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Oben auf Deck war es, im Vergleich zum Vormittag, still geworden. Friedrich hatte, nicht ohne Anwandlungen von Schwindel, seinen Mantel aus der Kabine geholt und sich, dem Eingang zur Haupttreppe gegenüber, auf einer Bank niedergelassen. Hahlström war nicht zu entdecken gewesen. Mit hochgeschlagenem Kragen und fest in den Kopf gedrücktem Hut geriet Friedrich in jenen Zustand der Schläfrigkeit, der für Seereisen charakteristisch ist. Dieser Zustand ist trotz der Schwere der Augenlider mit einer rastlosen Luzidität verknüpft. Vor dem inneren Auge jagen die Bilder. Es ist ein ewig kommender, ewig fliehender farbiger Strom, dessen Endlosigkeit der Seele Martern verursacht. Noch toste die sybaritische Mittagstafel, mit ihrem Tellergeklapper, mit ihrer Musik, in Friedrichs Hirn. Er hörte die Worte des Artisten. Nun hielt der Halbaffe Mara im Arm. Der lange Hahlström sah zu und lächelte. Die Wogen wuchteten gegen den Speisesaal und preßten den knackenden Rumpf des Schiffs. Bismarck, eine ungeheuere Panzergestalt, und Roland, der gepanzerte Recke, lachten grimmig und unterhielten sich. Friedrich sah beide durch das Meer waten. Roland hielt die kleine tanzende Mara auf der rechten Hand. Hin und wieder fröstelte Friedrich. Das Schiff lag schief. Es wurde von einem steifen Südost auf die rechte Seite gedrückt. Die Wogen zischten und brausten gewaltig. Der Rhythmus, den die Umdrehungen der Schraubenwelle verursachten, schien Friedrich schließlich der eigene Körperrhythmus zu sein. Man hörte deutlich die Schraube arbeiten. Immer nach einer bestimmten Zwischenzeit hob sich der Hintersteven des Schiffs über das Wasser heraus, und die Schraube begann in der Luft zu schnurren. Da hörte Friedrich den Wilke aus der Heuscheuer sagen: »Herr Dukter, wenn ock de Schraube ni bricht!« Die ganze Maschine arbeitete schließlich, wie Friedrich vorkam, in seinem Gehirn. Zuweilen rief ein Maschinist dem andern Worte zu, im Maschinenraum, und man hörte den Hall von Metallschaufeln.
Friedrich fuhr auf. Es schien ihm, er sah einen Toten, schwankend, die Kajütentreppe empor auf sich zulaufen. Genauer betrachtend, erkannte er jenen Konfektionär, dem er bereits in Southampton begegnet war. Eigentlich glich er mehr einem Sterbenden, als er einem schon Gestorbenen glich. Er sah Friedrich an, mit einem grauenvollen Blick der Bewußtlosigkeit, und ließ sich in den zunächst zu erreichenden, von einem Steward gehaltenen Triumphstuhl hineinfallen. Wenn dieser Mann nicht unter die Helden zu rechnen ist, dachte Friedrich, so hat es niemals Helden gegeben. Oder war es etwa nicht Heroismus, was ihn immer wieder durch das Inferno solcher Reisen hindurchschreiten ließ?
Friedrich gegenüber, am Eingang der Treppe, stand ein Schiffsjunge. Von Zeit zu Zeit, wenn das Signal einer Trillerpfeife von der Kommandobrücke herunterscholl, verschwand er, um von dem gerade diensthabenden Offizier irgendeinen Befehl entgegenzunehmen. Oft verging eine Stunde und längere Zeit, ohne daß die Trillerpfeife erklang, und so lange hatte dann der hübsche Junge Ruhe, über sich und sein Schicksal nachzudenken.
Nachdem Friedrich erfahren hatte, daß er Max Pander hieß und aus dem Schwarzwald stammte, tat er die naheliegende Frage an ihn: ob sein Beruf ihm Freude mache? Er gab Antwort durch ein fatalistisches Lächeln, das die Anmut seines Kopfes noch erhöhte, aber bewies, daß es mit der Leidenschaft für den Seemannsberuf nicht weit her sein konnte.
Friedrich kam es vor, als müsse die dauernde Leidenschaft für die See eine Fabel sein. Die Uhr zeigte drei. Er war nun erst neunzehn bis zwanzig Stunden an Bord und fand, daß der Aufenthalt schon jetzt eine kleine Strapaze war. Wenn der »Roland« nicht mit erhöhter Schnelligkeit seine Reise fortsetzte, so hatte er acht- bis neunmal vierundzwanzig Stunden des gleichen Daseins zu überstehen. Dann aber war Friedrich wenigstens dauernd auf dem Trockenen, der Schiffsjunge aber trat nach wenigen Tagen die Rückfahrt an.
»Wenn man dir an Land irgendwo eine gute Stelle verschaffte«, fragte ihn Friedrich, »würdest du wohl deinen Seemannsberuf aufgeben?« – »Ja«, sagte der Junge bestimmt mit dem Kopf nickend.
»Es ist ein ekelhafter Südost«, sagte Doktor Wilhelm, der neben der hohen Gestalt des Ersten Steuermanns vorüberging. »Wenn es Ihnen recht ist, Kollege, kommen Sie mit in meine Apotheke hinein, dort können wir ungestört rauchen und Kaffee trinken.«
Ging man das zweite, tiefer gelegene Deck des »Roland« entlang, so passierte man, auf der Backbordseite ebenso wie auf Steuerbord, einen gedeckten Gang. Hier hatten die Offiziere ihre Schlafzimmer, und ebendort befand sich auch die Kabine des Doktors Wilhelm, ein verhältnismäßig geräumiger Aufenthalt, der das Bett des Doktors, Tisch, Stühle und einen gut eingerichteten Apothekerschrank enthielt.
Die Herren hatten kaum Platz genommen, als eine Schwester vom Roten Kreuz erschien, die dem Doktor über eine Patientin in der zweiten Kajüte lächelnd Bericht erstattete.
»Das ist so ein Fall, Kollege«, erklärte der Schiffsarzt, als die Schwester gegangen war, »der sich in meiner Schiffspraxis jetzt zum fünftenmal wiederholt: nämlich, Mädchen, die einen Fehltritt begangen haben und, weil sie die Folgen nicht mehr verbergen können, weder aus noch ein wissen, machen Seereisen, wobei ja mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf das erwünschte Malheur zu rechnen ist. Solche Mädchen natürlich«, fuhr er fort, »ahnen nicht, daß sie bei uns typisch sind, und wundern sich, wenn unsere Stewards und Stewardessen ihnen mitunter ziemlich offenkundig die entsprechende Achtung entgegenbringen. Natürlich nehme ich mich solcher Frauensleute immer nach Kräften an, und es ist mir auch meistens gelungen, die Schiffskapitäne zu bewegen, von dem etwa geschehenen Ereignis, sofern es glücklich vorübergegangen ist, eine Anzeige nicht zu erstatten. Denn wir haben den Fall gehabt, wo eine Frauensperson, bei der die Anzeige nicht zu vermeiden war, gleich nach der Landung aufgehängt an einem Fensterwirbel ihres Hafenquartiers gefunden wurde.«
Die Frauenfrage, meinte Friedrich, sei einstweilen, wenigstens wie sie die Frauen auffaßten, nur eine Altjungfernfrage. Die Sterilität der alten Jungfer sterilisiere die ganze Bestrebung. – Und Friedrich entwickelte seine Ideen. – Aber während er dies, da ihm seine Denkresultate geläufig waren, mechanisch tat, suchten ihn allerhand quälende Vorstellungen heim, die sich auf Mara und ihren Verehrer bezogen.
»Den lebendigen Keimpunkt jeder Reform des Frauenrechts«, sagte Friedrich, Rauchwolken von sich blasend, mit äußerlicher Lebhaftigkeit, »muß das Mutterbewußtsein bilden. Die Zelle des künftigen Zellenstaats, der einen gesunderen sozialen Körper darstellen wird, ist das Weib mit Mutterbewußtsein. Die großen Reformatorinnen der Frauenwelt sind nicht diejenigen, deren Absicht es ist, es den Männern in jeder Beziehung gleichzutun, sondern jene, die sich bewußt werden, daß jeder, auch der größte Mann, durch ein Weib geboren ist: die bewußten Gebärerinnen der Geschlechter der Menschen und Götter. Das Naturrecht des Weibes ist das Recht auf das Kind, und es ist das allerschmachvollste Blatt in der Geschichte des Weibes, daß sie sich dieses Recht hat entreißen lassen. Man hat die Geburt eines Kindes, sofern sie nicht durch einen Mann sanktioniert ist, unter den Schwefelregen allgemeiner und öffentlicher Verachtung gestellt. Diese Verachtung ist aber auch zugleich das erbärmlichste Blatt in der Mannesgeschichte. Der Teufel mag wissen, wie sie schließlich zu ihrer scheußlichen, absoluten Herrschaft gekommen ist.
Bildet eine Liga der Mütter, würde ich den Frauen raten«, fuhr Friedrich fort, »und jedes Mitglied bekenne sich, ohne auf Sanktion des Mannes, das heißt auf die Ehe, Rücksicht zu nehmen, praktisch und faktisch, durch lebendige Kinder, zur Mutterschaft. Hierin liegt ihre Macht, aber immer nur, wenn sie mit bezug auf die Kinder stolz, offen und frei statt feige, versteckt und mit ängstlich schlechtem Gewissen verfahren. Erobert euch das natürliche, vollberechtigte, stolze Bewußtsein der Menschheitsgebärerinnen zurück, und ihr werdet im Augenblicke, wo ihr's habt, unüberwindlich sein.«
Doktor Wilhelm, der mit Fachkreisen Fühlung hielt, kannte Friedrichs Namen und seine wissenschaftlichen Schicksale. Die verunglückte bakteriologische Arbeit Friedrichs sowie ihre blutige Abfuhr und Korrektur befanden sich in seinem Bücherfach. Dennoch hatte der Name noch einen autoritativen Klang für ihn. Er horchte gespannt und fand sich im ganzen durch den Umgang mit Friedrich geschmeichelt. Übrigens wurde Doktor Wilhelm plötzlich durch die Schwester vom Roten Kreuz abgeholt.
Die kleine, verschlossene ärztliche Einsiedlerzelle, in der er sich nun allein befand, gab Friedrich Veranlassung, neuerdings über den Sinn seiner wunderlichen Reise nachzudenken. Dabei kam über ihn, im Genusse des Zigarettenrauchs und weil der »Roland« jetzt merklich ruhiger lag, eine gewisse Behaglichkeit. Wenngleich auch dieser Behaglichkeit etwas von dem allgemeinen Nervenrausch der Seereise innewohnte. Es war und blieb sonderbar, auf einen so wunderlichen Anlaß hin, mit diesem großen Menschentransport zu gleichem Wohl und Wehe verfrachtet zu sein und nach dem neuen Erdteil befördert zu werden. Niemals im Leben hatte er wie jetzt das Gefühl gehabt, eine willenlose Puppe des Schicksals zu sein. Aber wieder wechselten lichte mit dunklen Illusionen. Er gedachte Ingigerds, die er noch nicht gesehen hatte; und wie er die bebende Wand des niedrigen ärztlichen Konsultationsraumes anfaßte, durchdrang ihn wiederum das Glück, mit der Kleinen hinter den gleichen Wänden, über dem gleichen Kiel geborgen zu sein. »Es ist unwahr! Lüge!« wiederholte er halblaut immer wieder: und meinte damit die Behauptung des armlosen Krüppels, daß Hahlström die Tochter auf unehrenwerte Weise ausnütze.
