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Zehntes Kapitel

Es wurden tatsächlich einige alte Schauspieler durch andere ersetzt. An Stelle des Tenors Beck, den man zu nichts gebrauchen konnte, wurde der ganz erstklassige Knopp verpflichtet. Baron Beaulieu griff tief in die Tasche, als die Dekorationen und Kostüme zu »Benvenuto Cellini« an die Reihe kamen. Die Berlioz-Oper wurde aufgeführt. Als sich jedoch der Vorhang schloß, herrschte eisige Ruhe. Das Publikum der Kleinstadt hatte dem Ganzen verwundert und verständnislos zugehört. Wenn auf der Bühne eine Schauspielertruppe portugiesisch gesprochen hätte, hätte es auch nicht mehr und nicht weniger verstanden.

»Mir fällt ein Spruch von Pascal ein«, sagte Hans von Bülow nach der Uraufführung. »Nach Pascal hat alles Grenzen, nur zwei Dinge nicht: die menschliche Dummheit und die menschliche Verwegenheit.«

Hans war in musikalischen Angelegenheiten sehr anspruchsvoll und ungeduldig. Als zum Beispiel kurz zuvor Henriette Sontag, die berühmte Koloratursängerin, in Weimar gastierte und mit ihren bewunderungswürdigen Trillern das Publikum betörte, griff er sie in der Lokalzeitung heftig an. So eine Kehlkopfturnerei sei Zirkus und keine Kunst …

» Slowly, my boy, slowly«, besänftigte ihn Franzi, der gerne seine Rede mit Worten und Sätzen aus fremden Sprachen spickte, »die Menschheit ist erziehungsbedürftig. Es ist unsere Sache, sie zu erziehen. Dieser ›Benvenuto‹, von Wagner ganz zu schweigen, der über jede Vergleichsmöglichkeit erhaben ist, ist eins der schönsten Meisterwerke der letzten zwanzig Jahre. Selbstverständlich hat es nicht einen einzigen Applaus bekommen. Aber die Großherzogin ist davon entzückt. Ich habe ihr auch schon das Versprechen abgenommen, daß wir im Herbst Berlioz selbst zum Dirigieren herholen. Ich werde Wagner und Berlioz dem Publikum solange in die Ohren blasen, trompeten und trommeln, bis es sich damit abgefunden hat, daß das gute Musik ist. Wir müssen uns im übrigen auch beeilen, wenn wir diesen Ruhm für Weimar erfechten wollen, denn in London beginnt man bereits zu begreifen, was mein Freund Hektor bedeutet.«

Berlioz kam nicht zur Weimarer Uraufführung, er konzertierte in London. Die von dort kommenden Nachrichten lösten bei Franzi nachdenkliches, verzeihendes Lächeln aus, das seiner Vergangenheit galt. In Berlioz' Londoner Konzerten trat auch Camilla auf, dieselbe Camilla, die einst Berlioz in seiner trotzigen, verschmähten Liebe zu Harriet Smithson heiraten wollte, die aber die Frau des Klavierfabrikanten Pleyel wurde und dann mit einem schwärmerischen Seufzer Franzi in die Arme sank … Wo waren diese Zeiten hin? Wo war die himmelstürmende Liebe Hektors zu Harriet, wo waren die schwülen Liebschaften der Pariser Jahre? Ein reifes, scharf gezeichnetes Gesicht blickte ihm aus dem Spiegel entgegen. Hier und da auf seinen Wangen bildete sich eine Warze, und um seine Mundwinkel grub die Entschlossenheit des gegen die ganze Welt geführten musikalischen Krieges tiefe Furchen. Sein Haar aber war heute noch genau so dicht wie einst, und der blitzende, funkelnde Blick seines Auges hatte noch nichts von seinem jugendlichen Feuer verloren. Die Küsse und Umarmungen, die ihn mit der Fürstin Carolyne verbanden, unterschieden sich von den Liebesgewittern seiner Jugend, wie alter edler Wein sich von schäumendem Most unterscheidet.

»In der Liebe sind Sie fast ein leibhaftiger Teufel«, sagte Carolyne manchmal, wenn ihr in Franzis Armen der Überschwang der irdischen Liebe zuteil wurde, »Liebe oder Teufel, ich weiß nicht. Ich denke manchmal, daß der Herrgott Sie nicht zum Musizieren, sondern zum Lieben auf die Welt geschickt hat.«

»Das ist mir auch schon eingefallen«, erwiderte er mit der bescheidenen Eitelkeit des sieghaften Mannes, »ich weiß von mir, daß ich ein Genie der Liebe bin. Außer mir wissen aber nur Sie das.«

»Und eine andere wird es auch nie erfahren, nicht wahr? Schwöre! Schwöre bei allem, was dir heilig ist, nicht wahr, du bleibst ewig mein? Schwöre mir, daß du niemanden anderen brauchst als mich! Daß dir niemand anderes in den Sinn kommen wird als ich.«

»Das kann ich nicht beschwören, weil es nicht wahr wäre. Ich bin nicht Herr meiner Wünsche. Ich kann nicht dafür, wenn ich ab und zu eine Frau für begehrenswert halte, aber ich bin stärker als die Versuchung. Seit Grätz kenne ich keine andere Frau als Sie, Carolyne.«

