ältere Mann, indem er den Hut in der Hand mit dem Taschentuch auswischte. »Ich bin beauftragt, ich bin beauftragt! Ich bin mit einem Wagen hier! Ich habe einen Wagen hier . . .« Er schwieg, zu erschöpft, um weiterzusprechen.

Friedrich sagte: »Die Dame kann heute unmöglich auftreten!« – »Oh, keineswegs, die Dame sieht doch sehr wohl aus, mein Herr!« – »Erlauben Sie mal!« Friedrich wollte grob werden. Der Agent von Webster und Forster hatte seinen Hut auf die Glatze gesetzt: »Es wäre ein unerhörter Fehler, ein nicht gutzumachender großer Fehler, wenn die Dame nicht auftreten wollte. Ich bin beauftragt, der Dame mit Geld und allem Nötigen zur Verfügung zu stehn. Dort ist mein Wagen. Im Astor-Hotel sind Zimmer bestellt.« Friedrich wurde heftig: »Ich bin Arzt, und ich sage Ihnen als Arzt, daß die Dame heute und in den nächsten Tagen nicht auftreten kann!« – »Werden Sie der Dame die Gage ersetzen?« – »Was ich in dieser Beziehung tun werde, ist weder Websters und Forsters noch Ihre Sache!« Mit diesen Worten glaubte Friedrich befreit zu sein.

Aber der Agent wurde anzüglich: »Wer sind Sie, mein Herr? Ich habe ausschließlich mit dieser Dame zu tun! Sie sind nicht berechtigt, sich einzumischen.« Ingigerd meinte, sie glaube, sie könne nicht auftreten. »Das gibt sich sofort, wenn Sie auf der Bühne sind. Die Frau meines Chefs hat mir übrigens einen Brief an Sie mitgegeben; ihr Mädchen ist im Hotel und hat alles Nötige mitgebracht. Sie steht in allem zu Ihrer Verfügung.«

»Unsere Petronilla ist auch eine ganz famose Person«, rief Willy Snyders dazwischen. »Wenn Sie ihr sagen, was Sie brauchen, gnädiges Fräulein, so ist es in fünf Minuten herbeigeschafft!« Und er beförderte Ingigerd mit der Dringlichkeit eines Mädchenräubers in die Kalesche. »Dann«, sagte der Abgesandte von Webster und Forster mit Willenskraft, »mache ich Sie auf die Folge eines Kontraktbruches aufmerksam und muß Sie absolut dringend um Ihre Adresse bitten!« – »Hundertundsiebente Straße, Numero soundsoviel!« rief Willy dem mit dem Notizbuch bewaffneten Fremden zu, worauf er, Ingigerd und Friedrich im Cab davonrollten.

Das Cab mit seinen Insassen wurde mit anderen Cabs und Lastwagen auf dem üblichen Ferry Boat von Hoboken nach New York übergesetzt. Ein Zeitungsjunge reichte ein Exemplar der »Sun« in den Wagen, das bereits ausführliche Schilderungen vom Untergang des »Roland« enthielt.

Der Verkehr mit Fährbooten, Schleppern und Dampfern aller Art war riesenhaft. Die Fährboote glichen plumpen schwimmenden Riesenkäfern, die schwarz von Menschen waren und über die eine Art Pumpwerk oben hinausragte. Es gab ein Donnern, als das Boot an den Molen lag und alle Gefährte, Cabs und Lastwagen sich beinahe auf einmal in Bewegung setzten, von trappelndem Menschengewimmel eskortiert.

Diese Stadt, dachte Friedrich, ist von einem Wahnwitz der Erwerbsgier gepackt. Wo er hinblickte, drohten ihm Riesenplakate: riesige Buchstaben, riesige bunte Abbildungen, riesige modellierte Hände, Fäuste, Gesichter, die auf etwas hinwiesen. Es war ein schreiender, gieriger Konkurrenzkampf, der überall mit allen erdenklichen Mitteln sich austobte, eine wilde und schamlose Katzbalgerei des Erwerbes, und seltsamerweise im ganzen gerade dadurch einer gewissen Größe nicht ermangelnd. Hier war keine Heuchelei, dies war scheußliche Redlichkeit.

An einer Telegraphenoffice wurde haltgemacht. Kabeldepeschen an Ingigerds Mutter und Friedrichs Vater wurden aufgegeben. Friedrichs Nachricht lautete: »Ich bin gerettet, gesund und wohlauf«, Ingigerds: »Ich bin gerettet, Papas Schicksal unbestimmt.« Während sie diese Worte aufsetzte, hatte Friedrich Gelegenheit, Willy Snyders davon zu unterrichten, daß Ingigerd durch die Schiffskatastrophe wahrscheinlich zur vaterlosen Waise geworden war.

Das Cab mit den drei Insassen fuhr weiter, den Broadway hinab, jene meilenlange Hauptstraße von New York, in der sich zwei scheinbar ununterbrochene Ketten von Tramwaywagen aneinander vorbeischoben. Sie wurden damals von einem Drahtseil bewegt, das in einer unterirdischen Rinne lief. Überall war der Verkehr gewaltig. Um so sonderbarer berührte Friedrich und Ingigerd die Stille, die sie umgab, als der Wagen in eine Seitengasse gebogen war und sein Ziel erreicht hatte. Er hielt vor einem niedrigen Einfamilienhaus, von den übrigen Bauten der Straße durch nichts unterschieden. Höchstens Arbeiterkolonien zeigten in Deutschland die gleiche architektonische Monotonie, die hier ein vornehmes Viertel beherrschte. Aber das Innere der neuen Herberge glänzte von Sauberkeit und Behaglichkeit.

Dämmerung war hereingebrochen, als die Reisenden endlich hinter den Türen ihrer Zimmer zur Ruhe gelangten. Petronilla, eine alte italienische Wirtschafterin, hatte Ingigerd in Empfang genommen und sorgte für sie mit Eifer, ja Zärtlichkeit.

 

Friedrich wusch sich und stieg, von Willy Snyders geleitet, in das Souterrain, wo das Dinner stattfinden sollte. Der Boden des Speiseraums war mit Fliesen belegt und die Wände mit sauberen Bastmatten bekleidet. Wo sie endeten, lief ein Gesims an den Wänden herum, auf welchem strohgeflochtene Fiaschi gereiht standen. Der Tisch war für acht Personen gedeckt, und das Weißzeug war peinlich sauber.

Über Charakter und Zweck des ganzen behaglichen Heims war Friedrich von Willy Snyders belehrt worden. Mieter des Hauses war ein deutscher Künstlerkreis, der in einem Bildhauer namens Ritter seine Hauptstütze besaß. Er wurde als großes Talent gepriesen. Zu seinen Mäzenen und Kunden gehörten die Astor, die Gould, die Vanderbilt. Willy nannte Ritter »ein feines Aas« und rühmte das »Smarte« in seinem Charakter.

In einer Ecke des Speiseraums waren Abgüsse seiner Arbeiten aufgestellt, die Willy über den grünen Klee lobte.

Außer Ritter nahm ein anderer Bildhauer an den Segnungen dieses Klubhauses teil. Er hieß Lobkowitz und war, wie Ritter, geborener Österreicher. Der Vierte im Bunde war ein Schlesier, ein vollkommen mittelloser Maler und Sonderling, dessen Talent jedoch hier aufs höchste bewundert wurde. Der brave Willy hatte den Landsmann aus einem Elendsquartier New Yorks, nicht ohne Mühe, hierhergebracht.

»Passen Sie auf«, sagte Willy, mit dem ihm eigenen Ton, worin die gutturalen und nasalen Laute des amerikanischen Englisch mit dem österreichischen Dialekt seiner Freunde eine Verbindung eingegangen waren, »passen Sie auf, wie dieser verrückte Hund, der Franck, sich benehmen wird. Der Kerle beißt um sich herum, der Kerle ist zum Krummlachen. Das heißt«, fuhr er fort, »wenn die verdrehte Krücke überhaupt zum Vorschein kommt.«

Aber der Maler Franck kam als erster herein. Er hatte, wie Willy, Oberhemd und Dinnerjacket angezogen. Willy sprach sehr viel, während der sonderbare Mensch Friedrich wortlos und schlaff die Hand reichte. Obgleich nun die Landsleute beieinander waren, verlor sich doch durch das Eintreten Francks für einige Augenblicke die Ungezwungenheit, mit der Willy Snyders und Friedrich sich unterhalten hatten.

Dieser bedauerte sehr, nicht im Smoking zu sein. »Ja, Ritter ist ein feiner Hund«, meinte Willy wieder, »wir müssen Abend für Abend mindestens wie Gesandtschaftsattachés zu Tische gehen.«

Petronilla erschien und erzählte in wortreichem Italienisch, daß die liebe, kleine arme Signorina von einem bleiernen Schlaf befallen sei und ruhig, tief und gleichmäßig atme. Hierauf fragte sie, ob denn die Herren noch nichts von dem Untergang des großen Schiffs gehört hätten. Als man ihr Friedrich als einen Geretteten vorzustellen versuchte, lachte sie laut und lief davon.

