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Argonauten-Geschichten.
Heute herrschte Aufregung im Brüllatenlager. Es konnte nicht wohl eine Prügelei sein; denn 1850 war das nicht neu genug, um die ganze Ansiedelung zusammenzurufen. Nicht allein waren die Gräben und Bodenantheile der Goldsucher verlassen, sondern »Tuttle's Schenkwirthschaft« sogar hatte ihre Spielratten beigetragen, die, wie man sich entsinnen wird, an dem Tage, wo French Pete und Kanaka Joe einander über den Schenktisch im Vorderzimmer hin eine Kugel durch den Kopf jagten, gelassen ihr Spiel fortgesetzt hatten. Das ganze Lager war vor einer roh gezimmerten Hütte am äußersten Saume der Rodung auf den Beinen. Man unterhielt sich in leisem Ton, aber häufig wurde dabei der Name eines Frauenzimmers wiederholt. Es war ein im Lager zur Genüge bekannter Name – Cherokesen-Sally.
Je weniger wir von ihr sagen, desto besser vielleicht. Sie war ein grob zugehauenes und, wie zu fürchten, ein sehr sündhaftes Frauensbild. Aber sie war zu dieser Zeit das einzige Frauensbild im Brüllatenlager und lag in schwerer Bedrängniß darnieder, wo sie den Beistand ihres eigenen Geschlechts hochnöthig hatte. Liederlich, verworfen und nicht mehr zu einem bessern Lebenswandel zu bekehren, litt sie doch ein Märtyrerthum, welches selbst dann schwer genug zu ertragen ist, wenn es von theilnehmender Weiblichkeit verschleiert wird, welches jetzt aber bei ihrer Verlassenheit geradezu schrecklich war. Der Fluch, welcher das erste Weib traf, war in jener urthümlichen Vereinsamung über sie gekommen, welche die Strafe des ersten Sündenfalles so furchtbar gemacht haben muß. Es war vielleicht ein Theil der Sühne ihrer Sünde, daß sie in einem Augenblicke, wo sie der zarten Fürsorge ihres Geschlechtes am meisten bedurfte, nur den halb verächtlichen Mienen ihrer männlichen Gefährten begegnete. Doch fühlten, mein' ich, einige von den Zuschauern Mitleid mit ihren Schmerzen. Sandy Tipton meinte, es wäre doch »eine schlimme Geschichte mit der Sally«, und erhob sich in Betrachtung ihres Zustandes auf einen Augenblick bis zum Vergessen der Thatsache, daß er ein Aß und zwei Buben in seinem Rockärmel versteckt hielt.
Man wird ferner sehen, daß die Lage der Dinge eine außergewöhnliche war. Todesfälle waren im Brüllatenlager durchaus nichts Seltenes, aber eine Geburt war etwas Neues. Man hatte Leute endgültig und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr aus dem Lager weggeschickt, aber dies war das erste Mal, daß Jemand ab initio in dasselbe eingeführt worden war. Daher die Aufregung.
»Du gehst da hinein, Stumpy,« sagte ein hervorragender Bürger, der unter dem Namen »Kentuck« bekannt war, indem er sich an einen der Herumlungernden wendete. »Du gehst da hinein und siehst, was Du thun kannst. Du hast Erfahrung in dergleichen Sachen.«
Vielleicht war die Wahl nicht unpassend. Stumpy war, wie man glaubte, in andern Gegenden das Haupt von zwei Familien gewesen. In der That schrieb sich's von irgend einem kleinen derartigen Verstoß gegen die Form des Gesetzes her, wenn das Brüllatenlager, ein Zufluchtsort für Leute, die mit der bürgerlichen Ordnung auf gespanntem Fuße standen, das Glück hatte, ihn zum Genossen zu haben. Die Menge billigte die Wahl, und Stumpy war klug genug, sich vor der Mehrheit zu beugen. Die Thür schloß sich hinter dem extemporirten Geburtshelfer, und das Brüllatenlager setzte sich draußen hin, schmauchte seine Pfeife und erwartete den Ausgang.
