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Siebentes Kapitel

An dem Morgen, der auf das Wiedersehen der drei Teilhaber folgte, ging die Sonne so strahlend über Hymettus auf, daß sie Barker frühzeitig aus dem Schlafe weckte. Ohne das süß schlummernde Kind zu stören, kleidete er sich rasch an, um draußen in der scharfen Luft, die auf dem Abhang hinter dem Hotel wehte, das Tagesgestirn zuerst zu begrüßen. Er war ein solcher Naturmensch, daß es ihm von jeher ein ebenso großes Bedürfnis gewesen war, der neuerwachten Schöpfung in Berg und Wald ein Willkommen entgegenzubringen, wie es ihn drängte, seinen Mitmenschen ›Guten Morgen‹ zu sagen. Als er das ferne Black-Spur-Gebirge emporsteigen sah, schwenkte er vor Freude den Hut in der Luft; er legte, wie er schon als Knabe gethan, den Arm liebkosend um den starken Stamm der nächsten Kiefer, klatschte in die Hände, wenn er die Eichhörnchen vor sich über den Weg huschen sah und pfiff den bunten Hähern zu, die sich im Tau badeten. Die ernsten Gespräche des vergangenen Abends hatte er entweder ganz vergessen, oder sie tauchten nur noch vom Morgenlicht vergoldet in seiner Erinnerung auf.

Nicht lange, da sah er Demorests hohe Gestalt auf sich zukommen und bemerkte sogleich, daß der gewöhnliche Ausdruck sanfter Schwermut im Gesicht des Freundes einem satirischen Zug von Weltverachtung gewichen war, während eine kaum verhaltene Bitterkeit aus dem Ton seiner Stimme klang. Der treue Barker machte sich Vorwürfe wegen seiner Selbstsucht: Demorest war offenbar in großer Sorge wegen der Fälschung, die so verhängnisvolle Folgen für Stacy haben konnte und hatte gewiß eine unruhige Nacht gehabt, während er, Barker, sich die ganze Sache aus dem Sinn geschlagen hatte.

»Ich wollte im Vorbeigehen an deine Thüre klopfen,« sagte er, wie zur Entschuldigung in teilnehmendem Ton, »aber ich fürchtete dich zu stören. Ist es nicht herrlich hier? Ganz wie unser alter Berg. Sieh nur die Eidechse dort; sie hat sich nicht von der Stelle gerührt, seit sie mich gesehen hat. Sie erinnert mich an das Tierchen, das uns oft den Zucker stahl und dann stocksteif auf dem Rande der Schale saß, als ob es ein Zierat oder der Henkel des Gefäßes wäre – weißt du noch?« setzte er mit wiederkehrendem Frohsinn hinzu.

»Barker,« fragte Demorest plötzlich, »was für eine Art Dame ist denn die Frau Van Loo, in deren Zimmer ich wohne?«

»O, eine höchst anständige Frau,« erwiderte Barker in aller Unschuld. »Sie hat weißes Haar, kleidet sich gut, spricht mit etwas fremdem Accent und hat auch ausländisch höfliche Manieren.«

»Aber woher kommt sie, und wie lange ist sie schon hier?«

»Sie war auf Reisen gewesen, glaube ich, und traf bald nachdem du fort warst hier ein. Als Van Loo die Sekretärstelle bei der Grubengesellschaft erhielt, ließ er seine Mutter und Schwestern kommen, um ihm den Haushalt zu führen. Aber du wirst sie ja heute oder vielleicht morgen bei ihrer Rückkunft sehen. Ich will dich ihr vorstellen; sie freut sich gewiß, die Bekanntschaft eines Menschen zu machen, der aus Europa kommt, zumal wenn er reich und vornehm ist und einen Freier für ihre Töchter abgeben könnte.« Das Lächeln erstarb plötzlich auf seinen Lippen, als ihm Demorests lebenslanges Geheimnis einfiel. Allein zu seiner Ueberraschung verdüsterte sich die Miene des Freundes nicht, wie das sonst bei dergleichen Anspielungen der Fall gewesen. Im Gegenteil, er sah lebhaft erregt aus und erwiderte scherzend: »Nun, wenn die Mädchen hübsch sind – wer weiß!«

Er schien überhaupt sehr guter Laune zu sein, denn während sie nach dem Hotel zurückgingen, erkundigte er sich noch sehr angelegentlich nach Frau Van Loo und ihren Töchtern; besonders wollte er wissen, ob letztere auch mit im Ausland gewesen wären.

Auf der Veranda hatten sich schon einige Gäste eingefunden, die eifrig beschäftigt waren, die eben aus Sacramento eingetroffenen Zeitungen zu lesen; andere standen in Gruppen zusammen und besprachen die neuesten Nachrichten. Sie hätten Barker und seinen Gefährten vielleicht mit ins Gespräch gezogen, wäre ersterer nicht gar so eilig gewesen, den Direktor in seinem Bureau aufzusuchen, um Demorests Neugier zu befriedigen.

»Könnten Sie mir genau sagen, wann Frau Van Loo zurückerwartet wird?« fragte Barker ungestüm.