Lobkowitz trat in den Speiseraum.

Lobkowitz war ein ruhiger, langer Mensch, der Friedrich, dessen jüngste Geschichte er schon erfahren hatte, mit Wärme entgegentrat. Er meldete, Ritter sei vorgefahren. Man blickte durchs Fenster und sah einen eleganten Wagen, auf dem ein schwarzlivrierter Kutscher saß. Er schloß das Spritzleder, um davonzufahren, während ein rassiger Eisenschimmel bereits in der Gabel zu steigen begann.

»Der Kerle, der die Leine hält«, sagte Willy, »ist ein verkrachter österreichischer Offizier und wegen Spielschulden ausgekniffen. Jedenfalls ist er jetzt eine unbezahlbare Kraft für Ritter, denn er sagt ihm, wie er sich zum ersten Frühstück, zum Lunch, zum Dinner, beim Tennis, beim Kricket, beim Reiten, beim Fahren zu kleiden hat, wie man Mailcoach fährt, grauen oder schwarzen Zylinder, solchen Schlips, solche Handschuhe trägt, solche Manschettenknöpfe, solchen Strumpf – überhaupt alles, was man berücksichtigen muß, um hier in New York ein Aas zu sein.«

Und der achtundzwanzigjährige Bonifazius Ritter, dem wirklich in Amerika mehr, als er je gehofft, in den Schoß gefallen war, trat jetzt ein, frisch, schön, liebenswürdig wie Alkibiades. In der ersten Minute war Friedrich von dem ganzen Wesen des Glückskindes hingerissen. Alles an Ritter war Bonhomie, Naivität, Lebensfreude und Herzlichkeit. Die weiche Liebenswürdigkeit des Österreichers war durch die Luft der neuen Welt hell, frei und feurig geworden. Man ging zu Tisch, wo gleich darauf bei einer Minestra die Unterhaltung in Gang geriet.

Man merkte es Willy Snyders an, als er höchstselbst – denn er war Ökonom des Kreises – die Weine einschenkte, wie stolz er auf Bonifazius Ritter war und welche Genugtuung es ihm bereitete, seinem Lehrer von einst auf diesem außereuropäischen Boden mit solchen Freunden und einem solchen Heim dienen zu können. Man taute auf, und als die Bedienerin in weißem Häubchen und weißer Schürze den Fisch serviert hatte, wurde bereits von allen Seiten auf Friedrichs und seines Schützlings Errettung angestoßen. Es entstand darauf eine kleine Pause, die der bleiche junge Gelehrte zum Anlaß einer Erklärung nahm.

»Ich bin herübergekommen«, sagte er, »um gewisse Studien, die ich vor vielen Jahren mit einem Freunde begonnen habe, hier in Amerika mit ihm fortzusetzen. Sie kennen ihn ja, lieber Willy«, wandte er sich an den alten Schüler, »es ist Peter Schmidt, der Arzt, jetzt in Springfield, Massachusetts.« Willy Snyders warf ein: »Er ist jetzt nach Meriden übergesiedelt.«

»Ich traf auf dem Schiff zu meinem Erstaunen die kleine Dame«, erklärte nun Friedrich, »die jetzt Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nimmt. Wir hatten Glück, wir gelangten, bevor die Panik ausbrach, in aller Ruhe ins Rettungsboot. Leider mußten wir schließlich den Vater der Kleinen zurücklassen. So hat uns der Zufall zusammengeführt, und ich betrachte mich für das kleine Fräulein verantwortlich.«

Friedrich überkam ein Gefühl der Geborgenheit, wie er es lange nicht mehr gespürt hatte. Er hatte sich immer zu Künstlern hingezogen gefühlt. Ihre Unterhaltung, ihre Geselligkeit war ihm von jeher die liebste gewesen. Nun kam hinzu, daß er hier, wo er mit einer kalten Fremde gerechnet hatte, von einem solchen Kreise mit offenen Armen empfangen worden war. Während man anstieß und auf die ungezwungenste Weise tafelte, fragte sich Friedrich mitunter, ob er wirklich in New York, dreitausend Seemeilen von dem alten Europa entfernt wäre. War hier nicht die Heimat? War ihm im Verlaufe der letzten zehn Jahre, drüben in der wirklichen Heimat, jemals so heimatlich warm zumute gewesen? Und wie strömte das Leben auf ihn ein! Wie wurde er jetzt mit jeder Minute von einer neuen Woge emporgehoben. Er, der kaum noch aus einem allgemeinen Untergang sein nacktes Dasein gerettet hatte.

Er sagte: »Ich danke Ihnen aufs tiefste, meine Herren und lieben deutschen Landsleute, daß Sie mir unverdientermaßen so viel gastliche Freundschaft entgegenbringen.« Er hob sein Glas, und sie stießen an. Und plötzlich, eigentlich gegen seinen Willen, überraschte Friedrich ein Anfall von Offenherzigkeit. Er nannte sich einen doppelt Schiffbrüchigen. Er habe vielerlei hinter sich, und wenn nicht der Untergang des »Roland« an sich eine allzu tragische Sache wäre, könne er sich geneigt fühlen, das schwere Unglück als ein Symbol seines bisherigen Lebens anzusehen. »Die Alte Welt, die Neue Welt: der Schritt über den großen Teich ist getan«, meinte Friedrich, »und ich spüre schon etwas wie neues Leben.«

Er fuhr fort, er wisse nun eigentlich noch in keiner Weise, wie und worin er sich betätigen werde. Dies stand zu seiner Erklärung von vorhin in Widerspruch. Keinesfalls wolle er fernerhin als praktischer Arzt oder Bakteriologe wirken. Möglicherweise werde er Bücher schreiben. Welche Art Bücher, wisse er jetzt noch nicht. Er habe sich zum Beispiel über die Ergänzung des Torsos der Venus von Milo Gedanken gemacht. Er habe eine Schrift fertig im Kopfe über Peter Vischer und Adam Krafft. Vielleicht verfasse er aber auch nur eine Art Lebensroman, es könne auch etwas wie eine moderne Philosophie werden. »In diesem Falle würde ich dort anfangen, wo Schopenhauer das Loch gelassen hat«, sagte er, »ich meine den Satz, den ich immer im Kopfe habe, aus ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹: ›Hinter unserm Dasein nämlich steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, daß wir die Welt abschütteln.‹«

Diese Ausführungen des jungen Gelehrten, der seinen verspäteten »Sturm und Drang« durchmachte, wurden mit Achtung und Beifall aufgefaßt, Willy sagte: »Die Welt abschütteln, das ist was für Maler Franck, Herr Doktor. Erzähle mal, Franck, wie du nach Amerika gekommen bist!« – »Oder, Franck«, sagte Lobkowitz, »Ihre Fußtour nach Chikago!« – »Oder«, ergänzte Ritter, »das Abenteuer in Boston, wo Sie in einem Jagdwagen vonwegen eines Mordsrausches, den Sie gehabt haben sollen, ins Polizeigefängnis kutschiert worden sind.« – »Na, das war doch sehr gut«, sagte mit stillem Lächeln Franck, indem er Locken aus der Stirn streifte, »ich hätte mir sicher sonst eine Erkältung geholt.«

Die Äußerungen Francks wurden zur Verwunderung Friedrichs fast immer mit Lachsalven aufgenommen. »Franck ist ein wirkliches Malergenie«, sagte Willy, während er ihm Chianti eingoß, »aber zugleich das größte Original aller fünf Weltteile.«

 

Jetzt brachte der italienische Koch, Simone Brambilla, höchst eigenhändig Nachtisch und Käse herein, um zu erfahren, wie alles geschmeckt habe. Die Unterhaltung wurde italienisch geführt, und die Vertraulichkeit, die dabei zwischen Wirten und Koch zutage trat, verriet das allerbeste Verhältnis. »Na nu mal flott, old fellow«, rief plötzlich Willy, »Signore Simone Brambilla, Sie werden uns jetzt etwas vorklimpern! Und cantare!, verstanden, ma forte, non etwa bloß mezza voce!« Und er nahm eine Mandoline vom Bord und gab sie dem Küchenchef in die Hände. »Signore Guglielmo è sempre buffo«, sagte der Koch. – »Jawohl, buffo, buffo!« rief Franck und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Lächeln war bereits etwas blöde geworden.

Der Koch, der ein Meister der Mandoline war und eine gute Gesangsstimme hatte, bot, die Kappe von weißer Leinwand auf dem Kopf, in Leinwandjacke und Leinwandschürze den lustigsten Anblick. Während er mit einem Rhythmus, der in die Nerven der Zuhörer überging, sein Instrument spielte, sang er zugleich jene Gassenhauer, wie man sie überall in Italien, aber zumeist in Neapel zu hören bekommt. Friedrich bog sich zurück und schloß die Augen. Vor seinem Innern stiegen die Küsten und blauen Golfe Italiens auf. Die braunen Doriertempel Paestums, die Felsen Capris. Man klatschte Beifall jedesmal, sobald der Koch eins seiner Lieder beendigt hatte. In einem solchen Augenblick kam Petronilla herein und flüsterte Willy Snyders etwas zu, wodurch sich jener veranlaßt sah, wiederum Friedrich zu verständigen, der sofort aufsprang und mit ihm das Zimmer verließ.