Die Versammlung zählte gegen hundert Männer. Einige davon waren tatsächlich Flüchtlinge vor der Gerechtigkeit, einige Verbrecher, alle aber Leute ohne Grundsätze. Aeußerlich zeigten sie keine Spur ihrer Vergangenheit und ihrer Denkweise. Der größte Hallunke hatte ein Raphaelsgesicht mit einer Fülle blonder Haare. Oakhurst, ein Spielgauner, besaß die schwermüthige Miene und das tiefsinnige zerstreute Wesen eines Hamlet. Der kaltblütigste und unerschrockenste Mann war kaum größer als fünf Fuß, von sanfter Stimme und schüchterner verlegner Haltung. Wenn man auf sie den Ausdruck »Rüpel« anwendete, so war das mehr eine Distinction als eine Definition. In den geringeren Einzelheiten wie Finger, Zehen, Ohren u. dgl. mag das Lager seine Mängel gehabt haben, aber diese unbedeutenden Ausfälle thaten ihrer Kraft im Großen und Ganzen keinen Abbruch. Der stärkste Mann hatte an seiner rechten Hand nur drei Finger, der beste Schütze besaß nur ein Auge.
Von der Art war das äußerliche Bild der Männer, die zerstreut um die Hütte saßen. Das Lager befand sich in einem dreieckigen Thale zwischen zwei Hügeln und einem Flusse. Der einzige Ausgang war ein steiler Pfad über den Kamm eines Hügels, welcher der jetzt vom aufgehenden Monde beschienenen Hütte gegenüber lag. Das leidende Weib hätte ihn sehen können von der rohen Bank, auf der sie lag – sehen, wie er sich gleich einem silbernen Faden hinaufwand, bis er sich in den Sternen droben verlor.
Ein Feuer von dürren Fichtenzweigen verlieh der Versammlung etwas Gemächliches. Allmählig kehrte die natürliche Leichtlebigkeit des Brüllatenlagers zurück. Reichlich wurden in Betreff des Ausgangs der Angelegenheit Wetten angeboten und angenommen: drei gegen fünf, daß »Sally durchkommen würde«, selbst, daß das Kind es überleben würde, Nebenwetten in Bezug auf das Geschlecht und die Farbe des ankommenden Fremdlings. Da hörte man mitten in einer lebhaften Discussion von Denen, die der Thür am nächsten saßen, plötzlich einen Ausruf, und das Lager hielt inne, um zu lauschen. Ueber dem Wiegen und Stöhnen der Fichtenwipfel, dem Rauschen des rasch dahinströmenden Flusses und dem Prasseln des Feuers erhob sich ein schriller, kläglicher Schrei – ein Schrei ungleich jedem andern Laute, der bis dahin im Lager vernommen worden war. Die Fichten hielten inne mit ihrem Stöhnen, der Fluß hörte auf zu rauschen und das Feuer zu prasseln. Es schien, als ob die Natur den Athem anhielte, um ebenfalls zu lauschen.
Das Lager sprang auf seine Füße wie Ein Mann. Der Vorschlag wurde laut, ein Fäßchen Schießpulver loszubrennen, aber mit Rücksicht auf den Zustand der Mutter behielten bessere Rathschläge die Oberhand, und nur ein paar Revolver wurden abgefeuert. Denn entweder infolge der rauhen Geburtshülfe, die das Lager nur leisten konnte, oder aus einer andern Ursache nahmen die Kräfte Sallys rasch ab. Nach Verlauf einer Stunde hatte sie jenen steilen Pfad erklommen, der nach den Sternen hinaufführte, und das Brüllatenlager mit seiner Sünde und Schande für immer hinter sich gelassen. Ich glaube nicht, daß die Meldung hiervon die Leute sehr störte, ausgenommen, daß sie sich jetzt überlegen mußten, was mit dem Kinde geschehen sollte.
»Kann er jetzt leben bleiben?« wurde Stumpy gefragt.
Die Antwort war zweifelhaft. Das einzige andere Wesen von Cherokesen-Sallys Geschlecht und mütterlichem Zustande in der Niederlassung war eine Eselin. Es wurden einige Bedenken geäußert, ob die passen werde, aber man machte den Versuch. Er war weniger problematisch, als die einstige Behandlung von Romulus und Remus und dem Anschein nach ebenso erfolgreich.
Als man mit diesen Einzelnheiten, welche eine zweite Stunde in Anspruch genommen hatten, fertig war, wurde die Thür geöffnet, und die neugierige Menge, die sich bereits in eine Queue geordnet hatte, marschirte im Gänsemarsch hinein.
Neben der niedrigen Bank oder dem Wandvorsprung, auf welchem man die Umrisse der starren Gestalt der Mutter unter den Decken hervortreten sah, stand ein Tisch von Fichtenholz. Auf diesen hatte man ein Lichterkistchen gestellt, und in diesem lag, mit brennend rothem Flanell bekleidet, der jüngste Ankömmling im Brüllatenlager. Neben dem Lichterkistchen befand sich ein Hut. Sein Zweck wurde bald bekannt gegeben.
