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Fumfahr & Co. war ein altes Seidenhaus, im ganzen Schweizerlande berühmt.
Die alten Fumfahrs hatten allerlei Reichtümer. Einen großen Hof oben in den letzten Bergtälern, der Alm nahe. Ein ganz neu erbautes Schloß am Genfer See. In blaubesonnte Täler blickend. Und jenseits in die blaßblauen Riffe von Fels und Luft und Schnee. Unten weit lagen die zitternden Spiegelungen, von verstreichenden Boot- und Dampferspuren ewig durchzeichnet.
Aber die alten Fumfahrs waren tot.
Das alte Seidenhaus lebte noch. Es hatte einen anderen Inhaber. Der große Hof oben in den letzten Bergtälern der Alm lebte noch, von Weidevieh umbrüllt, von 6 einem alten Schäfer bewacht. Und das Schloß am See stand, die hohen Fenster verhangen.
Von den Fumfahrs lebte nur noch Rebekka Fumfahr, die ein schönes Mädchen war. Und die jetzt im Schutze einer pflegenden Schwester Tag und Jahr zubrachte.
Schwester Lotte war eine blonde Kapitänstochter. Mit einem immer unentschlossenen, immer prüfenden und fragenden Munde. Aber mit grauen Augen, die wie ein Pfeil in die Dinge schossen. Und alles erkannten bis in den letzten Winkel.
Rebekka Fumfahr hatte erst an Schwester Lotte einen leidenschaftlichen Halt 7 gefunden wegen der tiefen Kraft und Mildtätigkeit dieser Augen. Weil darin auch das Wunder lebte, das den gejagten Menschen tröstet.
Aber ich muß erst erzählen, wie ich zu meiner Wissenschaft überhaupt gekommen bin.
Ich hatte auf meiner Wanderstaße eine Weile vor den Gitterstäben mit den vergoldeten Spitzen gestanden, hatte das verhangene Schloß angesehen und den Namen Fumfahr auf dem großen messingnen Torschilde gelesen. Als ein Mädchen mit einem langen Zweige Marschal-Niel-Rosen in der bräunlichen Hand aus einem kleinen Häuschen herauskam, das wie ein Winzerhaus in der 8 letzten, untersten Ecke des Parkes lag. Das Mädchen war achtlos auf ein niederes Glashaus zugelaufen, war am Glashausrande über eine lange Brettlatte tänzelnd balanziert. Und ich sah, daß es ein braunblondes Mädchen mit einem jugendlichen Leibe und mit unsteten, suchenden Augen war.
Rebekka Fumfahr war ein schönes Mädchen. Trotz ihrer fast sechsundzwanzig Jahre nicht einmal von reifer, nein, noch immer von ganz unschuldiger Jugend. Das Rätselhafte an ihr hatte ich sofort erkannt. Die Art, wie sie hinschritt. Wie von den Weglinien geführt, ganz mitten. Den Zweig Marschal-Niel-Rosen wie kindlich anbetend vor sich. Lachend ohne 9 Sinn. Lange, rosigbraune Gesichtszüge. Von Urzeit her, wie von einer Parze. Aber blütenjung. Im Umblick plötzlich scheuer. Und doch auch belustigt. Und richtig erstaunt, daß sie irgendwo vor ein Gitter kam. Weil sie die Welt immer weit und offen träumte.
Das Mädchen achtete meiner gar nicht. Es war Frühling im Lande. Frühling am Genfer See. Wer ermißt diesen grenzenlosen Paradiesgarten. Die Fülle Blütensträucher und Blütenbäume. Die Tulpenbäume und den schüchtern blühenden Lorbeer.
Aber Rebekka Fumfahr ging nicht in Seide. Sie war wie ein Landmädchen, schlicht. Nur daß sie nicht abgelassen 10 hatte, sich zu ihrem weißgeblümten, um den Hals freien Kattunkleid einen mächtigen Schäferhut nachlässig auf den großen Kopf zu drücken, so daß der kirschrote lange Schleier hinter ihr drein wehte. Wunderlicherweise ahnte ich gleich eine ganze, unheimliche Geschichte.
