Carl Hauptmann
Heimstätte
Carl Hauptmann

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III.

Es war einige Tage später, daß man drüben auf der Berghöhe über dem Wassersturz, in dem mächtigen Steinhause, das flach gedacht und mit hohen Fenstern versehen aussah wie ein Fabrikgebäude, so ganz ohne eigene Seele, zum Talgang endlich rüstete. Der Herbststurm pfiff in der Hohle unheimlich aufwärts. daß dauernd wie ein Grollen im Grunde hörbar war – die gelben Gräser nickten rastlos unter Sturm und Lüftedrang – und außer ein paar Baudenleuten kamen nur noch selten Wanderer des Weges. Aber heute war unerwartet noch einmal Leben geworden in der großen Schänkstube.

Schon am Nachmittag waren Beamte gekommen und ein Förster – die nun an einem der gewaschenen Tische saßen und spielten, während der alte Siebenziger, der Vater Kiesewald, der hier gräflicher Pächter war und unten im Tale einen kleinen Gasthof zu eigen hatte, gefällig unter ihnen saß, die lange Pfeife im welken Munde wie angewachsen, und unter seinen weißen, buschig niederhängenden Brauen pfiffig hervorsah, oft ein Wort, und immer ein Lachen in die Runde gebend! Die Beamten waren gekommen, um eine Wegeanlage zu besehen und auch, um mit Kiesewald darüber Rat zu halten. Aber die Sachen waren längst erledigt, nun es Abend wurde, und Worte und Gedanken kamen nur noch bruchstückweise auf manches zurück, wenn im Behagen und Sinnen beim Spiel Karte gegen Karte aufschlug, und dann einmal wieder Pause wurde.

»Was will denn überhaupt der Mann?« rief der Eine, dem die große Hängelampe einen vollen Schein in sein rundes, rotes Gesicht und auf seinen emporgezwirbelten, vollen Schnurrbart warf, während er geduldig zusah, wie der Förster stumm die Karten gab. »Rubener kann doch nicht verlangen, daß ihm der Graf die Grundrechte schenkt.«

»O mein Gott, Du, Du – ja ja – nee nee«, sagte lässig der Kiesewald. »Heute muß Jedes 's Geld feste hal'n, und was ma sonst hot – au' de Herrschaft.«

»Sie haben eben früher hier einfach gebaut, – wohin 's gerade war – wie's Holz nichts galt und in den Wäldern die reine Wildnis herrschte.«

»Aber den Pachtzins haben sie von vornherein immer bezahlen gemußt«, gab der Förster gratzig dazu.

»Freilich, freilich – nun versteht sich! es war doch immer Grafens Grund«, rief der Beamte wieder, »das ist doch klar wie Bergnebel! Ich bitte Sie! Wo käme denn die Herrschaft hin? Die Zeiten sind vorüber, wo jeder noch bauen und sitzen konnte, wo er wollte – hahahaha.« Der Beamte sah jetzt in seine Karten. Aber er kam nicht zur Ruhe über die Sache, die sie schon am Nachmittag umständlich besprochen hatten.

»Die Zeiten sind freilich vorüber«, sagte auch der Förster, die Karten vor Augen, und dachte flüchtig an die einsamen, alten Bergwälder, wo einst die Leute wie Einsiedler hausen mußten. »Die Zeiten sind freilich vorüber«, wiederholte er bedächtig und dachte auch daran, daß damals nicht in Wald und Kammweiten überall Städtervolk das Wild verscheuchte und lärmte.

»Das muß doch jeder einsehen, der die Verhältnisse kennt. Hahaha!« schrie wieder der Beamte. – »Hier zum Teufel die letzte Kuh aus 'm Stalle!« lärmte er und warf Karten aus und redete eilfertig: »Der Rubener – so'n Holzmacherdickschädel – begreift das nicht. Als wenn nicht jeder sehen müßte, wo ein Ertrag herausspringt – heute zu Tage. – Hahaha! – Das muß doch jeder begreifen – heute zu Tage. – Wozu sind wir denn überhaupt heute noch da auf der Welt? – hahaha!« und er lachte und sah dem Förster und Kiesewald und dem Dritten, der bleich und fast immer stumm dasaß, in's Gesicht. Niemand sonst lachte. Rauchwolken spannen im Raum. Eine Schleußerin brachte neue Schoppen und goß die Schnapsgläser voll und amüsierte sich flüchtig, indem sie dem Schnurrbärtigen in die Haare fuhr.