Ein Herr und eine stattliche Dame waren, trotz aller Gegenvorstellungen Petronillas, bis in das Schlafzimmer Ingigerds vorgedrungen. Friedrich und Willy kamen dazu, als die Dame, die ziemlich pompös gekleidet war, mit den Worten »Mein Kind, aber ich bitte um Gottes willen, mein Kind, Sie werden doch einen Augenblick aufwachen«, das schlafende Mädchen zu wecken versuchte.

Die Dame erklärte, gefragt, mit welchem Recht sie hier eingedrungen sei, sie wäre Inhaberin der größten New-Yorker Theateragentur und habe seinerzeit den Vertrag zwischen Webster und Forster und dem Vater dieser Dame zum Abschluß gebracht. Der Vater dieser Dame habe tausend Dollar im voraus bekommen. Zeit bedeute Geld, besonders hier in New York. Wenn die Dame heute nicht auftreten könne, so sei es doch Zeit, an morgen zu denken. Sie wäre bereit, sagte sie, dem Fräulein zur Hand zu gehen, aber sie habe nicht nur mit dieser einen Angelegenheit, sondern mit hundert andren zu tun. Und wenn das Fräulein morgen auftreten solle, müsse sie stehenden Fußes mit ihr zu – sie nannte den Gerson von New York –, damit ihr Kostüm über Nacht in Arbeit gegeben werden könne. Das Geschäft befinde sich auf dem Broadway, und ein Cab stünde vor der Tür.

Alles dieses hatte die Dame im Schlafzimmer Ingigerds, und geflissentlich ohne die Stimme zu dämpfen, gesprochen. Friedrich und Willy geboten ihr Ruhe, einmal, zweimal, dreimal, es fruchtete nichts. Darauf sagte Friedrich: »Das Fräulein wird überhaupt nicht auftreten!« – »So?« antwortete die Agentin, »dann wird sie übermorgen in einen unangenehmen Prozeß verwickelt sein.« – »Die Dame ist minderjährig«, sagte Friedrich, »und ihr Vater, mit dem Sie einen Vertrag abgeschlossen haben wollen, hat wahrscheinlich bei der Katastrophe des ›Roland‹ sein Leben eingebüßt.« – »Und ich will«, sagte die Agentin, »nicht um nichts und wieder nichts tausend Dollar einbüßen.« – »Die Dame ist krank«, sagte Friedrich. Die Agentin dagegen: »Gut, dann werde ich meinen Arzt schicken.« – »Ich bin selber Arzt«, gab Friedrich zurück. – »Vielleicht deutscher Arzt«, sagte sie; »maßgebend sind für uns nur Amerikaner.«

Wer weiß, ob diese mit Mannsverstand, Mannsenergie und einer Männerstimme ausgerüstete Amerikanerin ihren Willen nicht doch noch durchgesetzt hätte, wenn der bleierne Schlaf der Kleinen nicht allem Rütteln und allem Lärm getrotzt hätte. Friedrich offenbarte zuletzt einen so unzweideutigen Grad von Entschlossenheit, daß endlich sogar die Agentin klein beigeben und vorläufig das Feld räumen mußte. Zuletzt kam Willy auf eine Idee, deren Tragweite Friedrich erst später verständlich wurde. Er erklärte nämlich der sichtlich verblüfften Agentin, daß er, falls sie die Segel nicht streiche, möglicherweise die »Society for the Prevention of Cruelty to Children« verständigen werde, da Fräulein Hahlström noch nicht siebzehn Jahre alt sei.

»Meine Herren«, sagte die Dame, merkbar einlenkend, »bedenken Sie doch, daß von Webster und Forster sowie von mir bereits seit vier Wochen Unsummen auf Reklamen ausgegeben sind. Ich habe mit einer Tournee bis nach San Franzisko gerechnet. Jetzt, wo die Dame unter den Geretteten des ›Roland‹ ist und außerdem ihren Vater verloren hat, ist sie zur Sensation der Season geworden. Wenn sie jetzt auftritt, kann sie in drei Monaten mit einem Überschuß von fünfzigtausend Dollar zurück nach Europa gehn. Wollen Sie einen solchen Riesengagenverlust Miß Hahlström gegenüber verantworten?«

Als die Agentin und ihr Begleiter gegangen waren, bestätigte Willy Snyders, daß er Plakate mit »Mara or the prey of the spider« an allen Bauzäunen, Zementfässern, Anschlagstafeln und so weiter, und zwar manchmal mit der Figur einer lebensgroßen Tänzerin, schon vor Wochen gesehen habe. Die Tänzerin sei ein halbes Kind, eine Art Albino mit roten Kaninchenaugen gewesen, das safrangelbes Haar gehabt hätte. Eine Spinne, deren Leib mindestens so groß wie ein kleiner Luftballon wäre, säße lauernd dahinter in ihrem Netz. Das Plakat sei von dem talentvollsten Plakatisten New Yorks gemacht, Friedrich könne es überall auf der Straße noch selbst ansehen. »Deshalb ist es mir ja«, schloß Willy, »so komisch, zu denken, daß ich dieses Plakat immer ganz ahnungslos angestiert habe und Fräulein Ingigerd jetzt mit Ihnen zusammen im Hause ist. Das Leben dichtet doch tolle Sachen. Ich kann Sie versichern, daß ich bei dem Plakat an alles andere eher als an Sie, Herr Doktor, gedacht habe oder daß es noch mal eine andere Bedeutung für mich als die einer klotzigen Varietéreklame bekommen könnte.«

Als die Herren ins Speisezimmer zurückkamen, war der Koch nicht mehr dort, Lobkowitz und Franck aber hatten über der veralteten Streitfrage, ob Raffael oder Michelangelo größer wäre, das Zanken gekriegt. Willy erzählte den überstandenen Amazonenkampf. Man entrüstete sich, und die Künstler erklärten, sie würden die Schutzbefohlene nicht gegen den Ansturm von ganz New York herausgeben. Friedrich zog seine Uhr, stellte fest, daß die elfte Stunde begonnen hatte, und erzählte, was der armlose Artur Stoß gesagt hatte. Nämlich: punkt halb elf Uhr nachts stehe er vor dem Publikum. Willy Snyders, der Mann der Initiative, schlug vor, man solle gemeinsam zu Webster und Forster und den Armlosen auftreten sehn.

 

Noch vor halb elf traten die Künstler und Friedrich in eine Loge bei Webster und Forster ein. Der gewaltige Raum, in dem man während der Produktionen rauchen und trinken durfte, war nach Willys Schätzung mit drei- bis viertausend Menschen gefüllt. Die Bühne war klein und flach und eben besetzt durch eine spanische Tänzerin. Sehr viele Bogenlampen standen wie weiße frostige Monde im Tabaksqualm, während die Tänzerin in einem Gemisch von Drolerie, Unschuld und Wildheit mit ihrem schlanken Torero tanzte.

Friedrich fühlte sich beim Anblick des männlichen Partners etwa in eine Arena zu Sevilla, beim Anblick des Mädchens an den Golf von Korinth oder auf eine der Inseln der Zykladen entrückt und entschied sich sehr bald, Spanien zu verlassen und der schönen Tänzerin in ihre griechische Heimat nachzugehn. Dort ernannte er sie zur Chloe, während er selber Daphnis ward. Alte zechende Hirten saßen in einem dem Pan geweihten Pinienhaine, indes man von den Wiesen der Hochfläche aus unter der felsigen Küste das griechische Meer zwar erblickte, aber nicht rauschen hörte. Die Musik ward zur Syrinx, und Webster und Forster und der dicke schweißige Dunst vieler Menschen war nicht mehr. Durch die Pinien säuselte Frühlingsatem. Die Hirtin tanzte, wie sie es den drolligen Sprüngen der Ziegen abgelauscht, aber noch mehr, wie der große Pan es ihr in die Wiege gelegt hatte. Sie tanzte wilde, junge, überschäumende Lebenskraft und Lebensglück. Der Ursprung aller Musik, dachte Friedrich, ist Tanz und Gesang zugleich ausgeübt. Die Füße erzwingen den Rhythmus, der in der Kehle erklingen muß. Und die Tänzerin hört eine andere Musik, wenn sie selbst nicht singt, als die ist, nach der sie tanzt. Aber selbst wenn sie nicht singt und nur tanzt und von keiner Musik begleitet wird, kann der sie Erblickende dennoch ihre Musik hören.

»Kaviar für das Volk«, sagte Friedrich, nachdem die Künstlerin, unter geringen Zeichen des Beifalls, in der Kulisse verschwunden war.

Nun erschien auf der Bühne ein Diener in roter Livree, der mehrere kleine Sitzgelegenheiten in gemessenem Abstande aufstellte. Erst nachdem er auch noch ein Tesching und einen Geigenkasten auf die Bühne gebracht hatte, erkannte Friedrich, daß es der brave Unteroffizier Bulke war. Gleich darauf kam Stoß und wurde von einem frenetischen Jubel empfangen.