Der Direktor riß sich nur schwer von der Zeitung los, die auch er mit ängstlicher Spannung überflog; ein eigentümliches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er erwiderte: »Ich glaube kaum! Sie sollte heute wiederkommen; aber wenn Sie ihre Zimmer zu behalten wünschen, wird das keine Schwierigkeit haben; es ist unwahrscheinlich, daß sie sich jetzt wieder hier blicken läßt. Zwar trägt sie den Kopf sehr hoch und ist ein entschlossenes Frauenzimmer, aber weder sie noch ihre Töchter dürften es angenehm finden, nach dem was geschehen ist, den Leuten wieder unter die Augen zu treten.«

»Ich verstehe Sie nicht,« rief Demorest ungeduldig. »Was ist denn geschehen?«

»So wissen Sie es noch nicht?« fragte der Direktor verwundert. »Alle Zeitungen sind ja voll davon. Van Loo ist ein Betrüger; er hat die ihm anvertrauten Gelder unterschlagen, sein Hab und Gut versilbert und sich aus dem Staube gemacht.«

Barker fuhr erschreckt auf. Aber er dachte nur an den Kummer und Verdruß seiner Frau, nicht an den Verlust ihres Geldes. Vielleicht quälte sich die Aermste obendrein noch darüber, daß er ihr zürnen würde! Doch da kannte sie ihn schlecht; er wollte sogleich zu ihr nach Boomville, um sie zu beruhigen. Plötzlich fiel ihm ein, daß sie ja mit Frau Hornburg herüberkäme und vielleicht schon unterwegs sei, auf der Eisenbahn oder der Postkutsche, so daß er sie verfehlen könnte.

Unterdessen hatte Demorest eine Zeitung zur Hand genommen und las eifrig darin.

»Auch für Ihren Freund und früheren Teilhaber lauten die Nachrichten schlecht,« sagte der Direktor nicht ohne Mitgefühl. »Der Preis sämtlicher Effekten, die die Bank besitzt, ist plötzlich gesunken; sie werden alle massenhaft auf den Markt geworfen. Zwei Firmen in Frisco, die mit der Bank in Geschäftsverbindung standen, haben Bankerott gemacht, ohne irgend welchen Verpflichtungen gegen die Bank nachzukommen. An der Börse ist gestern abend eine schreckliche Panik ausgebrochen; man sagt, daß keiner von den großen Spekulanten weiß, ob er steht oder fällt. Drei unserer besten Kunden im Hotel sind heute früh Hals über Kopf nach Frisco abgereist. Stacy selbst ist schon vor Tagesanbruch fort; er hat an die Verwaltung der Zweigbahn telegraphiert, daß der Nachtschnellzug an der Station für ihn halten soll. Wünschen Sie, daß ich etwaige Depeschen, die ankommen, auf Ihr Zimmer schicke?«

Demorest verstand die Bedeutung dieser Frage wohl; der Direktor vermutete offenbar, daß er bei der Bank beteiligt sei. In ruhigem, etwas verwundertem Ton entgegnete er, daß er keine Depeschen erwarte und fügte hinzu: »Aber wenn Frau Van Loo zurückkommt, lassen Sie es mich, bitte, sofort wissen.« Dann ergriff er Barkers Arm, um mit ihm zum Frühstück zu gehen.

Als sie etwas abseits von den andern Gästen Platz genommen hatten, sah Demorest seinen Gefährten an: »Ich fürchte, lieber Junge,« sagte er, »daß der Schlag Jim weit härter trifft, als wir gestern abend dachten oder er uns merken lassen wollte. Und auch dir wird Van Loos Flucht Verluste bereiten. Nicht wahr, er hatte Geld von deiner Frau in Händen?«

Barker wußte, daß Demorests Vermögen zum größten Teil in Stacys Bank steckte und war gerührt über diesen Beweis seiner uneigennützigen Gesinnung; so antwortete er denn mit der gleichen Selbstlosigkeit, er hätte nur die eine Sorge, ob seine Frau sich auch die Sache nicht allzusehr zu Herzen nehmen würde. »Du kannst dir denken, Phil, daß es mir nichts ausmacht, ob sie ihr Geld behalten oder verloren hat. Ich hab's ihr geschenkt und sie konnte damit anfangen was sie wollte. Aber gewiß ängstigt sie sich, daß ich ihr Vorwürfe machen würde; als ob mir das gleichsähe! Wüßte ich, daß wir uns nicht verfehlten, ich ginge sofort nach Boomville hinüber, wo sie eingekehrt ist.«

»Sagtest du nicht, sie wäre in San Francisco?« fragte Demorest erstaunt.

Barker errötete. »Ja,« erwiderte er rasch, »aber ich habe seitdem erfahren, daß sie unterwegs in Boomville geblieben ist.«

»Dann laß dich ja nicht durch mich aufhalten, alter Junge,« versetzte Demorest. »Wenn Jim mir telegraphiert, breche ich sofort nach San Francisco auf; die Depesche kann jeden Augenblick kommen. Ich wollte nur nicht, daß es die Neuigkeitskrämer draußen erführen, die alles weiter tragen. Also lauf' nur hin, Barker, und beruhige dein Gemüt über deine Frau. Es wird wohl bald andere Dinge geben, die uns in Anspruch nehmen.«

Auf so dringendes Zureden unterbrach Barker sein Frühstück und ging hinaus; doch war er noch immer ungewiß, was er thun sollte. Kitty hatte die schlimme Nachricht in Boomville ohne Zweifel ebenso rasch erfahren wie er. Entweder war sie jetzt also mit Frau Hornburg unterwegs oder sie wartete in Furcht und Zittern auf ihn, der ja auch alles wissen mußte. Es war nun einmal Barkers Gewohnheit, allen die er liebte, seine eigenen Gefühle zu leihen und der Gedanke lag ihm fern, daß die Frau, welche sich gegen seinen Rat in so waghalsige Spekulationen eingelassen hatte, schwerlich seinen Tadel fürchten würde, nun die Sache mißglückt war.