»Dar Man – dar Rubener is Euch jitzte manchmal gradezu wie verstört«, sagte Kiesewald vor sich hin, »jemersch – mein Gott – wenn nu aber die Sache werklich abgemacht is –.«

»Die Sache ist abgemacht«, rief der Lachende. »Die Sache ist abgemacht. Da gibt's keine Würstel. Der Graf kauft die Baude. Der Graf wird ihm ja das alte, morsche Gehäuse bezahlen. Da wird er sich schon mit der Zeit beruhigen, der Rubener. Jetzt ist er nicht von den Fersen zu kriegen, der Dickkopp! Was will er denn eigentlich noch? Er sollte lieber zufrieden sein. Vor Jahren, der mußte die Hütte überhaupt ganz wegreißen! – Nicht? – Ist's nicht wahr? Der Graf zahlt's ihm ja!«

»O mein Gott, Du, Du!« sagte Kiesewald gleichgültig und blies Rauch aus, »viel werd das ni sein!«

Zwei Harfnerinnen, junge, steife Mädchen in böhmischen Brusttüchern, kamen aus der Küche und nahmen ihre Instrumente, die in der Ecke gelegen. Sie begannen sogleich aufzuspielen. Es wurde Leben in der Schenkstube. Der Schnurrbärtige schrie jetzt noch lauter dazwischen: »Nun freilich! Nun natürlich wird's nicht viel sein«, schrie er, »wie kann's denn viel sein? Wer kann denn für eine solche windschiefe, graue Kaluppe viel Geld ausgeben? Viel genug, wenn der Graf überhaupt etwas gibt. Eigentlich müßte der Rubener das Haus einfach wegreißen, wenn jetzt die Grundpacht zu Ende geht. Einfach! Hab ich nicht recht, mein Söhndel?« rief er dem Förster zu, der im Spiel keine Miene verzog.

Es kamen ein paar Studenten mit Ränzeln auf dem Rücken, müde und durstig, die zuerst kurzsichtig in der Tür standen und in den Rauch sahen, ehe sie einen Tisch in der Ecke auswählten. Die Harfen klimperten, und die Stimmen der ernsten Mädchen mischten darein einen monotonen, kreischenden Gesang.

»Was ist gefällig?« sagte die Kellnerin pfiffig und lachte ihnen zu.

»Nun, liebes Kind«, sagte der Eine, der offenbar Musiker und von einfachem, kindlichem Benehmen war, volle, braune Haare und einen breiten, flaumigen Mund hatte: »Ja? – nun was denn gleich?« –

»Verflucht kalt hier oben!« sagte der kräftige Blonde.

»Wir haben Grog – Bier – Kaffee –«, wollte die Kellnerin, vor ihnen auf den Fußspitzen wippend, ihre Litanei herbeten.

»I – da erst einmal Kaffee – nicht?«

Der Musikant hatte mit seinem Ränzel zu schaffen, worin er eine Geige mit sich trug.

»Freilich – Kaffee! Bringen Sie nur Kaffee! – und gleich 'nen ganzen Topp!« rief er der in die Küche eilenden Kellnerin in die Tür noch nach, » recht viel und recht heiß«, während nun beide hin und her in der Stube sich die Glieder vertraten und dann vor die Harfnerinnen sich stellten und zuhörten.

Es war gemütlich in der Stube. Zumal die Harfenlaute behaglich durch alles klangen, und die Stimmen der jungen Böhmischen sich immer neu aufmachten – Lied um Lied den Raum erfüllte, zuweilen durch das Geschrei der Spielenden unterbrochen – und ein tolles Gelächter, das wie ein leises Lächeln immer auch die Gesichter der Singenden flüchtig überhuschte. – Und alles blau umsponnen von sich dehnenden, müden Rauchwolken.

Es war übrigens ziemlich Abend schon, da kam noch ein Trupp – Vater und Mutter und Töchter, auch ein paar junge Männer mit ihnen – alle in lautem Lärm hereinstürmend und in heller Freude, endlich im Warmen zu sein. Offenbar kleine Krämersleute und nicht von sonderlichem Benehmen, die gleich dreist und vertraulich mit Gästen und Wirt umgingen. Es begann sofort ein rechtes Getümmel.

»Papa – hast Du gesehen?« sagte das jüngere der beiden Mädchen so laut, daß es alle hören mußten, »da war doch eine Herdstelle. Da muß doch früher einmal ein Haus gestanden haben!«

»Wo?« fragte der Familienvater, der noch mit dem Abhängen der mancherlei Hüllen zu schaffen hatte.

