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Als die Frage auftauchte, was das Theater zum hundertsten Geburtstag Goethes, am 28. August 1849, spielen solle, schlug er den »Tasso« vor. Es war zwar schon zehn Jahre her, daß er eine Tasso-Biographie gelesen hatte, sie lebte aber noch immer in ihm, so sehr hatte sie ihn gepackt. Neben allen sonstigen Plänen trug er sich auch mit dem Gedanken, eine Tasso-Symphonie zu schreiben. Mit einem plötzlichen Entschluß bot er nun dem Intendanten Ziegesar an, für die »Tasso«-Aufführung im Hoftheater ein Orchesterstück zu komponieren, das als Ouvertüre Verwendung finden könnte. Der Intendant griff die Gelegenheit auf, und Franzi begann zu arbeiten. Es standen ihm kaum ein paar Wochen für diese Arbeit zur Verfügung.
Oft kam ihm in den Sinn, daß das Leben Tassos in vielem dem seinen glich. Hauptsächlich darin, daß der Dichter des »Befreiten Jerusalem« in seiner Bedeutung erst erkannt wurde, als er schon gestorben war. Auch er war davon überzeugt, daß das, was er für den wahren Inhalt seines Lebens hielt, seine tondichterische Tätigkeit, erst nach seinem Tode Anerkennung finden würde. Er hatte darüber schon oft mit Carolyne gesprochen.
»Wie können Sie bloß behaupten, daß man Sie nicht anerkennt?«
»Weil man mich nicht versteht. Was ich heute schreibe, ist nichts für die heutigen Ohren. Man müßte hundert Jahre lang die ganze Welt erziehen, damit die Menschen die Stufe des musikalischen Auffassungsvermögens erreichen, auf der wir uns verstehen könnten, ich und das Publikum. Auch diese Zeit wird kommen, aber dann werde ich schon tot sein. Wissen Sie, wie es Tasso erging? Er starb wie Virgil in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr. Sein ganzes Leben lang hatte man ihn verkannt, nur einige wenige vornehme, verständige Seelen hielten zu ihm. Zum Beispiel der Kardinal Aldobrandini. Der wollte wenigstens dem Toten das erweisen, was Rom dem Lebenden zu geben versäumt hatte. Er ließ den Leichnam des Dichters in eine kostbare Toga hüllen, legte einen Lorbeerkranz um seine Schläfen und sorgte selbst für das Begräbnis. Von dem Kloster aus, in dem Tasso gestorben war, geleitete eine große Menschenmenge den offenen Sarg mit Fackeln bis auf den Petersplatz, der ganze Hofstaat des Papstes nahm an dem Trauerzug teil, Kardinäle, Gelehrte, Künstler. Die Maler wetteiferten untereinander, wer den berühmten Toten am schönsten malen könnte. Ganz Rom, der Mittelpunkt der christlichen Welt, feierte den Toten, um den sich in seinem Leben kein Hund gekümmert hatte. Das möchte ich vertonen. Ist denn das nicht ergreifend schön?«
»Das ist sehr schön, aber davon rede ich ja gar nicht. Warum wollen Sie die Anerkennung für sich bis nach Ihrem Tode hinausschieben? Nehmen Sie doch nur Wagner an. Auch er bringt vollkommen Neues in seiner Musik, und Sie schwören darauf, daß Sie aus ihm noch zu seinen Lebzeiten eine Weltgröße machen. Warum sollte das also nicht auch bei Ihnen möglich sein?«
»Weil ich keinen begeisterten Liszt habe. Aber lassen wir das, Carolyne, ich arbeite nicht für die Menschen, sondern für Gott. Die Menschen werden es schon einmal erfahren. Ich habe Zeit, zu warten. Wissen Sie, diese meine Einstellung hängt im Grunde mit meinem Katholizismus zusammen. Seit ich mich erinnern kann, ist mir eingeprägt worden, daß der Mensch erst nach seinem Tode die Krone der Seligkeit erhält. Wagner, den Sie einen heidnischen Griechen zu nennen belieben, soll seine noch in diesem Leben bekommen! Und er wird sie bekommen! Ich aber bin anders geartet. Mir gibt nicht der Erfolg die Befriedigung, davon habe ich in meiner Wunderkindzeit genug zusammengerafft. Meine Befriedigung liegt in der Arbeit selbst. Ich bin während des Komponierens so vollkommen glücklich, daß ich sogar gerne für das Recht, ungestört arbeiten zu dürfen, noch etwas zahlen würde.«
Und er empfand wahrhaftig einen so überwältigenden, fast sinnlichen Rausch, während er am »Tasso« arbeitete, daß er immer und überall zu spät kam. Er konnte sich einfach nicht zwingen, mit der Arbeit aufzuhören. Wie ein Kind auf der Schaukel feilschte er mit sich selbst: nur ein bißchen noch, wirklich, unwiderruflich nur noch ein bißchen.