Er trug einen Frack aus schwarzem Samt und war »in Eskarpins«: Spitzenjabot, Spitzenmanschetten, schwarzsamtene Kniehosen, schwarzseidene Strümpfe und Schnallenschuh' aus Lackleder. Das gelbliche Haar war nach allen Seiten um den mächtigen Schädel emporgekämmt. Das bleiche Gesicht mit den breiten Backenknochen und der breitgequetschten Nase blickte lächelnd und sachlich ins Publikum.

In diesem Augenblick sah Friedrich denselben Mann, der dort oben bejubelt wurde, hilflos, durchnäßt von Seewasser, unter den Sitzen am Boden des Rettungsboots und dachte daran, mit welcher mörderischen Entschlossenheit die Matrosen, Bulke, Doktor Wilhelm und er sowie Rosa und die Damen Liebling und Ingigerd das Boot vor dem Umschlagen retten mußten. Zwischen jetzt und damals welcher unwahrscheinliche Gegensatz! Und weshalb wurde der Mann bejubelt?

Was konnte der Beifall alles ausdrücken: Wir sind konform mit Gott dem Herrn, daß er dich gerettet hat! So viel hast du durchgemacht, du armer Armloser! Hunderte sind, trotzdem sie zwei Arme hatten, untergegangen, und du kannst heute abend, als wenn nichts geschehen wäre, auf der Bühne stehn! Und wir müssen auch unser Vergnügen haben! Es ist besser, daß du, der uns mit seinen Tausendkünsten unterhält und amüsiert, als daß dieser und jener gerettet worden ist! Außerdem wollen wir dich für die ausgestandenen Nöte entschädigen! Überdies bist du jetzt durch deine Kunst und deine Rettung ein doppelt wertvolles Wundertier!

Da das Tosen immer von neuem begann, wiederum ein Meer, in dem der Gefeierte förmlich unterging, trat ein Herr in gewöhnlichem Frack hervor und winkte ins Publikum, daß er reden wolle. Er bat für den berühmten Kunstschützen Artur Stoß, den Champion of the world, um das Wort. Gleich darauf scholl die helle und scharfe Knabenstimme des Armlosen so laut und durchdringend, daß sie in den hintersten Reihen des Saales gehört wurde.

Friedrich verstand etwas wie »Meine lieben New-Yorker«. Er hörte etwas vom »gastlichen Amerikaner«, von der »gastlichen amerikanischen Küste«, von »Kolumbus« und »fourteen hundred and ninety-two«. Auf allen Anschlagtafeln lese man jetzt die Jahreszahl vierzehnhundertzweiundneunzig, die das moderne Amerika geboren habe. Von den Lippen des Kunstschützen kamen Worte wie »Navigare necesse est, vivere non necesse«, »Durch Nacht zum Licht« und ähnliche mehr. Noahs Arche, hieß es, nicht ganz ohne Geist, sei immer noch nicht überflüssig geworden, zwei Drittel der Oberfläche der Erde wäre ja doch von Wasser bedeckt. Wenn aber auch hie und da ein Schiff von der Sintflut da draußen verschluckt werde, die Arche der Menschheit könne nicht untergehen, dafür hätte Gott seinen Regenbogen in die Wolken gestellt. Der Ozean sei und bleibe die Wiege des Heldentums und das einigende, nicht das trennende Element der Völker. Der Name des blonden Kapitäns von Kessel scholl durch den Raum. Friedrich sah vor seinem inneren Auge den toten Helden unter dem ausgestirnten Himmel draußen in den Sintflutgewässern der Erde umhertreiben. Er vernahm, durch die Rede des Artisten, die Stimme des Kapitäns: »Mein Bruder hat Frau und Kinder, Herr von Kammacher. Er ist ein beneidenswerter Mann.« Dann wurde Friedrich durch den tobenden Beifall geweckt, den der schneidige Redner soeben erntete.

Artur Stoß nahm auf einer der Sitzgelegenheiten Platz, während Bulke auf eine zweite die Violine legte. Hierauf zog der rotlivrierte Held und Lebensretter seinem Herrn die Schuhe aus, worauf seine Füße, in schwarzen Strümpfen, die die Zehen frei ließen, sichtbar wurden. Den Geigenbogen nahm der Artist mit den Zehen des rechten Fußes fest und begann, das Haar des Bogens mit Kolophonium vorzubereiten. Ein Anblick, bei dem ein Flüstern des Staunens durch die Menge ging. Jetzt fing das Orchester das bekannte Bachsche Präludium zu intonieren an, und das Gounodsche »Ave Maria«, von Stoß mit schönem Ton auf der Geige gespielt, schwebte zum Entzücken der lauschenden Menge herüber, die hierdurch, mit Rücksicht auf das schwere Schiffsunglück, in eine rührselig religiöse Stimmung kam, die Friedrich mit peinlichem Schauder berührte. So wurde das furchtbare Unglück ausgemünzt.

Es wirkte erlösend, als Artur Stoß mit dem Tesching »arbeitete«. Und hier war es wiederum Bulke, der Friedrich und den Künstlern eine mindestens ebenso große Bewunderung wie sein Herr abnötigte. Er hielt die Kartenblätter mit Kaltblütigkeit, deren Herzen sein Brotgeber Schuß auf Schuß, ohne je zu fehlen, durchlöcherte.

 

Friedrich war ganz erstaunt, als er am nächsten Morgen in seinem Bett ziemlich spät aufwachte und alles um ihn her stillestand. Weder schwankte das Bett, noch klirrten Gläser und Waschbecken, noch ward der Fußboden abschüssig, noch stürzte die Wand über ihn herein.

Friedrich hatte geklingelt, Petronilla war erschienen: Die kleine Miß, erzählte sie, sei gesund und rotbäckig aufgewacht und habe bereits ihr Frühstück genommen. Ein Briefchen von Willy Snyders besagte, daß er bis da und da, in der und der Straße, in den und den Geschäftsbüros arbeite und daß er zum Lunch zu Hause sei.

Der junge Gelehrte nahm ein Bad, innerhalb von zwölf Stunden das zweite. Man hatte ihm nagelneue Anzüge, ebenso Wäsche bereitgelegt, und er konnte sich also »wie neugeboren« zum Frühstück setzen. Petronilla trug auf und erklärte zugleich, daß sie die letzte im Hause wäre. Sie ging und kam wieder, um nochmals nach Friedrichs Wünschen zu fragen. Gleich darauf sah er die wackere Haushälterin, dick eingemummt, durch die Haupttür auf die Straße hinaustreten.

Als er diese Beobachtung gemacht hatte, wurde er unruhig, steckte eine Zigarette in Brand und fing an, sich auf die Lippen zu beißen. Er war mit Ingigerd Hahlström allein. Auch jetzt berührte Friedrich die phantastische Unberechenbarkeit des Lebens wunderlich. Eine Gelegenheit, einen Zustand wie diesen hatte er kaum in Wochen, ja kaum in Monaten zu erreichen gehofft, am wenigsten in dem wilden New-Yorker Strudel und Trubel. Nach dem Schiffs- und Stadtlärm, dem Tosen des Ozeans umgab ihn nun plötzlich idyllischer Friede. Jeder, in dieser von vier Millionen Menschen bewohnten Stadt, ging jetzt mit einer zähen Leidenschaft ohnegleichen seinen eigenen Geschäften nach oder war in ein eisernes Joch von Pflichten gespannt, wodurch er für alles, was außerhalb seines Weges lag, taub und blind wurde.

Seine Unruhe wuchs, er konnte nicht stillsitzen. Jeder Nerv, jede Zelle seines Körpers ward jetzt von einer Kraft berührt und erregt, die überallher auf ihn einströmte. Eine solche Kraft, die durch Fußböden, Decken und Wände dringt, ist von den Menschen mit mancherlei Namen belegt worden. Man hat von Magnetismus gesprochen, von Od, von Elektrizität, und was diese letztere unter den Kräften anbelangt, so konnte Friedrich gerade jetzt, als er sich wieder einmal, um Ruhe zu finden, vor dem Kaminfeuer niederließ, eine besondre Erfahrung machen. Überall nämlich, wo er mit der Kaminzange in die Nähe von Eisen kam, sprangen knisternd Funken über. Alles im Raum schien elektrisch geladen zu sein. Strich Friedrich mit seinen Fingerspitzen nur leise über den kleinen Kaminteppich, überall sprangen, mit dem Knall einer kleinen Peitsche, Funken heraus.

Da haben wir's, dachte Friedrich lächelnd: die Lichtbauern! Und als er nachgrübelte, wo er von diesen kleinen Wichten gelesen habe, fiel ihm der Traum auf dem »Roland« ein. »Lichtbauer, wat mokst de?« sagte Friedrich und fing die Funken etwa auf gleiche Manier, wie man aus Ungeduld Fliegen fängt. Nicht lange danach waren ihm unzählige dieser Funken ins Blut geraten. Er stand auf und trat auf den Flur hinaus.