In seiner Herzensgüte telegraphierte er an sie, für den Fall, daß sie Boomville noch nicht verlassen hätte: »Alles in Ordnung. Nachricht erhalten. Quäle dich nicht. Komm zu mir.« Dann verließ er das Hotel durch die Hinterthür, um den Gästen nicht zu begegnen, die auf der Veranda versammelt waren, und begab sich nach einer kleinen bewaldeten Anhöhe, von wo aus man die beiden Straßen nach Boomville überblicken konnte. Hier wollte er auf Kitty warten und ihr entgegengehen, damit sie nicht allein beim Hotel vorfahren und sich den neugierigen Blicken und spöttischen Bemerkungen der Gäste aussetzen müßte, von denen viele wußten, daß Van Loo ihr Makler war und sie mit ihm spekuliert hatte. Während er den Hügel erstieg, sah er die Postkutsche von Sacramento unten auf der Straße vorbeifahren; da diese aber schon um vier Uhr morgens in Boomville die Pferde wechselte, war Kitty sicher zu müde gewesen, um sie zu benutzen; auch konnte die Unglücksnachricht sie bis dahin nicht erreicht haben. So setzte er sich denn unter eine Kiefer und schaute der Postkutsche nach, wie sie im weiten Bogen dahinfuhr und im Hofe des Hotels verschwand.

Eine Weile hatte er so gesessen und die Gabelung der beiden roten Straßen unten fortwährend im Auge behalten, die immer weißer und blendender zu werden schienen, je mehr sein Blick ihnen in die Ferne folgte. Nichts war zu sehen, außer von Zeit zu Zeit eine Staubwolke, aus der ein Reitersmann oder ein vereinzeltes bepacktes Maultier dann und wann auftauchte und eben so schnell wieder verschwand. Plötzlich hörte er sich beim Namen nennen; er blickte auf und sah Frau Hornburg wenige Schritte vor ihm zwischen zwei Stämmen der hohen Kiefern stehen, die sich über ihren Häuptern wölbten.

In dem geheimnisvollen Dunkel kam ihm die Erscheinung so göttlich schön vor, daß er zuerst an gar nichts anderes denken konnte. Sie trug ein leichtes Kleid von zartem Stoff, der sich anmutig an ihre wundervolle Gestalt schmiegte und von einem seidenen Gürtel zusammengehalten wurde. Der aufgespannte weiße Sonnenschirm, den sie über die Schultern hielt, bildete einen lichten Hintergrund, von dem sich ihr reizender Kopf mit den dicken Haarflechten unter dem mit Spitzen umränderten Hut aufs vorteilhafteste abhob. Sie war Barker noch nie so entzückend erschienen; rasch sprang er vom Boden auf und alle Bewunderung, die er empfand, spiegelte sich deutlich in seinem offenen Gesicht. Auch das Rot ihrer Wangen hatte sich tiefer gefärbt.

»Ich sah Sie hier heraufsteigen, als ich vor einigen Minuten im Postwagen vorüberfuhr,« sagte sie lächelnd; »da habe ich mir nur den Staub aus den Kleidern geschüttelt und bin Ihnen gefolgt.«

»Wo ist Kitty?« stammelte er.

Sie erblaßte plötzlich und es lag wie ein stiller Vorwurf in ihren dunkeln Blicken. Was sie auch sagen wollte oder wie sorgfältig sie sich auf diese Unterredung vorbereitet hatte, sie verlor bei der unumwundenen Frage im Augenblick alle Fassung. Barker sah dies und maß die Schuld natürlich sofort seiner eigenen Unhöflichkeit zu. Mit wahrhaft zerknirschter Miene flehte er: »O vergeben Sie mir! Ich mache mir solche Sorge um Kitty und war schon im Begriff nach Boomville zu fahren. Natürlich haben Sie doch auch gehört, daß Van Loo ein Betrüger ist und mit dem Geld des armen Kindes die Flucht ergriffen hat.«

Frau Hornburg hatte die Nachricht soeben im Hotel erfahren. Sie schwieg einen Augenblick, um sich zu sammeln und sagte dann langsam und vorsichtig, wobei sie die Wirkung ihrer Worte genau beobachtete: »Frau Barker ist, so viel ich weiß, nach der Zweigbahn gefahren, um den Zug –«

»Natürlich,« unterbrach sie Barker eifrig; »das konnte ich mir gleich denken! Sie hat sich nach dem Bureau der Aktiengesellschaft aufgemacht, um zu sehen, ob sich noch etwas aus dem Zusammensturz retten ließe, ehe sie zu mir kam. Das sieht dem armen Ding recht ähnlich. Und Sie – Sie,« fuhr er fort und ergriff ihre beiden Hände, während sein ganzes Gesicht von Dankbarkeit strahlte, »Sie sind in ihrer Herzensgüte hergekommen, um es mir zu sagen.«

Einen Augenblick stand Frau Hornburg sprachlos und unentschlossen da. Welche Ironie des Schicksals war es doch, daß solche offene Naturen sich nicht nur leicht betrügen ließen, sondern förmlich zum Betrug aufforderten! Anstatt daß er andere durch sein Beispiel wahrheitsliebender machte, verlockte sie seine Leichtgläubigkeit nur zu Lüge und Hinterlist. Auch Frau Hornburg konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ihr Zweck war, das Zusammensein mit Barker etwas in die Länge zu ziehen; eine unumwundene Mitteilung des Sachverhalts hätte vielleicht der Unterredung ein schnelles Ende gemacht.

»Sie selbst hat mir nichts von ihrer Absicht gesagt, dorthin zu gehen,« erwiderte sie ausweichend. »Ich hörte es erst von dem Hausmeister nach ihrer Abfahrt. Aber ich wollte überhaupt mit Ihnen von den Beziehungen Ihrer Frau zu Van Loo sprechen,« fuhr sie, ihm wieder fest ins Auge blickend, mit plötzlicher Aufrichtigkeit fort. »Ich glaubte, wir würden hier ungestörter sein als im Hotel. Doch ist dies wohl ein beliebter Spaziergang, so daß jeden Augenblick ein paar schmachtende Pärchen zu uns herauskommen könnten. Zudem fühlt man sich hier wie in einer Kirche,« sagte sie leicht zusammenschauernd und warf einen Blick in das dichte Geäst hinauf, das sich über ihnen zu einer hohen Kuppel wölbte; es ist alles so frei und öffentlich, da wagt man kein lautes Wort zu sprechen. Gibt es nicht einen etwas abgelegeneren Ort, wo man sich hinsetzen könnte, ohne daß man ganz schmutzig und harzig wird?« Dabei stocherte sie mit dem Sonnenschirm in dem schwarzen Erdreich zu ihren Füßen, das sich mit den Kiefernadeln mischte, die den Boden bedeckten.