»Die Herrschaften,« sagte Stumpy mit einer eigenthümlichen Mischung von Amtswürde und Behagen, »die Herrschaften wollen gefälligst zur Vorderthür herein, um den Tisch herum und zur Hinterthür hinausgehen. Diejenigen, welche was für das verwaiste Kind beizutragen wünschen, werden meinen Hut zur Hand finden.«
Der erste Mann trat mit dem Hut auf dem Kopfe herein, nahm ihn jedoch, nachdem er sich umgesehen, ab und gab damit, ohne es zu wissen, dem nächstfolgenden ein Beispiel. In solchen Menschengemeinschaften sind gute und schlechte Handlungen ansteckend.
Wie die Procession im Gänsemarsch hereinkam, konnte man allerlei Anmerkungen hören, Kritiken, die vielleicht mehr an Stumpy in der Rolle als Mann, der etwas sehen läßt, gerichtet waren: »Das also ist er?« – »Höllisch kleines Exemplar!« – »Hat nicht die Farbe seiner Alten.« – »Ist ja nicht größer wie 'n Pistol.«
Die Beiträge waren ebenso charakteristisch: eine silberne Tabaksdose, eine Dublone, ein Revolver, wie sie auf der Kriegsflotte eingeführt sind, mit Silber beschlagen, eine Probe Goldstaub, ein sehr schönes gesticktes Damentaschentuch (von Oakhurst, dem Spielgauner), eine mit Diamanten besetzte Brustnadel, ein Diamantring (dessen Schenkung durch die Nadel angeregt worden war und von dem Geber mit der Bemerkung begleitet wurde, daß er die Nadel gesehen habe und zwei Diamanten höher gegangen sei), ein Todtschläger, eine Bibel (wer sie beigetragen, wurde nicht entdeckt), ein goldner Sporn, ein silberner Theelöffel (die Anfangsbuchstaben auf dem Stiele waren, wie ich mit Bedauern sage, nicht die vom Namen des Gebers), eine Chirurgenscheere, eine Lanzette, eine Note der Bank von England auf fünf Pfund lautend und etwa zweihundert Dollars in einzelnen Gold- und Silbermünzen.
Während dieser Vorgänge bewahrte Stumpy ein Schweigen so theilnahmlos wie das der Todten zu seiner Linken, einen Ernst so unerforschlich wie der des Neugebornen zu seiner Rechten. Nur ein einziger Vorfall unterbrach die Einförmigkeit der wunderlichen Procession. Als »Kentuck« sich halb neugierig über das Lichterkistchen beugte, drehte sich das Kind um und griff in einem Anfall von Schmerz nach seinem tastenden Finger, den es einen Augenblick festhielt. Kentuck machte ein einfältiges und verlegnes Gesicht, und etwas wie ein Erröthen versuchte sich auf seinen wettergebräunten Backen kundzugeben.
»Ei Du verdammtes kleines Närrchen!« sagte er, indem er seinen Finger losmachte, vielleicht mit mehr Zärtlichkeit und Mitgefühl, als man ihn an den Tag zu legen für fähig gehalten hätte. Er hielt diesen Finger, als er hinausging, ein wenig ab von seinen Kameraden und betrachtete ihn sorgfältig. Diese Prüfung rief dieselbe originelle Bemerkung in Bezug auf das Kind hervor. In der That, es schien ihm Vergnügen zu machen, sie zu wiederholen. »Es krabbelte mich am Finger,« bemerkte er zu Tipton, indem er das Glied in die Höhe hielt, »das verdammte kleine Närrchen.«
Es wurde vier Uhr, bevor das Lager sich zur Ruhe begab. Ein Licht brannte in der Hütte, wo die Wächter saßen; denn Stumpy ging diese Nacht nicht zu Bette. Auch Kentuck nicht. Er zechte wacker und wiederholte mit großem Wohlgefallen sein Erlebniß, wobei er jedes Mal ohne Ausnahme mit seiner charakteristischen Verdammung des neuen Ankömmlings schloß. Sie schien ihn von jeder ungerechten Vermuthung zu befreien, daß er Gefühl besitze, und Kentuck besaß die Schwächen des edleren Geschlechtes. Als alle Andern zu Bett gegangen waren, schritt er nach dem Flusse hinunter und pfiff nachdenklich vor sich hin. Dann wanderte er die Schlucht hinauf und an der Hütte vorüber, wobei er mit einem Gleichmuth, der bemerkt sein wollte, fortpfiff. Bei einem großen Rothholzbaume blieb er stehen und schritt dann wieder zurück, um von Neuem die Hütte zu passiren. Nachdem er das Flußufer halb hinabgegangen war, hielt er abermals inne, kehrte um und pochte an die Thür der Hütte. Dieselbe wurde von Stumpy geöffnet.