Eine Weile stand er, sich an den untersten Pfosten des Treppengeländers mit beiden Händen festhaltend. Er senkte schließlich den Kopf darauf, während sein ganzer Körper, wie in einem Anfall von Frost, zitterte.

Dies war der Augenblick, wo er die leidenschaftliche Sprache seines Körpers begriff und die entscheidende Stimme seines Innern ihre Forderungen gebilligt hatte. Was jetzt zum Durchbruch kam, war die niedergehaltene, unbefriedigte Forderung. In dieser kupplerischen Morgenstille des fremden Hauses hatte sie plötzlich eine unbezwingliche Macht gewonnen.

So trat er in das Zimmer ein, wo Ingigerd am Kaminfeuer saß und den Schwall ihres blonden Haares trocknete. »Ah, Herr Doktor!« rief sie erschrocken und blickte ihn an. Kaum hatte sie aber ihre schillernden Augen auf den mühsam atmenden Mann gelenkt, als sich ein Ausdruck willenloser Hingabe, ja völligen Hinsterbens über ihr Antlitz verbreitete.

Dieser Anblick machte Friedrich, bei dem Wille und leidenschaftliche Glut sich vereinigt hatten, erst wiederum willenlos und besinnungslos. Indem er endlich die quälende Hölle seines Innern in einem wilden, blindgierigen Trunke auslöschen wollte, warf er sich mit dem Laut eines Tiers in die langsam, langsam kühlenden und befreienden Wogen der Liebe tief hinein.

Es war gegen elf Uhr, als die Hausverwalterin Petronilla in Begleitung eines ohne die übliche Sorgfalt gekleideten Mannes wiederkam. Der blonde Herr, dessen sehnige Hände ohne Handschuhe, dessen Füße mit derbem Schuhwerk behaftet waren, schlenkerte einen nassen Regenschirm in der linken, einen abgetragenen Filzhut in der rechten Hand, pfiff sehr kunstreich, schritt mit langen und lauten Tritten hin und her und tat wie jemand, der im Klubhaus der deutschen Künstler zu Hause ist.

Der frühe Besucher war Peter Schmidt, von dem Friedrich draußen auf dem Ozean schon geträumt hatte. Er war von Meriden nach New York gekommen, um Friedrich aufzusuchen, dessen Namen er auf der Liste der Geretteten des »Roland« gefunden hatte. Er kannte die alte Schülerbeziehung, in der Willy Snyders zu Friedrich stand, und hatte dessen Aufenthalt schnell ermittelt.

Die erste Frage, die Friedrich tat, nachdem sich das Vergnügen des Wiedersehens gelegt hatte, war: »Glaubst du an Telepathie, mein Sohn?« – »Telepathie? keine Spur!« gab der Friese zurück. Und mit gewaltigem Lachen fuhr er fort: »Menschenskind, ich bin doch kaum dreißig Jahre alt! Ich bin doch nicht blödsinnig! Hoffentlich hat dir nicht etwa irgendein Mr. Slade, wie dem alten seligen Zöllner in Leipzig, den Kopf verrückt. Kommst du etwa herüber, um hier einem großen spiritistischen Meeting zu präsidieren? Dann ist unsere Freundschaft hin, Menschenskind.«

Dies war die Tonart, die den Freunden von der Universität her geläufig war und die sie beide unsäglich erfrischte. Ihre Beziehungen waren von alledem frei, wodurch Verbindungen späterer Jahre sich einschränken.

»Hab keine Angst«, sagte Friedrich. »Für spiritistische Meetings interessier' ich mich immer noch nicht, obgleich ich es eigentlich nach meinen jüngsten Erfahrungen tun sollte: denn du bist mir draußen auf See erschienen und hast mich mit einem versunkenen Erdteil bekanntgemacht. Aber laß uns jetzt nicht von Träumen reden.«

»Du machst schöne Sachen«, erklärte der Freund, als Friedrich ihm seine Zeugenschaft beim Untergang des »Roland« bestätigt hatte. »Ich denke, du bist verheiratet, hast Kinder, treibst deine Praxis in Deutschland, arbeitest nebenbei wissenschaftlich oder treibst deine Praxis nebenbei und denkst eher an alles andere als an eine Reise nach Amerika, das dir ja nie besonders sympathisch war.«

»Ist es nicht gespenstisch«, sagte Friedrich, »wie man sich plötzlich in einer gänzlich unvorhergesehenen Weise, zu einer gänzlich unvorhergesehenen Zeit, an einem gänzlich unvorhergesehenen Orte wiedersieht? Und ist es nicht außerdem, als wäre der an sich so dick reale, dick wirkliche Lebensgehalt von acht Jahren mit einem Male zu nichts geworden?«

Der Friese schlug vor, da sie beide Peripatetiker wären, ein bißchen durch die Straßen New Yorks spazierenzugehen. Ingigerd war für die nächsten Stunden vollauf mit Lieferanten beschäftigt und sagte nur, sie hoffe Friedrich beim Lunch wiederzusehen. So schritten die Freunde denn auf den gekehrten Asphaltwegen unter kahlen, beschneiten Bäumen, zwischen den beschneiten Wiesen des Zentralparks, während die tolle Stadt um sie her die Luft mit einem hundertfältigen, korybantischen Tosen erfüllte.

Es schien, als hätten sie ein vor einer halben Stunde unterbrochenes Gespräch wieder aufgenommen. Friedrich verhehlte dem Freunde nicht seine Entwurzelung und Zerrissenheit. Er nannte die Kraft zur Resignation den letzten und höchsten Gewinn des Lebens: eine Behauptung, der sein Freund aufs entschiedenste widersprach.

»Da hast du's«, sagte Peter Schmidt, indem er ein mächtiges Zeitungsblatt entfaltete, das er soeben gekauft hatte. »Roland! Roland! immer noch spalten- und seitenlang.« – Friedrich faßte sich an den Kopf. »Ja«, sagte er, »bin ich denn wirklich dabeigewesen?« – »Na, und wie!« meinte der Friese, »hier steht ja doch fettgedruckt: ›Doktor von Kammacher verrichtet Wunder an Tapferkeit!‹ Donnerwetter ja, hier bist du ja überhaupt abgebildet.«

Der Zeichner der »World« oder »Sun« hatte mit wenigen Federstrichen einen jungen Mann dargestellt, der genau so aussah wie einer unter Millionen seinesgleichen: er trug eine junge Dame im bloßen Hemd über eine Strickleiter vom hohen Bord eines halbgesunkenen Dampfers in ein Boot hinab.

»Hast du das wirklich getan?« fragte Peter Schmidt. – »Das glaube ich nicht«, sagte Friedrich, »aber ich muß dir gestehen, daß mir von den Einzelheiten der Katastrophe nicht mehr alles ganz gegenwärtig ist.« Friedrich stand still, erblaßte und suchte sich zu besinnen. Er sagte: »Ich weiß nicht, was an einem solchen Ereignis das ungeheuerlichere ist: daß es wirklich geschehen ist oder daß jemand, der dabei war, es allmählich verdaut, ja vergißt?« – Und Friedrich fuhr fort, immer noch mitten im Wege stillstehend: »Was bei einem solchen Erlebnis am tiefsten trifft, ist der stumpfe Unsinn, die unüberbietbare Grausamkeit und Brutalität. Man kennt diese Brutalität der Natur theoretisch, aber in ihrem realen Umfang, in ihrer Tatsächlichkeit muß man sie immer wieder vergessen, um leben zu können.« Irgendwie, irgendwo, meinte er, glaube auch der aufgeklärteste Mensch noch an etwas wie einen allgütigen Gott. Aber in dieses Wie und dieses Wo werde durch eine solche Erfahrung unbarmherzig und mit eisernen Fäusten hineingeprügelt. Und da sei auch eine Stelle in seinem Innern taub, blind und gefühllos geworden und noch nicht wieder zum Leben erwacht. Diese Brutalisierung sei so stark, daß, solange man sie noch gegenwärtig habe, jeder Glaube an Gott, Mensch, Zukunft der Menschheit, glückliches Zeitalter und dergleichen nicht leichter über die Zunge wolle als irgendein niedriger oder bewußter Betrug. Denn was nütze das alles, meinte er, aus welchem Grunde, zu welchem Zwecke solle man noch über Würde des Menschen, göttliche Bestimmung der Menschen und dergleichen in schillersches Pathos hineingeraten, wenn doch ein so furchtbares, sinnloses Unrecht an schuldlosen Menschen nun einmal geschehen und nicht mehr gutzumachen sei.

Friedrich wurde sehr blaß, ihn überfiel eine starke Übelkeit. Er riß die Lider weit auf, so daß die Augäpfel mit einem sonderbaren Ausdruck der Angst und des Grauens hervortraten. Er zitterte leicht, und während er sich, nicht wenig erschrocken, mit heftigem Griff am Arm seines Freundes festklammerte, fühlte er, wie der feste Boden unter ihm zu wogen begann. »Ich habe das nie gehabt«, sagte er. »Ich glaube, ich habe bei der Geschichte was abbekommen.«

Peter Schmidt geleitete seinen Freund bis zu einer Parkbank, die in der Nähe war. Friedrich starben die Hände ab, kalter Schweiß brach ihm aus, und plötzlich war er bewußtlos geworden.