Barkers Augen funkelten. »Ich kenne jeden Fußbreit auf diesem Hügel,« sagte er, »und wenn Sie mir folgen wollen, führe ich Sie zu dem reizendsten Plätzchen, von dem Sie sich je haben träumen lassen. Es ist eine alte, von den Indianern entdeckte, jetzt längst vergessene Quelle; ich glaube, außer mir und den Vögeln weiß sie niemand mehr zu finden. Sie ist kaum zehn Minuten weit – nur fürchte ich, wird der Weg dahin etwas rauh und staubig sein,« setzte er mit einem Blick auf ihre zierlichen, bronzierten Schnallenschuhe und seidenen Strümpfe zögernd hinzu.

Frau Hornburg behauptete jedoch, beim Heraufklettern hätte sie Schuhe und Strümpfe so wie so schon verdorben und könne ebensogut weiter gehen. Sie schritten zusammen bergunter durch die Waldeshalle, bis zu einer kleinen, mit Manzanitagebüsch bestandenen Thalmulde, die das Hotel ihren Blicken verbarg, aber die Aussicht auf das Black-Spur-Gebirge frei ließ.

»Um wieviel Uhr ist Kitty denn abgefahren?« begann Barker eifrig, als sie halbwegs den Hügel hinunter waren.

Aber es kam keine Antwort. Frau Hornburg war eben auf den glatten Kiefernadeln ausgeglitten, und Barker mußte seine ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden, seine Gefährtin vor einem abermaligen Fall zu schützen, bis sie die Lichtung erreichten. Dann arbeiteten sie sich durch das Manzanita-Dickicht, wateten bis an die Kniee in hohem Farrengestrüpp und kamen endlich, einander bei der Hand haltend, keuchend und atemlos vor der Quelle an.

Barker hatte mit der begeisterten Beschreibung nicht zu viel von seinem Lieblingsplatz gesagt. Aus der Vertiefung eines Felsvorsprungs sickerte die überströmende Quelle durch niederes Erlengebüsch und floß dann zwischen schlanken Weiden am Bergabhang hinunter, so daß sie vom Thal aus gesehen einer grünen Furche glich. Dunkle Kiefern bildeten über ihr ein Schattendach aus dicht verschlungenen Aesten und strömten würzige Düfte aus, während auf dem ganzen Bergrücken die heiße Sonne brütete. In der Mitte der Thalmulde zogen lange saftige Gräser und blühendes Schilf ihren Zauberkreis um ein rundes Becken, das durch ein leise murmelndes, unsichtbares Bächlein immer wieder gefüllt ward. Sein Wasser mußte wohl aus der weißen Quarzhöhle herabträufeln, die sich wie eine Ader an der Seite des Berges öffnete. Dann und wann huschten die Schatten leichtbeschwingter Vögel über das Becken, es raschelte im Rohr, sonst vernahm man keinen Laut. Die Natur schien zu atmen, und doch herrschte tiefe Stille in dieser Einsamkeit; nur der Himmel schaute in das Versteck, und die endlose Ferne.

Auf einem Teppich von zarten Schlingpflanzen, der den schwammig weichen Boden überzog, schritten sie weiter, bis zu dem offenen Platz vor dem Wasserbecken, welcher über und über mit verwitterter Baumrinde bedeckt war. Als sie sich hier niedergesetzt hatten, machte Frau Hornburg ihren Sonnenschirm zu und legte ihn beiseite, dann nahm sie den Hut vom Kopfe, steckte die Nadeln, mit denen er befestigt gewesen, hinein und reichte ihn Barker, der ihn auf einen hohen Rohrstengel hing, wo er während dieser ganzen denkwürdigen Unterredung wie eine Blume hin und her schwankte. Nachdem sie noch ihre Handschuhe ausgezogen hatte, schlürfte sie lächelnd und dankbar einen Trunk frischen Quellwassers, den ihr Barker in dem grünen Kelchblatt einer Lilie brachte. Sie sah aus wie das Bild der Glückseligkeit – und zerfloß doch plötzlich in Thränen.

Barker war überrascht, erschreckt, außer sich vor Bestürzung. Frau Hornburg weinte! Sie, die stolze, stets ruhige und gefaßte Weltdame mit dem scharfen Urteil, dem spöttischen Lächeln – sie schwamm in Thränen! Andere Frauen mochten weinen – Kitty hatte er oft weinen gesehen – aber Frau Hornburg! – Und doch, da saß sie und schluchzte wie ein Schulmädchen; ihre schönen Schultern hoben und senkten sich, und wirkliche Zähren tropften durch ihre schmalen weißen Finger auf das zarte Spitzentaschentuch, welches sie plötzlich in den Händen hielt. Dabei glänzten ihre wundervollen Augen noch tausendmal schöner, wenn die funkelnden Perlen an ihren Wimpern hingen und sie überflossen, wie das klare Becken vor ihnen.