Eine langgezogene, melancholisch gedehnte Melodie aus vergangenen Tagen sang in ihm, aus jener Zeit, da er mit Marie D'Agoult in Venedig weilte. Dort sang der Gondoliere oft die Anfangszeilen des » Gerusalemme liberata«:
»
Canto l'armi pietose e'l Capitano,
Che'l gran sepolcro libero di Christo.«
»Den Feldherrn sing' ich und die frommen Waffen,
So des Erlösers hohes Grab befreit.«
Es war eine summende, gurrende Melodie, die mit der Gondel zusammen auf dem Wasser schwamm, eine mit gehaltener Stimme hoch beginnende Melodie, die biegsam, langsam die Stufen einer Oktave herabsteigt. Nie hatte er diesen Gesang vergessen können. Und jetzt, nach elf Jahren, baute er die ganze symphonische Dichtung auf dieser Melodie auf. » Lamento e Trionfo di Tasso«, so betitelte er sein Werk. Er zerlegte es in drei Teile: Leiden, Liebe und Verherrlichung nach dem Tode. Das Gedicht Byrons » The Lament of Tasso« schwebte ihm vor, als er den ersten Teil schuf. Er erzählte durch die Musik, was der Dichter empfand, als er in Venedig in Gefangenschaft litt. Die Melodie des Gondoliere ertönte in wehleidigen e-moll-Klagen. Triolen grausamen Leidens umzitterten sie. Die Baßklarinette verkündete die Tragödie des Dichters im » Adagio mesto« und steigerte sich bis zu den wildesten und tobendsten Ausbrüchen. Dann führte er den Dichter mit Menuettklängen an den Hof von Ferrara, in die von wohlriechenden Spezereien durchtränkte Luft. Liebliche Harfenakkorde begleiteten die Tanzmelodie. Im dritten Satz erzählte er dann alles, was er von Tasso und mehr noch von sich selbst erzählen wollte, weswegen er die ganze Komposition begonnen hatte. Das Allegro der Liebe Leonores ließ er mit einem riesenhaften Schwung in den Tod des Dichters hineintönen. Nach dem Presto der venezianischen Melodie setzte eine plötzliche Stille ein. Die erschütternde Stille des Todes. Aber dann ließ er aus ganzer Kraft die aus dem Grundthema geschaffene mächtige Hymne erklingen. In diesen himmelerschütternden sieghaften Triumphgesang mischte sich jedoch in düsterer Trauer das dumpfe Dröhnen der Bässe, die den Tod verkündeten. Darauf aber folgte die Verherrlichung des toten Künstlers durch die gewaltigen Schlußakkorde des Werkes.
Während er arbeitete, hatte er einen lieben Gast. Das Wunderkind Bülow, dem einst Lola Montez Fürsprecherin war, kam nach Weimar, um ein paar Wochen bei ihm sein zu können. Jetzt war er kein Wunderkind mehr, nur noch ein Wunder. Der Junge war inzwischen achtzehn Jahre alt geworden, hatte sich dem unbeugsamen Willen seiner Mutter fügen müssen und war als Studierender der Rechte in Berlin immatrikuliert, aber sein ganzer Traum, seine Sehnsucht, seine Leidenschaft blieb die Musik. Als er bei Franzi vorgelassen worden war, setzte er sich sofort ans Klavier und spielte. Franzi war sprachlos. Es war ihm, als hörte er sich selbst als Achtzehnjährigen. Jedoch mit einem Unterschied: in ihm lebte der geheimnisvolle Dämon Paganinis, in diesem Jungen aber wohnte nur die reine, kristallhelle, vernünftige Klarheit des Geistes, die imstande war, die Sterne zu überflügeln. Er umarmte und küßte ihn.