»Schwöre! Schwöre bei mir, und schwöre bei deiner Begabung.«

»Nein, mein Herz, es genügt doch, wenn ich dir das sage. Ich hasse das Schwören. Erst neulich habe ich beim Finanzamt beschwören müssen, daß ich im Ausland keine Grundstücke besitze und auch keinen unverzollten Wein erhalten habe. Ich hatte dabei das Gefühl, als ob mir die Zähne gezogen würden. Und jetzt wollen Sie mich auch noch schwören lassen? Wenn Sie lieben, dann glauben Sie.«

»Gut, ich glaube. Ich gräme mich aber soviel über unser Schicksal. Was wird aus uns werden? Meine Scheidung zieht sich nun schon über vier Jahre hin, und ich sehe schwarz in die Zukunft. Ich sehe nur eine fürchterliche, quälende Unsicherheit. Was hat der › bon Boje‹ über uns bestimmt, Franzi?«

»Was auch immer, fügen wir uns von vornherein und hoffen wir. Lieben Sie mich?«

»Ich bete dich an.«

Die schlanke, mädchenhafte Gestalt schmiegte sich an ihn, ihre Lippen suchten einander mit nicht minderer Sehnsucht. Und ebenso suchten sich ihre Seelen. Sie hatten nicht die geringsten Geheimnisse voreinander, sie besprachen jede Kleinigkeit, hingebungsvoll nahm Carolyne an der Arbeit ihres Geliebten teil, soweit sie daran teilnehmen konnte, sie lieferte ihm Stoff über Polen für sein Chopin-Buch, sie las die Korrekturen, sie schickte die Auszüge au Escudier, den Verleger in Paris, sie half an den Wagner-Studien, sie kannte die Intrigen des »Kunstinstitutes« bis ins kleinste, sie korrespondierte wöchentlich mit Frau Patersi über das Wohlergehen der Kinder Franzis, mit rührender Hingabe und Zärtlichkeit pflegte sie Mutter Liszt, bis diese endlich am Stock gehen und schließlich nach Paris heimreisen konnte. Sie gehörten einander vollkommen, und ihr Glück wies nur diese einzige, aber um so heftiger blutende Wunde auf, daß sie sich nicht trauen lassen konnten, sondern gezwungen waren, ihre wunderschöne Einigkeit als ein Liebesverhältnis von heikler Zweideutigkeit zu betrachten.

Die Verhandlungen mit der Familie Wittgenstein setzten nicht eine einzige Minute aus. Drüben in Rußland war sich die fürstliche Familie in dieser Sache selbst nicht ganz einig. Alle einer Nebenlinie angehörenden Wittgensteins, die von dem großen Vermögen nichts erwarten konnten, wandten sich auch nicht gegen Carolyne. Es ergab sich schließlich eigentümlicherweise, daß der verlassene Gatte nach der bürgerlichen Scheidung sich ohne weiteres hätte noch einmal verheiraten dürfen, weil er Protestant war; nach den Gesetzen der Katholischen Kirche lebte dagegen Carolyne trotzdem nach wie vor in einer untrennbaren Ehe. Die Wittgensteins der Nebenlinien lehnten sich gegen den Gatten auf, insbesondere ein Vetter namens Eugen, der fortwährend herzliche und aufmunternde Briefe an Carolyne richtete und auch Franzi seiner Freundschaft versicherte. Der Familienstreit war also hartnäckig im Gange, die Petersburger Partei verließ sich auf die Zuneigung des Zaren, die Weimarer Partei baute ihre ganzen Hoffnungen auf der Güte der Großherzogin auf. Wie es bei den Kämpfen zwischen Ehegenossen zu sein pflegt, so war es auch in ihrem Falle: in den Familienstreit wurde auch das Kind hereingezogen, die kleine Prinzessin Maria, die kaum noch als Kind betrachtet werden konnte. Sie war jetzt fünfzehn Jahre alt, ihr Gesicht trug bereits die Züge künftiger Schönheit, die Linien ihrer mädchenhaften Kleidung verrieten das heranreifende Weib. Wie die meisten Kinder heftig streitender Eltern war auch sie ein ruhiges, tiefsinniges und verschlossenes junges Mädchen geworden, das seine Gefühle in sich verbarg, um niemanden zu verletzen, und schon in frühester Jugend den Schmerz kennenlernen mußte, daß diejenigen, die sie am meisten liebte auf der Welt, in blindem gegenseitigen Haß ihr Herz zertraten.

Dem fünfzehnjährigen Kind hatte man nie anmerken können, daß es sich nach dem in der Ferne weilenden Vater sehnte. Als aber an einem Herbsttage die aufregende Nachricht in die Altenburg kam, daß der Fürst Sayn-Wittgenstein persönlich nach Weimar komme und mit seiner geschiedenen Frau verhandeln wolle, fing das junge Mädchen vor freudiger Erregung zu weinen an. In seiner kindlichen Vorstellung war ihr fernlebender Vater zu einer unerreichbaren Idealgestalt geworden, und sowohl Franzi als auch Carolyne sahen erschüttert, daß dieses Kind, dessen Gedanken und Gefühle sie ganz für sich beanspruchten, schon seit Jahren als geheimnisvolle kleine Fremde zwischen ihnen lebte.