»Geben Sie nicht acht darauf,« murmelte sie unter Thränen. »Ich weiß, es ist sehr thöricht. Ich muß wohl nervös und angegriffen sein. Aber es wird gleich vorüber gehen; mir ist schon besser zu Mute. Bitte, kümmern Sie sich gar nicht um mich.«

Aber Barker war ihr schon näher gerückt und versuchte, nach echter Männerart, ihr das Taschentuch fortzunehmen, offenbar in dem festen Glauben, daß ihre Thränen dann versiegen würden. »So sagen Sie mir doch, was Ihnen fehlt, bitte, bitte Frau Hornburg,« flehte er auf seine knabenhafte Weise. »Sprechen Sie nur ein Wort. Kann ich etwas für Sie thun? O sagen Sie es mir doch!«

Es war ihm gelungen das Tuch so weit zu entfernen, daß er ihre nassen Augen sehen konnte, in denen ein schwaches Lächeln aufblitzte, wie wenn die Sonne durch den Regen scheint. Sie verdüsterten sich wieder, doch flossen keine Thränen mehr, nur ein leises Schluchzen war vernehmbar und sie bedeckte ihr vom Weinen gerötetes Antlitz mit den Händen.

»Ich wollte mit Ihnen über Kitty reden,« stammelte sie, »aber ich bin eine Thörin und ein schwaches Weib. Mein eigenes Los und mein Kummer kamen mir in den Sinn, während ich nur an Sie und an Kitty denken sollte.«

»Reden wir nicht mehr von Kitty,« rief Barker leidenschaftlich. »Jetzt handelt es sich um Sie selbst und Ihren Gram. Ich bin ein Barbar, daß ich Sie in solchem Moment mit den Angelegenheiten meiner Frau gequält habe. Sie dürfen mir kein Wort mehr von ihr sagen, bis ich weiß, was Ihnen so bittern Kummer bereitet.« Er meinte es ganz im Ernst. Was waren Kittys oberflächliche Thränen, die sie vielleicht über den Verlust ihres Geldes vergoß, gegen den tiefen Seelenschmerz einer solchen Frau? »Bitte, liebe Frau Hornburg,« fuhr er eifrig fort, »sehen Sie jetzt in mir nicht Kittys Gatten, sondern Ihren wahren Freund. Jawohl, Ihren besten und treusten Freund, dem Sie alle Ihre Kümmernisse anvertrauen dürfen.«

»Wollen Sie wirklich mein Freund sein?« fragte sie hastig und ergriff seine Hand; »mein bester und treuster Freund? Und werden Sie mich auch nicht hassen und von sich stoßen, wenn ich Ihnen nun alles offen bekenne?«

Barker fühlte wieder wie an jenem Abend, daß bei der Berührung ihrer warmen Hand sein ganzes Inneres erbebte; doch diesmal war er darauf vorbereitet und erwiderte den Händedruck und die Sprache ihrer Augen. »Ich will Ihr Freund sein!« sagte er in atemloser Spannung; »glauben Sie mir, ich bin Ihr Freund.«

Sie entzog ihm ihre Hand, fuhr sich damit über die Augen und biß sich auf die Lippen. Gleich darauf griff sie aber wieder nach seiner Rechten, die sie festhielt als fürchtete sie, er könne ihr entfliehen. Dann sprach sie langsam und ohne ihn anzusehen: »Ich habe Sie gestern abend belogen, als ich sagte, ich sei mit Kitty nach Boomville gekommen. Allein und heimlich bin ich dorthin gegangen, um mit dem Mann zusammenzutreffen, der mein Gatte ist.«

»Ihr Gatte!« rief Barker überrascht. Er hatte wie alle übrigen geglaubt, es bestehe schon seit Jahren keinerlei Verbindung mehr zwischen den beiden. So groß war aber der Anteil, den er an ihr nahm, daß er ganz übersah, wie unerklärlich dadurch die Anwesenheit seiner Frau in Boomville wurde.

»Ja, mein Gatte,« fuhr Frau Hornburg in ihrem bittern Selbstbekenntnis fort. »Ich ging zu ihm, um ihn durch Geld oder Bitten zu bewegen, mich mein Kind wiedersehen zu lassen. Jawohl, mein Kind!« rief sie leidenschaftlich und hielt seine Hand um so fester; »denn ich habe gelogen, als ich Ihnen damals sagte, ich hätte keines. Ich habe ein Kind gehabt, und zwar eins, das ich bei seiner Geburt nicht öffentlich anzuerkennen wagte.«

Sie schwieg atemlos und sah ihn so starr und durchdringend an, als wollte sie den Gedanken, der jetzt folgen mußte, aus seinem Hirn tilgen. Er aber rückte nur dichter an sie heran, legte ihr den Arm um die Schulter, als sei er ihr natürlicher Beschützer und sah auf ihr gebeugtes Haupt herab. Es lag eine gewisse Würde in seinem Wesen, als ihm die Augen jetzt vor Mitleid überflossen, während er murmelte: »Armes, armes Kind!«

Frau Hornburg brach wieder in Thränen aus; dann wandte sie unwillkürlich das Gesicht halb nach ihm hin und erzählte ihm alles, was zwischen ihr und ihrem Gatten vorgegangen war, sogar Dinge, von denen sie nur andeutungsweise geredet hatten. Ihr war, als könne sie jetzt die entsetzlichen Erinnerungen in Worte kleiden, welche letzte Nacht auf sie eingestürmt waren, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte. Sie verschwieg nichts, sie beschönigte nichts; an manchen Stellen des Bekenntnisses hörten ihre Thränen auf zu fließen und es lag eine grausame Härte, eine unerbittliche Strenge in ihrer Stimme und ihrem Wesen, als hätte sie es sich zur Buße auferlegt, ihre ganze Seele vor ihm zu enthüllen und fände eine herbe Befriedigung darin.