»Wie geht es?« sagte Kentuck, indem er an Stumpy vorbei nach dem Lichterkistchen sah.
»Ganz munter,« erwiderte Stumpy.
»Irgendwas los?«
»Nichts ist los.«
Es folgte eine Pause – eine Pause der Verlegenheit, während Stumpy immer noch die Thürklinke in der Hand hielt. Dann nahm Kentuck seine Zuflucht zu seinem Finger, welchen er Stumpy vor's Gesicht hielt. »Krabbelte dran – das verdammte kleine Närrchen!« sagte er und zog sich zurück.
Am nächsten Tage wurde Cherokesen-Sally so einfach zu Grabe gebracht, wie es die Verhältnisse des Brüllatenlagers verlangten. Nachdem ihre Leiche der Flanke des Hügels übergeben worden, fand eine förmliche Versammlung des Lagers statt, um sich zu besprechen, was mit dem Kinde geschehen sollte. Einstimmig und mit Begeisterung wurde der Beschluß gefaßt, es zu adoptiren. Aber sofort erhob sich eine belebte Discussion in Betreff der Art und Weise und der Möglichkeit, für seine Bedürfnisse zu sorgen. Merkwürdig war, daß die Debatte nichts von jenen wüthigen Persönlichkeiten an sich hatte, mit denen man sonst gewöhnlich im Brüllatenlager seine Beweise führte. Tipton schlug vor, das Kind nach der Ansiedelung vom Rothen Hunde zu senden, die vierzig Meilen entfernt war, und wo man ihm weibliche Pflege verschaffen konnte. Aber der unglückliche Vorschlag stieß auf einstimmigen und hitzigen Widerspruch. Es lag klar zu Tage, daß kein Plan, der eine Trennung von ihrem neuen Zuwachs in sich schloß, auch nur für einen Augenblick Gutheißung finden würde.
»Außerdem,« so ließ sich Tom Ryder vernehmen, »würden die Kerls im Rothen Hunde ihn vertauschen und uns was Andres dafür aufschmieren.« Mißtrauen in die Ehrlichkeit andrer Lager herrschte im Brüllatenlager wie in andern Niederlassungen.
Auch die Einführung einer weiblichen Abwartung in das Lager begegnete Einwürfen. Man machte geltend, daß keine anständige Frauensperson sich bewegen lassen würde, das Brüllatenlager als ihre Heimath anzunehmen, und der Redner betonte, daß sie »von der andern Sorte keine mehr haben möchten«. Diese unfreundliche Anspielung auf die dahingeschiedne Mutter war, so schroff sie erscheinen mag, das erste Aufflackern von Anstandsgefühl, – das erste Symptom der sittlichen Neugestaltung des Lagers. Stumpy stellte keinen Antrag. Vielleicht hinderte ihn daran ein gewisses Zartgefühl, welches ihm verbot, sich in die Wahl eines Amtsnachfolgers zu mischen. Aber als er gefragt wurde, erklärte er stramm, daß er und »Jinny« – das oben erwähnte Säugethier – es schon fertig kriegen würden, das Kind aufzuziehen. Es lag in dem Plan etwas Originelles, Unabhängiges und Heroisches, was dem Lager gefiel. Stumpy verblieb auf seinem Posten. Man schickte nach gewissen Gegenständen nach Sacramento.
»Wohl gemerkt,« sagte der Schatzmeister, als er dem Expreßboten ein Säckchen mit Goldstaub in die Hand drückte, »das Beste, was zu kriegen ist – Spitzen, verstehst Du, Filigranarbeit und Krausen – hol der Teufel, was es kostet.«
Wunderbar, aber das Kind gedieh. Vielleicht glich das kräftigende Klima des im Gebirge gelegenen Lagers die materiellen Mängel aus. In jener seltenen Atmosphäre des Hügellandes am Fuße der Sierra – jener Luft voll balsamischen Duftes, jener ätherischen Herzstärkung, die zugleich spannt und erheitert – mag er Speise und Nahrung oder eine feine chemische Kraft gefunden haben, die Eselsmilch in Kalk und Phosphor verwandelte. Stumpy neigte der Ansicht zu, daß es die letztere und gute Abwartung war. »Ich und die Eselin,« pflegte er zu sagen, »wir sind ihm Vater und Mutter gewesen. Lauf Du uns nur nicht einmal davon,« setzte er dann gewöhnlich hinzu, indem er das hülflose Wickelkind vor ihm anredete.