Friedrich wurde durch die Rückkehr des Doktors Wilhelm fast schmerzhaft aus Träumereien geweckt. Der Schiffsarzt lachte, warf seine Mütze lachend aufs Bett und sagte, er habe eben die kleine Hahlström samt ihrem Hunde persönlich an Deck geschleppt. Das Luderchen mache förmlich Theater, wobei ihr getreuer Pudel, namens Achleitner, teils der Geprügelte, teils der Verhätschelte sei.
Diese Nachricht erfüllte Friedrich mit Unruhe.
Damals, als Friedrich die kleine Mara zum ersten Male gesehen hatte, schien sie ihm eine Inkarnation kindlicher Reinheit zu sein. Inzwischen waren allerdings Gerüchte an sein Ohr gedrungen, die den Glauben an ihre Unberührtheit ins Schwanken gebracht hatten, und solche Gerüchte waren für Friedrich die Ursache martervoller Stunden und mancher schlaflosen Nacht gewesen. Doktor Wilhelm, der sich selbst für die kleine Mara zu interessieren schien, brachte das Gespräch auf Achleitner, der ihm vertraulicherweise eröffnet hatte, er sei mit Ingigerd Hahlström verlobt. Friedrich schwieg. Es wäre ihm anders nicht möglich gewesen zu verbergen, wie tief er aufs neue erschrocken war. – »Achleitner ist ein getreuer Pudel«, fuhr Wilhelm fort. »Er gehört zu jener hündischen Sorte von Männern, die duldsam sind noch vermöge einer anderen hündischen Eigenschaft. Er läßt sich treten, er apportiert, er macht Männchen und nimmt ein Zuckerstückchen. Sie könnte tun, was sie wollte, er würde doch, meiner Überzeugung nach, immer duldsam und von hündischer Treue sein. Übrigens, wenn es Ihnen recht ist, Kollege von Kammacher, so könnten wir ein bißchen zu den Leutchen hinaus aufs Deck – die Kleine ist spaßhaft – und könnten dabei ein bißchen Natur kneipen.«
Die kleine Mara lag in einem Triumphstuhl hingestreckt. Achleitner, der, recht unbequem, auf einem kleinen Feldstuhl saß, so daß er ihr ins Gesicht blicken konnte, hatte sie wie ein Kind bis unter die Arme in Decken gepackt. Die untergehende Sonne, über die gewaltig schwellenden Hügelungen des Meeres herüber, beleuchtete ein liebliches, gleichsam verklärtes Gesicht. Das Deck war belebt. Bei der ruhigen Lage des Schiffes hatte sich das Bedürfnis zu promenieren geltend gemacht, und es herrschte allgemein eine frisch belebte Gesprächigkeit. Die Erscheinung der kleinen Mara war etwas auffällig, da sie der Schwall ihres weißblonden Haares in weichen, offenen Wellen umgab. Außerdem hatte sie eine kleine Puppe in Händen, ein Umstand, von dem sich jeder Vorübergehende immer wieder ungläubig vergewisserte.
Als Friedrich das Mädchen wiedersah, das, seit Wochen vor seiner Seele schwebend, ihm gleichsam die übrige Welt verdeckt hatte, ward seine Erregung so groß, pochte sein Herz so stark gegen die Rippen, daß er, um nur die Haltung zu bewahren, sich abwenden mußte. Und noch nach Sekunden ward es ihm schwer, sich klarzumachen, daß der versklavte Zustand seines Inneren für die Umgebung nicht ohne weiteres bemerklich sein konnte.
»Ich habe schon von Papa gehört, daß Sie hier sind«, sagte das kleine Fräulein zu Friedrich und rückte dabei ihrem Püppchen die blaue Atlaskapotte zurecht. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Achleitner, holen Sie doch bitte für Herrn von Kammacher einen Stuhl. Sie haben kurzen Prozeß gemacht«, wandte sie sich an Doktor Wilhelm. »Aber ich bin Ihnen dankbar, daß ich hier oben sein und den Sonnenuntergang sehen kann. Sie schwärmen doch auch für Natur, Herr von Kammacher?« – »Nur für Natur«, trällerte Doktor Wilhelm und wiegte sich auf den Zehenspitzen, »hegte sie Sympathie!« – »Ach, Sie sind frech«, sagte Ingigerd. »Der Doktor ist frech! Das sah ich im ersten Augenblick, als er mich ansah und wie er mich anfaßte!« – »Meine liebe kleine Gnädige, ich habe Sie überhaupt, meines Wissens, nicht angefaßt!« – »Ich danke, über die Treppe herauf. Ich hab' blaue Flecke davon bekommen.«
In solcher Weise setzte sich das Gespräch eine Weile fort, wobei Friedrich, ohne es merken zu lassen, jedes Wort, das sie aussprach, jede Miene ihres Gesichtes, die Blicke, das Zucken ihrer Wimpern belauerte. Aber auch jede Miene, jeden Ausdruck, jede Bewegung, jeden Blick, der ihr galt, faßte er eifersüchtig auf. Er konnte bemerken, wie sogar Max Pander, der Schiffsjunge, der noch immer auf seinem Posten stand, sich mit den Augen an sie festsaugte, während ein gespanntes Lächeln die vollen Lippen seines Mundes geöffnet hielt.
Man merkte Ingigerd das Vergnügen an, sich von den Huldigungen der Männer umgeben zu sehen. Sie zupfte das Püppchen, sie zupfte an ihrer seltsamen, braun und weiß gescheckten Kalbsfelljacke herum und überließ sich koketten Launen. Friedrich wandelten bei dem preziösen Ton ihrer Stimme die Entzückungen eines Trinkenden an, der am Verdursten gewesen ist. Gleichzeitig brannte sein ganzes Wesen in Eifersucht. Der Erste Steuermann, Herr von Halm, ein herrlich gewachsener Mensch, ein wahrer Turm, war hinzugetreten und wurde von Mara nicht nur mit Blicken bedacht, sondern auch mit spitzen Bemerkungen: wodurch sie ihren Verehrern verriet, daß ihr der wettergebräunte Seeoffizier nicht gleichgültig war. »Wieviel Meilen, Herr Leutnant«, fragte Achleitner, der blaß war und etwas zu frieren schien, »haben wir wohl seit den Needles zurückgelegt?« – »Wir laufen jetzt wieder etwas besser«, sagte Herr von Halm, »aber wir haben die letzten zwei- oder dreiundzwanzig Stunden nicht zweihundert Meilen gemacht.« – »Auf diese Weise können wir ja bis New York vierzehn Tage brauchen«, rief Hans Füllenberg, der Berliner, etwas vorlaut in die Gruppe hinein. Er hatte die junge Engländerin von Southampton neben sich. Es zog ihn indes mit großer Gewalt in die Sphäre derer um Mara, so daß er aufsprang und seine Cœur-Dame sitzen ließ.
Er brachte den Ton, der Mara und ihren Verehrern, Friedrich von Kammacher ausgenommen, behaglich war. Es entstand eine große Lustigkeit, die sich über das ganze Promenadendeck fortpflanzte. Friedrich fühlte sich angeekelt inmitten dieser Orgie der Banalität; er löste sich los, um mit seinen Gedanken allein zu sein.
Das Deck, das um die Mittagszeit von Wasser getrieft hatte, war jetzt wieder vollständig trocken geworden. Friedrich hatte sich an das äußerste hintere Ende des Steamers gewagt und blickte zurück über die breite, schäumende Straße des Kielwassers. Er atmete auf, zufrieden, nicht mehr im engen Banne des kleinen weiblichen Dämons zu sein. Plötzlich war eine lange Spannung der Seele ausgeglichen. Jetzt schämte er sich seiner Haltlosigkeit, und seine Leidenschaft gerade zu dieser kleinen Person schien ihm lächerlich. Er schlug insgeheim an seine Brust und klopfte sich ungeniert mit den Kniebeln der Rechten, wie um sich zu wecken, gegen die Stirne.
Noch immer stand die Bewegung der frischen Brise schräg gegen den Schiffskörper, der ein wenig nach der Seite lag, wo die Sonne, einen gewaltigen braunen Brand erzeugend, soeben versinken wollte: Diese Sonne, unter der ein steinkohlfarbiges Meer in ruhig wandernden Bergen braune, erdige Schaumkämme langsam wälzte, dieses Meer und schließlich der durch schweres Gewölke zerklüftete Himmel waren für Friedrich wie Sätze einer Weltsymphonie. Für jemand, der sie empfindet, sagte er sich, ist trotz ihrer furchtbaren Herrlichkeit eigentlich kein Grund vorhanden, sich klein zu fühlen.
Er stand in der Nähe des Logs, dessen lange Schnur im Ozean nachschleifte, und wandte sich in die Fahrtrichtung um. Vor ihm bebte das mächtige Schiff. Der Qualm seiner beiden Schornsteine wurde mit der Bewegung der Luft von den Mündungen fort auf das Wasser gedrückt, und man sah einen melancholischen Zug von Gestalten, Witwen in langen Kreppschleiern, händeringend, in stummen Klagen, wie in eine unendliche Dämmerung der Verdammnis davonwandern. Zwischenhinein hörte Friedrich die Laute der schwatzenden Passagiere. Er stellte sich vor, was alles hinter den Wänden dieses rastlos gleitenden Hauses vereinigt war, wieviel Suchendes, Fliehendes, Hoffendes, Bangendes sich darin zusammengefunden hatte; und mit dem allgemeinen großen Staunen wurden in Friedrichs Seele wieder einmal jene noch immer ohne Antwort gebliebenen großen Fragen wach, die mit Warum? und Wozu? den dunklen Sinn des Daseins berühren.
Friedrich hatte nicht bemerkt, wie er promenierend wieder in die Nähe der kleinen Ingigerd Hahlström gekommen war. »Sie werden gewünscht«, sagte da plötzlich eine Stimme. Doktor Wilhelm, der gesprochen, aber zugleich bemerkt hatte, wie sein Kollege zusammenfuhr, entschuldigte sich. »Sie träumen wohl! Sie sind ja ein Träumer!« so rief nun die kleine Mara Friedrich an. »Kommen Sie zu mir«, fuhr sie fort, »die dummen Leute, die um mich sind, gefallen mir nicht.« Sechs, acht Herren, die um sie herstanden, lachten auf und entfernten sich, Achleitner ausgenommen, mit humoristisch betonter Folgsamkeit. »Na also, was sitzen Sie denn noch, Achleitner?!« Damit hatte auch dieser den Laufpaß gekriegt. Friedrich bemerkte, wie die Vertriebenen in einigem Abstand Paare oder Gruppen bildeten und in jener besonderen Art miteinander tuschelten, wie sie bei Herren, die ihren Spaß mit einem nicht gerade prüden weiblichen Wesen gehabt haben, üblich ist.