»Ich habe nie eine befreundete Seele gehabt,« flüsterte sie; »die Frauen verfolgten mich mit eifersüchtigem Spott, die Männer mit selbstsüchtiger Leidenschaft. Als ich Sie zuerst sah, erschienen Sie mir so ganz anders als alle übrigen, daß ich schon damals, wiewohl ich Sie kaum kannte, den dringenden Wunsch hatte, Ihnen alles zu sagen, was Sie jetzt wissen. Ich hoffte, Sie sollten mein Freund sein. Ein unbestimmtes Etwas sagte mir, Sie würden mich von meiner Vergangenheit trennen, mir raten können, was ich thun soll. Ich wollte lernen zu denken wie Sie denken, das Leben anzusehen, wie Sie und gleich Ihnen immer an das Gute im Menschen zu glauben. Mein Vertrauen zu Ihnen ließ mich auch jetzt hoffen, Sie würden mich verstehen und mir alles vergeben.«

Sie machte eine leise Bewegung, als wolle sie ihren Arm befreien und dem Blick begegnen, mit dem er, wie sie instinktmäßig fühlte, auf ihr gebeugtes Haupt herabsah. Aber er hielt sie nur fester, so daß ihre Wange beinahe seine Brust berührte. »Was konnte ich thun?« murmelte sie. »Der Mann darf in Not und Kummer bei einer Frau Teilnahme und Hilfe suchen, ohne daß es ihm die Welt verwehrt, oder ihn mißversteht. Aber das Weib – ein schwächeres, hilfloseres, leichtgläubigeres und unwissenderes Geschöpf, das sich nach Erleuchtung sehnt – kann in ihrer Seelenangst nicht bei dem Manne Rettung und Mitgefühl suchen.«

»Aber weshalb nicht?« stieß Barker ungestüm hervor und ließ sie los, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Welcher Mann würde es ihr verweigern?«

»Nicht darum,« erwiderte sie langsam, aber noch immer mit abgewandtem Blick, »sondern weil die Welt sagen würde, sie liebe den Mann.«

»Was braucht sie sich um die Meinung einer Welt zu kümmern, die ruhig dabei steht und sie leiden läßt! Weshalb sollte sie ihr erbärmliches Gerede beachten?« fuhr er glühend vor Entrüstung fort.

»Weil,« hauchte sie leise und sah mit feuchten Augen und beredten Lippen zu ihm empor – »weil es die Wahrheit wäre!«

Es herrschte eine tiefe Stille; selbst das Lied der Quelle schien zu verstummen, als sich jetzt ihre Augen und Lippen begegneten. Doch nicht lange, so hörten sie das Gemurmel des Quells von neuem, eine Biene summte über ihrem Haupte, und das Rohr rauschte verstohlen, während sie das Gesicht an seiner Brust verbergend flüsterte: »Hast du es auch nicht sonderbar gefunden, daß ich dir gefolgt bin – daß ich alles aufs Spiel setzte um dir mein Bekenntnis abzulegen, ehe ich dir irgend etwas anderes berichtete? Wirst du mich nie dafür hassen, Georg?«

Diesen Worten folgte ein noch längeres Schweigen, und als er wieder in ihr erregtes Gesicht, ihre feucht schimmernden Augen sah, erwiderte er: »Ich habe dich immer geliebt. Jetzt weiß ich, daß ich dich vom ersten Tage an liebte, als ich mich zu dir herabbeugte, um dir den kleinen ›Sta‹ vom Schoß zu nehmen und so viel Zärtlichkeit für ihn in deinen Augen las. Schon damals hätte ich dich küssen mögen wie jetzt, Geliebte!«

»Vergiß nur nie, Georg,« rief sie mit beglücktem Lächeln, sobald sie wieder zu Atem kam, »daß du mir das alles gesagt hast, ehe ich dir noch irgend etwas von ihr erzählt hatte.«

»Von ihr? Von wem, mein Herz?« fragte er, sich liebevoll zu ihr neigend.

»Von wem anders, als von deiner Frau – von Kitty,« antwortete sie hastig und sah ihn nicht ohne ängstliche Scheu forschend an.

Er schien den Sinn ihrer Worte nicht zu verstehen, doch versetzte er ernsthaft: »Wir wollen jetzt nicht von ihr reden. Später werden wir uns desto mehr mit ihr zu beschäftigen haben. Denn,« setzte er ruhig hinzu, »ich muß ihr alles sagen, das weißt du wohl.«

Die Röte wich aus ihren Wangen. »Ihr alles sagen?« wiederholte sie mechanisch. Doch plötzlich wandte sie sich in leidenschaftlicher Erregung zu ihm hin: »Wie aber, wenn sie fort ist?«

»Fort?«

»Ja, fort. Sie ist mit Van Loo auf und davon gegangen und hat Schande über dich und dein Kind gebracht.«

»Ich verstehe dich nicht, was meinst du?« Er ergriff ihre beiden Hände und sah sie starr an.

»Daß sie dich verlassen hat und Van Loo gefolgt ist,« rief sie und sank von Leidenschaft überwältigt vor ihm auf die Kniee. »O Georg, Georg! Glaubst du, ich wäre dir gefolgt und hätte dir alles gestanden, wenn ich dächte, daß sie noch irgendwelchen Anspruch an deine Liebe, an deine Achtung erheben könnte? Begreifst du denn nicht, daß ich zu dir kam, um dir zu sagen, sie sei mit jenem Menschen entflohen? Ich hatte sie zufällig in Boomville mit ihm ertappt und den Versuch gemacht, sie zu retten; ja ich belog dich sogar, um sie vor deinem Zorn zu schützen. Sie aber hat mich hintergangen, wie sie auch dich zu täuschen verstand. Gerade während du bei mir warst, hat sie ihren Liebhaber aufgesucht und ist mit ihm entflohen. – Dies und nichts anderes wollte ich dir sagen, Georg, als ich herkam – ich schwöre es dir! Aber du warst so gütig, so voller Teilnahme – da ertrug ich es nicht länger. Ein wahnsinniges Verlangen ergriff mich, deine Liebe zu gewinnen. Ich wollte, du solltest meine Gefühle erwidern, noch ehe du die Treulosigkeit deines Weibes erführest. Doch habe ich alles gethan, um sie zu retten. Noch einen Augenblick, Georg – sage noch nichts, höre mir zu!«