Als der Leidende aufwachte, brauchte er einige Zeit, um sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. Er redete Worte, die an irgend jemand gerichtet waren, und glaubte seine Frau, dann seine Kinder und seinen Vater in voller Uniform vor sich zu sehen. Nachdem er in allem wieder klar und bei Sinnen war, ersuchte er seinen Freund inständig, den ganzen Anfall und Zufall geheimzuhalten. Peter Schmidt versprach es ihm.

Der Friese meinte: »Die überspannten und überlasteten Nerven rächen sich.« Friedrich sagte, obgleich er von Vaters und Mutters Seite mit der besten Konstitution ausgestattet wäre, so sei allerdings in diesem letztverwichenen Sommer und Herbst bis diesen Augenblick so viel auf ihn eingestürmt, daß er eigentlich einen solchen Kollaps längst erwartet hätte. Und er setzte hinzu: »Ich glaube, die Sache wird wiederkommen. Ich will mich nur freuen, wenn sie mir nicht auf dem Halse bleibt.« – »Es wird wiederkommen«, sagte Schmidt, »und wird dann, wenn du einige Monate ruhig lebst, für immer verschwunden sein.«

Nach einiger Zeit überkam die Freunde die alte Lebhaftigkeit, sie hatten sich andren Gesprächsgegenständen zugewendet. Der Arzt Peter Schmidt aber vermied es von nun an geflissentlich, auf den Schiffsuntergang zurückzukommen.

 

Wir sind in der Nähe von Ritters Atelier«, sagte plötzlich Schmidt, »und wenn es dir recht ist, können wir doch mal rangehen.« Friedrich stimmte zu, bat aber den Zwischenfall völlig geheimzuhalten. »Übrigens ist es doch schlau von mir oder dem Drahtzieher über uns«, sagte er, »daß er bis zu dem Augenblick mit dem fatalen Krampfe gewartet hat, wo ich dich in der Nähe hatte.« Peter Schmidt fiel der im Laufe einiger Stunden mehrmals zutage tretende Prädestinationsglaube auf, den Friedrich von hoher See mitgebracht hatte.

Die Straße, darin die Atelierräumlichkeiten Bonifazius Ritters gelegen waren, stieß an den Zentralpark. Die Herren befanden sich, als sie eingetreten waren, zunächst in der Werkstatt eines Gipsgießers. Der Mann hatte eine selbstgefertigte runde Papiermütze auf dem Kopf, die ebenso wie sein Kittel, die Hose, soweit sie sichtbar war, und die Hausschuhe, die er trug, von verhärteten Gipsspritzern überdeckt war. Totenmasken und allerhand Abgüsse nach Antiken sowie nach anatomischen Präparaten und Gliedern lebendiger Menschen hingen an den Wänden herum. Ein Mensch, bis zur Hüfte unbekleidet, dessen Thorax athletisch entwickelt war, wurde teilweise abgeformt. Als sich der Gießer, um die Besucher zu melden, entfernt hatte, fing der Athlet zu reden an.

»Was dut mer nich alles, meine Herrn«, sagte er auf gut sächsisch, »um sei bißchen tägliches Brot zu verdienen. Ich bin aus Pirna.« Er sagte Berne. »Und ich gann Sie sachen, daß es in diesem verfluchten New York for unsereins nischt zu lachen gibbt. Erscht hab ich als Kettensprenger georbeet. Denn machte der Chef Pankrott, und da hab ich mei ganzes Zeich missen sitzen lassen. Mei Zeich, das sind äbens meine Eisenstangen und meine Gewichte und was äbens so bei mein Geschäft, das ich habe, neetch is. Ich trage zwelf Zentner uff meim Bauche.«

Ritter ließ die Herren hereinbitten.

Sie wurden durch einen Raum geführt, in dem eine stattliche junge Dame an einer Porträtbüste arbeitete. Man sah kein Modell, und das Werk schien in Ton beinahe vollendet zu sein. Der folgende Raum war von Marmorarbeitern besetzt, die gleichmütig, ohne aufzublicken, an Blöcken verschiedener Größe mit lärmendem Pinken und Hämmern arbeiteten. Man stieg alsdann eine mit Staub bedeckte Wendeltreppe hinauf, die in einem Oberlichtraume endete, wo Bonifazius Ritter die Herren empfing.

Mit sichtlicher Freude und wie ein junges Mädchen errötend lud er Friedrich und Doktor Schmidt, nachdem er sie begrüßt hatte, ihm zu folgen ein. Man gelangte in einen kleinen Raum, der durch ein einziges, aus einer französischen Kirche stammendes antikes Glasfenster Licht erhielt. Die Decke war niedrig und in gebeiztem Eichenholz kassettiert. Holzpaneele bedeckten die Wände. Ungefähr die Hälfte des Grundrisses, der Länge des Raumes nach gemessen, wurde von einem schweren eichenen Tisch bedeckt, der auf drei Seiten von Wandbänken umgeben war.

»Sie sehen hier«, sagte Ritter, »quasi ein behagliches Winkelchen deutsches Vaterland. Willy Snyders hat alles gezeichnet, zusammengetragen und eingerichtet.« Friedrich war als alter Student und guter Deutscher wirklich überrascht und entzückt, denn wenn das Ganze dem Gehäuse eines heiligen Hieronymus ähnlich war, so glich es doch auch auf ein Haar dem dämmrigen Allerheiligsten einer deutschen Weinstube. Um so mehr, als gleich darauf ein Bursche mit blauer Schürze, ein Steinmetzgeselle, der aber recht gut ein Küper sein konnte, mit einer Flasche alten Rheinweins und Römern zum Vorschein kam.

Die Freunde, aus den Zeiten des Frühschoppens längst heraus, konnten nun doch nicht vermeiden, daß die Poesie des Frühschoppens wieder einmal über sie kam. Und in Friedrich herrschte noch immer ein Zustand grundsatzloser Verwegenheit. Er klammerte sich an den Augenblick und war immer bereit, das Gestern und Morgen daranzusetzen. Der dämmrige Raum weckte in ihm Erinnerungen jugendlich glücklicher Stunden auf. Deshalb war er mit lautem Entzücken dabei, mit den Römern anzuklingen, und machte es sich mit den Worten »Hier bringen Sie mich heut nicht mehr fort, Herr Ritter«, wie ein entschlossener Zecher bequem.

»Das heißt«, sagte er, »vorher möchte ich doch gern Ihre Arbeiten sehen.«

Bonifazius Ritter erwiderte heiter, dies eile nicht. Er brachte ein Erinnerungsbuch, in das Friedrich und Peter Schmidt sich eintragen mußten. Als dies erledigt war, zog er aus einem Wandschrank ein Bildwerk hervor, eine deutsche Madonna von Riemenschneider, die aber mit dem süßen Oval ihres holden Gesichtchens mehr noch das echte deutsche Gretchen war.

Ritter erklärte, Willy behaupte, er habe sie einem New-Yorker Zollbeamten abgenommen, einem Lumpen, der deutscher Abkunft wäre. Die köstliche Schnitzerei stamme vom Rathaus in Ochsenfurt, wo der Vater des Zollbeamten, der Tischler sei, sie gelegentlich einer Reparatur zurückbehalten und durch eine andere frischbemalte ersetzt habe, die von den biederen Ochsenfurtern und Ochsenfurterinnen mit allgemeiner Freude als das schönere und verjüngte Original begrüßt worden wäre. »So Willy Snyders«, schloß Ritter lachend. »Ich bin für die Lesart nicht verantwortlich. Sicher ist jedenfalls: das Werk ist ein Riemenschneider.«

Es ging von dem Bildstock des Würzburger Meisters ein lebendiger Zauber aus, der, verbunden mit dem Reiz des so liebevoll durchgebildeten kleinen Raums und dem grünlichen Goldschimmer in den Römern, die ganze aus der Tiefe quellende Schönheit der deutschen Heimat nahebrachte: eine Schönheit, die für den Durchschnittsdeutschen nicht vorhanden ist.

Willy Snyders trat lärmend ein. »Na weißt, Ritter«, sagte er, nachdem er die Gäste begrüßt hatte, »woanst etwa meinst, dees i kan Durst hab, bist schief gewickelt.« Er prüfte die Flasche. »Na so ein verfluchter Kerle, reißt ohne mir eine von die zwanzig Flaschen Johannisberger an, die ihm der Schweinehändler aus Chikago als Zugab für oan Porträt seiner bucklichten Tochter no obendrein hat angedeihn lassen. Na hat d' erste dran glauben müssen, jetzt muß a d' zweite dran.« Willy Snyders kam direkt von der Arbeit aus den Büros seines Chefs, wo Innenarchitekturen gezeichnet wurden. Er rief: »Jetzt, meine Herrn, is das hier nit ein fideler Kneipwinkel?« Und mit bezug auf die kleine Madonna von Ochsenfurt am Main fragte er, ob sie nit eine fesche kleine Person wäre, und setzte gleich selbst hinzu, daß sie, weiß Gott, nicht von Pappe sei. Er selber, sagte er, sammle nur Japaner, und man war auf der Stelle geneigt, diesem schwarzen Deutsch-Japaner, Pudel- und Sprudelkopf das zu glauben. Einstweilen sei er ja nur ein armer Hund, sagte er, und habe erst mit japanischen Holzschnitten angefangen. Wenn er aber in vier bis fünf Jahren den nötigen Mammon zusammengescharrt habe, begönne das Japansammlergeschäft mit Dampfbetrieb. Kein Volk, sagte er, könne ja in der Kunst gegen diese Kerle aufkommen.