Eigentlich mit einer Art Scham, jedenfalls aber mit ausgesprochenem Widerwillen nahm Friedrich in diesem Augenblick den noch warmen Sessel Achleitners ein, und Mara begann, für Natur zu schwärmen.
Sie sagte: »Ist nicht alles am hübschesten, wenn die Sonne untergeht? Mir macht es Spaß, mir gefällt es wenigstens«, fügte sie sich entschuldigend hinzu, als Friedrich das Gesicht verzog und sie deshalb glauben mußte, daß er ihre Bemerkung mißbillige. Sie ging dann über zu Sätzen, die alle damit begannen: »Ich will das nicht, ich mag jenes nicht, ich liebe nicht dies oder das«, und so fort. Wobei sie inmitten des ungeheuren kosmischen Dramas, das sich vor ihren Sinnen vollzog, vollkommen nüchtern und anteillos den anmaßlichen Dünkel eines verzogenen Kindes entwickelte. Friedrich wäre am liebsten aufgesprungen. Er zupfte nervös an seinem Schnurrbärtchen, und sein Gesicht nahm eine mokante Starrheit an. Sie merkte das wohl und ward durch diese ihr ungewohnte Art einer Huldigung merklich beunruhigt.
Friedrich war niemals körperlich krank gewesen, dagegen zeigte er hie und da eine leidenschaftliche Sonderbarkeit. Die Freunde wußten, daß er in guten Zeiten ein überdeckter Krater, in weniger guten ein feuerspeiender war. Scheinbar gleich fern, seinem Äußeren nach, von Weichlichkeit und von Brutalität, hatte er dennoch weichliche und brutale Anwandlungen. Zuweilen kam ihn ein dithyrambischer Raptus an, besonders wenn er ein bißchen Wein in den Adern hatte. Dann sprang er umher und schwärmte, wenn es bei Tage war, laut und pathetisch die Sonne, nachts die Sternbilder an und rezitierte eigene Gedichte.
Die kleine Mara empfand Friedrich als eine nicht ungefährliche Nachbarschaft. Aber wie sie nun einmal war, reizte es sie, mit dem Feuer zu spielen. »Solche Leute«, sagte sie, »die sich besser dünken als andere, liebe ich nicht.« – »Ich um so mehr, denn ich bin Pharisäer«, entgegnete Friedrich. Nun aber erklärte er ganz brutal: »Ich finde, daß Sie für Ihre Jahre reichlich naseweis und rechthaberisch sind. Ihr Tanz hat mir eigentlich besser gefallen.« Hierbei war ihm ungefähr so zumute, als ob er sich selber schmerzhaft maßregele. Mara sah ihn mit einem skurrilen Lächeln an. »Nach Ihren Begriffen«, kam es endlich von ihren Lippen, »muß wohl ein junges Mädchen höchstens reden, wenn es gefragt wird, und jedenfalls ohne eigene Meinung sein. Sie sehen so aus, als könnten Sie nur ein Mädchen lieben, das immer nur von sich selber sagt: ›Bin doch ein arm unwissend Kind, begreife nicht, was er an mir find't.‹ Ich liebe nicht solche dummen Geschöpfe.« Als Friedrich, der auf eine schreckliche Weise ernüchtert war, sich erheben wollte, hielt sie ihn mit einem eigensinnig schmollenden »Nein« zurück. »Ich habe Sie schon in Berlin während des Tanzens immer ansehen müssen«, fuhr sie fort und hielt ihr Püppchen quer vor die Lippen, so daß ihr Näschen gequetscht wurde. »Ich empfand schon damals etwas wie ein Band zwischen uns, ich wußte, wir würden uns noch begegnen.« Friedrich erschrak. Er täuschte sich keinen Augenblick über die Tatsache, daß dies eine oft von ihr benutzte Form der Anknüpfung und im Kern eine Lüge war. »Sind Sie eigentlich schon verheiratet?« hörte er, ehe er noch recht zur Besinnung kam, erbleichte tief und schickte sich an zu antworten.
Er sagte, aber keineswegs freundlich, sondern beinahe hart und abweisend: »Es wäre ganz gut, Fräulein Hahlström, wenn Sie mich, bevor Sie mich als einen unter vielen behandeln, genauer ansehen möchten. An das Band, das uns verknüpfen soll, besonders verknüpfen soll, glaube ich einstweilen noch nicht. Sie haben während des Tanzes nicht nur mich, sondern alle Welt angesehen!«
Ingigerd lachte kurz und sagte: »Sie fangen gut an, mein Bester, halten Sie mich etwa für Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orleans?«
»Nicht gerade für das«, gab Friedrich zurück, »aber wenn Sie gestatten, so möchte ich Sie doch für eine junge und distinguierte Dame halten dürfen, deren Ruf mit gar nicht zu übertreibender Sorgfalt vor jeder leisesten Trübung zu bewahren ist.«
»Ruf?« sagte das Mädchen, »Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß so was jemals von Interesse für mich gewesen ist. Zehnmal lieber verrufen sein und nach eigenem Gefallen leben, als sterben vor Langeweile und dabei im besten Rufe stehen. Ich muß mein Leben genießen, Herr Doktor.« An diese Worte, die Friedrich äußerlich ruhig anhörte, schloß Ingigerd eine respektable Reihe von Konfidenzen, deren Inhalt einer Lais oder Phryne würdig gewesen wäre. Friedrich möge sie immerhin bemitleiden, sagte sie, aber niemand solle sich Sachen über sie einbilden. Jeder, der mit ihr umgehe, müsse genau wissen, wer sie sei. Bei diesen Worten verriet sie deutlich eine gewisse angstvolle Wahrhaftigkeit, die vor Enttäuschung bewahren will.
Als die Sonne hinunter war und Ingigerd, immer mit einem wollüstig bösen Lächeln, ihre grausame Beichte beendet hatte, fand Friedrich sich vor die Tatsache eines weiblichen Jugendlebens gestellt, wie es ihm so abenteuerlich und verwildert, selbst in seiner Praxis als Arzt, noch nicht vorgekommen war. Achleitner und der Vater Hahlström, die das Mädchen von Deck holen wollten, waren mehrmals heftig durch es vertrieben worden. Friedrich brachte schließlich Mara in ihre Kabine zurück.
In seiner eigenen Kabine warf sich Friedrich, so wie er war, aufs Bett, um das Unfaßliche durchzudenken: er seufzte, er knirschte, er wollte zweifeln. Er sagte mehrmals laut ein »Nein« oder ein »Unmöglich« und schlug dabei mit der Faust gegen die nahe Matratze des oberen Bettes: und schließlich hätte er schwören mögen, daß diesmal in der ganzen frechen Erzählung des Mädchens nichts gelogen war. »Mara oder das Opfer der Spinne.« Jetzt begriff er auf einmal ihres Tanzes Titel und Gegenstand. Sie hatte getanzt, was sie früher gelebt hatte.
Ich hab' mein Sach auf nichts gestellt: mit diesem inneren Kehrreim begleitete Friedrich während der Abendtafel seine etwas gequälte, äußerlich überschäumende Lustigkeit. Er und der Schiffsarzt tranken Champagner. Schon bei der Suppe hatte Friedrich die erste Flasche bestellt und sogleich mehrere Kelche hinuntergegossen.
Je mehr er trank, um so weniger schmerzte ihn seine Wunde, um so wundervoller erschien ihm die Welt, will sagen, sie schien ihm voller Wunder und Rätsel zu sein, von denen umgeben, von denen durchdrungen er selbst den Rausch eines Abenteurerdaseins genoß. Er war ein glänzender Unterhalter. Er popularisierte dabei mit Glück seinen Bildungsschatz. Er besaß überdies einen leichten Humor, der ihm auch dann zu Gebote stand, wenn bittre Humore, so wie jetzt, den tiefen Grund seiner Seele bevölkerten. So kam es, daß die Kapitänsecke an diesem Abend unter dem Bann seines Geistes stand.
Er trug jenen Glauben an die alleinseligmachende Kraft der Wissenschaft und des modernen Fortschritts zur Schau, der ihn eigentlich schon verlassen hatte. In dem festlichen Glanz von zahllosen Glühlampen, aufgeregt durch Wein, Musik und den rhythmisch pulsierenden Gang des wandernden Schiffskörpers, schien ihm indessen wirklich zuweilen, als wenn die Menschheit, mit klingendem Spiel, auf einer festlichen Prozession nach den glückseligen Inseln begriffen wäre. Vielleicht würde der Mensch dereinst mit Hilfe der Wissenschaft unsterblich. Man würde Mittel und Wege finden, die Zellen des Körpers jung zu erhalten. Man hatte jetzt schon tote Tiere durch Einspritzen einer Salzlösung zum Leben erweckt. Er sprach von den Wundern der Chirurgie, die oft das Gesprächsthema bilden, wenn der Gegenwartsmensch sich der ungeheuren Überlegenheit seines Zeitalters bewußt werden will. Binnen kurzem würde die soziale Frage durch die Chemie gelöst und Nahrungssorge den Menschen eine gewesene Sache sein. Die Chemie nämlich stehe dicht vor der Möglichkeit, tatsächlich aus Steinen Brot zu machen, was bisher nur der Pflanze gelang.
Mit Grauen dachte Friedrich mitten im Trubel aller Betäubungen an den Beginn der Schlafenszeit. Er wußte, daß er kein Auge schließen würde. Er ging nach Tisch mit dem Arzt in den Damensalon, von da in das Rauchzimmer. Nicht lange, so trat er wieder an Deck heraus, wo es finster und öde geworden war und der Wind wieder heftig und kläglich durch das Takelwerk der Notmasten greinte. Es war bitter kalt, und Friedrich schien es, als ob Schneeflocken seine Wangen streiften. Endlich mußte er sich entschließen, zur Ruhe zu gehn.
Zwei Stunden lang, etwa die Zeit zwischen elf und ein Uhr nachts, befand er sich, auf seiner Matratze zusammengekrümmt, meist im Zustande wachen Grübelns und zuweilen, auf kurze Zeit, in einem ziemlich qualvollen Dämmer, zwischen Wachen und Schlaf. In beiden Zuständen ward seine Seele von einem Zudrang visionärer Bilder aufgeregt; zuweilen war es ein wilder Reigen, zuweilen ein starres, quälendes Einzelgesicht, das nicht weichen wollte. Alles in allem bestand ein rettungsloser Zwang, das innere Auge für die Spiele fremder Mächte offenzuhalten. Er hatte die Lampen abgestellt, und nun, in der Dunkelheit, wo der äußere Sinn des Auges unbeschäftigt blieb, empfand er doppelt, was ihm Gehör und Gefühl vermittelten: alle Geräusche und Bewegungen des gewaltigen Schiffs, das seinen Kurs durch die mitternächtige See gleichmäßig fortsetzte. Er hörte das Wühlen des Propellers in seiner Rastlosigkeit. Es war wie das Arbeiten eines gewaltigen Dämons, der in die Fron der Menschheit gezwungen war. Er hörte Rufen, Schreiten, wenn die Kohlenarbeiter die Schlacken der gewaltigen Herde in den Ozean schütteten. Fünfundzwanzigtausend Zentner Kohlen wurden mit der Speisung dieser Herde während der Fahrt nach New York verbraucht.