In fliegender Eile erzählte sie ihm nun die ganze schmachvolle Geschichte, von dem Augenblick an, wie seine Frau mit Van Loo in das Wohnzimmer gekommen war; wie sie sie dann später, bei der unerwarteten Ankunft ihres Gatten, angefleht, sie vor ihm zu verbergen und dann die Zeit benutzt habe, um mit ihrem Liebhaber zu entfliehen. Sie vergaß keine Einzelheit, selbst die Beleidigung nicht, die Frau Barker ihr triumphierend entgegengeschleudert hatte: daß ihr Gatte Frau Hornburgs Worten keinen Glauben schenken würde. »Vielleicht glaubst du mir jetzt wirklich nicht, Georg,« fügte sie in bitterm Weh hinzu. »Ach, ich könnte selbst das von dir ertragen, wenn es dich glücklicher macht; doch würdest du es bald andern Leuten glauben müssen. Die Diener im Boomville-Hotel haben gesehen, wie die beiden zusammen fortgefahren sind.«

»Ich glaube dir,« sagte er langsam und mit niedergeschlagenen Augen; »und hätte ich dich nicht schon geliebt ehe du mir dies sagtest, ich würde dich jetzt lieben, weil du so viel für sie gethan hast, aber –« Er hielt inne.

»Dein Herz gehört ihr noch!« rief sie wie außer sich; »ach, ich wußte es wohl! – Vielleicht,« fuhr sie noch leidenschaftlicher fort, »liebst du sie nur umsomehr, nun du sie verloren hast. Das pflegt so zu sein bei Männern – und Frauen.«

»Hätte ich sie wahrhaft geliebt,« sagte Barker, Frau Hornburgs Blick jetzt freimütig begegnend, »ich hätte deine Lippen nie berühren können. Nicht einmal der Wunsch wäre in mir aufgestiegen – wie vor drei Jahren – wie am vergangenen Abend. Damals hielt ich es für eine Schwachheit, jetzt weiß ich, daß es meine Liebe war. Der Gedanke daran ist mir nie aus dem Sinn gekommen. Selbst während ich hier saß und auf die Rückkehr meiner Frau wartete, war ich mir völlig klar, daß ich sie nicht liebe – sie nie geliebt haben kann. Aber gerade deshalb muß ich alles daran setzen sie zu retten; nicht um meinet- sondern um ihretwillen. Wenn es mir mißlingt, so soll man wenigstens nicht sagen dürfen, daß ihre Schande für uns die Staffel zum Glück geworden ist. Habe ich dein Bild im Herzen getragen und dir meine Liebe gestanden, so lange ich Kitty noch für rein und schuldlos hielt, wie könnte ich jetzt aus ihrem Unrecht Nutzen ziehen wollen.«

Frau Hornburg sah zu spät ihren Irrtum ein: »So würdest du sie wieder bei dir aufnehmen?« fragte sie wie sinnverwirrt.

»In meinem Hause, das auch ihres ist – ja. In meinem Herzen – nein. Das hat sie nie besessen.«

»Und ich?« fragte Frau Hornburg mit bebenden Lippen. »Wohin soll ich gehen, wenn ihr das ausgemacht habt? Zurück zu meiner Vergangenheit – ohne Mann – ohne Kind?«

Sie wollte sich abwenden, doch Barker umfing sie wieder mit den Armen. »Nein!« rief er, während sein Antlitz plötzlich von Hoffnung und jugendlicher Begeisterung glühte. »Nein! – Wir wollen Kitty alles sagen, und sie wird uns beistehen. Ich weiß wie gut und hilfreich sie trotz allem ist. Sie ist auch klug und wird Mittel und Wege finden, wie wir den öffentlichen Skandal einer Scheidung vermeiden und doch voneinander getrennt werden können. Den lieben kleinen ›Sta‹ wird sie freilich mitnehmen; dies Recht kann ich dem armen Ding nicht weigern, doch wird sie erlauben, daß ich ihn besuchen darf, so oft ich will. Sie wird für uns eine Schwester sein, Geliebte. Nur Mut! Alles muß noch glücklich enden. Verlaß dich auf mich.«

Frau Hornburg war nahe daran, in krampfhaftes Lachen auszubrechen. Als sie aber zu ihm aufblickte und sah, wie sein schönes Gesicht vor Liebe und Glück strahlte und ein fast prophetischer Glanz in seinen klaren Augen lag, als sie seine wunderbare Hoffnungskraft, sein himmlisches Vertrauen zu sich und andern gewahrte, da vergaß sie, daß er doch eigentlich unerfahren wie ein Kind sei. Sie ließ sich von dem Optimismus des Geliebten mit fortreißen, trotz aller bittern Erfahrungen, die ihr das Leben schon gebracht hatte und wiewohl sie genau wußte, was bei Kittys und ihrem eigenen Charakter möglich war. Denn nichts hat eine so siegreiche Ueberzeugungskraft wie der Optimismus der Liebe; und nur seine Liebe zu ihr hatte dies Wunder wirken können. So gab sie ihm denn Kuß für Kuß und hoffte im stillen, daß Frau Barker an Van Loo festhalten und nicht zurückkehren werde – eine Hoffnung, in der sie der feste Glaube an die Thorheit ihres eigenen Geschlechts bestärkte und aufrecht erhielt.

»Jetzt müssen wir fort von hier, Geliebte,« sagte Barker und zeigte nach der Sonne, die schon in Mittagshöhe stand. Drei Stunden waren ihnen im Fluge vergangen. »Ich werde dich wieder bis zum Hügel begleiten und da wollen wir uns trennen. Du kehrst dann allein nach dem Hotel zurück, wie du gekommen bist, und ich gehe noch eine kleine Strecke weiter, auf der Straße nach der Eisenbahn. Sprich mit niemand über Kitty, das wird besser sein für uns und für sie. Vielleicht ist der wahre Sachverhalt noch unbekannt geblieben.« Nach einem Abschiedskuß bahnten sie sich wieder Hand in Hand den Weg durch das Farrengestrüpp und das Manzanita-Dickicht und schieden auf der Anhöhe voneinander. Mit solchen Gefühlen hatten sie noch nie Abschied genommen – ihre ganze Welt blieb hinter ihnen zurück.