Als das Kind einen Monat alt war, stellte sich die Nothwendigkeit heraus, ihm einen Namen zu geben. Es war bis dahin gemeiniglich als »das Zicklein«, als »Stumpys Junge«, als »der Cayote« (eine Anspielung auf seine kräftige Lunge) und selbst als »das verdammte kleine Närrchen« bezeichnet worden, wie Kentuck es schmeichelnd genannt hatte. Aber man empfand, daß diese Benennungen nichtssagend und unbefriedigend waren, und man gab sie zuletzt unter einem andern Einflusse auf. Spieler und Abenteurer sind gewöhnlich abergläubisch, und so erklärte Oakhurst eines Tages, daß das Kind »das Glück« in das Brüllatenlager gebracht habe. Es war sicher, daß sie neuerdings gute Geschäfte gemacht hatten. »Glück« war der Name, über den man eins wurde, doch sollte der größeren Bequemlichkeit halber ihm noch der Vorname Tommy vorgesetzt werden. Auf die Mutter wurde keine Rücksicht genommen, und der Vater war unbekannt.
»'s ist besser,« sagte der philosophische Oakhurst, »die Geschichte ganz von Frischem anzufangen. Nennt ihn Glück und schickt ihn hübsch ordentlich ausgestattet in die Welt.«
Infolge dessen wurde ein Tag für seine Taufe festgesetzt. Was mit dieser Ceremonie gemeint war, kann der Leser sich vorstellen, der sich bereits eine Idee von der dreisten Gottlosigkeit des Brüllatenlagers gebildet haben wird. Der Ceremonienmeister war ein gewisser »Boston«, ein bekannter Possenreißer, und die Gelegenheit schien den schönsten Schwank zu versprechen. Dieser erfindungsreiche Satiriker hatte zwei volle Tage darauf verwandt, eine Posse vorzubereiten, welche die gottesdienstliche Handlung mit scharf hervortretenden örtlichen Anspielungen parodirte. Der Chor war gehörig eingeübt, und Sandy Tipton sollte Pathenstelle vertreten.
Aber nachdem die Procession mit Musik und Fahnen nach dem Wäldchen marschirt und das Kind schon auf einem Tische ausgestellt war, der einen Altar abgeben sollte, trat Stumpy vor die erwartungsvolle Menge hin.
»Es ist nicht meine Art, den Spaßverderber zu machen, Jungens,« sagte der kleine Mann tapfermüthig, indem er seine Blicke über die Gesichter um ihn herum gehen ließ, »aber mich däucht doch, als ob diese Geschichte nicht recht am Orte wäre. Es ist doch ziemlich dummes Zeug mit dem Wickelkinde hier, Possen mit ihm zu treiben, die es nicht versteht. Und wenn es hier Pathen geben soll, so möchte ich den sehen, der ein besseres Recht darauf haben thäte als ich.«
Auf Stumpys Rede folgte Schweigen. Zur Ehre aller Humoristen sei es gesagt, daß der Erste, welcher ihre Berechtigung anerkannte, der Satiriker war, dem auf diese Weise mit seinem Spaße Einhalt geboten wurde.
»Aber,« sagte Stumpy rasch, indem er seinen Vortheil wahrnahm, »wir sind hier zu einer Taufe versammelt, und die wollen wir haben. Ich spreche aus, daß Du Thomas Glück heißen sollst, kraft der Gesetze der Vereinigten Staaten und des Staates California, so wahr mir Gott helfe!«
Es war das erste Mal, daß im Lager der Name der Gottheit anders als in frevelhafter Weise ausgesprochen worden war. Die Form der Taufe war vielleicht noch komischer, als der Satiriker sie beabsichtigt hatte. Aber, wunderbar genug, niemand sah das, und niemand lachte. »Tommy« wurde so ernsthaft getauft, als er unter einem christlichen Dache getauft worden wäre, und schrie dazu und wurde dabei beschwichtigt ganz in derselben orthodoxen Manier.