Im übrigen war Friedrichs Vorstellungswelt im Banne Maras und manchmal im Banne seiner zurückgelassenen Frau, deren Leiden er sich zum Vorwurf machte: jetzt, wo Ingigerd Hahlström seine Neigung entwürdigt hatte. Seine ganze Psyche schien in den Zustand der Reaktion gegen das Gift dieser Leidenschaft geraten zu sein. Ein schweres Fieber raste in ihm. Und das, was in diesem Zustand sein Ich vertrat, war nach dem Du, nach Mara, auf einer wütenden Jagd begriffen. Er griff sie auf in den Straßen Prags und schleppte sie zu der Mutter zurück. Er entdeckte sie in verrufenen Häusern. Er sah sie im Hause eines Mannes stehen, der sie aus Mitleid aufgegriffen und mit in die Wohnung genommen hatte, wo sie, von ihm verschmäht, Stunde um Stunde weinend am Fenster stand. Friedrich hatte den teutschen Jüngling noch nicht völlig abgestreift. Das alte, verschlissene Ideal der »deutschen Jungfrau« besaß im Grunde noch für ihn seinen Heiligenschein. Aber sooft auch Friedrich Mara bei scheußlichen Dingen ertappte, sooft er sie in seinen Phantasien von sich stieß, ihr Bild mit allen moralischen Kräften seines Wesens zu tilgen suchte, ihr goldumlocktes Antlitz, ihr weißer, gebrechlicher Mädchenleib traten durch jeden Vorhang, durch jede Mauer, durch jeden Gedanken wieder hervor, gleich unzerstörbar durch Gebet wie durch Fluch.
Kurz nach ein Uhr nachts wurde Friedrich aus seiner Koje geworfen. Im nächsten Augenblick taumelte er gegen das Bett zurück. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß der »Roland« wieder in bewegtere Gegenden des Atlantiks geraten war und das Wetter sich wieder verschlimmert hatte.
Zwischen fünf und sechs Uhr des Morgens bereits war Friedrich an Deck. Er hatte den gestrigen Platz, auf der Bank, gegenüber der Stiege hinunter zum Speisesaal, wieder eingenommen. Von dorther brachte sein Steward, ein junger, unermüdlicher Mensch, gebürtig aus der Provinz Sachsen, ihm heißen Tee und Zwieback herauf: Dinge, die not taten.
Immer wieder wurde das Deck von Seewasser überspült. Von dem Dache des kleinen Überbaus, der die Treppe schützte, stürzten mitunter Ströme von Wasser herab, so daß der kleine Kollege Panders, der jetzt dort Wache hielt, ganz durchnäßt wurde. Der »Roland« trug bereits Eiskristalle an seinen Notmasten und in seinem Takelwerk. Regen und Schneegestöber wechselten. Und der graue, trostlose Dämmer des Morgens, mit seinem Aufruhr, dem Heulen, Pfeifen und Winseln des heftigen Winds um Masten und Takelwerk, mit seinem wilden und allgemeinen Gezisch und Geräusch, wollte, so schien es, sein Dasein verewigen.
Die Hände an seinem gewaltigen Teeglase wärmend, blickte Friedrich mit glühenden, wie es ihm vorkam, eingesunkenen Augen jeweilig über die sich gerade senkende Bordwand des rollenden und stampfenden Schiffes hinaus. Er fühlte sich leer. Er fühlte sich stumpfsinnig, ein Zustand, der ihm indessen nach der nächtigen Bilderflucht willkommen war. Immerhin erfrischte ihn auch die starke, feuchte, bromreiche Luft und auf der Zunge der Salzgeschmack. Bei leisem Frösteln, unter dem hochgeklappten Kragen seines Mantels, meldete sich sogar eine angenehme Schläfrigkeit.
Dabei empfand er den Wogenaufruhr und den Kampf des schwimmenden Hauses in seiner vollen Großartigkeit: die Schönheit und Kraft des bestimmten Kurses, womit es die rollenden Höhenzüge durchschnitt oder eigentlich mit immer neuem, gelassenem Todesmut durchbrechen mußte. Friedrich lobte bei sich das wackere Schiff, als ob es lebendig wäre und seine Erkenntlichkeit zu beanspruchen hätte.
Kurz nach sieben erschien ein dünner und schlanker Mensch in Schiffsuniform, der sich Friedrich langsam näherte. Er führte den Finger leicht an die Mütze und fragte: »Sind Sie Herr von Kammacher?«
Als Friedrich bejahte, zog er einen Brief aus der Brusttasche, erklärte, daß er gestern mit der Lotsenpost von Frankreich eingetroffen sei, aber nicht sofort zugestellt werden konnte, weil der Name Kammacher in der Passagierliste nicht zu finden gewesen wäre. Der Herr hieß Rinck und hatte das deutsch-amerikanische Seepostamt an Bord des »Roland« unter sich.
Friedrich versteckte den Brief, auf dem er die Hand seines Vaters erkannt hatte. Er fühlte, wie seine Lider unter einem heißen Andrang sich schließen mußten.
Doktor Wilhelm traf Friedrich in einer weichen Stimmung an.
»Ich habe geschlafen wie ein Bär«, sagte der Schiffsarzt, und man merkte an seinem gesunden und erfrischten Gesichte, der behaglichen Art seines Dehnens und Gähnens, daß er sich wirklich von Grund aus erfrischt hatte. »Kommen Sie nach dem Frühstück mit ins Zwischendeck? Eh wir gehen, machen wir uns aber in meiner Apotheke erst mit Insektenpulver kugelfest.«
Dies war geschehen. Die Herren hatten gefrühstückt: Bratkartoffeln und kleine Koteletts, ham and eggs, gebratenen Flunder und anderen Fisch. Dazu hatten sie Tee und Kaffee getrunken; nun begaben sie sich ins Zwischendeck.
Als sie sich einigermaßen an das dort herrschende Zwielicht gewöhnt hatten – jeder hielt sich, um nicht zu fallen, an einem der senkrechten eisernen Träger der Decke fest –, sahen sie sich einem am Boden ächzenden, jammernden, schreienden, geschüttelten Menschengewimmel gegenüber. Die Ausdünstungen vieler Familien russischer Juden mit Kind und Kegel, Sack und Pack verdarben die Luft, da es nicht möglich war, Luken zu öffnen. Blasse Mütter, mehr tot als lebendig, mit offenen Mündern und geschlossenen Augen daliegend, hatten Säuglinge an der Brust, und es war furchtbar zu sehen, wie sie willenlos hin und her gerollt, von den Konvulsionen des Brechreizes gemartert wurden. »Kommen Sie«, sagte Doktor Wilhelm, der etwas wie Schwindel im Gesicht des Kollegen bemerkt hatte, »beweisen wir unsere Überflüssigkeit.« Aber Doktor Wilhelm, von der Krankenschwester begleitet, konnte doch hie und da etwas Gutes tun. Er verordnete Trauben und andere Genußmittel, die aus den Speisekammern der ersten Kajüte geliefert wurden.
So ging es von Abteilung zu Abteilung, mit nicht geringer Mühe und Anstrengung, wo sich überall Elend auf der Flucht vor dem Elend zusammendrängte. Selbst auf den bleichen Gesichtern derer, die sich irgendwo in diesem schwankenden Schubfach der Verzweiflung aufrecht hielten, lag ein Ausdruck finster-gehässiger Bitterkeit. Es war hier auch manches hübsche Mädchen zu finden. Die Blicke der Ärzte und dieser Mädchen trafen sich. Eine große Gefahr, eine große Not läßt das Leben des Augenblicks begehrlicher auflodern. Es ist eine tiefe Gleichheit, die da von den Menschen empfunden wird. Zugleich erzeugt sich Verwegenheit.
Friedrich blieb der tiefe und finstere Blick einer jungen russischen Jüdin in Erinnerung. Wilhelm, dem es wohl nicht entgangen war, daß sein Kollege auf das Mädchen und dieses auf ihn Eindruck gemacht hatte, konnte sich nicht enthalten, diese Tatsache zu berühren, indem er Friedrich lachend beglückwünschte
Im Weiterschreiten sahen die Herren sich durch Wilke gestellt und mit grölender Stimme angerufen. Das Bild des Landsmannes aus der Heuscheuer hatte sich inzwischen verändert, weil er augenscheinlich dem Jammer seines Zustandes durch Genuß von Schnaps entgegenzuwirken versucht hatte. Wilhelm schnauzte ihn an, da Wilke seiner Umgebung lästig, ja gefährlich war. In seiner Betrunkenheit schien er sich für verfolgt zu halten. Sein geöffnetes Bündel schmutziger Lumpen lag neben Käse und Brotresten auf der Matratze, und er hatte sein offenes Taschenmesser, eine Art Nickfänger, in der Rechten.
Wilke schrie, er sei von seinen Nachbarn, von den Stewards, von den Matrosen, von dem Proviantmeister, vom Kapitän bestohlen worden. Friedrich nahm ihm das Messer weg, redete ihn bei Namen an und führte ihm, indem er eine Narbe am struppigen Halse des Gewaltkerls anfaßte, zu Gemüt, daß er nach einer Messerstecherei von ihm schon einmal genäht und mit knapper Not am Leben erhalten worden sei. Wilke erkannte Friedrich und wurde ruhiger.
Als die beiden Ärzte wieder emporgestiegen waren und die reine Luft des Ozeans atmeten, hatte Friedrich die Empfindung, einer erstickenden Hölle entronnen zu sein.
Sie schritten mit vieler Mühe über das nasse, leere Deck, das immer wieder von überkommenden Wogen gebadet wurde. Aber es war ein befreiender Graus, der Friedrich erfrischte. Um den Brief von Hause zu lesen, den er beinahe vergessen hatte, begab er sich in den Damensalon. Einige jener Damen, die von der Seekrankheit nicht zu leiden hatten, saßen dort vereinzelt umher, in einem schlaffen, ermüdeten Zustand. Das ganze Gemach roch nach Plüsch und Lack, hatte Spiegel in Goldrahmen und einen Konzertflügel. Der Tritt der Füße wurde durch einen Teppich lautlos gemacht.
Friedrich von Kammachers Vater schrieb:
Lieber Sohn!