Der Fürst stieg in einem Hotel ab und bat Carolyne um eine Unterredung in den Amtsräumen der russischen Gesandtschaft. Er ließ vorsorglich auch wissen, daß er mit Franz Liszt, der für ihn nicht existiere, nicht zusammenzutreffen wünsche. Franzi machte sehr schwere Stunden durch. Ganz aufgewühlt ging er im »Erbprinzen« auf und ab und wußte, daß jetzt die zaristische Gewalt die Frau peinigte, die er so liebte. Seine Ritterlichkeit lehnte sich dagegen auf, daß er die zu ihm gehörende Frau ohne Schutz lassen sollte, die Umstände geboten ihm aber, sich in seinem Zimmer aufzuhalten und hier die Nachricht entgegenzunehmen, wann er wieder in die Altenburg kommen könne, um den Stand der Dinge zu erfahren. Mit aufgewühlter Seele und voller Sorge nahm er die schluchzende Carolyne, die von dem peinigenden Zorn der Ohnmacht gequält am ganzen Körper zitterte, in seine Arme. Der Fürst verstand keinen Spaß und hatte sofort den schmerzlichsten Punkt der ganzen Angelegenheit berührt. Davon ausgehend, daß Carolyne in einem öffentlichen, skandalösen Liebesverhältnis mit einem Musiker lebe, entzog er ihr das Recht, das junge Mädchen zu erziehen. Die Vormundschaft der Großherzogin konnte er zwar nicht antasten, denn die Großherzogin war ja die Schwester des Zaren, aber seine Forderung ging geschickterweise dahin, daß er den unmittelbaren Einfluß der Großherzogin zu steigern und den schädlichen und unsittlichen Einfluß der Mutter herabzumindern wünschte. Wenn die kleine Prinzessin also nicht am Hofe leben konnte, dann sollte sie zumindest getrennt wohnen, und zwar unter einer Aufsicht, die der Hof billige.

Carolyne schluchzte und rang die Hände, umarmte immer und immer wieder das Kind, und als das junge Mädchen gar keine Zeichen der Aufregung verriet, mußte sie auch noch die brennenden Qualen der mütterlichen Eifersucht durchmachen. Franzi lief außer sich zur Großherzogin, diesmal konnte auch sie nur die Achsel zucken.

»Ich muß mich also dieser Schande fügen, daß man das junge Mädchen vor ganz Weimar von der Mutter ausquartiert?«

»Mein lieber Freund, bleibt Ihnen denn eine andere Wahl? Wollen Sie das Kind lieber dem Vater überlassen, damit er es nach Rußland bringt? Das würde nicht einmal ich gerne sehen. Den Vater kenne ich, er ist ein leichtsinniger, nichtsnütziger Mensch, der aus dieser Situation durch das Kind nur Geld erpressen will. Nein, nein, dann mag das junge Mädchen lieber dableiben, ich werde es schon irgendwo unterbringen. Richten Sie der Fürstin Carolyne aus, daß ich ihr rate, die Vereinbarung zu unterzeichnen. Dann hat sie Ruhe vor der Familie und kann die kirchliche Scheidung besser betreiben. Das wäre auch mein Interesse, denn einerseits möchte ich Sie aus Weimar nicht fortlassen, andererseits ist diese Situation, in der Sie beide leben, das wollen wir uns doch mal ruhig eingestehen, ein wenig heikel. Nun, Sie werden doch als erwachsener Mann nicht weinen?«

»Kaiserliche Hoheit«, entgegnete Franzi mit gepreßter Stimme und in bitterem Tone, »mich quält mein Gewissen unsagbar. Die Fürstin könnte heute noch friedlich und sorglos in der Ukraine leben, wenn mich das Schicksal nicht in ihren Weg gestellt hätte. Jetzt verliert sie meinetwegen ihr ganzes Vermögen, meinetwegen lebt sie in einer unwürdigen Situation, und meinetwegen trennt man das Kind von ihr. Ich bin schon zum zweiten Male in meinem Leben in eine solche Lage geraten. Jene andere Frau war jedoch eine kleine Seele, eine gleichgültige Mutter und ein egoistischer Mensch. Die Fürstin Carolyne dagegen ist eine große Seele, die sehr tief zu leiden vermag. Und jetzt leidet sie meinetwegen. Für einen Mann gibt es nichts Entsetzlicheres, als wenn er vor sich selbst erröten muß. Ich bitte inbrünstig, kaiserliche Hoheit, beruhigen Sie mich, was soll ich in dieser furchtbaren Lage tun?«

»Halten Sie durch, mein Lieber. Sie tragen nur die Hälfte der Verantwortung, die andere Hälfte trägt die Fürstin Carolyne. Wenn Sie sich lieben, so sind Sie auch imstande, einander für die vorübergehenden Leiden zu entschädigen.«

Sie zögerte noch ein wenig, dann fügte sie hinzu:

»Sie sind ein Mann, der es wert ist, daß eine Frau um ihn leidet.«

»Das bin ich«, entgegnete er, »ich ziehe es aber vor, zu geben, ohne daß ich dafür etwas erhalte.«

Der Vertrag wurde so abgeschlossen, wie es die Großherzogin empfohlen hatte. Der Fürst Sayn-Wittgenstein bestand jedoch darauf, daß bei der Unterzeichnung des Vertrages seine Tochter anwesend sein sollte. Carolyne stellte daraufhin ihrerseits die Bedingung, daß dann auch Franzi als ihr Zeuge zugegen sein müßte. Fürst Nikolaus Sayn-Wittgenstein erschien in Begleitung des Oberhofmeisters Baron Vißthum, mit Franzi zusammen erschienen die Fürstin und ihre Tochter. Die beiden Männer standen sich gegenüber und stellten sich einander mit eisiger Förmlichkeit vor. Dann verlas Maltitz den Vertrag. Es war ein langer Text, denn er zählte der Reihe nach alle die Güter auf, auf die die Fürstin Carolyne nunmehr verzichtete:

Staniszczince, Bjelaszki, Buchuy, Ioanki, Tenczki, Czetwukowce und noch eine weitere Reihe von Dörfern. Als der Name von Woronice erklang, blickten sich Carolyne und Franzi an. Und sie sahen sich in die Augen, als der Vertrag besagte, daß der eine Teil des Vermögens dem Fürsten Nikolaus und der andere Teil der Tochter zustehe, sobald die kirchliche Scheidung ausgesprochen wäre. Die Ansprüche der Fürstin wurden mit zweimal hunderttausend Silberrubeln abgegolten. Die Prinzessin Maria konnte in Weimar verbleiben, durfte aber nicht bei ihrer Mutter wohnen, sondern in einer Wohnung des Weimarer Hofes, die die Großherzogin bestimmen würde.