»Wie ich sehe, gibt's nur einen Menschen, der besser spielt als du, Hans. Das bin ich!«
Die ungewöhnlich hohe, gewölbte Stirn des Jungen rötete sich bei diesem Lob. Er konnte vor Ergriffenheit nicht antworten.
»Du möchtest Pianist werden, wenn es deine Mutter nur erlauben würde?«
»Ich weiß nicht. Ich möchte Musiker werden. Ich möchte so etwas schaffen wie Wagner.«
Seine Augen leuchteten, als er diesen Namen aussprach. Franzi sah ihn überrascht an: nach ihm war dieser Junge der erste Wagnerschwärmer, dem er begegnete. Es stellte sich heraus, daß er den Dresdener »Tannhäuser« kannte, den Aufsatz Franzis im »Journal des Débats« gelesen hatte und auch mit den kühnen ästhetischen Schriften Wagners vertraut war. »Kunst und Revolution«, deren bis zu den klassischen Griechen zurückführende Gedankengänge Wagner einst in eine so heftige Debatte mit der Fürstin Carolyne verwickelt hatten, war die Bibel dieses jungen Mannes.
»Ich bin kein alleinstehender Schwärmer mehr«, sagte Franzi lächelnd, »die Wagner-Verehrer können nunmehr eine Partei bilden. Zwei Mitglieder sind schon vorhanden: Franz Liszt und Hans Bülow.«
Hans hielt sich drei Wochen in Weimar auf und verbrachte seine Tage entweder im Theater, im »Erbprinzen« oder in der Altenburg. Still und bescheiden saß er da und machte nicht viel Aufsehens von sich, doch nur solange, als man nicht von Wagner redete. Dann wurde er mit einem Male lebhaft und gesprächig. Und wenn ihm jemand widersprach, strömte mit hemmungsloser Leidenschaftlichkeit das Bekenntnis zur neuen Musik von seinen Lippen. Franzi spielte ihm seine »Tannhäuser«-Bearbeitung vor, er spielte sie sofort nach. Als der Junge Abschied nahm, gebärdete er sich wie einer, der in die Verbannung gehen muß. Flehentlich bat er Franzi, auf seine Mutter einzuwirken, daß sie ihm erlaube, die musikalische Laufbahn einzuschlagen. Nur das könne ihn aus seinem fürchterlichen, seelischen Zustand erretten; seine Eltern hatten sich scheiden lassen, der Vater gedachte demnächst wieder zu heiraten, all die häuslichen Bitternisse nagten an seinen Nerven, und nun obendrein noch zu ertragen, daß er sich nicht der Musik widmen dürfe, – das ging über seine Kräfte. Franzi versprach zu tun, was er irgend könne.
»Vergiß nicht, daß du immer auf mich zählen kannst. Wir sind die neuen Mitglieder einer Partei gegen die ganze Welt: Liszt und Bülow!«
Der begeisterte Jüngling war wieder abgereist. Franzi hatte soeben seine Arbeit beendet. Er vertonte sogar noch das Festgedicht Schobers »Weimars Toten«. Der Arbeitsrausch des »Tasso« fehlte ihm nun sehr. Er hätte jetzt Freunde, gute Nachrichten, Zerstreuung nötig gehabt, und gerade jetzt kamen die fürchterlichsten Nachrichten aus Ungarn. Die Russen hatten, wie es ja vorauszusehen gewesen, die unausgebildete und zahlenmäßig verschwindend kleine ungarische Armee völlig zermalmt. Was half da die größte Tapferkeit, was halfen die legendären Heldentaten einzelner, besonders, wenn noch die Führer uneinig waren! Kossuth und Görgey, der Oberbefehlshaber der Armee, vermochten sich nicht zu einigen, und das Ende des ungleichen Kampfes konnte nur sein, daß die Reste der ungarischen Armee vor Vilagos die Waffen streckten. In der Nähe eines Dorfes in Siebenbürgen war angeblich auch Petöfi, der große Dichter, gefallen, der mit der Liebe eines Sohnes den polnischen General Bem in die Schlachten begleitet hatte. Zar Nikolaus hatte den Thron Franz Josephs gerettet, und Ungarn war als selbständiger Staat von der Erdoberfläche verschwunden.