Die Studenten besahen die jungen Mädchen und lachten sich flüchtig zu.

»Nun, Du hast es uns ja selbst gezeigt«, sagte die Junge und sah nun wie absichtslos zu den Studenten hinüber.

Nur die Spielenden lärmten grade in rechtem Eifer und kümmerten sich gar nicht um die Neugekommenen.

»Gott, ja, da oben am Hange, über'm Grunde. Da müssen wir wirklich den Wirt mal fragen. Sagen Sie mal, Herr Wirt, Sie sind doch in diesen steinigen Einöden hier oben gewissermaßen der Haupt- und Grieselbär. – Was?« begann der Familienvater seine Rede. Alle lachten. Auch der Frager lachte. Er hatte einen Witz machen wollen, und es war ihm gut gelungen.

»Nu – und ob ich bekannt bin«, sagte Kiesewald, allein kalt gelassen, sah nur den Frager groß an und spie aus.

»Stand da unten am Abhange nicht einmal ein Haus? Warum ist das abgerissen?«

»Weil's ni hie gehörte«, sagte Kiesewald.

»Herr Jeses!«

»Nu, ja ja! – 's is eemol a su«. sagte der Siebenzigjährige, ohne auch nur die Miene zu ändern.

»Der is gut!« lachte der Familienvater und goß aus einer Flasche, die er bei sich getragen, den letzten Tropfen in die Kehle. Die Töchter, nachdem sie die Kleider tiefer gelassen, und offen gemustert, was im Lokal wäre, verschwanden mit der Mutter noch einen Augenblick aus Harfengetümmel, Lachen und Singen und Sprechen hinaus in die Nacht. Ein Blick vor dem einsamen Hause oben machte den weiten Grund im Dämmer sichtbar, die Bergwälle dehnten sich mächtig und einsam, und man sah ganz fern einige Lichtpunkte aus Dörfern im Tale.

Dann begannen die Menschen drinnen schnell warm zu werden. Sie plauderten bald, daß keiner die eigenen Worte recht hörte, und die Mädchen lachten und kicherten. Schon darüber, daß der Student seine Geige aus dem Ranzen genommen und mit den Harfnerinnen um die Wette zu fideln angefangen. Zuerst hatte man ihm sogar eine Weile erstaunt zugesehen. Dann war plötzlich die Lust in alle gefahren, daß der Krämer mit einer Tochter, einer lauten Person von Zwanzig, die als Verkäuferin oder so ausgebildet, den Umgang mit Menschen zum Lebenszwecke erkoren, ausgelassen den Reihen angeführt. In den Tabaksqualm mischten sich Staubwolken. Alles tanzte. Der Student, der nicht spielte, hatte sofort die zweite Tochter ergriffen. Auch die Familienmutter tanzte mit einem Tochter-Galan, die übrigens die Größte war und durchaus nicht hinter den lärmenden Töchtern zurückstand, obwohl sie bei jedem Handgriff sonst eilfertig zum Rechten sah und dazwischen schulmeisterte und mahnte. Bald war ein solcher Umgang in dem Raume, daß der Fußboden zu wippen und zu wogen schien, so ein Durcheinander von Harfenlauten und Stimmen und Summen und vom Gellen der Fidel – von drehenden Köpfen, die paarweise kamen, deren Augen im Staube und Qualme lachten oder feierlich schien – je nachdem.

»Hahahaha«, lachte jetzt auch der Förster plötzlich, weil der Schnurrbärtige vom Spiele aufgesprungen war, ehe sie noch abgerechnet und Kleingeld gewechselt und ausgetauscht hatten, gleich die junge Verkäuferin ergriffen, wie sie der Student losgelassen, und mit ihr im Linkswirbel gegen alle Ordnung losgestürmt war. Nun walzte alles und schlurfte und juchzte dazwischen zu Harfen- und Geigenklang – alles in hellem Wirbel, daß Kiesewald sich von seinem Platze wegheben und in die Bierausgabe stellen mußte, um nicht hinderlich zu sein. Es war schnell ein tolles Leben geworden, heute am letzten Tage in der Höhe, ehe Kiesewald die Baude für den Winter schloß. Morgen Abend saß dann schon ein kleiner, verwachsener Baudensiedel für Monate einsam in demselben Raume und begann Holz zu hacken und um sich aufzuspeichern – Tag um Tag wie ein Biber in seinem Bau. Heute hieß es vergnügt sein. –