Diese Übersiedlung wartete der Fürst noch ab. Maria Pawlowna wies dem jungen Mädchen eine Wohnung in der Bastille an. Dieser mit Efeu bewachsene, alleinstehende Gebäudekomplex, der einer alten Ruine glich, befand sich in unmittelbarer Nähe des großherzoglichen Schlosses. Nach den Ermittlungen der Professoren der höheren Schulen Weimars sollte Friedrich der Friedfertige ihn vor vierhundert Jahren erbaut haben, andere gelehrte Herren aber begehrten heftig auf, wenn davon die Rede war, denn die Torfront der Bastille mit ihren Delphinmotiven deutete offensichtlich nur auf ein Alter von dreihundert Jahren hin. Carolyne ließ also in größter Eile ihre Tochter unter der Aufsicht von Miß Anderson hierher übersiedeln. Die Einwohner der kleinen Stadt, die über die Familien- und Vermögensstreitigkeiten der stadtbekannten Persönlichkeiten wohl unterrichtet waren, standen in Gruppen um die Bastille herum, als der Möbelwagen mit den weißen Möbeln der kleinen Prinzessin dort erschien. Tagelang sprach ganz Weimar von nichts anderem als von diesem Skandal: die russische Fürstin war gezwungen, ihre Tochter herzugeben, weil sie ein unsittliches Leben führe … Fürst Nikolaus Sayn-Wittgenstein überzeugte sich noch von der tatsächlichen Übersiedlung seiner Tochter in die neue Wohnung und fuhr dann ab mit dem Gefühl, seine Angelegenheit aufs beste erledigt zu haben.

Dieser Skandal hätte Carolyne gesellschaftlich hingerichtet. Aber die Großherzogin gab noch am Tage der Abreise des Fürsten Wittgenstein ein Diner und lud ostentativ sowohl Carolyne als auch Franzi ein. Begierige Damen des Hofes, die schon lange auf die Gelegenheit warteten, Carolyne den Gruß auf der Straße verweigern zu können, fügten sich enttäuscht dem Beschluß des Hofes: die Fürstin war hoffähig. Diese Neuigkeit verlor schon nach drei Tagen ihren Reiz, und nach und nach gewöhnten sich die Weimarer auch daran, daß die kleine Prinzessin allabendlich in der Gesellschaft ihrer englischen Miß in der Bastille schlafen ging, sich aber im übrigen von früh bis abends bei ihrer Mutter in der Altenburg aufhielt.

Die Hoffnungen der Verliebten leuchteten hoch auf. Mit der Geldgier des Fürsten Nikolaus Wittgenstein konnten sie ruhig rechnen, und nach dem abgeschlossenen Vertrag war es so gut wie sicher, daß er selbst die kirchliche Trennung betreiben würde, da er ja erst nach der Verkündung dieser Scheidung in den Besitz der vereinbarten Gelder gelangen konnte. Das Gesuch betreffs Neuaufnahme der kirchlichen Scheidung ging an die kirchlichen Behörden nach Petersburg ab, und sie zählten bereits die Tage bis dahin, wo sie zusammen vor den Altar treten könnten, wonach Carolyne anstatt »Durchlaucht« einfach »Frau Liszt« sein würde.

Mit frischem Mut stürzte sich Franzi auf seine Arbeit. Allerdings ging nicht alles so, wie er sich gewünscht hätte. So hatte zum Beispiel der Intendant die dramaturgische Leitung des Theaters neu besetzt, aber nicht Dingelstedt, dessen Ernennung Franzi schon seit Jahren anstrebte, sondern Heinrich Marr, den berühmten Charakterdarsteller, berufen. Dagegen konnte man allerdings nichts einwenden. Marr war ein hervorragender Künstler und ein gebildeter Mensch von bedeutender Intelligenz. Von seiner Arbeit war zu erhoffen, daß, wenn das Publikum sich zu seinen Dramen und Lustspielen zurückgewöhnt hatte, dies auch den Opernaufführungen in dem wieder volkstümlich gewordenen Theater zugute kommen würde. Das lag ihm aber jetzt besonders am Herzen, denn Wagner hatte ihm etwas mitgeteilt, was ihn erregte, mitriß, vollständig gefangennahm und seinen Vorsatz, die europäische Musikwelt durch Wagner neu zu gestalten, mit hundertfacher Begeisterung und Überzeugung auffrischte.