Ich weiß nicht, ob dieser Brief Dich treffen wird und wo er Dich treffen wird. Vielleicht erst in New York, wo er möglicherweise später als Du eintrifft. Eigentlich solltest Du den Gruß Deines alten Vaters und Deiner guten Mutter noch mit auf Deine uns einigermaßen überraschende Reise nehmen. Aber wir sind ja gewohnt an Überraschungen durch Dich, da wir ja Dein Vertrauen schon seit langem nur in sehr bedingtem Maße genießen. Ich bin Fatalist und übrigens weit entfernt davon, Dich mit Vorwürfen zu ennuyieren. Es ist aber schade, daß sich seit der Zeit Deiner Mündigkeit so viele Gegensätze in unserem Denken und Handeln aufgetan haben. Gott weiß es, daß das sehr schade ist. Hättest Du doch manchmal auf mich gehört . . . doch wie gesagt, mit »hättest Du doch« und ähnlichen Redensarten, die nachhinken, ist nichts auszurichten! – Lieber Junge, da Du nun einmal vom Schicksal in bitterer Weise heimgesucht worden bist – ich sagte Dir gleich, Angele stammt aus einer ungesunden Familie –, so halte jetzt wenigstens Kopf und Nacken hoch, denn wenn Du das tust, ist nichts verloren. Ich möchte Dich ganz besonders bitten, daß Du Dir den Unsinn mit der fehlgeschlagenen Bazillenriecherei nicht etwa zu Herzen nimmst. Ich sage Dir jetzt nicht zum erstenmal, daß ich den ganzen Bazillenlärm für Schwindel halte. Pettenkofer schluckte ja auch eine ganze Typhusbazillen-Kultur, ohne daß es ihm etwas anhatte. Meinethalben geh nach Amerika: das braucht durchaus kein übler Gedanke, keine verfehlte Unternehmung zu sein. Ich kenne Leute, die sind von dort, nachdem sie hier in Europa Schiffbruch gelitten hatten, als beneidete, umschmeichelte Millionäre zurückgekommen. Und ich zweifle nicht, Du hast, nach allem, was Du erleben mußtest, reichlich und reiflich den Schritt erwogen, den Du nun tust . . .
Mit einem Seufzer und einem kurzen, beinahe unhörbaren Auflachen faltete Friedrich den Brief zusammen. Er wollte ihn später zu Ende lesen. Da bemerkte er jenen amerikanischen Schlingel, an dem er sich schon gestern geärgert hatte, im Flirt mit einer jungen Dame, wie er wußte, einer Kanadierin. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als plötzlich in dem feuergefährlichen Raum ein Häufchen schwedischer Zündhölzer aufloderte, das der Jüngling in Brand gesteckt hatte. Ein Steward kam und bemerkte, in aller Bescheidenheit sich zu dem Dandy niederbeugend, daß er die Pflicht habe, ihn auf das Unstatthafte seines Tuns hinzuweisen. Worauf ihn jener mit einem »Get out with you, idiot« fortschickte.
Friedrich zog den Brief seiner Mutter hervor und mußte, bevor er zu lesen begann, flüchtig über die Frage nachdenken, welch ein Stoff wohl im Schädel des jungen Amerikaners das Hirn vertreten möchte. Die Mutter schrieb:
Geliebter Sohn!
Die Gebete Deiner Mutter begleiten Dich. Du hast viel erfahren, viel erlebt und viel erlitten bei jungen Jahren. Damit Du aber gleich auch etwas Freudiges zu hören bekommst, wisse: Deine Kinderchen sind wohlauf. Ich habe mich vor drei Tagen überzeugt, daß sie es bei dem jovialen Pastor Mohaupt gut haben. Albrecht hat sich prächtig herausgemacht, Bernhard, der ja mehr seiner Mutter ähnelt und immer ein schweigsamer Junge gewesen ist, erschien mir frischer und auch gesprächiger, und es scheint, daß ihm das Leben im Pastorhause und in der Landwirtschaft Freude macht. Herr Mohaupt meint, beide Jungens seien keineswegs unbegabt. Sie haben bei ihm bereits den ersten lateinischen Unterricht. Die kleine Annemarie fragte mich schüchtern nach Mama, aber ganz besonders und oft nach Dir. Ich habe gesagt, in New York oder Washington sei ein großer Kongreß, wo sie der schrecklichen Tuberkulose – Auszehrung oder Schwindsucht, sagte ich – mal endlich den Garaus machen würden. Junge, komm nur bald in das liebe alte Europa zurück!
Ich habe mit Binswanger eine lange Unterredung gehabt. Er sagte mir, daß Deine Frau hereditär belastet ist. Das Leiden habe in ihr gelegen und würde unbedingt früher oder später ausgebrochen sein. Er sprach auch von Deiner Arbeit, liebes Kind, und meinte, Du möchtest Dich nur nicht ducken lassen. Vier, fünf Jahre eifriger Arbeit, und Deine Schlappe sei wettgemacht. Mein lieber Friedrich, folge doch Deiner alten Mutter und wende Deine Seele vertrauensvoll zu unserem lieben himmlischen Vater zurück! Ich glaube, Du bist ein Atheist. Lache nur über Deine Mutter! Glaube mir, wir sind nichts ohne Gottes Beistand und Gottes Gnade! Bete manchmal: es schadet nichts! Ich weiß, wie Du Dir in mancher Beziehung mit Unrecht Angeles wegen Vorwürfe machst. Binswanger sagt, in dieser Beziehung könntest Du vollkommen ruhig sein. Aber wenn Du betest, glaube mir, wird Gott jeden Gedanken an Schuld aus Deiner geängsteten Seele nehmen. Du bist nicht viel über dreißig hinaus. Ich aber ebensoviel über siebzig. Mit der Erfahrung von vierzig langen Jahren, die ich vor Dir, meinem Jüngsten, voraushabe, sage ich Dir, Dein Leben kann sich noch so gestalten, daß Du eines Tages von Deinen jetzigen Nöten und Leiden kaum noch die Erinnerung hast. Die Tatsachen werden Dir zwar vor dem Geiste stehen: allein Du wirst vergeblich versuchen, Dir das lebendige Leiden und Fühlen vorzustellen, was für Dich heute damit verknüpft ist. Ich bin eine Frau. Ich habe Angele liebgehabt. Dennoch habe ich sie und Dich und Dich und sie mit ganz gerechtem Sinne beobachtet. Glaube mir: sie hätte mitunter jeden Mann zur Verzweiflung gebracht . . .
Der Schluß des Briefes war mütterliche Zärtlichkeit. Friedrich fand sich im Geist an das Nähtischfenster seiner Mutter versetzt und küßte ihr Scheitel, Stirn und Hände.
Als Friedrich aufblickte, sah er den Steward, der abermals zu dem Dandy getreten war, und hörte, wie dieser ihn auf gut Deutsch mit den lauten Worten »Der Kapitän ist ein Esel!« fortschickte. Ein Wort, das allen wie ein elektrischer Schlag durch die Nerven ging. Dabei brannte schon wieder der Scheiterhaufen mit einem schwanken Flämmchen durch den von bänglichem Dämmer beladenen, feuergefährlichen Raum.
Friedrich präparierte im Geist sauber, nach allen anatomischen Kunstregeln, das Kleinhirn und Großhirn des Jünglings heraus, gleichsam um das Zentrum der Stupidität, die ohne Zweifel die ganze Seele des jungen Amerikaners ausmachte, vor den Studierenden bloßzulegen. Und außerdem war die hier zutage tretende Frechheit, die vielleicht auch im Hirn ihre Zentralstelle hatte, ein Ding von der größten Seltenheit. Friedrich von Kammacher mußte lachen und empfand inmitten der Heiterkeit, daß er nun insofern einer neuen Freiheit genoß, als Mara, die kleine Ingigerd Hahlström, keine Gewalt mehr über ihn hatte, ja ihm beispielsweise weniger als die dunkle Jüdin bedeutete, die er vor kaum einer Viertelstunde zum ersten Male erblickt hatte.
Kapitän von Kessel trat herein. Er nahm, nachdem er Friedrich mit leichtem Nicken des blonden Kopfes begrüßt hatte, am Tisch einer älteren Dame Platz, die sogleich lebhaft auf ihn einredete. Es wurden inzwischen Blicke gewechselt zwischen dem jungen Dandy und der schönen Kanadierin, die bleich und vergangen, aber kokett im Fauteuil lehnte. Friedrich urteilte, daß sie eine Frau von ungewöhnlicher, südlicher Schönheit wäre: gerade Nase, vibrierende Flügelchen, starke, edelgeschwungene Brauen, schwarz, wie das Haupthaar, und der schattenhafte Flaum um den feinen, sprechenden, zuckenden Mund. Da sie bei ihrem Schwächezustand, infolge der starken Bewegung des Steamers, dem Anreiz zum Lachen nicht widerstehen konnte und ihr Verehrer mit komischem Ernst abermals seine Streichhölzer aufschichtete, zog sie sich einen schwarzen Spitzenschal zeitweilig über das ganze Gesicht.
Es war ein spannender Augenblick, als es den unzweideutigen Anschein gewann, daß der Jüngling sein feuergefährliches Spiel, trotzdem jetzt der Kapitän zugegen war, nochmals beginnen wollte.
Von Kessel, breit und schwer, mit seinen etwas zu kurzen Beinen, erschien in dem zierlichen Damensalon einigermaßen unproportioniert. Er saß gelassen und plauderte friedlich. Man konnte am Ausdruck seines Gesichtes übrigens merken, daß er, des Wetters wegen, in ernster Stimmung war. Plötzlich flammte der Scheiterhaufen. Und nun wandte sich der ruhige Bernhardinerkopf des Kapitäns ein wenig herum, und jemand sagte das Wort »Auslöschen!« in einem Ton, der nicht mißzuverstehen war und wie ihn Friedrich so knapp, so befehlend und so wahrhaft furchtbar nie bisher von eines Mannes Lippen vernommen hatte. Der erbleichte Jüngling hatte im Nu sein Feuerchen ausgequetscht. Die schöne Kanadierin schloß die Augen . . .