Barker schritt langsam am Rand der Straße unter den Ahornbäumen dahin, wo Sonnenlichter mit den Schatten spielten. Auch auf seinem Antlitz malten sich wechselsweise helle und düstere Gedanken. Nicht lange, so sah er von weitem einen Einspänner, der sich mühsam vorwärts schleppte und schwerfällig hin und her schwankte; eine Staubwolke zog er hinter sich drein wie ein Vogel seine gebrochene Schwinge. Als das Fuhrwerk näher kam, erkannte Barker, daß das Pferd ganz abgehetzt und erschöpft war und die einzige Insassin – eine Frau – auch kaum mehr Kraft genug hatte, um das Tier anzutreiben; von Zeit zu Zeit erhob sie zwar Zügel und Peitsche, aber mit immer schwächerer Wirkung. Da trat Barker aus dem Schatten der Bäume mitten auf die sonnenbeglänzte Straße, um das Gefährt zu erwarten – er hatte sein Weib erkannt.

Jetzt durchzuckte ihn die schärfste Pein, die seine Frau ihm noch je bereitet hatte. Denn als sie seiner ansichtig wurde, machte sie einen verzweifelten, wenn auch ohnmächtigen Versuch, an ihm vorbeizukommen; gleich darauf brachte ein Graben sie zum Stillstand.

Er trat näher heran. Ihr Haar war aufgelöst, sie sah beschmutzt, vergrämt und häßlich aus; um ihre verweinten Augen hatten sich Ringe gebildet und Staub und Schweiß klebten auf ihrer rosigen Wange. Als er an die Schönheit und Frische, an das feine Benehmen der Frau dachte, mit der er soeben zusammengewesen, überwältigte den seelenguten Menschen ein unaussprechliches Mitleid. Er eilte zu ihr hin, hob sie mit aller Sorgfalt aus dem Wagen, wie sie war, in ihren besudelten Kleidern und mit Schmach bedeckt, und sagte hastig: »Ich weiß alles, meine arme Kitty! Du hast gehört, daß Van Loo die Flucht ergriffen hat und bist nach dem Bureau gefahren, um zu versuchen, ob sich nicht noch etwas von dem Gelde retten ließe. Warum hast du mir nichts davon gesagt? Weshalb hast du nicht auf mich gewartet?«

Es lag so viel echtes Gefühl in seinen Worten, ein so herzliches Erbarmen in seinem Thun, daß die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung keinen Zweifel zuließ. Aber das Weib sah in ihm nur den leichtgläubigen Thoren, den sie ihr Leben lang getäuscht hatte. Sie atmete auf wie befreit und empfand doch dabei eine gewisse Verachtung für seine Schwäche und ärgerte sich, daß sie sich vorhin so unnützerweise vor ihm gefürchtet hatte.

»Wenn du das alles so genau wußtest,« sagte sie in schrillem, zänkischem Ton, »so hättest du auch selbst hinüberfahren und mir diese greuliche, schmutzige, hoffnungslose Unternehmung sparen können. Denn von dem Geld habe ich doch nichts gerettet, und die ganze widerwärtige Geschichte ist umsonst gewesen.«

Einen Moment konnte er der Versuchung kaum widerstehen, ihr zu zeigen, daß er mehr wußte. Er bezwang sich jedoch, nahm ihr freundlich den Reisemantel von den Schultern, schüttelte ihn aus und wischte ihr mit seinem eigenen Taschentuch den Staub von Stirn und Wangen. Als er dann ihren Hut in der Hand hielt, um auch diesen abzustäuben, wurde er lebhaft daran erinnert, daß er vor kaum einer Stunde Frau Hornburg den nämlichen Dienst erwiesen hatte, während sie sich das Haar glatt strich. Sodann half er Kitty wieder einsteigen, nahm neben ihr Platz, ergriff die Zügel und sagte in ruhigem Ton:

»Ich will dich an den Ställen vorbei nach dem Hotel fahren; dann kannst du gleich auf dein Zimmer gehen und dich umkleiden. Du bist übermüdet und nervös aufgeregt; vor allem bedarfst du der Ruhe. Sage mir jetzt nichts mehr, bis du dich ganz wieder erholt hast.«

Er trieb das Pferd an, welches fühlen mochte, daß eine festere Hand die Zügel hielt; es raffte sich noch zu einer letzten Anstrengung auf, und in wenigen Minuten hatten sie das Hotel erreicht.

Als Frau Hornburg etwas bleich und mit ihren Gedanken beschäftigt in dem großen Speisesaal beim Frühstück saß, sah sie Frau Barker voll Zuversicht und Unbefangenheit, frisch und rosig in einer neuen, entzückenden Toilette hereinrauschen. Mit raschem, selbstbewußtem Blick streifte sie die andern Gäste und schritt dann auf Frau Hornburg zu. »Ach, da sind Sie ja!« sagte sie so laut, daß jedermann im Saal es hören mußte. »Sie sind trotz allem nur kurze Zeit vor mir angekommen! Meine Fahrt nach der Stadt war ganz abscheulich. Und denken Sie nur, der arme Georg hatte an mich nach Boomville telegraphiert, ich solle mir keinen Kummer machen. Seine Depesche ist eben erst hierher zurückgekommen.«

Bei diesen Worten legte sie Barkers verzeihendes, gütiges Telegramm triumphierend vor die überraschte Frau Hornburg hin.


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