»Jetzt will ich dir aber was sagen, mein lieber Ritter«, so wandte er sich an seinen Freund, »woans du nichts dagegen hast, hole ich jetzt Lobkowitz und vor allem Miß Eva herein, die mir jetzt eben, wie ich durchs Atelier ging, gesagt hat, sie wünsche den Helden vom ›Roland‹ absolut kennenzulernen.« Er ging ohne die Antwort abzuwarten und kam gleich darauf mit Lobkowitz, der bei Ritter arbeitete, und Ritters Schülerin, Miß Eva Burns aus Birmingham in England, wieder herein.

Der Steinmetzgeselle hatte die zweite Flasche des kostbaren Weins, Römer und einen großen Delfter Teller mit Sandwiches auf den Tisch gestellt. Und wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, die nun geäußerte Absicht der beiden Ärzte, ihren schon zu lange ausgedehnten Besuch abzubrechen, war nach einer weiteren halben Stunde in einem Strom guter Laune untergetaucht.

Und wie die kleine Gesellschaft nach einer weiteren halben Stunde und ganzen Stunde noch beim Weine war, so war sie auch noch in Unterhaltungen über das unerschöpfliche, ihnen allen gleich am Herzen liegende Thema der deutschen Kunst festgebannt. »Ewig schade«, sagte Friedrich, »daß nicht der Geist, der die Kunst der alten Griechen geschaffen hat, mit dem ganz neuen und tiefen deutschen Geist zu vereinigen ist, der die Werke von Adam Krafft, Veit Stoß und Peter Vischer auszeichnet.«

Die Dame fragte: »Herr Doktor, haben Sie sich jemals praktisch mit bildender Kunst befaßt?« Willy Snyders antwortete für Friedrich. »Der Doktor schwitzt Talent«, sagte er. »Das kann ich beweisen.« Er bewahrte in seinem Raritätenschatz einige sogenannte Bierzeitungen, die sein Lehrer mit ernsten und humoristischen Bildchen versehen hatte.

»Ich schwitze Talent?« sagte Friedrich errötend. »Gott bewahre mich, Willy. Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, glauben Sie diesem verzückten Schulbuben nicht. Wenn ich Talent haben sollte, so fußt es wahrhaftig nicht auf Bierzeitungen. Ich habe mich einmal praktisch betätigt, ja! Warum soll ich es leugnen, daß ich, wie alle nicht ganz auf den Kopf gefallenen jungen Leute, zwischen sechzehn und zwanzig in der Malerei, in der Bildhauerei und in der schönen Literatur dilettiert habe. Daraus können Sie höchstens sehen, wie zerfahren ich war, nicht, wieviel Talent zur Kunst ich gehabt habe.

Ich liebe die Kunst, ich liebe sie heute mehr als je, kann ich sagen, weil mir alles, außer der Kunst, in der Welt problematisch geworden ist. – Deutsch gesprochen: ich möchte lieber eine hölzerne Mutter Gottes wie diese da«, er meinte das Werk von Riemenschneider, »geschnitzelt haben, als Robert Koch und Helmholtz zusammengenommen sein. Dies gilt natürlich ausschließlich für mich, der ich im übrigen diese Männer bewundere.«

»Na na na na! zum Donnerwetter noch mal, wir sind auch noch da«, rief Peter Schmidt aufspringend. Sooft er in diesem Kreise von Künstlern war, die ihn übrigens liebten und vielfach zu Rate zogen, kam der Augenblick, wo die Streitfrage auftauchte, ob Kunst oder Wissenschaft den Vorrang verdiene: wo dann natürlich der Friese die Sache der Wissenschaft heftig verteidigte. »Wenn du«, sagte er jetzt, »diese Riemenschneidersche Holzfigur ins Feuer steckst, so verbrennt sie wie Holz. Weder das Holz noch die unsterbliche Kunst, die daran sein mag, widersteht dem Feuer. Wenn sie aber zu Asche geworden ist, so kann sie natürlich nicht für den Fortschritt der Menschheit von Bedeutung sein. Im übrigen ist die Welt voller hölzerner Götter und Muttergottesbilder gewesen: aber die Nacht der schwärzesten Unwissenheit haben sie, meines Wissens, nicht aufgehellt.«

»Ich sage nichts gegen die Wissenschaft«, erklärte Friedrich. »Ich betone ja«, fuhr er fort, »daß es sich um die Kunstliebe eines höchst zerfahrenen Menschen handelt. Also, lieber Peter, beruhige dich!« – »Wenn es Sie wirklich zur Plastik zieht«, sagte Eva Burns, die ausschließlich Friedrich zugehört hatte, »warum fangen Sie nicht schon morgen, hier bei Meister Ritter, zu modellieren an?« Ritter meinte lustig, auf Holzbildhauerei verstehe er sich nun wohl eigentlich nicht, immerhin stünde er Friedrich ganz zur Verfügung. Friedrich rief plötzlich unvermittelt: »Um meine kleine Madonna, meine hölzerne Mutter Gottes, komme ich nicht.« Er stand auf, das Glas in der Hand, und so taten alle, um lachend und nicht ohne Nebengedanken auf die kleine Madonna anzustoßen. Die Gläser klangen, und Friedrich fuhr, in etwas gewagter Weise, fort:

»Ich wünschte sehr, mir wäre gegeben, mit Göttersinn und Menschenhand, wie Goethe sagt, das zu tun, was ein Mann bei einem Weibe animalisch kann und muß.« Er legte seine Hände, wie wenn er mit ihnen Wasser schöpfen wollte, aneinander. »Ich fühle«, rief er, »meine Madonna gleichsam in meinen hohlen Händen, wie einen Homunkulus. Dort lebt sie. Meine Handflächen sind eine goldene Muschel. Nehmen Sie an, meine Madonna sei eine Spanne groß und bestünde meinethalben, sagen wir, aus lebendigem Elfenbein. Darauf denken Sie sich irgendwo mehrere rosige Tupfen. Denken Sie sich diese kleine Madonna, mit nichts als jenem Mantel bekleidet, den Godiva trug, nämlich mit ihrem aus fließenden Sonnenstrahlen bestehenden Haar, und so fort, und so fort –«

Und Friedrich begann zu improvisieren:

»Sprach der Meister: tritt in meine Werkstatt.
Und er nahm in seine beiden Hände
wie der Schöpfer, Gott, ein kleines Bildwerk.
Und erschüttert ging sein Herz gewaltig:
Wie du's siehst, so sah ich's einst lebendig . . .

und so fort, und so fort.

Liefen über meine Hände
goldne Wogen, kühle Lippen . . .

Ich sage nicht mehr! Ich sage nur so viel, daß ich diese Madonna in deutschem Lindenholz schnitzeln, wie das Leben selbst polychromieren wollte und dann meinethalben zugrunde gehn.«

Der enthusiastische Aufschwung Friedrichs wurde mit lautem Bravo entgegengenommen.

Eva Burns war eine vielleicht etwas männlich anmutende schöne Person, die das fünfundzwanzigste Jahr überschritten hatte. Ihr Deutsch und ihr Englisch war etwas hart, und irgendwie konnte ein übelwollender Zuhörer auf den Gedanken kommen, daß sie die etwas zu dicke Zunge eines Papageien im Munde habe. Ihr Haar, dunkel und voll, war gescheitelt und über die Ohren gelegt. Ihre Gestalt war breit und ohne Tadel. Als Friedrich sprach und gesprochen hatte, blickte sie ihn aus ihren großen, dunklen, nachdenklich klugen Augen an.