Und so begann das Reformationswerk im Brüllatenlager. Schier unmerklich vollzog sich in der Niederlassung ein Umschwung. Die Hütte, welche »Tommy Glück« oder »dem Glück«, wie man ihn häufiger nannte, angewiesen worden, verrieth Spuren von Verschönerung. Sie wurde gewissenhaft sauber gehalten und weiß getüncht. Dann bekam sie Dielen, eine Decke und Tapeten. Die Wiege von Rosenholz, die achtzig Meilen weit auf dem Rücken eines Maulthieres hierher gekommen war, hatte, wie Stumpy das auszudrücken pflegte, »die übrigen Möbeln gewissermaßen todtgemacht«. So wurde die Rehabilitirung der Hütte zu einer Nothwendigkeit. Die Leute, welche gewohnt waren, bei Stumpy hereinzuschlendern, um nachzusehen, »was das Glück machte«, schienen den Werth der Veränderung zu begreifen, und in Selbstvertheidigung beeilte sich das rivalisirende Element in »Tuttle's Schenkwirthschaft« nachzukommen und bezog einen Teppich und Spiegel. Die Rückwirkungen des letzteren auf das Aeußere des Brüllatenlagers hatten wieder die Folge, daß man es mit der Sauberkeit seines Leibes hinfort genauer nahm. Ferner legte Stumpy denen, welche nach der Ehre und Vergünstigung strebten, »das Glück« auf den Armen halten zu dürfen, eine Art Quarantäne auf. Es war eine grausame Verlegenheit für Kentuck – der mit der Unbekümmertheit einer großartig angelegten, leichtlebigen Natur und nach dem Brauch des Grenzerlebens begonnen hatte, alle Kleidungsstücke wie eine zweite Haut zu betrachten, die gleich der einer Schlange nur in Folge von Verwitterung allmählig abrutschte, – sich aus gewissen Gründen der Vorsicht von jener Vergünstigung ausgeschlossen zu sehen. Indeß war der stille Einfluß der Neuerung der Art, daß er von jetzt an jeden Nachmittag in einem reinen Hemde und mit einem Gesichte erschien, welches noch von seinen Abwaschungen glänzte.
Auch die moralischen Gesetze, sowie die, welche die Gesundheit betreffen, wurden nicht vernachlässigt. »Tommy«, von welchem angenommen wurde, daß er sein ganzes Dasein auf hartnäckige Versuche, der Ruhe zu pflegen, verwende, durfte hierin nicht durch Lärm gestört werden. Das Gebrüll und Gejohl, welches dem Lager seinen unglücklichen Namen verschafft hatte, wurde innerhalb Gehörsweite der Hütte Stumpys nicht mehr gestattet. Die Leute unterhielten sich flüsternd und schmauchten ihre Pfeifen mit indianischer Gravität. Lästerliche Reden wurden in diesem geheiligten Bezirk stillschweigend aufgegeben, und im ganzen Lager unterließ man eine gewisse volksthümliche Form des Ausdrucks, die sich in Flüchen wie »Verdamm das Glück!« oder »Verflucht schlechtes Glück!« zusammenfaßte, hinfort als eine solche, die sich auf eine Persönlichkeit bezog.
Vocalmusik war nicht untersagt, da man meinte, sie besitze die Eigenschaft zu beruhigen und zu besänftigen, und ein Lied, welches »Kriegsflotten-Jack«, ein englischer Matrose aus Ihrer Majestät australischen Kolonien, zu singen pflegte, war als Wiegenlied sehr beliebt. Es war ein wehmüthig klingender Bericht von den Thaten der »Arethusa, vierundsiebzig Kanonen«, in düsterem Mollton, der am Ende jedes Verses mit einem langgezogenen, hinsterbenden Fallen der Stimme schloß: »An Bo-o-ord der Arethu-u-sa«. Es war ein schöner Anblick, Jack zu sehen, wie er »das Glück« auf seinen Armen hielt und sich von der einen Seite auf die andere wiegte, wie wenn er der Bewegung des Schiffes folgte, und dazu sein Matrosenlied heulte. Entweder durch das eigenthümliche Wiegen Jacks oder in Folge der Länge seines Sanges – derselbe bestand aus neunzig Strophen und wurde mit gewissenhafter Ueberlegung bis zu seinem traurigen Ende fortgesungen – hatte das Wiegenlied gemeiniglich die gewünschte Wirkung.
Zu solchen Zeiten pflegten die Leute des Lagers ihrer vollen Länge nach ausgestreckt unter den Bäumen zu liegen, das sanfte Sommerzwielicht zu genießen, ihre Pfeifen zu rauchen und die melodischen Klänge einzuschlürfen. Eine dunkle Idee, daß dies idyllisches Glück sei, schwebte dem Lager vor.
»Nee, das Lied 'ier is doch 'immlisch!« sagte dann der Cockney Cockney ist der Spitzname der gemeinen Klasse in London, die das H vergißt, wo es hingehört, und es dafür da anbringt, wo es nicht zu sein braucht.Simmonds, indem er sich sinnend auf seinen Ellbogen stützte. Es erinnerte ihn an Greenwich.