Die Nachrichten überstürzten sich. Österreich war kein großherziger Sieger, und für den Widerstand, zu dem es die Ungarn selbst erst ermuntert hatte, für den Kroaten Jellacic, wollte es jetzt fürchterliche Rache nehmen. Zunächst wurden die Generäle der ungarischen Armee gefangengenommen, – bis auf Kossuth, der noch rechtzeitig nach dem Auslande geflüchtet war.
In diesem Seelenzustande machte Franzi die Goethe-Feier mit, die übrigens, so weit sie unter freiem Himmel stattfand, ein Opfer des Wetters wurde: der Regen verwusch das ganze Feuerwerk. Die Festvorstellung im Theater verlief aber glänzend. Die »Tasso«-Symphonie wurde beifällig aufgenommen. Ein sekundenlanger Applaus, das war der Widerhall einer wochenlangen, ungeheuren Arbeit, die Antwort auf ein erschütterndes, tiefes Selbstbekenntnis des Künstlers. Was hätte es aber auch mehr werden können? Bei einmaligem Hören kann sogar der musikalisch gebildete Zuhörer nur einen ganz oberflächlichen Eindruck von einer Symphonie gewinnen. Die wirklichen Schönheiten eines Werkes treten erst hervor, wenn man es zum fünften oder gar zehnten Male hört. Der Schrei in der Steppe, der ohne Echo verhallt, war kein fremdes Erlebnis für ihn.
Im übrigen war dieses Fest ja auch dem Gedächtnis Goethes geweiht, und man sprach nur von ihm, dem Geistesriesen. Die Alten, die ihn noch gekannt hatten, standen für wenige Tage vornean; so der alte Karl Vogel, der einstige Hausarzt Goethes. Er hatte eine Kusine Goethes aus Frankfurt geheiratet. Jetzt gab der hagere alte Herr vor einem großen Auditorium seine Erinnerungen zum Besten. Auch Soret, der einstige Erzieher des Großherzogs, der jetzt in der Schweiz lebte, kam nach Weimar und konnte ebenfalls sehr viel von Goethe berichten, da er als eifriger Münzensammler mit dem Dichter, der selbst eine solche Sammlung besaß, viel über alte Münzen gesprochen hatte. Sogar die alte Gräfin Marschall mit ihren Goethe-Erinnerungen wurde wieder zeitgemäß. Trotz ihrer neunzig Jahre kam sie in ihrer gelblackierten Kutsche, die von der ganzen Kleinstadt als Melone verspottet wurde, ins Theater gefahren. Und jedermann wußte noch eine »noch unbekannte Geschichte von Goethe«, jedermann bestand darauf, des Dichters »bester Freund« gewesen zu sein, jedermann glaubte, selbst in die Literaturgeschichte zu gehören.
Goethes Geburtstag wurde nicht nur in Weimar gefeiert, sondern in ganz Deutschland, das von der Frankfurter Nationalversammlung soeben zum Kaiserreich proklamiert war. In Berlin wurden Stimmen laut, man solle zur ewigen Erinnerung an Goethe ein Institut schaffen, das die Führung des geistigen Lebens in Deutschland zu übernehmen habe.