Der Barbier, bei dem sich Friedrich kurz darauf rasieren ließ, sagte: »Das Wetter ist miserabel.« Er war ein intelligenter Mann, der trotz des gewaltigen Schaukelns mit großer Sicherheit seine Kunst betrieb. Er erzählte nochmals die Geschichte von der ›Nordmannia‹ und wie durch die Springflut das Klavier durch den Boden des Damensalons angeblich bis in den Schiffsraum hinuntergeschlagen worden war. Ein deutsches Dienstmädchen kam, das er Rosa nannte und dem er Eau de Cologne aushändigte. Die Landpomeranze sah kerngesund und nicht sehr erleuchtet aus. »Es ist schon die fünfte Flasche Eau de Cologne«, sagte der Barbier, »seit Cuxhaven. Sie dient bei einer Frau mit zwei Kindern, die von ihrem Manne geschieden ist. Das Dienstmädchen hat keine guten Tage. Sie muß für monatlich sechzehn Mark zu jeder Stunde morgens, mittags, vor und nach Mitternacht zur Verfügung stehn. Ich habe der Frau die Frisur in Ordnung gebracht. Was ist sie doch da nicht über diese Rosa hergezogen! Nicht die leiseste Spur von Erkenntlichkeit.« Friedrich war es angenehm, sich von dem lebhaften Manne, während er ausgestreckt auf einem patentierten Operationsstuhle lag und sich schaben ließ, allerlei Dinge erzählen zu lassen. Es leitete ab, es beruhigte ihn. Er genoß einen kleinen Vortrag über moderne Schiffskonstruktion. Es sei ein Fehler, daß man so viel Gewicht lege auf den Rekord der Schnelligkeit. Wie sollte solch ein leichtgebautes, oblatendünnes Riesengebäude auf Dauer einer schweren See standhalten. Dabei die ungeheuren Maschinen, der ungeheure Kohlenverbrauch. Der »Roland« sei allerdings ein gutes Schiff und auf den Werften von John Elder & Co. in Glasgow erbaut worden. Er wäre seit Juni 1881 in Dienst gestellt. Er habe fünftausendachthundert indizierte Pferdekräfte. Hundertfünfzehn Tonnen betrage sein täglicher Kohlenverbrauch. Er laufe dabei sechzehn Knoten die Stunde. Sein Registertonnengehalt erreiche die Zahl viertausendfünfhundertzehn. Er besitze eine dreizylindrige Compoundmaschine. Seine Besatzung belaufe sich auf hundertundachtundsechzig Mann.
Alle diese Details wußte der Schiffsbader wie am Schnürchen herzuzählen. Ärgerlich, als ob er persönlich damit die größte Mühe hätte, erzählte er, der »Roland« schleppe bei jeder Überfahrt in seinen Kohlenbunkern fünfundzwanzig und mehr tausend Zentner Steinkohle mit. Er blieb dabei: eine langsame Fahrt sei bequem und sicher, während eine schnelle Fahrt gefährlich und teuer sei.
Der kleine Barbiersalon würde mit seinem elektrischen Licht behaglich gewesen sein, wenn er festgestanden hätte. Leider aber bewegte er sich, wobei seine Wände von dem Puls der Maschine bebten und zitterten und draußen die Woge mit tigermäßigem Grimm gegen das dicke Glas der Luke sprang. Die Flakons in den Schränken klirrten und klapperten: der Barbier aber meinte, die langsamer gehenden, schwerer gebauten Schiffe hätten einen bei weitem ruhigeren Gang.
Dann sprach er von einer kleinen Person, die gefärbtes Haar trage. »Sie hat«, sagte er, »wohl über eine Stunde auf dem Operationsstuhle liegend zugebracht und sich Schminken sowie verschiedenen Puder und nach und nach meinen ganzen Vorrat an Pinaud und Roger et Gallet zeigen lassen.« Der Coiffeur lachte in sich hinein. Er meinte, daß man auf Seereisen Gelegenheit finde, die allerseltsamsten Frauenspersonen kennenzulernen, und gab gewisse Geschichten zum besten, die er angeblich selbst erlebt und deren Heldin jedesmal eine erotomanische Dame war.
Besonders furchtbar war der Vorfall mit einer jungen Amerikanerin, die man ohne Besinnung in einem der hängenden Rettungsboote gefunden hatte, wo sie nach und nach von der ganzen Mannschaft mißbraucht worden war: Friedrich wußte, daß für die Richtung, in der sich die Phantasie des Barbiers bewegte, die Person Ingigerd Hahlströms den Anlaß gab. Sie hatte auf eben dem Stuhle gesessen, auf dem er noch immer ruhend lag; und an dem stockenden, dann wieder springenden Schlag seines Herzens mußte er mit Entsetzen merken, daß die Macht der Kleinen noch nicht gebrochen war.
Friedrich sprang auf und schüttelte sich. Es war ihm, als müsse er in heiße und kalte Bäder unter peitschende Duschen kalten Wassers hinein, um sich außen und innen rein zu waschen, um ein widerwärtiges, schwärendes Gift aus dem Blute zu ziehn.
Die Barbierstube lag in der hinteren Hälfte des Schiffskörpers. Wenn man heraustrat, konnte man Zylinder und Wellen der Dampfmaschinen arbeiten sehn. Friedrich kletterte mühsam empor auf das Wandeldeck und kroch in das überfüllte Rauchzimmer, obgleich es ihn eigentlich anekelte, mit lärmenden Menschen zusammengepfercht zu sein.
Doktor Wilhelm hatte ihm Platz gehalten. »Nun, Sie waren im Zwischendeck«, sagte der Kapitän, gegen Friedrich gewandt, wobei er schalkhaft ein wenig lächelte, »unser Doktor sagte mir, eine schöne Deborah habe Ihnen einen gefährlichen Eindruck gemacht.« Friedrich lachte, und somit war das Gespräch von Anbeginn in heitere Bahnen gelenkt.
In ihrem Winkel saßen die Skatspieler. Es waren Geschäftsleute von apoplektischer Konstitution. Sie hatten seit dem Frühstück Bier getrunken und Skat gespielt, wie sie es immer, außer im Schlaf, seit Beginn der Reise getan hatten. Die Unterhaltungen der übrigen interessierten sie nicht. Weder taten sie Fragen nach dem Wetter, noch schien ihnen das Schaukeln des Schiffskolosses oder das öde und grimmige Pfeifen des Windes bemerkbar zu sein. Die Wucht des Schwunges, den das rollende Schiff erdulden mußte, war mitunter so groß – von Backbord nach Steuerbord und von Steuerbord nach Backbord hinüber –, daß Friedrich sich unwillkürlich anklammerte. Er hatte dann manchmal ein Gefühl, als könnte Backbord über Steuerbord oder Steuerbord über Backbord hereinstürzen. In diesem Falle würde dann der Kiel des »Roland« in freier Luft, dafür aber die Kommandobrücke, Masten und Schornsteine mit erheblichem Tiefgang unter dem Wasserspiegel gewesen sein. Dann wäre wohl alles verloren gewesen: nur diese drei Skatspieler, wie ihm schien, hätten auch wohl, mit den Köpfen nach unten, weitergespielt.
Hahlströms lange Gestalt kroch gebeugten Kopfes in den Qualm der Schwemme herein. Sein helles, kaltes, kritisches Auge suchte einen Platz auszumitteln. Er ließ den Mann ohne Arme unbeachtet, der ihm ironisch spaßhaft entgegenschrie. Nachdem er sich in möglichst weiter Entfernung von Stoß mit gelassener Höflichkeit etwas Platz gesucht hatte, zog er einen Tabaksbeutel und eine kurze holländische Pfeife heraus. Friedrichs erster Gedanke war: wo ist Achleitner? »Wie geht's Ihrer Tochter?« fragte der Schiffsarzt. – »Oh«, meinte Hahlström, »das geht vorüber. Das Wetter wird besser werden, denke ich.« Die ganze Gesellschaft, die sich naturgemäß aus den seefesten und seegewohnten Elementen rekrutierte, nahm nun für eine Weile an dem Wettergespräch teil. »Ist es denn wahr, Herr Kapitän«, fragte jemand, »daß wir heute nacht beinahe auf ein schwimmendes Wrack gerannt wären?« Der Gefragte lächelte, ohne zu antworten. »Wo sind wir eigentlich jetzt, Herr Kapitän? Haben wir heut in der Nacht Nebel gehabt? Ich habe doch mindestens eine Stunde lang alle zwei Minuten die Sirene gehört!« – Kapitän von Kessel blieb aber in allem, was Leitung und Schicksal der Fahrt betraf, einsilbig. »Ist es wahr, daß wir Goldbarren für die große Bank in Washington an Bord haben?« Von Kessel lächelte und blies einen dünnen Rauchstrahl durch das blonde Barthaar hervor in die Luft. »Das hieße ja Eulen nach Athen tragen«, bemerkte Wilhelm: und jetzt konnte nicht ausbleiben, daß das große Thema der Welt, das Thema der Themen zur allgemeinsten Verhandlung kam. Jeder der Reisenden hatte natürlich sogleich Heller für Pfennig sein eigenes Vermögen im Kopf oder suchte wenigstens möglichst genau einen Überblick. Fast alle wurden zu Rechenmaschinen, während sie äußerlich das Vermögen der Washington-Bank mit der Bank von England, dem Crédit Lyonnais, mit den Reichtümern der amerikanischen Milliardäre laut in Vergleich brachten. Bei diesem Gespräch horchten sogar die Kartenspieler hie und da einen Augenblick.
Amerika litt unter einer geschäftlichen Depression. Ihre Ursachen wurden erörtert. Die gegenwärtigen Amerikaner waren in der Mehrzahl demokratisch gesinnt und wälzten die Schuld auf die Republikaner. Der Tammany-Tiger war der Gegenstand ganz besonderer Wut. Er hatte nicht nur New York in den Pranken, dessen Bürgermeister eine Kreatur von Tammany war, sondern fast alle guten und einflußreichen Stellen im Lande waren von Tammany-Leuten besetzt. Jeder von diesen wußte sein Schäfchen zu scheren, und das amerikanische Volk wurde ausgesaugt. Die Korruption in den leitenden Stellen war riesenhaft. Für die Flotte würden Milliarden bewilligt, und wenn mal endlich ein Schlachtschiff zustande käme, so sei das viel: denn das ganze Gold versickere weit vom Bestimmungsort in die Taschen friedlicher Amerikaner, deren Interesse für die Marine das denkbar geringste sei. »Ich möchte in Amerika nicht begraben sein«, rief, mit seiner schneidenden Stimme, der Armlose. »Es wäre mir noch im Grabe zu öde und langweilig. Ich hasse das Spucken und Icewater-Trinken bis in den Tod.« Es brach ein großes Gelächter aus. Stoß fand sich dadurch zu weiteren Ausfällen aufgewiegelt. »Der Amerikaner ist ein Papagei, der unaufhörlich die beiden Worte dollar und business spricht. Business and dollar! Dollar and business! An diesen zwei Worten ist in Amerika die Kultur krepiert. Nicht einmal den Spleen kennt der Amerikaner. Denken Sie bloß an den furchtbaren Ausdruck: das Dollarland. Bei uns in Europa wohnen doch Menschen.