Aus dem Winzerhäuschen lief bald danach eine Schwester in schneeweißer Pflegerinnentracht. Die rief nach Rebekka. Und wie sie mich am Tore stehen gesehen, glaubte sie, daß ich Einlaß begehrte, und kam heran.
Ich nahm gleich die günstige Lage wahr, meine Ahnungen aufzuhellen.
»Oh . . . ich begreife ganz . . . ja ja . . . ich berge hier ein seltsames, phantastisches 11 Geheimnis,« sagte die Schwester beim Nahekommen. Und ganz, als wenn sie mir meine Künstlerleidenschaft für Menschenschicksale von den Augen abgelesen, sagte sie weiter, »hier lebt die einzige Erbin der Fumfahrs . . . die einzige Erbin des großen Reichtums!«
Sie hatte mich dabei freundlich in den Park eintreten lassen, und wie sie mit mir auf dem hellen Kieswege zwischen Blumenrabatten hinschritt, orientierte sie mich nun mit ihrem sicheren und immer beschäftigten Dumpfton, ganz nur, als wenn sie in mir einen Seelenarzt sähe, und als wenn sie mir einen strengen Bericht schuldig wäre.
»Das wunderbarste, phantastischste Kind,« 12 sagte sie, »denn sie ist noch immer ein Kind . . . und wird noch ein Kind sein, wenn sie eine graue Mutter ist!«
Und sie fuhr dann fort zu erzählen.
»Viele Gaffer bleiben am Tore stehen . . . aber nur selten ein Mensch, den das Geheimnis anzieht . . . und der fähig ist, es zu begreifen . . . ja . . . das Schloß der Fumfahrs ist verhangen . . . wir beide wohnen in dem kleinen, weißen Winzerhause.«
»Wie Sie nur das Eigentümliche meiner Neugier sofort so gütig durchschaut haben, Schwester,« sagte ich. »Ein Künstler, wie ich bin . . . ich habe freilich das Rätselhafte dieses herrlichen Frühlingsgartens und dieses verhangenen Schlosses empfunden . . . und ich wünschte sofort 13 mit Leidenschaft, mehr von dem Schicksal zu wissen, das hier waltet.«
Aber die Schwester achtete auf meine Verbindlichkeit wenig.
»Rebekka würde Tag und Nacht weinen, wenn ich nicht in ihrer Nähe wäre,« erzählte sie weiter. »Meine stumme Anwesenheit ist das Sesam . . . damit tut sie sich jetzt den Berg der Erlösung auf!«
Der Blick aus ihren grauen, hellen Augen traf mich jetzt wie Weisheit und Ruhe, so daß ich nur aufmerksam zuhörte.
»Sie sprachen vom Schicksal, das hier waltet,« sagte die Schwester. »Ja . . . es ist der seltsamste Widerspruch in der Welt . . . Rebekka ging mit sechzehn Jahren, ein fröhlich entwickeltes Mädchen, zum ersten 14 Male zufällig allein durch die Straßen der Stadt, sah ein anderes Mädchen, das sie verlockte . . . geriet in ein Freudenhaus . . . und war acht Tage lang nicht mehr zu finden!«
»Huh . . .!« sagte ich.«
»Es ist wirklich so,« sagte die Schwester.
»Und wie fand man sie?« sagte ich.
»Äußerlich ein wenig verlottert . . . aber nicht einmal mit einer Anwandlung von Scham . . . nur kindlich lächelnd . . . wahrhaft lieblich . . . ein Mädchen, an das der andere Mensch nie herankann . . . so im eigenen Wesen verborgen!«
»Aber ich bitte Sie, Schwester . . . solch ein Mysterium . . . hat sich nie ein Mann um die Liebe Rebekkas bemüht?«
15 »Viele . . . bei ihrem Reichtum . . . immer wieder . . . aber keiner konnte sie zu sich bringen!«
»Wieso?« sagte ich.