Der Erbgroßherzog von Weimar ließ Franzi zu sich bitten:
»Sie haben doch immer so gute Einfälle, lieber Liszt. Ich sprach gestern mit meinem Vater über diese neue Bewegung in Berlin. Es wäre doch schade, den Berlinern die Führung zu überlassen, wenn es um Goethe geht. Was die Berliner wollen, müssen wir verwirklichen! Haben Sie nicht eine gute Idee?«
»Wohl habe ich eine«, entgegnete Franzi lächelnd, »ich wollte in dieser Angelegenheit sogar gerade um eine Audienz bitten.«
»Ausgezeichnet. Sie bleiben immer der alte. Erzählen Sie.«
»Ich will mich kurz fassen: wir veranstalten hier in Weimar etwas Ähnliches, wie einst die klassischen Griechen mit ihren ›Olympiaden‹. Wir lassen nur das Sportliche weg, denn mit Schwimmkämpfen und Wettläufen wollen wir uns nicht lächerlich machen. Sonst aber sollen alle Künste hier im Schatten Goethes wetteifern. Das schönste Bild, die schönste Statue sollen auf unserer Kunstausstellung preisgekrönt werden und sogleich hier im Goethemuseum verbleiben. In unserem Theater müßte dem besten Drama und der besten Oper, im Konzert der besten Symphonie der Siegespreis zuerkannt werden. Das schönste Gedicht müßte seinen Lorbeer hier erhalten. Was sind fünfzig Jahre in der Geschichte Weimars? Nichts. Und stellen Sie sich vor, Hoheit, wie reich in fünfzig Jahren unser Museum wäre: es besäße die größten Meisterwerke eines halben Jahrhunderts. Unser Theater würde zweifelsohne zum bedeutendsten Theater der ganzen Welt.«
»Halten Sie ein, – ich bin von Ihrem Gedanken ganz hingerissen! Wollen Sie nicht so liebenswürdig sein, diesen Plan auch vor meinem Vater zu vertreten, denn den Dienstweg müssen wir trotz alledem einhalten.«
»Herzlich gerne. Ich gedenke auch eine längere Abhandlung über diese Frage zu schreiben, nur bin ich im Augenblick sehr erschöpft. Aber ich mache mich auf Helgoland an die Arbeit. Ich will nämlich dorthin reisen, um mich zu erholen. Darf ich diese Audienz zu einer Bitte benutzen?«
»Selbstverständlich. Verlangen Sie bloß kein Geld für einen Ihrer Schützlinge, denn das haben wir nicht.«
»Darum möchte ich aber gerade bitten. Wagner ist in großer Bedrängnis, und ich kann ihm augenblicklich nichts schicken. Er weilt in Zürich und bittet in einem verzweifelten Briefe um Geld. Ich erlaube mir, Eure Hoheit darauf aufmerksam zu machen, daß dieser Mann für uns sehr wichtig ist. Obendrein ist er ein Genie.«
»Genie, Genie, – schon gut! Er schluckt aber das Geld wie der Sand das Wasser. Na, ich werde einmal mit meinem Vater sprechen, wenn er sehr guter Laune ist. Ich muß aber die Bedingung stellen, daß Wagner von der Herkunft des Geldes nichts erfährt. Das könnte einen schönen Skandal geben, wenn ein Zeitungsschreiber erführe, das Sachsen-Weimarische Herrscherhaus unterstütze verfolgte Revolutionäre mit Geld! Auf Wiedersehen also, ich warte auf Ihr Memorandum.«
Der Erbgroßherzog preßte wirklich hundert Taler aus seinem Vater heraus. Der Betrag ging sofort ab an: Herrn Richard Wagner, Zürich, Am Zeltweg in den hinteren Escherhäusern Nr. 182.
Franzi aber machte sich indessen mit der Fürstin, der kleinen Manja und Miß Anderson auf den Weg nach Helgoland. Unter den Badegästen begegneten sie vielen Bekannten. Am nächsten stand Franzi ein Schriftsteller namens Dingelstedt, Dramaturg am Frankfurter Theater. Er kannte ihn schon seit langer Zeit und hatte ihn auch schon unterstützt. Gerne hätte er ihn an das Weimarer Theater gebracht, leider war aber dort keine Stelle mehr frei. Dingelstedt gab jedoch die Hoffnung nicht auf. Er pflegte die Freundschaft mit Franzi sorgsam, überhäufte ihn mit kleinen Aufmerksamkeiten, die übrigens ebensosehr der Fürstin und fast noch mehr der kleinen Maria galten, denn er wußte sehr wohl, daß man die Herzen der Erwachsenen durch die Kinder am ehesten gewinnt. Er war ein außerordentlich liebenswürdiger Mensch, von tadellosem Benehmen und auch ein sehr tüchtiger Fachmann. So verbrachten sie täglich viele vergnügte Stunden miteinander.