In den langen Sommertagen wurde »das Glück« gewöhnlich nach der Schlucht getragen, aus welcher das Brüllatenlager seinen Goldvorrath gewann. Dort pflegte es auf einer Wolldecke, die über Fichtenzweige gebreitet war, zu liegen, während die Leute unten in den Gräben arbeiteten. Später wurde ein unbeholfener Versuch gemacht, diese Laube mit Blumen und süß duftendem Strauchwerk zu schmücken, und gewöhnlich kam Einer, um dem Kinde einen Strauß von wildem Geißblatt, Azaleen oder den bunten Blüthen der Mariposen zu bringen. Die Leute waren plötzlich zur Erkenntniß der Thatsache erwacht, daß in solchen Kleinigkeiten, die sie bis dahin unachtsam mit Füßen getreten hatten, Schönheit und Bedeutung lag. Eine Flocke glänzender Mica, ein Brocken buntgeäderten Quarzes, ein heller Kiesel aus dem Bette des Baches wurde für die auf solche Weise geläuterten und gestärkten Augen schön, und so wurden diese Dinge immer für »das Glück« bei Seite gelegt. Es war wunderbar, wie viele Schätze Wald und Gebirge lieferten, die »was für Tommy« sein sollten.
Umgeben von Spielsachen, wie sie außerhalb des Feenlandes niemals vorher ein Kind gehabt hatte, war Tommy hoffentlich zufrieden. Er schien sicherlich glücklich, obwohl er eine gewisse kindliche Ernsthaftigkeit und ein nachdenkliches Licht in seinen runden grauen Augen hatte, welches Stumpy bisweilen am Herzen nagte. Er war stets fügsam und ruhig, und es wird berichtet, daß, als er einst über seinen »Corral«, eine Hecke von verflochtenen Fichtenzweigen, welche sein Bett umgab, hinausgekrochen war, er über die Uferbank auf seinen Kopf fiel, in die weiche Erde fuhr und, mit den Beinchen in der Luft, wenigstens fünf Minuten, ohne einen Augenblick seine Würde aufzugeben, in dieser Stellung verharrte. Ohne zu murren wurde er herausgezogen.
Ich nehme Anstand, die vielen anderen Beispiele seines gescheidten Wesens zu berichten, die sich unglücklicherweise auf die Angaben für ihn eingenommener Freunde stützen. Einige derselben waren nicht ohne einen Anflug von Aberglauben.
»Da krieche ich eben jetzt am Ufer 'nauf,« sagte Kentuck eines Tages in einem Zustande athemloser Aufregung, »und der Teufel soll mir 'n Bein ausreißen, wenn er nicht mit 'ner Elster reden that, die ihm auf dem Schooße saß. Da waren sie allebeide ganz so ungenirlich und gemüthlich, wie irgendwas auf der Welt, und plapperten auf einander los wie zwei Kirschklappern.«
Gleichviel, ob er über die Fichtenzweige kroch oder träge auf dem Rücken lag und nach dem Laubdach über ihm hinaufblinzelte, immer sangen die Vögel, rasselten die Eichhörnchen, blühten die Blumen für ihn. Die Natur war seine Amme und seine Gespielin. Für ihn ließ sie durch die Blätter der Wipfel goldene Lichtstrahlen dringen, die gerade in den Bereich seiner Händchen fielen, so daß er sie greifen konnte. Um ihn zu besuchen, sandte sie wandernde Lufthauche, beladen mit dem balsamischen Dufte von Lorbeerbäumen und Harzen. Ihm galt es, wenn die hohen Rothholzbäume so vertraut und so schlaftrunken nickten, wenn die Hummeln summten und die Krähen eine einschläfernde Begleitung dazu krächzten.