Endlich sagte sie: »Das sollten Sie aber wirklich zu machen versuchen!«

Friedrichs Augen und die Augen der Dame trafen sich, und der junge Gelehrte antwortete ihr in einem Tone, der halb studentisch und halb ritterlich war. »Miß . . . Miß . . .« – »Eva Burns«, half Willy weiter. – »Miß Eva Burns aus Birmingham! Miß Eva Burns aus Birmingham, Sie haben ein großes Wort gesprochen. Auf Sie alle Schuld, wenn die Welt um einen schlechten Mediziner ärmer und um einen schlechten Bildhauer reicher wird!«

Es war inzwischen dunkler geworden, und man hatte Kerzen aus feinstem Bienenwachs auf einem »Leuchterweibchen«, das über dem Tische hing, angesteckt. »Ich habe gar nichts dagegen, wenn du mit Göttersinn und Menschenhand oder meinethalben nur mit Göttersinn, das heißt mit Vernunft, die Fortpflanzung des Menschengeschlechts zu höheren Typen beeinflussen willst.« Mit diesen Worten griff Peter Schmidt abermals in die Debatte ein. »Dasselbige nämlich ist, wenn du erlaubst, das Ziel, das endliche Ziel der ärztlichen Wissenschaft. Es wird ein Tag kommen, wo die künstliche Zuchtwahl unter den Menschen obligatorisch ist.« Die Künstler brachen in Lachen aus. Unbeirrt schloß der Friese: »Es wird dann auch mal ein anderer, noch schönerer Tag heraufkommen, wo Leute wie wir unter den Menschen höchstens wie etwa heut die afrikanischen Buschmänner mitzählen werden.«

Die Lichter des Leuchterweibchens waren heruntergebrannt, als man für angemessen hielt, das kleine Gelage abzubrechen. In den Ateliers herrschte Dunkelheit. Aus irgendeinem Grunde hatten die Arbeiter früher als sonst Feierabend gemacht. Mit den Lichtstümpfen des Leuchterweibchens wurde in den ausgestorbenen Räumen umhergeleuchtet. Lobkowitz deckte partienweise die für Chikago bestimmten Arbeiten ab: der Handel, die Industrie, der Verkehr, die Arbeit, die Landwirtschaft nicht zu vergessen! Modelle von Gips und Ton, deren Umfang kolossalisch war. »Es kommt nichts heraus bei den Kolossen in der Kunst«, sagte Ritter. Die Sachen waren mit Verve gemacht und warfen im Schein der Kerzen riesige Schatten. Willy sagte: »Alles für den nachträglichen Jubiläumsrummel von fourteen hundred and ninety-two, alles für die Chicago World Exhibition. Von Norwegen kommt ein Wikingerschiff. Der letzte Nachkomme des Christoph Kolumbus, ein knickebeiniger Spanier, wird herumgereicht werden! Ein Riesenhumbug, was allemal ein Fressen für die Herrn Amerikaner ist.« Willy erklärte, den Mund immer weit aufmachend, Ritter habe den Zuschlag des riesigen Auftrags nur seiner affenähnlichen Fixigkeit zu verdanken. Die Baukommission habe von Ritter, als die anderen noch nicht den Ton naßgemacht hatten, schon sämtliche Skizzen erhalten. – »Ich habe damals«, sagte Ritter, »noch in meinem kleinen Atelier in Brooklyn, geschlagene achtundvierzig Stunden lang die Hände nicht aus dem Tonkasten gekriegt!« – Alle diese dekorativen Arbeiten waren von bestechender Mache. »Sie genieren mich keinesfalls«, meinte Ritter, »denn nach Schluß der Ausstellung existieren sie nur noch auf der Photographie.« Willy schloß: »So sind nun mal die Amerikaner. Bitte ein Washington-Denkmal, Mr. Ritter! Haben Sie vielleicht zufällig ein fertiges Washington-Denkmal in der Westentasche? – Nein! wird aber bis heut Abend beschafft werden. – Das kann der Kerle!« – Willy berührte seinen vergötterten Ritter leicht –, »und deshalb paßt er in the United States of America.«

Man trat nun in eine besondere Werkstatt Ritters ein, wo Arbeiten von einem ganz anderen Geiste zu sehen waren. Während die Giebelfiguren für Chikago den bekannten weltmarktschreierischen Charakter nicht verleugneten, war hier alles künstlerisch. Ein Hochrelief, singende Mädchen darstellend, stand, noch unvollendet, in Ton auf einer starken Staffelei und zeigte gute Eigenschaften. Man sah, noch in Ton, einen dekorativen Fries, Putti mit Ziegenböcken, tanzende Faune, Mänaden, Silenus auf seinem Eselein, kurz einen figurenreichen Bakchantenzug. Man sah, ebenfalls noch in Ton, eine Brunnenfigur, einen nackten Mann, der einen Fisch, den er in Händen hielt, jovialisch betrachtete. Ein zweiter Sankt Georg, der sein Vorbild im Florentiner Nationalmuseum von Donatellos Hand nicht verleugnete, war bereits im Gipsabguß fertiggestellt. In allen diesen Werken war eine glückliche Mitte zwischen den Griechen und Donatello gefunden und ein Stil, der bei aller erlaubten Abhängigkeit die Art des Meisters zum Ausdruck brachte.

Die hier vereinten Arbeiten waren ohne Ausnahme für den Schloßbau eines amerikanischen Crassus bestimmt, eines Mannes, der an dem jungen Bildhauer und seiner Kunst »einen Narren gefressen hatte« und der mit Eifersucht wachte, damit von seinen Schöpfungen nichts in fremde Hände geriet. Er fühlte sich ganz als ein neuer Medici. Der Bau des Palastes, der innerhalb weiter Gärten auf Long Island für ihn, seine Frau und seine Tochter errichtet wurde und der fast ganz aus Marmor bestand, hatte bereits Millionen von Dollars verschlungen. Weitere waren auf den Etat gestellt. Der plastische Schmuck der Gärten, der Höfe und der Räume des Hauses sollte, und zwar ausschließlich von Ritter, nach freiem Ermessen geschaffen werden. Welche Aufgaben in diesem Amerika! Wären Talente so leicht zu beschaffen, wie der Dollar in »our country« zu beschaffen ist, so müßte das ein drittes, womöglich noch größeres Rinascimento, als das große italienische war, hervorrufen.

Friedrich war von dem einzigartigen Glück des jungen Mannes förmlich berauscht, wobei er besonders den Zusammenklang von Erfolg und Verdienst bewunderte. Wenn er die Fülle dieser scheinbar spielend geschaffenen Werke und den Gleichmut des jungen Meisters mit dem eignen zerwühlten Dasein verglich, überkam ihn zum erstenmal etwas wie Pariagefühl, ja hoffnungslose Niedergeschlagenheit. Wie der Lichtschein der Kerze über das reiche Schöpfungswerk Ritters glitt, der überall Form und Seele in den nassen, formlosen Ton hineingebildet hatte, redete es in Friedrich immerzu: »Du hast dein Dasein versäumt! deine Tage vertan! das Verlorene wirst du niemals einbringen!« Und die Stimme des Neides, der bitteren, vorwurfsvollen Anklage gegen irgendein namenloses höheres Wesen regte sich und wollte wissen, warum dieses Wesen ihn, Friedrich, nicht beizeiten einen solchen Weg hatte einschlagen lassen.

Das Leben Ritters hatte in der Heimat einen Knick bekommen. Irgendein rüder Vorfall beim Militär hatte den jungen Menschen erst zur widersetzlichen Tätlichkeit und dann zur Desertion bewogen. Nun war er seit einigen Jahren in Amerika und mußte sich sagen, daß der Knick in der Heimat eine unumgängliche Sache gewesen war, um das Reis in den neuen, wirklich dafür geeigneten Humus verpflanzen zu können. Schlicht, harmonisch und gerade wuchs die Persönlichkeit Ritters hier wie ein bevorzugter Baum empor, und der Mangel des jungen Prinzen aus Genieland an militärischer Subordination ward vom Fatum durch die ihm zukommende Superordination ein für allemal ausgeglichen.

Ritter sagte plötzlich zu Friedrich: »Sie haben ja auch den Berliner Bildhauer Toussaint an Bord des ›Roland‹ gehabt.« Unter der Hand hatte Peter Schmidt die Künstler ersucht, die Schiffskatastrophe nicht zu berühren, weil dies, bei der nervösen Eigenart des Freundes, von üblen Folgen sein könne. Diese Mahnung geriet in Vergessenheit. »Der arme Toussaint«, sagte Friedrich, »hoffte hier goldene Berge zu finden. Und doch war er nur so etwas wie ein Zuckerbäckergenie.«

»Und doch versichere ich Sie«, sagte jetzt Lobkowitz, »als Mensch war er gewissermaßen großartig. Er war nur durch eine dem gesellschaftlichen Leben sehr zugetane Frau und durch den Strahl der Gnade von hoher Stelle in seinen Vermögensverhältnissen, trotz großer Erfolge, zurückgekommen. Wenn er den Boden Amerikas erreicht hätte, würde er möglicherweise seine Frau sitzengelassen haben und ein ganz anderer Mann geworden sein. Er wollte nur schuften, er wollte nur arbeiten, am liebsten womöglich unter tüchtigen Handwerkern mit heraufgestreiften Hemdsärmeln auf dem Baugerüst stehn. Einmal hat er im Vorbeigehen zu mir gesagt«, schloß Lobkowitz: »›Wenn Sie mal in Amerika gelegentlich einem Maurergesellen begegnen sollten, der in der Arbeitspause seinen Whisky mit Brot und Kümmelkäse zu sich nimmt und mir ähnlich sieht, so denken Sie nur getrost, ich bin's. Und dann brauchen Sie mich nicht bedauern, sondern Sie können mir gratulieren.‹«

Wieder einer, dachte Friedrich, der das beste Teil seines Wesens unter der Geckerei seiner Zeit verborgengehalten hat und der, wie ich, die Entscheidung zwischen Sein und Schein vergebens suchte.

 


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