Der Amerikaner sieht alles in der Welt und auch seinen Mitmenschen immer nur daraufhin an, welchen Wert er in Dollar ausgedrückt repräsentiere. Außer dem in Dollar Ausgerechneten sieht er nichts. Und dann kommen diese Herren Carnegie und Konsorten und wollen uns mittels des widerwärtigen Inhalts ihrer Kramladenphilosophie in Erstaunen setzen. Meinen Sie denn, die Welt sei gefördert, wenn sie ihr ihre Dollars abknöpfen? – oder wenn sie ihr einen Teil der abgeknöpften Dollars, mit großem Trara, wieder zurückschenken? Meinen Sie, wenn sie die Gnade haben, uns zu scheren, so werden wir dafür unsere Mozart und Beethoven, unsere Kant und Schopenhauer, unsere Schiller und Goethe, unsere Rembrandts, Leonardos und Michelangelos, kurz unseren ganzen geistigen europäischen Riesenbesitz über Bord werfen? Was ist denn dagegen so ein armer Lumpenhund von einem amerikanischen Milliardär und Dollarkretin? Er mag uns um milde Gaben ansprechen!«
Der Kapitän bat Friedrich, ihm einige Worte in sein Gedenkbuch einzutragen. Bei dieser Gelegenheit zeigte er ihm das Kartenhaus und das Ruderhaus, wo sich das große Rad, hinter dem Kompaß, befand, das ein Matrose nach den Befehlen des Ersten Steuermanns, die durch ein Sprachrohr kamen, bewegte. Der »Roland« lag, wie an der Rose des Kompasses zu erkennen war, West-Süd-West an, weil der Kapitän bei mehr südlichem Kurs besseres Wetter zu treffen hoffte. Der Matrose am Ruder teilte nicht einen Augenblick seine Aufmerksamkeit. Sein bronzenes, wetterhartes Gesicht mit dem blonden Bart und den meerblauen Augen hing mit unbeirrbarem Ernst an der West-Süd-West-Linie des Kompasses fest, dessen Rose, in ihrem runden Kupfergehäuse kardanisch aufgehängt, trotz der Bewegungen, die der immer großartig hüpfende, großartig springende, elefantenhaft vorwärtsrauschende Steamer machen mußte, in der Horizontale blieb.
In seinem Privatzimmer wurde der Kapitän gesprächiger. Friedrich mußte Platz nehmen, und der schöne blonde Germane, dessen Augen aus derselben Schachtel stammten wie die des Matrosen, der am Ruder stand, bot ihm Zigarren an. Friedrich erfuhr, daß von Kessel unverheiratet war und zwei ältere unverheiratete Schwestern hatte, außer einem Bruder, der Frau und Kinder besaß. Die Bilder der Schwestern, des Bruders, seiner Gattin und ihrer Kinder sowie die Photographien der Eltern des Kapitäns bildeten, symmetrisch über einem rotbraunen Plüschsofa aufgehängt, ein besonderes Heiligtum.
Friedrich vergaß nicht, seine Frage zu tun: ob von Kessel mit ausgesprochener Neigung bei seinem Berufe sei. »Weisen Sie mir an Land eine Stelle nach«, bekam er zur Antwort, »wo ich das gleiche Auskommen finden kann, und ich tausche ohne alles Besinnen. Das Seefahren fängt an, seinen Reiz zu verlieren, wenn man zu Jahren kommt.« Die Stimme des Kapitäns war höchst sympathisch und guttural. Irgendwie wurde Friedrich durch ihren Klang an das Zusammenschlagen elfenbeinerner Billardkugeln erinnert. Seine Artikulation war tadellos, und er vermied es, mit irgendeinem dialektischen Anklang zu sprechen. »Mein Bruder hat Frau und Kinder«, sagte er, wobei natürlich nicht das geringste sentimentale Timbre in seinem Organ zu spüren war; aber man sah es seinen leuchtenden Blicken an, wie abgöttisch er seine Neffen und Nichten bewunderte, deren Bilder er Friedrich vorlegte. Am Ende sagte er geradezu: »Mein Bruder ist ein beneidenswerter Mann.« Er fragte dann Friedrich, ob er ein Sohn des Generals von Kammacher wäre. Es wurde bestätigt. Der Kapitän hatte den Feldzug von siebzig und einundsiebzig mitgemacht und als Leutnant in einem Artillerieregiment gestanden, dessen Chef der Vater Friedrichs gewesen war. Er sprach mit der größten Verehrung von ihm. Eine halbe Stunde und länger blieb Friedrich zu Besuch bei dem Kapitän, und diesem schien die Gegenwart Friedrichs ein besonderes Vergnügen zu machen. Es war erstaunlich, welch eine weiche und zärtliche Seele in diesem Manne verborgen war. Immer, ehe er etwas von ihr enthüllte, pflegte er stärkere Züge aus seiner Zigarre zu tun und Friedrich lange und forschend anzublicken. Allmählich indessen kam deutlich heraus, welcher Magnet auf den Kompaß im Herzen des blonden Riesen am stärksten einwirkte. Abwechselnd wies er nach dem Schwarzwald und nach dem Thüringer Wald. Unwillkürlich sah Friedrich den prächtigen Mann mit einer Heckenschere am Ligusterzaune seines behaglichen Häuschens stehen oder zwischen Rosenstöcken, mit dem Okuliermesser. Friedrich war überzeugt, dieser Mann wäre mit Wollust für immer im weichen Rauschen unendlicher Wälder untergetaucht und hätte nur zu gern das Rauschen aller Ozeane der Welt dafür hingegeben.
»Vielleicht ist noch nicht aller Tage Abend«, sagte der Kapitän, indem er sich mit Humor erhob und das große Stammbuch vor Friedrich hinlegte. Er drohte: »Ich schließe Sie jetzt mit Feder und Tinte ein, und wenn ich wiederkomme, muß ich auf diesem Blatte irgend etwas Sinnreiches vorfinden.«
Friedrich durchblätterte das Gedenkbuch. Es war unverkennbar, daß sich mit ihm die Hoffnung auf Gemüsebeete, Stachelbeersträucher, Vogelgezwitscher und Bienengesumm aufs engste verband. Sicherlich richtete sich die Seele des Kapitäns, unter dem Drucke der schweren Verantwortung mancher Seereise, durch das Blättern in diesem Buche auf, und zwar im Hinblick auf eine Zeit, wo es im Frieden des schlichten eigenen Herds Zeugnis für seinen Besitzer ablegen würde. Dann war es an ihm, seine Dienste zu tun und im gesicherten Hafen bestandene Gefahr, bestandenen Kampf, bestandene Mühsal in einen vollen und tiefen Nachgenuß umzuwandeln.
Und plötzlich erschien vor Friedrichs Seele sein eigenes quietistisches Ideal in Gestalt einer Farm, in Gestalt einer vollkommen einsam gelegenen Blockhütte. Sie war aber nicht von ihm allein, sondern von ihm und der kleinen Teufelin Mara bewohnt. Er war erbittert. Er stieg im Geist in noch verlassenere Gegenden und sah sich als einsamen Eremiten, der Wasser trank, seinen Fisch an der Angel zog, betete und von Wurzeln und Nüssen lebte.
Als der Kapitän wiedergekommen war und sich dann von Friedrich verabschiedet hatte, fand er die folgenden Zeilen in seinem Buch:
Schwebst du hoch ob Ozeanen,
deines Meisters Bahnen teilend,
wirst du dermaleinst verweilend
blühn am Ende seiner Bahnen,
wirst im Garten seiner Stille
Sturm und Taten ihm bezeugen:
wie sich Kraft und Manneswille
nicht vor schwersten Seen beugen!
Stolze Runen wirst du tragen,
zu des Steuermannes Ehre,
und den Dank der Seelen sagen,
die er führte durch die Meere.
Als Friedrich, mit einer Hand seine Kopfbedeckung festhaltend, die andere Hand am Treppengeländer, aus der pfiffigen Höhe der Kapitänskajüte zum Wandeldeck niederstieg, öffnete sich die schöne Deckkabine des Ersten Steuermanns, und dieser erschien im Gespräch mit Achleitner. Achleitner schrie mit bleichem und sorgenvollem Gesicht im Vorübergehen Friedrich an. Er berichtete, daß er die Steuermannskabine für Ingigerd Hahlström gemietet habe, da es nicht mehr mit anzusehen sei, wie sie in ihrer jetzigen leide. Das Sturmwetter hatte zugenommen, und man sah nun nicht einen Passagier mehr an Deck. Matrosen revidierten die Rettungsboote. Gewaltige Wassermassen, die an der Schiffswand brandeten, schräg von vorn gegen den Kurs laufend, spritzten gewaltigen Sprunges empor, standen, weißen Korallen gleich, einen Augenblick still in der Luft und peitschten, alles durchnässend, auf Deck nieder. Der Qualm der Schornsteine wurde vom reißenden Atem des Wetters flach von den Öffnungen rückwärtsgerissen und in das wilde Chaos zerstreut, darin sich Himmel und Meer vermengten. Friedrich tat einen Blick auf das niedrige Vorderdeck. Eine Erinnerung an die Jüdin und dann an den Kujon, den Wilke, war ihm hinter der brennenden Stirne aufgetaucht. Das Vorderdeck wurde indessen dermaßen von Sturzseen heimgesucht, daß sich dort niemand aufhalten konnte, ausgenommen den Matrosen, der vorn am Steven, unweit des Ankerkranes, Auslug hielt.
Um das rechteckige Treppenloch zur Haupttreppe war ein Geländer angebracht. Ringsherum blieb ein schmaler Raum, in dem eine Anzahl Menschen bei guter Luft und geschützt vor der Nässe sitzen konnten. Friedrich trat, im Begriff zum Salon hinunterzusteigen, durch die immer offene Tür in das Treppenhäuschen ein und fand eine stumme und bleiche Versammlung. Ein Stuhl war frei, ein sogenannter »Triumph der Bequemlichkeit«, und veranlaßte Friedrich Platz zu nehmen. Es kam ihm vor, als habe er sich in einen Kreis von Verdammten eingereiht.
Von einem der armen Sünder glaubte Friedrich, daß es Professor Toussaint, der berühmte, in Not geratene Bildhauer sei; darauf deuteten Kalabreser und Radmantel. Sein Nebenmann wechselte hin und wieder mit ihm ein Wort: und dies mochte vielleicht Geheimrat Lars aus dem Kultusministerium sein, dessen Erscheinung Friedrich nur noch undeutlich vor der Seele stand, trotzdem er ihm einmal im Hause des Bürgermeisters gegenübergesessen hatte. Der Konfektionär hatte sich – Gott weiß, wie! – bis hierher aus seiner Kabine heraufgeschleppt und lag nun, ein Toter, in seinem Stuhle. Es war außerdem noch ein kleiner, rundlicher, ängstlicher Herr zugegen, der sich mit einem mageren und langen Herrn unterhielt.
Der lange Herr zeigte jenem den Querschnitt eines Untersee-Telegraphenkabels. Das harte, komplizierte Geflecht aus Hanf, Metall und Guttapercha wurde herumgereicht. Aus den flüsternd abgebrochenen Sätzen des langen Herrn entnahmen die anderen, daß er im Jahre siebenundsiebzig als Elektriker auf einem Dampfer gewesen war, der ein europäisch-nordamerikanisches Kabel ausgelegt hatte. Die Arbeit dauerte ununterbrochen auf hoher See monatelang. Der Herr erzählte, wie er sogar den Bau des Kabelschiffes auf der Werft kontrolliert habe und die Fäuste der Arbeiter, deren Aufgabe es gewesen war, die Metallplatten der Schiffswanten mit Nieten aneinanderzuheften. Er sprach von der Telegraphen-Hochebene auf dem Grunde des Ozeans, die, aus grauem Sande gebildet, sich zwischen Irland und Neufundland erstrecke und die Lagerstätte der hauptsächlichsten europäisch-amerikanischen Kabel sei.