Wagner hatte sich entschlossen, den Tod Siegfrieds nach der Nibelungensage m einem Musikdrama zu behandeln. Dieser Plan gefiel sowohl Franzi als auch Ziegesar. Sie vereinbarten, Wagner vierteljährlich Geld zu schicken und ihm somit ungestörte Ruhe für seine Arbeit zu sichern. Die Gelder gingen regelmäßig nach Zürich ab, und die Briefe kamen regelmäßig von Zürich in Weimar an. Wagner hatte vorerst mit der Bearbeitung seines Stückes noch nicht begonnen, da er mit der Erklärung seiner eigenen revolutionären Musik-Ästhetik beschäftigt war. Er schrieb ein Buch, »Oper und Drama« betitelt, er ließ verschiedene Artikel in der Leipziger Zeitung von Brendel erscheinen, er verfaßte Aufrufe, er debattierte und stritt sich herum. In der Zeitung Brendels veröffentlichte er auch einen heftigen und vorwurfsvollen Artikel über das Verhältnis der Jugend zur Musik, dessen Spitze gegen Meyerbeer und gegen die von ihm vertretene alte Opernauffassung gerichtet war, den man aber zugleich auch als antisemitisches Programm auffassen konnte. Diesen Artikel versah er zwar nicht mit seinem Namen; daß er ihn aber geschrieben hatte, blieb kein Geheimnis. Der Aufsatz löste einen starken Widerhall aus: die deutsche Presse fiel über ihn her, nannte seine Musik höhnisch »Zukunftsmusik«, man verspottete ihn, beschimpfte ihn und würdigte ihn herab. Endlich begann er aber doch das Textbuch zu »Siegfried« zu bearbeiten, benachrichtigte jedoch kurz darauf Franzi, daß er sich das Thema überlegt habe, statt Siegfrieds Tod werde er zuerst ein Musikdrama »Der junge Siegfried« schreiben. Einige Wochen darauf deutete er an, daß das Textbuch bereits fertig sei. Er habe das ganze zusammengestellt und würde es bald schicken. Aber er schickte es nicht. In jedem Briefe hatte er eine neue Ausrede, warum er es nicht schickte. Und daß er die Vertonung begonnen habe, davon war in den vielen Briefen keine Rede. Der festgesetzte Liefertermin war längst überschritten, Franzi wollte aber aus Zuvorkommenheit den Tondichter nicht drängen, den die Verantwortung über die erhaltenen Beträge sicherlich unangenehm drückte.

Da traf ein ungewöhnlich langer Brief von Wagner ein. Das war schon gar kein Brief mehr, sondern ein dicker Band, gedruckt hätte er ein ganzes Heft umfaßt. In diesem Brief teilte Wagner mit, daß er mit dem Stück jetzt nicht dienen könne, erst in drei Jahren. Dann aber würden sie ein Werk erhalten, an dessen Aufführungen sie gar nicht genug kriegen könnten. Das Ganze wäre auf vier Tage berechnet. Einen Teil, den Text des »Jungen Siegfried«, lege er bei.

An »Siegfrieds Tod« arbeitend, sei er darauf gekommen, daß er ihm die Jugendgeschichte des Helden voransetzen müssen. Als er mit dem Text dazu fertig gewesen wäre, sei ihm aufgefallen, daß man das viele Unverständliche in einem Vorspiel erklären müsse. Nachdem er dieses Vorspiel umrissen hätte, habe sich herausgestellt, daß dieses Stück selbst einen ganzen Abend füllen würde. Er machte also auch dafür einen ausführlichen Entwurf. Und schon hätte der Plan einer Trilogie fertig auf seinem Schreibtisch gelegen, drei große Opern, die ineinander griffen, ein einheitliches Ganzes bildeten. Diese Trilogie mache aber wiederum einen musikalischen Prolog erforderlich und daraus sei abermals ein abendfüllendes Stück entstanden. So hätte sich dann bei ihm der gewaltige Plan herausgeformt, nacheinander den »Hort der Nibelungen«, »Die Walküre«, »Jung Siegfried« und »Siegfrieds Tod« zu schreiben.

 

»An eine Trennung der Bestandteile dieses großen Ganzen darf ich nicht denken, ohne meine Absicht eben im voraus wieder zu zerstören. Der ganze Dramenkomplex muß in schneller Folge zugleich zur Darstellung gebracht werden, und für deren äußerliche Ermöglichung kann ich daher nur folgende Begünstigung der Umstände im Auge haben: – Die Aufführung meiner Nibelungendramen muß an einem großen Feste stattfinden, welches vielleicht eigens zum Zwecke eben dieser Aufführung zu veranstalten ist. Sie muß dann in drei aufeinanderfolgenden Tagen vor sich gehen, an deren Vorabende das einleitende Vorspiel gegeben wird. Habe ich unter solchen Umständen eine solche Aufführung zustande gebracht, so mag bei einer anderen Gelegenheit zunächst erst wieder das Ganze wiederholt, dann aber auch nach Belieben mögen die einzelnen Dramen, die an sich ganz selbständige Stücke bilden sollen, gegeben werden: jedenfalls muß aber eben der Eindruck der von mir beabsichtigten vollständigen Aufführung vorangegangen sein.

Wo und unter welchen Umständen zunächst eine solche Aufführung zu ermöglichen sei, hat mich für jetzt gar nicht zu kümmern; denn vor allererst habe ich mein großes Werk auszuführen, und diese Arbeit wird mich, sobald ich auf meine Gesundheit einigen Bedacht nehme, mindestens drei Jahre beschäftigen.

Ein glücklicher Vermögensfall in der mir so sehr befreundeten Familie Ritter hat es nun gefügt, daß ich ruhig und von materiellen Sorgen ungestört diese Zeit, wie überhaupt mein Leben über, meinem künstlerischen Schaffen obliegen kann. Habe ich aber dereinst mein großes Werk vollendet, so wird sich – hoffe ich – wohl auch schon des Weiteren finden lassen, wie es meinem Wunsche gemäß zur Darstellung gelange. Steht Weimar bis dahin noch, und solltest Du in Deinen Bemühungen, dort etwas Tüchtiges herauszustellen, glücklicher gewesen sein, als es leider jetzt den Anschein (ja mehr als den Anschein!) hat, so wollen wir dann sehen, was in der Sache zu tun ist.