Es war spät in der Nacht, als der junge Student, der aufgespielt hatte, vor die Türe trat, und auch die Harfen schwiegen. Er stand lange stumm und sah einsam in den Mondgrund. Dann kam eine der Jungen und trat wie zufällig zu ihm. Sie gingen sorglich tastend über Block und Steine schweigsam bis zum Wassersturz. Das Wasser rauschte wie flüssiges Silber, stäubte und blinkte im Mondlicht. Die Geige hatte die Sinne belebt und flüchtige Wünsche gingen vorüber. Er hielt ihre Hand und dann küßte er sie, und wie eine Braut hing sie in seinen Armen in der einsam glänzenden Bergschlucht – quellenumtost – einen Augenblick ohne Anspruch. Bis von drüben über den Blöcken die Stimme des Schnurrbärtigen herüberklang, der, die Schleußerin am Arme, auch sorglich im Mondschein schritt. Im Hause drinnen begann wieder die spitze, leichtfertige Harfenmusik und klang nun fern und fremdartig in die einsamen hehren Gründe.

Wie die Jungen zurück in's Schenkzimmer kamen, hatte der Wirt Glühwein auffahren lassen, um den Abschied von der Höhe zu feiern. Der Familienvater schloß gerade den ersten Toast auf Kiesewald und warf der ältesten Tochter, die ganz arglos eingetreten, einen selbstgefälligen Blick zu. Die Harfenklänge wurden vom Durcheinanderreden völlig übertönt. Kiesewald lachte behäbig, und der Schnurrbärtige klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter, indem er aufdringlich zu ihm redete. Auch der Förster war sehr launig geworden.

»Deutschland und Österreich«, hörte man aus dem Redewirrwarr und den Rauchwolken. »Deutschland und Österreich«, rief dann auch der Familienvater dem Schnurrbärtigen über den Tisch zu, daß die Harfnerinnen hinsahen, weil in dem Augenblicke der Schnurrbärtige aufgesprungen war, um den feierlichen Moment nicht ungenützt vorüber zu lassen. »Hier auf einem so erhabenen Grenzpunkt«, begann er nun feierlich zu reden. Nur kam er nicht glatt weiter. Er fing bald zu stammeln an – um eingehend und gewichtig darzulegen, daß gerade die Beamten hier oben . . .

»Hier oben, wo Nord und Süd – Deutschland und Österreich – die beiden mächtigen Bruderreiche«, erhob er mit Begeisterung den Ton und sah dabei aufgeblasen in die Runde: »Hier oben, wo zwei mächtige Brudervölker sich über Stein und Felsen friedlich die Hände reichen«, rief er noch einmal –: »Wo bei dem gesteigerten Verkehr immer mehr für entsprechende Etablissements gesorgt werden mußte, damit auch den vornehmeren Bedürfnissen des Städters allmählig Rechnung getragen wäre«, – er war nun offenbar sehr stolz, daß ihm dieser Satz ohne Anstoß gelungen war. »Die gräfliche Verwaltung – die gräfliche Verwaltung – . . .«

»Sie lebe hoch! die gräfliche Verwaltung lebe hoch!« riefen der Familienvater und die Studenten wie aus einem Munde, denen allen die Worte des Beamten längst lächerlich waren.

»Die gräfliche Verwaltung folgt nur einem Zuge der Zeit, wenn sie ihr ganzes Augenmerk darauf richtet, daß an den schönsten Punkten des Gebirges endlich für komfortable Unterkünfte Sorge getragen werde. Es ist das nicht so leicht«, wollte er eben breit ausführen und gar noch auf die Geschichte der Rubenerbaude umständlich zu sprechen kommen. Aber die Studenten lachten und riefen wieder:

»Sie lebe hoch! – sie lebe hoch! – Die gräfliche Verwaltung lebe hoch!« Daß bald ein stürmisches Durcheinander, ein Rufen und Gläserklingen sich einheitlich erhoben hatte, die Studenten und die Mädchenstimmen mit ihrem Hochgesang getragen hineinklangen, und die Harfen neu einfielen.

Es war die letzte Nacht hier oben im Baudenhaus, ehe der Winter Dach und Grund zudeckte, und drinnen nur das Klingen der Axt in's Holz, Scheit um Scheit – Tag aus, Tag ein – im leeren Gehäuse einsam hörbar war, während im Grunde die Bergwasser unter Eise grollten und brausten – und von den Hängen in wilden Nebel- und Flockenwirbeln über die weiten Wälder hin die Sturmreiter zu Tale schütterten und rasten.


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