Dingelstedt war von dem Plan der Weimarer Olympiade begeistert und ergänzte ihn von sich aus durch zahlreiche glückliche Einfälle. So wurde Franzi nur noch mehr in seiner Absicht bestärkt, diese erstklassige Kraft, sobald es irgend möglich wäre, nach Weimar zu holen.
»Ich hoffe, daß wir einen großen Teil dieser Pläne schon zusammen werden ausführen können.«
Dingelstedt sah ihn mit dankbaren, treuen Augen an.
»Wenn das möglich wäre, würde ich Ihnen zeigen, was außerordentlicher Dank ist.«
Franzi reichte ihm die Hand, Dingelstedt drückte sie. Sie schlossen einen Bund, und von da ab besprachen sie ihren großen Plan mit noch größerer Begeisterung. Franzi arbeitete auch schon an dem Memorandum. Das gab ihm den letzten Anstoß, eine alte Absicht endlich auszuführen: er mußte sich einen Sekretär halten. Ursprünglich sollte dieser, ein junger Schweizer Musiker namens Raff, der sich zu dem Posten gemeldet hatte, gleich jetzt im Herbst seine mit sechshundert Talern bezahlte Stellung antreten. Aber immer wieder verzögerte sich die Sache, denn die Fürstin war schwer erkrankt. Es handelte sich um ein Gallenleiden, das durch den Aufenthalt in Helgoland nicht besser werden konnte. Sie hatte derartige Schmerzen, daß sie sich endlich entschließen mußte, ein Heilbad aufzusuchen. So fuhren sie denn von Helgoland aus nicht nach Weimar zurück, sondern nach Bad Eilsen, dessen Wasser die Ärzte sehr lobten. Es war Herbst geworden, und auf den schattigen Wegen des kleinen Badeortes wanderten kaum ein oder zwei Gäste. Zumeist regnete es, und das schlechte Wetter drängte sie in ihr kleines muffiges Zimmer. Ab und zu fuhr er in das benachbarte Bückeburg, um Zeitungen zu kaufen, denn er war sehr neugierig auf die Nachrichten aus Ungarn.
Hier, auf dem Rückwege von Bückeburg nach Eilsen las er von der Hinrichtung der Führer des ungarischen Freiheitskampfes. Die Zeitung zitterte in seiner Hand, als er auf der Liste der Hingerichteten auch den Namen seines guten Freundes, seines lieben Preßburgers Gastgebers, des Grafen Ludwig Batthyany entdeckte. Auch der Bericht über die in Arad erhängten dreizehn Generäle erschütterte ihn tief, aber das furchtbare und blutige Ende Batthyanys wühlte ihn mit der ganzen Kraft des persönlichen Verlustes auf. Er rief sich das vornehme Gesicht des Grafen ins Gedächtnis zurück, als er in der Zeitung las, wie dieser Mann sich im Gefängnis mit einem eingeschmuggelten Dolch das Leben nehmen wollte, und wie sich die Ärzte des Generals Haynau bemühten, ihn unter allen Umständen am Leben zu erhalten, damit er ja nicht verblute und hingerichtet werden könnte. Ein Beben lief durch seine Glieder, als er das las, und am liebsten hätte er im Wagen laut aufgeschrien.
»Um Gottes willen, was haben Sie?« fragte Carolyne erschrocken den Eintretenden.