Möge Dir nun mein Plan noch so kühn, ungewöhnlich, ja vielleicht phantastisch vorkommen, so sei dennoch überzeugt, daß er nicht aus einer äußerlich kalkulierenden Grille entstanden ist, sondern daß er sich mir als die notwendige Konsequenz des Wesens und des Inhaltes des Stoffes aufgedrungen hat, der mich nun einmal erfüllt und zu seiner vollständigen Ausführung treibt. Ihn so auszuführen, wie es eben mir als Dichter und Musiker sich erlaubt, ist für jetzt das einzige, was ich vor mir sehe: alles Weitere darf mich zunächst noch gar nicht kümmern. Bei Deiner ganzen Gesinnungsweise zweifle ich auch keinen Augenblick, daß Du mir durchaus recht gibst und mich gewiß nur noch zu meinem Vorhaben ermutigst, wenn Dir auch dadurch ein – mir so schmeichelhafter! – Wunsch, der Wunsch, recht bald wieder ein neues Werk von mir aufzuführen, augenblicklich unerfüllt gelassen werden muß.«

 

Der Brief beschäftigte sich dann noch mit der Weimarer Lage Franzis. »Was erhoffst Du Dir noch von Weimar?« Er tadelte die Borniertheit, Gemeinheit und die Schlechtigkeit, die sofort auftauche, sobald Franzi nicht hinsähe. Er schrieb ganz offen, daß Franzis Weimarer Arbeit verlorene Mühe sei, es wäre sinnlos, in der Enge einer Schmierbühne seine Nerven, seine Begeisterung und seine Begabung aufzureiben.

Den langen, langen Brief lasen sie gemeinsam, Franzi und die Fürstin. Sie blätterten zusammen die Seiten um und kamen gemeinsam zum Schluß. Die Fürstin nahm zuerst das Wort:

»Ich finde es trotzdem ein wenig sonderbar, daß er die ganze Angelegenheit nun einfach als erledigt betrachtet. Schließlich und endlich ist er ja mit diesem Werk an Weimar gebunden. Und warum will er Ihnen nun auch noch die Laune nehmen, statt Ihnen für alles Bisherige dankbar zu sein? Ich kann auch beim besten Willen nicht verschweigen, daß …«

Da mußte sie aber doch abbrechen. Sie entdeckte an Franzis Gesicht einen Ausdruck, der sie verstummen ließ. Franzi hörte gar nicht auf sie. Er sah mit verklärtem, strahlendem Gesicht vor sich hin, als hätte er eine wunderbare Vision.

»Carolyne, Carolyne, das ist etwas Großartiges, was dieser Mann schreibt! Wissen Sie denn, was daraus wird, wenn er diesen gigantischen Plan vollendet? Das größte musikalische Ereignis dieses Jahrhunderts! Eine unerhört große Sache steckt in diesem Brief! Ich habe ja immer gesagt, daß dieser Mann ein Feuergeist ist. Noch nie war es mir aber so klar wie jetzt! Jeder, der heute auf der Welt musiziert, kann sich nur barhäuptig vor ihm neigen, wenn er vollbringt, was er plant. So etwas, so etwas Unerhörtes, so etwas Monumentales ist noch nie geschrieben worden, seit es Musik auf dieser Welt gibt! Carolyne, das wird eine unglaublich gewaltige Sache, wenn es glückt! Darüber muß man jauchzen und vor Freude in die Hände klatschen, darüber werde ich vor Erregung nicht schlafen können, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll … Unglaublich, unglaublich …«

Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und wiegte vor Entzücken seinen Kopf hin und her; man hätte meinen können, er habe den Verstand verloren. Im nächsten Augenblick schrie er:

»Hans, Hans! Wo strolcht denn dieser Junge herum? Wir lesen sofort das ganze Manuskript.«

Bülow kam eilig zum Vorschein, er hatte an einem Bilderrahmen im Vorzimmer herumgesägt. Franzi zog ihn stürmisch ins Zimmer und las ihm den Brief von Anfang bis Ende vor. Es fehlte nicht viel, und der Junge hätte vor Rührung und Seligkeit geweint. Sie trappelten aufgeregt im Zimmer herum und freuten sich in kurzem, abgehacktem Gelächter und in begeisterten, verstörten Halbsätzen wie zwei Mitglieder einer Sekte, denen gerade eine göttliche Offenbarung zuteil wurde. Und ihre zügellose, schwärmerische Freude riß auch Carolyne in ihren Bann. Franzi setzte sich an den Tisch, legte das Manuskript vor sich hin und sagte:

»Hans, gib draußen Bescheid, daß niemand hereinkommt, nur die Prinzessin Maria. Schließ dann die Türen zu.«

Bülow eilte mit linkischer Hast hinaus wie ein zottiger Wachhund, kam nach kurzer Zeit mit der Prinzessin zurück und schloß die beiden Türen ab. Sie saßen nun alle rund um den Tisch und Franzi begann laut zu lesen. Er ratterte das Personenverzeichnis hastig herunter, um schnell zu den Versen zu gelangen. Dann las er die Worte Mimes, der auf dem Amboß hämmerte.

