Carl Hauptmann
Heimstätte
Carl Hauptmann

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IV.

Rubener war unten im Tale. Als er gesehen hatte, daß bei Amand keine Hilfe war, hatte er sich selbst von neuem dahinter gelegt. Erst war er dem Grafen auf ein Gut im Lande nachgefahren, weil er dachte, daß ihn die Beamten dort nicht kennen würden. Dann war er ihm in die Stadt nachgefolgt. Alles vergeblich. Es war nicht durchzudringen. Da war Rubener endlich mit seiner Sache zum Rechtsanwalt im Dorfe gelaufen, daß der bei der Herrschaft noch einmal eindringlich versuchen sollte. Der junge Anwalt hatte auch ein Schreiben bald abgesandt. Und nun stand Rubener vor dem Holzgitter in der Schreiberstube und hörte, was der Anwalt ihm als Antwort darauf und als Schluß der Sache dartat. Es war ein umständliches Erklären. Daß der Graf alle Erbpacht allmählich einzöge, daß schon andere vor ihm dasselbe Schicksal getroffen, daß mit ihm keine Ausnahme gemacht werden könnte und dergleichen.

»Nichts«, sagte der Rechtsanwalt, nachdem er jeden Satz bestimmt und klar und langsam vorgelesen, und Rubener ihm auf den Mund und in die Augen starrend, jeden Satz auch einen Augenblick begriffen hatte.

»Nichts«, sagte er, »die Sache bleibt, wie sie ist. Die Erbpacht geht eben auch einmal zu Ende, lieber Rubener, es ist nichts weiter zu machen.«

Es war an einem stillen Wintertage, nachmittags gegen die Dämmerung. Totenruhe herrschte, und nur die Federn der Schreiberjungen fuhren laut kritzelnd über ihre Aktenbogen. Rubener hatte gestanden und gestanden. Er war nicht mehr aufzuwecken. Er sann in sich hinein – starrte und lachte – ohne rechten Sinn. Er hatte nicht gemerkt, daß, als es zu lang wurde – die Erstarrung – der Rechtsanwalt endlich mit einer alten Dorffrau lang und umständlich verhandelt und flüchtig gelacht hatte – daß ein Geldbote auf den Tisch zwischen den Gittern Goldstücke in Reihen hingezählt und schließlich ein Trinkgeld mit zufriedenem Blick in seinen Leinenbeutel geworfen hatte. Alle, auch die Dorffrau und der Briefträger, hatten dann und wann einen fragenden Blick nach Rubener hin getan. Alle hatten wohl gesehen, daß da eine Last sich unsichtbar getürmt hatte, die nicht leicht zu lösen war. Alle, auch die bleichen Schreiberjungen, wenn sie beim Umblättern oder Trocknen der Seite ein Recht hatten, aufzublicken, hatten immer wieder nach dem dumpfen Sinnirer hinübergesehen. Und niemand hatte ihn zu stören oder aus seinem ratlosen Brüten aufzurütteln gewagt. Niemand hatte gewagt, ihn gar einzuladen, heimzugehen, hinauf in den Grund – in die einsame, verschneite Rubenerbaude – die nicht mehr seine Heimstätte war.

Und nun tastete Rubener wie in einer heimlichen Hast auch gleich unsicher hinaus – mit einem blöden Lachen fast – wie er endlich aus seiner Erstarrung selber aufgefahren, weil noch die Schreibersleute um ihn waren. Eine volle halbe Stunde hatte er wortlos und starr dagestanden. Nun tastete er eilig hinaus, nachdem er seinen Stock, mit blödem Lächeln zum Rechtsanwalt hinüber, der ihn deshalb freundlich zurückgerufen, fest an sich genommen und nur ein paar dumpfe Worte, die man nicht verstand, vor sich in die Luft gemurmelt hatte.

Und nun lief er schon ewig und dachte nicht an daheim. Es war ihm auch gar nicht sorgenvoll. Er stapfte unsicher und war berauscht, als ob er getrunken hätte. Er hatte, weiß Gott, immer wie ein Lied im Sinn. Daß er vorwärts schritt, wie zu einem guten Ziele.