Die kupfernen Drähte im Innern des Kabels, zu deren Schutz seine übrige Masse, beinahe faustdick, einer gewaltigen Ankertrosse gleich, vorhanden ist, werden seine Seele genannt. Friedrich sah im Geist in der furchtbaren Öde der Meerestiefen die ungeheuren erzenen Schlangen hingelagert, scheinbar ohne Ende und Anfang, über dem Sandboden fortlaufend, der von den Rätseltieren des Meeresgrundes bevölkert war. Es kam ihm vor, als wäre das Schicksal einer so tiefen Verlassenheit selbst für die Seelen der Kabel zu grausam.
Dann fragte er sich: warum brachen die Menschen an beiden Enden des ersten Kabels, als die ersten Depeschen kamen, eigentlich in begeisterten Jubel aus? Es hat vielleicht eine mystische Ursache, denn daß man jetzt ein Guten Morgen, Herr Müller! oder Guten Morgen, Herr Schulze! in einer Minute zwanzigmal um den Erdball telegraphiert oder meinethalben mit dem Reportertratsch aller Weltteile die gesamte Menschheit trivialisiert, kann unmöglich der wahre Grund dieses Freudenrausches gewesen sein.
Als er so dachte, rutschte sein Stuhl, und Friedrich wurde gemeinsam mit dem Elektrotechniker und dem schlafenden Konfektionär hart gegen das Geländer des Treppenlochs geschleudert, während die gegenüberliegende Reihe der Passagiere, mit dem Geheimrat und dem Professor, hintenüberschlug. Der Vorfall war ziemlich lächerlich: doch niemand war da, der zu lachen versucht hätte.
Einer der immer beschäftigten Stewards erschien und reichte, gleichsam zum Trost der Bestürzten, aus dem unerschöpflichen Vorrat der Proviantkammern spanische Trauben herum. »Wann sind wir in New York?« fragte jemand. Aller Augen waren sofort in Verblüffung und Schreck auf ihn gerichtet. Der sonst so höfliche Steward gab keine Antwort. Eine bestimmte Auskunft würde nach seiner Ansicht einer Herausforderung des Schicksals gleichgekommen sein. Die Passagiere empfanden ähnlich. Ja, der Gedanke, man könne wirklich und wahrhaftig einmal wieder festes Land unter die Füße bekommen, kam ihnen in ihrem augenblicklichen Zustand fast wie ein törichtes Märchen vor.
Eigentümlich verhielt sich der kleine dicke Herr, dem der Elektrotechniker hauptsächlich seine Vorträge hielt. Er machte fortwährend besorgte Bemerkungen und blickte nach kurzen Zwischenräumen immer wieder ängstlich in den Aufruhr hinaus. Forschend richtete er die kleinen, vigilanten Augen seines kummervollen Gesichts bald gegen die Spitzen der Masten, die nicht aufhörten, große Kreisbogen zu durchmessen – Steuerbord Backbord, Backbord Steuerbord –, bald voller Sorge in das monotone Gebaren der immer höher heranwachsenden Wassermassen hinein. Friedrich war gerade dabei, sich über die Feigheit dieser erbärmlichen Landratte innerlich lustig zu machen, als ihm jemand erzählte, der dicke Herr sei Schiffskapitän und habe vor kaum drei Wochen seine Bark von ihrer Weltreise nach New York zurückgebracht, nachdem sie drei Jahre unterwegs gewesen war. Er habe dann seine Frau in Europa besucht und kehre nach New York zurück, um die gleiche Reise von ähnlicher Zeitdauer anzutreten.
Friedrich dachte über den furchtsamen Seemann nach, dessen Charaktereigenschaften mit den Forderungen und Leistungen seines entbehrungsreichen Berufs so wenig in Einklang zu stehen schienen, und fragte sich, was einen solchen Mann auf die Dauer in seiner Ehe und in seinem Leben festhalte; dann erhob er sich, um sich ziellos irgendwohin zu begeben. Die unfreiwillige Muße einer Seereise bewirkt, besonders bei schlechtem Wetter, daß der Passagier den Kreis aller auf einem Schiffe möglichen Eindrücke, wenn er damit zu Ende ist, immer wieder von neuem durchläuft. So fand sich Friedrich, nachdem er eine Weile ziellos treppauf, treppab geklettert war, auf den Lederpolstern jenes Galarauchzimmers, das bei der Masse der Raucher keinen Anklang fand und darin der Armlose gestern seine Mahlzeit genommen hatte.
Hans Füllenberg trat mit der Frage ein, ob man hier nicht berechtigt sei, Zigaretten zu rauchen. Dann ließ er sich über das Wetter aus und beurteilte es ziemlich trübselig. »Wer weiß, wie es endet«, sagte er, »vielleicht laufen wir, statt nach New York zu kommen, einen Nothafen in Neufundland an.« Diese Aussicht ließ Friedrich gleichgültig.
Füllenberg suchte nach einem neuen Gesprächsthema.
»Was macht Ihre Dame?« fragte Friedrich.
»Meine Dame spuckt, wenn man bei ihr von Seele reden kann, ihre Seele aus. Ich habe sie vor zwei Stunden zu Bett gebracht. Diese Engländerin ist bereits eine Vollblutamerikanerin. Ungeniert, sage ich Ihnen! Großartig. Erst habe ich ihr die Stirn mit Branntwein gerieben, wovon sie dann ziemlich derbe genossen hat, dann knöpfte ich sie am Halse auf. Sie scheint mich für einen Masseur zu halten, der von ihrem Gatten für sie gechartert ist. Die Sache wurde mir schließlich langweilig. Außerdem stieg mir selber in ihrem knackenden Boudoir die Seele durch den Magen herauf. Alle Poesie ist zum Teufel gegangen.
Sie hat mir übrigens die Photographie ihres zärtlich geliebten New-Yorker Gatten gezeigt. Ich glaube, sie hat in London noch einen . . .« Hans Füllenberg wurde durch den first call for dinner unterbrochen, den der Trompeter im Treppeneingang mit Geschmetter durch seine Trompete blies, den aber die dicke Luft und der ungeschlachte Lärm der See sofort, ohne Widerhall, verschlangen.
»Außerdem hat sie sich«, schloß nun der Jüngling, »den Doktor Wilhelm hinunterbestellt.«
Im Speisesaal sah es öde aus. Weder ein Offizier noch der Kapitän des »Roland« war anwesend. Der Dienst bei dem üblen Wetter erlaubte es nicht. Eine hölzerne Vorrichtung teilte die Fläche der Tische in Fächer ab, die das Rutschen der Teller, Gläser und Flaschen verhüten sollten. In der Küche und in der Porzellankammer gab es zuweilen gewaltigen Bruch. Man hörte Stöße von Tellern zerschellen. Kaum zwölf oder dreizehn Leute waren bei Tisch, darunter Hahlström und Doktor Wilhelm. Schließlich kamen noch die Kartenspieler hereingestürzt, mit erhitzten Gesichtern und lauten Stimmen. Ein Spielgewinst wurde sofort in Pommery umgesetzt. Die Tischmusik trat trotz des schrecklichen Wetters in Funktion. Es lag darin etwas Frevelhaftes, stand doch der »Roland« immer wieder bebend still, als wäre er wider ein Riff gelaufen. Einmal war diese Täuschung so stark, daß im Zwischendeck eine Panik entstand. Der Obersteward, Herr Pfundner, brachte die Nachricht davon in den Speisesaal, bis wohin, trotz des Lärms der wuchtenden Wassermassen, trotz Tellergeklappers und Streichmusik, der entsetzte Schrei der bestürzten Menschen gedrungen war.
Zum Dessert stieg Hahlström von seinem entfernten Platz mit einiger Mühe zu Friedrich und Doktor Wilhelm heran. Er nannte sich selber einen Kurpfuscher und fing ein Gespräch über Heilgymnastik an. Durch diese Gymnastik, meinte Hahlström, sei Ingigerd, seine Tochter, zu dem Gedanken ihres Tanzes gekommen. Es schien, er hatte Whisky getrunken, denn er befand sich nicht mehr in seinem gewöhnlichen Zustand der Schweigsamkeit. Er entwickelte philosophische Ansichten. Er spielte, wie um herauszufordern, eine wilde und tolle Behauptung nach der anderen aus. Jeder der Trümpfe hätte genügt, zehn deutsche Philister mattzusetzen. Wollte man seinen Reden trauen, so war er terroristischer Anarchist, Mädchenhändler, womöglich Hochstapler: jedenfalls setzte er sich mit der ganzen Überlegenheit seiner Person für die Sache dieser Leute gegen die Dummen ein.
»Amerika«, sagte er, »ist bekanntlich von Gaunern gemacht, und wenn Sie ein Zelt darüberspannen, so haben Sie das komfortabelste Zuchthaus der Welt, meine Herren! Der Gauner, der große Renaissanceidiot, ist dort die sieghafte Lebensform. Und das ist überhaupt die einzig mögliche. Passen Sie auf, wie der große amerikanische Gauner eines Tages die Welt unterkriegt! Europa macht ja nun auch so ein bißchen in Renaissanceideal und in Renaissancebestien. Es arbeitet sozusagen eifrig an seiner Vergaunerung. Aber Amerika ist ihm darin nicht nur um zehn Pferdelängen voraus. Ihre Cesare Borgias sitzen mit Glockenröcken in den Cafés und geben ihren Verbrechergenius in ziemlich harmlosen Versen aus. Sie sehen aus wie Braunbier mit Spucke oder als hätte ihnen irgendein Bader das Blut abgezapft.
Wenn Europa sich retten will, so hat es nur eine Möglichkeit: es macht ein Gesetz, wonach es weder einen Hochstapler, Kassendefraudanten, betrügerischen Bankrotteur noch Falschspieler an Amerika ausliefert. Schon auf deutschen, englischen und französischen Schiffen in amerikanischen Häfen werden diese Leute unter den ganz besonderen Schutz Europas gestellt. Passen Sie auf, wie bald da Europa Uncle Sam überflügelt!«
Die Ärzte brachen in Lachen aus.
»Wann wußte je das Genie mit Moral etwas anzufangen?« fuhr Hahlström fort. »Selbst der Schöpfer Himmels und der Erde verstand es nicht: denn er schuf seine Schöpfung unmoralisch. Jede höhere Form der Betätigung hat die Moral über Bord geworfen. Was wäre ein Historiker, der, statt zu forschen, moralisierte? Oder ein Arzt, der moralisiert? Oder ein großer Staatsmann, der sich die Bürgermoral der zehn Gebote zur Richtschnur setzte? Nun gar ein Künstler, der moralisiert, ist ein Narr und ein Schuft. Was würden schließlich die Kirchen der ganzen Welt für Geschäfte machen, wenn wir alle moralisch wären? Sie würden ja nicht vorhanden sein.«