»Das beste Schwert,
Das je ich geschweißt,
In der Riesen Fäusten
Hielte es fest:
Doch dem ich's geschmiedet,
Der schmähliche Knabe …«

Die Handschrift Wagners war sehr gut zu lesen, die Zuhörer lauschten aufmerksam den fließenden Versen. Siegfried trat auf und hetzte den gefangenen Bären auf den Zwerg, der erschrocken auf der Bühne hin und her lief. Dann ließ er den Bären laufen und begann den Zwerg, offenbar seinen Pflegevater, über seine Abstammung auszufragen. Franzi las immer zögernder, seine Augen eilten dem Text voraus, plötzlich hielt er ein:

»Meine liebe Manja, ich bitte Sie, lassen Sie uns allein. Wie ich sehe, ist diese Lektüre doch nichts für Sie.«

Die kleine Prinzessin erhob sich langsam und bedauerte:

»Wie schade, die Geschichte ist so spannend, ich hätte gerne noch weiter zugehört …«

Sie verließ lächelnd das Zimmer. Hans sperrte die Türe hinter ihr wieder zu und setzte sich mit heißer Neugier zurück auf seinen Platz. Franzi fuhr fort:

»Das zullende Kind
Zogest du auf,
Wärmtest mit Kleiden
Den kleinen Wurm:
Wie kam dir aber
Der kindische Wurm?
Du machtest wohl gar
Ohne Mutter mich?«

Die Fürstin nickte, nicht zu den Versen Wagners, sondern der Vorsicht Franzis zustimmend:

»So etwas ist tatsächlich nichts für Manjas Ohren.«

Die Verse flossen weiter. Siegfried preßte aus dem Zwerge heraus, daß er einst im Walde eine gebärende Frau gefunden habe, deren Kind Siegfried war. Die Mutter, Sieglinde, starb nach der Geburt. Vor ihrem Tode gab sie ihm zwei Stücke eines Schwertes; dieses Schwert war beim letzten Kampf des Vaters zerbrochen. Siegfried wollte unter allen Umständen diese zwei Stücke wieder zusammenschweißen und damit in die weite Welt ziehen. Vorerst aber rannte er in den Wald. Dann kam jener geheimnisvolle Wanderer, der niemand anderes war, als Wotan selbst. Sie gaben sich je drei rätselhafte Fragen auf, – wie im Märchen. Aus den Antworten des Wanderers erfuhr man, daß die Nibelungen unter der Erde wohnen und daß der wunderbare Zauberring einst ihrem Herrscher Alberich gehört hatte.

»Gut aufpassen«, unterbrach sich Franzi selbst, »diesen Teil wird also das ›Rheingold‹ behandeln.«

Dann fuhr er fort: das Land der Riesen war im Walde.

Fasolt und Fafner waren die beiden furchtbaren Riesen, die dem Alberich das Rheingold und den die Weltherrschaft bedeutenden Ring geraubt hatten. Fafner hatte seinen Bruder Fasolt getötet, und jetzt behütete er in einer fürchterlichen Höhle als feuerspeiender Drache den Hort der Nibelungen. Schließlich wohnten oben auf den in die Wolken ragenden Gipfeln Walhalls die Götter, – ihr Herrscher war Wotan, der in seiner Hand den wunderbaren Speer hielt. All das erzählte der Wanderer, also Wotan selbst. Dann beantwortete der Zwerg drei Fragen. Er nannte das Geschlecht der Wälsungen, dem die Zwillinge Siegmund und Sieglinde angehörten, aus deren Liebe Siegfried hervorgegangen war. Siegfried war dazu berufen, den Drachen Fafner zu töten und den Hort zu gewinnen. Er konnte das Ungeheuer aber nur mit dem Wunderschwert Notung töten. Dieses Schwert hatte Siegmund gehört, bis Wotan es ihm in der Hand zerbrochen hatte. Zusammenschweißen konnte es aber nur einer, der Angst und Furcht nie gekannt. Der Wanderer verschwand und Siegfried kam zurück. Es ärgerte ihn, daß Mime das Schwert nicht zusammenschweißen konnte, und so wollte er es selbst versuchen. Und siehe da: er schweißt das Schwert zusammen, daß von einem einzigen Hieb der Amboß in Stücke geht. Mime aber bereitet inzwischen schändlicherweise einen Schlaftrunk, um den Jungen, wenn er den Schatz erobert hat, einzuschläfern und den Schatz zu rauben.

»Bitte einen Kognak«, bat Franzi, »da ist der Schluß des ersten Aktes.«

»Bringen Sie nicht die ganze Flasche, Hans«, sagte die Fürstin, »bringen Sie nur ein Gläschen.«

Franzi goß schnell den Kognak hinunter und fuhr dann in der Vorlesung fort. Im zweiten Akt führt der Zwerg den Siegfried nach der Drachenhöhle. Das furchtbare Ungetüm kommt selbst auf die Bühne, macht sein Maul auf und zu, bläst Schwefeldampf aus den Nasenlöchern und wirft seinen Schweif hin und her.

»Wie kann man denn das vorführen?« erkundigte sich die Fürstin?«

» Seine Sache ist es, zu schreiben, unsere Sache, das aufzuführen.«

Siegfried tötet heldenhaft den Drachen. Er badet sich in dem Blut des Ungeheuers, wird dadurch der Sprache der Vögel kundig, und ein Vogel zwitschert ihm zu, er solle nicht auf den Zwerg hören, der ihn nur ins Verderben stürzen wolle. Und in der Tat, Mime bietet ihm auch den Zaubertrank als Erfrischung an, er aber zögert nicht lange und tötet auch Mime, der ihn nur erzogen hat, um sich in den Besitz des Hortes zu bringen. Er geht in die Höhle, rührt jedoch den Hort nicht an, sondern holt sich nur den Zauberring und die unsichtbarmachende Tarnkappe. Damit begibt er sich auf den Weg, um die von Feuer umzingelte Brünnhilde zu befreien, auf die ihn ebenfalls das Waldvöglein aufmerksam gemacht hat.