»A – a – Ihr – nee –«, er lachte, »asu was! – das ha' ich aber doch glei' gewußt – daß die sich asu was ausklügeln wer'en – hahaha –«, murmelte er und sah Gesichter im Dunkeln grinsen, die zerflossen, weil Dämmer und Schneeflockenfall längst seinen Weg begleiteten. Rubener war lange vorwärts gewandert und schritt mühsam stapfend in ein enges Tal hinein. An Weib und Kinder dachte er gar nicht. Ohne einen Gedanken zu hegen, bei dem er haftete, war er lange fürbaß gelaufen und strebte nach einem unbekannten Ziele. Alles ging in fernen Gedanken um. Er erinnerte gar nicht, was vorgefallen. Er lief immer vorwärts und merkte nicht, daß Dunkel zu Dunkel glitt – und daß er das Unvermeidliche eben gehört hatte. Er ging auf Wegen, die er fast nicht kannte seit seiner Jugend – und die Nacht und Flocken tiefer und tiefer verhingen. Und manchmal fing es ihn an in seinen Gesichten zu narren, daß es ihm nicht mehr geheuer erschien. Er war deshalb einmal stehen geblieben. »Hahaha – das sein Sacha –«, sagte er vor sich hin, wie er nun einen und noch einen Lichtschein aus Hütten am Hange blinken sah. Viele zerstreute, kleine Sterne waren plötzlich im Dunkeln aufgetan. Wie ein Weihnachtsbaum leuchtete es einsam und stumm von den Hängen, daß eine kindliche Lust neu in Rubener aufwachte, wie er Schritt um Schritt im weichen Schnee versinkend, einem Fensterleuchten zustapfte. Als stünde ein unsichtbarer Baum weit in die Nacht gereckt. Stern an Stern brannte aus seinen dunklen Zweigen. Wie eine Hoffnung kam's. Wie ein kindliches Flehen fast – erfüllte es plötzlich Rubener, zu etwas, was er anrufen könnte in seiner Not, von der er sonst nichts wußte und nichts fühlte – wie im Halbschlaf oder fernen Traum.

»Hahahaha – nu' sein mir do«, lachte er endlich, als er vor einer alten Hütte stand, die einen rotglühenden Schein lockend in die Schneenacht warf.

Nun war er wie zuhause. Er trat geschäftig ein. Das Licht im kleinen Raume blendete ihn. Er tat, als wenn er für sich wäre. Der alte Mutterbruder am großen Tische, der ein Andachtsbuch vor sich, durch eine große Hornbrille hineingesehen, sah ihn erstaunt an.

»Nee, mein Gott und Jesus! – nee, Franzel! – Du?« sagte der Alte sofort erschrocken und merkte, daß es mit Rubener nicht ganz richtig war.

»Ich kann ni meh heem gihn«, sagte der nur heimlich und in sich hinein, wobei er sich auf die Ofenbank gesetzt hatte, ohne zu grüßen.

»Mein Gott, nee, im's Himmelswillen, Franzel!« sagte die alte Verwandte, die für's Abendbrot am mächtigen Ofen umging und ihn längst erstaunt angesehen.

»Ich kann ni meh heem«, sagte Rubener noch einmal vor sich hin, war aber gleich wieder aufgestanden und lief nun in der Stube hin und wider. Und dann setzte er sich neu auf die Fensterbank neben den Alten, der ihn im kleinen Lichtschein ängstlich unter der großen Brille anstarrte, weil er den Stock gleichgültig aus der Hand gleiten ließ, daß er zu Boden fiel. Den Kopf hatte Rubener nun in beide Hände genommen und war nicht bei sich. Die Alte, Topf und Tiegel beiseite lassend, kam mit einem fragenden Blick zum Alten eilig an den Tisch und versuchte, Rubener aufzuwecken.

»Nee, Jeses, Jeses, Franzel! nee, hier ock amol! nee – was hot's denn? was hot's denn?«

Da begann er kindlich zu ihr zu plaudern:

»Ach – stille! – stille! – nee – ach Gott! – wär' ich ock blos derbeine gewa'n! – wenn ich 'n ock amol salber –«, er schwippte mit den Fingern in die Luft und lachte für sich, »nee, wenn ich ock a Grafen amol – hahaha – wenn ich 'n ock amol salber hätte sprechen können. – A –!« er wehrte mit der Hand ab und lief von neuem hin und her. »Nee, gleebt m'rsch ock, gleebt m'rsch ock, dar Mann is Euch asu gutt – ee Wort – ee Wort vo' mir! – Nu söllt' Ihr'sch werklich amol sahn, ich brauch's 'n ock sa'n – 'in Grafen, wie's is! – nee, 's is doch immer inse Häusel gewa'n! – is ni wuhr? Nu söllt'rsch amol sah'n, un war ich's 'm amol virstall'n – nee – nee – das Häusel is freilich inse – hahahaha – das Häusel blei't freilich inse – das kinnt Ihr gleeba.« Der starke, harte Mann begann kindlich wie ein Mädchen zu reden, so sanft und zutraulich und lieblich fast. »Ach Gott, nee nee – gleebt's ock – ich war'sch 'm nu' amol virstall'n – das Häusel blei't freilich inse – das Häusel ju – das Häusel ju!« und er lächelte völlig abwesend.