»Ja . . . wieso!« sagte die Schwester, in Erinnerung vor sich hinblickend. »Sie hatte gleichsam nur den einen sonderbaren Trieb, die Straße des Lebens fortzuwandern, ohne je zurückzusehen . . . so ist sie einmal heimlich entkommen und durch ganz Oberitalien fortgewandert . . . sich kindlich mitleidig und willig den Bitten der Lahmen und Krüppel und Strolche am Straßenrande ergebend.«
Ich war entsetzt und erschüttert.
»Man hatte sie monatelang vergebens gesucht . . . bis sie eines 16 Sommernachmittags sich wieder in die alte Weinlaube im Vorstadtgarten der Fumfahrs eingefunden, eine völlig abgerissene und abgemagerte, von der Sonnenbräune fast unkenntlich gemachte Bettlerin . . . sie hatte sich einfach an dem Vespertisch niedergelassen, wo die beiden vom Leide gebeugten Alten ihren Nachmittagstee zu trinken gewohnt waren . . . damals brachte man sie freilich ins Irrenhaus!« sagte die Schwester.
»Ins Irrenhaus . . . ja . . . Rebekka mußte ins Irrenhaus . . . die einzige Tochter dieser berühmten, reichen Fumfahrs!« sagte ich.
»Aber im Irrenhaus war sie so sanft und geduldig . . . und so ergeben, wie vor den 17 Lahmen und Strolchen am Wege . . . sie war noch immer unschuldig wie ein Kind . . . sie verlangt gar nichts, wenn der Weg rund ist . . . und immer nur wieder in sich läuft wie der Kreis . . . und niemand von ihrer Seele etwas erbittet . . . weil sie nur Hingabe ist und immer gewähren muß . . . so lebt sie noch heute!« sagte die Schwester.
»Sehen Sie es nicht zu gütig an . . . dieses Schicksal!« sagte ich zur Schwester.
»Oh . . .«, sagte die Schwester mit fast hartem, sicheren Blicke. »Ich sage die eherne Wahrheit . . . ich beschreibe die unschuldige Seele . . . ihre Seele ist rein wie Schnee . . . nur ganz Liebe und Hingabe . . . ich bin dieser Seele Hüterin . . . 18 ich muß sie vor den irdischen Gefahren hüten, die sie nicht kennt . . . denn sie ist eine wie vom Himmel gefallene Frau . . . es ist das Schicksal Rebekkas, daß ihre Seele ganz unschuldig bleiben muß auf der schuldvollen Erde . . . daß ihre Seele keine Sünde kennt . . . daß Rebekka in ihre Unschuld eingehüllt ist wie in einen undurchdringlichen Panzer!«
Und die Schwester nahm von ihrem Busen ein Blättchen Papier und zeigte mir einen Vers von Rebekka.
»Ich stand am Grabe von Vater und Mutter. . .
und war sehnsüchtig und voll Fragen.
Da lief ein Kind vorbei, das eine 19 Gießkanne voll Wasser trug.
Gib mir das Wasser aus deiner Gießkanne! bat ich.
Und dann goß ich die immer grünen Blätter und die blauen Frühlingsblumen.
Goß weiße Narzissen und Himmelsschlüssel, die ich eben aufs Grab gelegt.
Goß das neue Frühlingsgrab.
Und indem ich den Toten wohltat, fühlte ich mich ihrem Hauche nahe.
Und indem ich für sie geschäftig war, deuchte es mir,
als lebten die Geliebten unter den erfrischten Blättern und Blumen
mit erfrischten Seelen!«
20 Wie wir noch standen, kam Rebekka achtlosen Schrittes heran, lächelte ins Unbestimmte wie ein Schalk, sah mich lange fragend an, nannte die Schwester zärtlich mit dem Namen Lotte, streichelte mit dem Marschal-Niel-Rosenzweige ihr Gesicht. Streichelte mir mit dem Zweige wie verhohlen über das Haar, lachte kindlich und ging weiter.
»Sie ist die heilige Unschuld!« sagte die Schwester, indem sie sich anschickte, dem lieblichen Mädchen sogleich schweigend hinterdreinzuschreiten. Und nickte mir nur noch einen Abschiedsgruß zu.
Dann bin ich auch weitergewandert, den Stein der Unschuld im Herzen mit mir tragend. 21