»Bitte noch einen Kognak.«

»Ja, aber mehr gibt es heute nicht mehr.«

Im dritten Aufzug verstellt Wotan selbst dem Jungen den Weg mit seinem Wunderspeer. Siegfried vermag aber auch den Schaft dieses Speers mit seinem Schwert Notung zu spalten. Er geht, wohin er gehen muß, um die schöne Brünnhilde zu erlösen. Eine Flammenwand stellt sich ihm entgegen, Siegfried aber schreitet tapfer hindurch, die Flammen lassen ihn unversehrt, sie teilen sich.

»Aufgepaßt«, sagte Franzi, »das ist dieselbe Szene, mit der im dritten Akt die Walküre endet.«

Hinter den Flammen findet Siegfried Brünnhilde, in heißer Liebe vereinigen sie sich.

»Prangend strahlt
Mir Brünnhildes Stern!
Sie ist mir ewig,
Sie ist mir immer
Erb' und Eigen,
Ein und all:
Leuchtende Liebe,
Lachender Tod!«

Todmüde hatte Franzi die Vorlesung beendet. Nach den letzten Zeilen sah er Carolyne in die Augen, wie es Verliebte zu tun pflegen, wenn sie einen für sie passenden Spruch hören. Dann begann er aber von dem Werk selbst zu sprechen. Die klingenden Verse, die kräftige Urwüchsigkeit der altertümlichen Sprache, die farbenprächtige Gestaltung des märchenhaften Stoffes hatte sie bezaubert. Was so wirkte, war zuerst nur das andächtige, gewaltige Mysterium des germanischen Urglaubens, man konnte aber ahnen, daß darin noch tiefere Symbole verborgen waren, die erst zum Vorschein kommen würden, wenn sich vor ihnen das ganze vierteilige Werk entfaltete.

»Dieser Wagner ist Wotan selbst«, sagte Franzi, »ich bin unsagbar neugierig, wie er diese Verse mit seinem bewunderungswürdigen Orchester vertonen wird. Dieses unerhört mächtige Werk wird Weimar aufführen, wenn ich noch solange lebe! Und zwar genau so, wie er es will, beginnend mit einem großen musikalischen Feiertage, an vier Abenden hintereinander. Das sich über vier Abende erstreckende mächtigste Werk der Opernliteratur der ganzen Welt wird auf unserer Bühne uraufgeführt! Morgen gehe ich zur Großherzogin.«

»Geben Sie ihr das Manuskript?«

»Nein, aber ich werde sie bitten, einen Abend mit fünfzehn bis zwanzig Gästen, die ich bestimmen werde, zu veranstalten. Diesen werde ich das Ganze vorlesen. Und noch morgen werde ich an Wagner schreiben. Ich werde ihm schreiben, wie glücklich und maßlos entzückt ich bin.«

Am anderen Tage sprach er auch tatsächlich bei der Großherzogin vor, die so neugierig wurde, daß sie den Vorlesungsabend sofort veranstaltete. Jetzt las Franzi schon beschwingt und farbenprächtig. Ziegesar, Joachim, Coßmann, Müller, Genast, Marr und andere Männer gleichen Schlages waren anwesend, außer den Mitgliedern der großherzoglichen Familie. Alle waren entzückt.

»Also was wird nun?« erkundigte sich beim Abschied die Großherzogin. »Warten wir jetzt drei Jahre lang?«

»Aber warum, kaiserliche Hoheit? Wagner hat noch ein älteres Stück: ›Der fliegende Holländer.‹ Ich kenne es allerdings nur oberflächlich, aber es ist von Wagner, das ist genug. Das werden wir noch in diesem Winter aufführen. Inzwischen veranstalten wir eine Berlioz-Woche. Ich erhielt von Berlioz einen Brief, er freut sich sehr und kommt. Das wird also im November steigen. Wir werden wieder ein sehr gutes Publikum haben, wie bei ›Lohengrin‹. Gute Nacht, kaiserliche Hoheit.«

»Ich danke Ihnen herzlichst für diesen Kunstgenuß, lieber Liszt, gute Nacht.«

Franzi und Hans gingen leichten Schrittes durch den dunklen Park des Schlosses heimwärts. Sie deklamierten begeistert, was sie im Gedächtnis behalten hatten:

»Fühltest du nie
Im finstren Wald
Bei Dämmerschein
Am dunklen Ort,
Wenn fern es säuselt,
Summst und saust,
Wildes Brummen
Näher braust,
Wirres Flackern
Um dich flimmert,
Schwellend Schwirren
Zu Leib dir schwebt« …

Lange Teile konnten sie schon auswendig, sie hatten sie ja auch schon mindestens alle beide sechsmal gelesen. Der brave Weimarer Bürger, der, eine Laterne schwenkend, auf dem Heimweg war, starrte verwundert auf die beiden deklamierenden Gestalten. Er erkannte den närrischen Musiker und seinen Famulus. Weise zuckte er die Schultern über die Narretei dieses Volkes und setzte mit verhallenden Schritten seinen Weg nach der kleinen Ilm-Brücke fort.


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