Dem Alten am Tische war himmelangst geworden, weil ihm der Zusammenhang der Rede sofort klar war, so daß auch die Mutter mit offenem Munde zugehört hatte und dann eilig zur Stubentür gelaufen war, um die Tochter aus dem Stalle zu rufen.

»Pauline! Pauline! kumm ock amol rei', Pauline, Franzel is do!« rief sie absichtlich so harmlos, wie möglich.

»Nee nee – ach, lußt se ock dessa, lußt se ock dessa, – ach Gott! ach Gott! 's darf's ju kee's erfahren«, redete Rubener dumpf und hastig und trat dann zu dem alten Mutterbruder. »Ich – wißt De Vincenz, – ich kann ju doch ni meh' heem gihn«, sagte er jetzt verzweifelt. – »'S is doch nischte meh' do.« Offenbar verwirrte sich etwas in seinen Gedanken. »Die Beamten ei'm Schlusse ha'n 's doch gesa't – 's wär nischte meh do – Jeses, Jeses« – sagte er dumpf und traurig und sah auf Pauline, die eben mit der Mutter in wortlosem Einverständnis eingetreten. Kein Blick an ihm änderte sich.

»Nee, Franze – sa' m'r ock, Du kimmst? Was treibt Dich denn ei' später Schnienacht noch zu ins?« redete jetzt auch Pauline zutunlich. Aber Rubener war nicht in Ruhe zu halten.

»Du – Du –«, sagte er gleich eifrig mit gewichtiger Miene und sah Pauline böse an, »lußt Euch mit kee'n Beamten ei'! Lußt Euch ni mit a Beamten ei! Ihr kinnt m'rsch gleeben! Ich sa's Euch.« Er begann seine Worte immer mehr herauszuschreien. »Die schla'n mei Häusel kurz und kleene. Die ha'n nischt Gudes ei'm Schilde, sa' ich Euch. Die kumma – und nahma – und behaupta, daß 's geschrieba stünd. – Ich luß kenn' ei' mei Stiebel! Ich luß kenn'n ei' mei Häusel! – Ich nahm aber glei' – da nahm ich doch glei' Schemel und Banka – und schla' alles ei' Grund und Boden 'nei«, schrie er jetzt, wie wütend gemacht. »Weg giht 'r – Ihr Beamta – weg giht 'r – mit samt 'm Grafen! – furt – furt sa' ich! – Ihr verfluchta Räuber – Räuber!« Er hatte den Schemel am Tisch ergriffen, so daß ihn Pauline und der Alte krampfhaft hielten. Die alte Muhme lief in Schrecken eilig in's Nachbarhaus, um einen jungen, kräftigen Mann zu Hilfe zu holen. Als sie eintraten, war Rubener schon ruhig geworden und schlürfte in stummer Verstörung aus der Tasse, die ihm Pauline mit Kaffee hinhielt.

»Ihr kinnt's ni gleeba, was ich für Kummer ha'«, schluchzte er einmal wie aus tiefster Not, und als wenn sich ein Lichtblick aus seinen Augen stehle. Aber dann sah er wie gierig in den Kaffeetopf hinein und tat, wie wenn er alleine wäre, – trank vor sich hin und lachte und begann neu zu murren.

»Nee – nee – nee – ich bin kee bieser Mann gewa'n«, – redete er fort. »Was? – ich war Euch de Pacht schun ga'n – das is ju au Kleenigkeet – sa' ich Euch.« Er war von neuem aufgesprungen. »Ach, mein Gott, Du, Du! – dreimol a su viel! – fünfmol a su viel! Ich ga Euch, was Ihr denkt – ich kann's ju –! Nu freilich! – ich kann's ju! – A su viel war'n mir schun ufbreeta – Ihr verbuchten Neischlinger, Ihr –«, redete er prahlerisch, daß Pauline und der junge Nachbarsmann vergeblich versuchten, ihn stille zu machen. Erst spät nach Mitternacht, wie der alte Seeger geschlagen hatte, war Rubener, ohne Gruß und Sinn, für sich hinaus und auf den Heimweg gelaufen, von übernächtigten, kummerbewegten Mienen der Alten und der Jungen in's Flockenspiel der Nacht verfolgt – und war einsam seinem Heimatsgrunde zugeirrt, während Nachtstürme mit Schneewirbeln in den Gebirgen oben rasten und brandeten.


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