Von der Art war der goldne Sommer im Brüllatenlager. Es gab »flotte Zeiten«, und das Glück war mit ihnen. Die zum Goldgraben erworbenen Landstücke hatten einen ungewöhnlichen Ertrag ergeben. Das Lager war eifersüchtig auf seine Privilegien und blickte mit Mißtrauen auf Fremde. Der Zuwanderung wurde durchaus keine Ermuthigung zu Theil, und um ihre Absperrung vollständiger zu machen, wurde das Land zu beiden Seiten der Berge, welche das Lager umgaben, von ihnen gesetzlich durch Vorkauf erworben. Dies und ihr Ruf, mit dem Revolver geschwind und geschickt bei der Hand zu sein, erhielt die Neigung des Brüllatenlagers, für sich zu bleiben, unverletzt. Der Expreßbote – ihr einziges Verbindungsglied mit der sie umgebenden Welt – erzählte bisweilen wunderbare Geschichten von dem Lager. So sagte er: »Die bei den Brüllaten haben da 'ne Straße, der keine Straße im Rothen Hunde das Wasser reicht. Sie haben Weinreben und Blumenstöcke um ihre Häuser herum, und sie waschen sich zwei Mal am Tage. Aber sie sind höllisch grob gegen Fremde, und sie beten ein indianisches Wickelkind an.«
Mit dem Gedeihen des Lagers regte sich der Wunsch nach weiteren Verbesserungen. Der Vorschlag wurde gemacht, im nächstfolgenden Frühling ein Hotel zu bauen und ein paar achtbare Familien einzuladen, sich da niederzulassen, um sich »des Glückes« anzunehmen, das vielleicht von weiblicher Gesellschaft Vortheil ziehen könnte. Das Opfer, welches dieses Zugeständniß an das zartere Geschlecht diesen Leuten kostete, die in Betreff der Tugend und Nützlichkeit dieses Geschlechts im Allgemeinen starke Zweifel hegten, kann nur durch ihre Liebe zu Tommy erklärt werden. Nur Einige blieben noch bei ihrem Widerstreben. Aber der Beschluß konnte erst in drei Monaten zur Ausführung gebracht werden, und die Minorität gab sanftmüthig nach, indem sie hoffte, daß sich inzwischen etwas ereignen könnte, was die Sache verhinderte.
Und so geschah es denn auch.
Lange Jahre wird man sich in dem Hügellande am Fuße der Sierra des Winters von 1851 erinnern. Der Schnee lag hoch in den Gebirgen droben und jeder Gebirgsbach wurde ein Strom, jeder Strom ein Landsee. Jede Kluft und Schlucht verwandelte sich in einen geräuschvoll wogenden Wasserlauf, der an den Bergwänden hinabrauschte, riesige Bäume niederriß und sein Treibholz und seinen Schlamm über die Ebene verstreute. Der Rothe Hund war schon zwei Mal unter Wasser gesetzt worden, und das Brüllatenlager war gewarnt.
»Das Wasser hat das Gold in die Schluchten gespült,« sagte Stumpy, »es ist schon ein Mal hier gewesen, und es wird wieder hierherkommen.«
Und diese selbe Nacht sprang der Nordarm des Flusses plötzlich über seine Ufer und fegte hinauf bis in das dreieckige Thal des Brüllatenlagers.
In der Verwirrung rauschend daher stürzender Gewässer, zerschmetternder Baumstämme und zerkrachenden Holzes und in der Dunkelheit, die mit dem Wasser weiter zu strömen und das liebliche Thal zu vernichten schien, konnte nur wenig gethan werden, um das zerstreute Lager zu sammeln. Als der Morgen anbrach, war die Hütte Stumpys, die dem Flusse am nächsten lag, verschwunden. Höher hinauf in der Schlucht fand man die Leiche ihres unglücklichen Besitzers; aber der Stolz, die Hoffnung, die Freude, das Glück des Brüllatenlagers war nicht mehr zu sehen. Traurigen Herzens kehrten sie um, als plötzlich ein lauter Ruf vom Ufer her sie zurückrief.
Es war ein Rettungsboot von weiter unten am Flusse. Sie hatten, wie sie sagten, ungefähr zwei Meilen stromabwärts einen Mann und ein kleines Kind fast ganz entkräftet aufgelesen. Ob Jemand sie kenne, und ob sie etwa hierher gehörten?
Es bedurfte blos eines Blickes, um ihnen zu zeigen, daß Kentuck hier vor ihnen lag, grausam zerquetscht und mit Beulen bedeckt, aber immer noch das Glück des Brüllatenlagers in seinen Armen haltend. Als sie sich über das seltsam gesellte Paar niederbeugten, sahen sie, daß das Kind kalt und ohne Pulsschlag war.
»Es ist todt,« sagte Einer.
Kentuck öffnete die Augen. »Todt?« wiederholte er mit matter Stimme.
»Ja, mein guter Mann, und Du bist am Sterben.«
Ein Lächeln verklärte die Augen des in den letzten Zügen liegenden Kentuck.
»Am Sterben,« wiederholte er. »Er nimmt mich mit sich hinüber. Sagt den Jungens, ich hätte jetzt das Glück bei mir.«
Und der starke Mann, sich an das schwache Kindchen anklammernd, wie man sagt, daß ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert, trieb hinweg in den schattigen Strom, der immer und ewig in die unbekannte See fließt.