Er brachte kein Wort heraus und reichte ihr schweigend die Zeitung hin. Die Fürstin las und rief beglückt:
»Gott sei Dank, daß Sie nichts unternommen haben, als die Revolution in Pest begann.«
Sie war eine Frau, ihr erster Gedanke galt dem, den sie liebte. Ihn aber hatte diese Nachricht vollkommen zu Boden geschmettert. Tagelang machte er den Mund nicht auf, er saß teilnahmlos da oder schritt ruhelos, schweigsam im Zimmer auf und ab und lächelte nur, wenn die kleine Maria ihn anredete. Tage vergingen, bis er sein Gleichgewicht soweit wiederfand, daß die schmerzvolle Erschütterung in ihm Musik zu werden begann. Langsam formten sich in seiner Seele trauerumflorte, mit düsterer Feierlichkeit einherschreitende Akkorde. Die Denkschrift über die Goethestiftung legte er zur Seite, jetzt mußte er komponieren. Andauernd mußte er an Chopin denken, seinen Bruder in der Kunst, den geliebten Kameraden seiner jugendlich schwärmerischen Jahre. Mit inniger Rührung gedachte er seiner, während er dessen Trauermarsch spielte. Und als er eines Tages abermals nach Bückeburg fuhr, um eine Zeitung zu kaufen, da entdeckte er unter den Auslandsnachrichten eine Mitteilung aus Paris, daß Chopin gestorben sei …
Das waren der grausamen Nachrichten zu viele. Ein heftiges Schluchzen überfiel ihn, seine Nerven bäumten sich gegen soviel Schicksalsschläge auf. Schluchzend stieg er aus der Kutsche vor dem Gasthaus und bebte noch am ganzen Körper, als er bei der Fürstin eintrat. Carolyne ruhte auf dem Sofa, im selben Zimmer lag, von hohem Fieber geplagt, die kleine Maria, die seit zwei Tagen an einer typhusartigen Krankheit litt. Franzi konnte nur stammeln, daß Chopin gestorben sei, dann ließ er sich neben dem Sofa nieder und verbarg sein Gesicht im Schoß der Geliebten. Noch nie in seinem Leben hatte er so geweint. Und später, als er sich einigermaßen beruhigt hatte und des Sprechens wieder fähig war, sagte er mit tränenerstickter, tonloser Stimme:
»Es gibt nicht nur eine das ganze Leben ausfüllende Liebe. Es gibt auch eine das ganze Leben erfüllende Freundschaft. Nie mehr im Leben kann mir ein Mann so sehr Bruder, Kamerad und Gefährte sein. In der menschlichen Seele lodern heilige Flammen, die nur einmal brennen können. Wenn sie verlöschen, lassen sie sich nicht wieder zu neuem Leben entfachen.«
»Und Wagner?« fragte die Fürstin mit sonderbarer Stimme.
Franzi sah sie an. Er meinte Eifersucht aus ihrem Ton zu hören, eine gewisse Gespanntheit, etwas wie tiefe, geheime und doch spürbare Kampfbereitschaft.
»Nein«, entgegnete er langsam, den Kopf hin- und herwiegend, »Wagner kenne ich ja gar nicht, ich kenne nur seine Kunst. Er selbst ist mir noch fremd, ich bewundere aber sein Genie und bin dessen Sklave. Friedrich war ganz anders. Ihn hätte ich auch dann vergöttert, wenn er kein Genie gewesen wäre.«
Der Trauermarsch, der sich in seiner Seele bereits zu formen begann, erhielt jetzt einen noch tieferen Inhalt. Auf dem Klavier des Eilsener Zimmers entstand ein neues Tonwerk. Er nannte es »Funérailles«, es wurde ein unbeschreiblicher Balsam für sein Herz. Während er arbeitete, beobachtete er in sich das Wirken des sonderbaren Dämons, für den die Sprache die Bezeichnung »Künstler« hat und der wie ein übermächtiger Tyrann alle menschlichen Gefühle für sich beansprucht. Wen dieser rätselhafte Dämon packt, der kann weder die gleiche Freude noch den gleichen Schmerz empfinden, wie die Alltagsmenschen. Dieser Dämon nährt sich von unseren Gefühlen, er saugt das Blut aus der Seele und formt daraus sein eigenes Ich. Der Mensch, in dem dieser Dämon haust, kann nicht einmal seine heiligsten Gefühle für sich behalten, der Dämon bemächtigt sich ihrer und formt sie zum Kunstwerk.
Noch im Dezember waren Gäste in Eilsen. Die langwierige Krankheit der kleinen Prinzessin machte ihnen die Heimreise unmöglich. Es war genau so, als wären sie jetzt in Woronice, wo sie der Schnee von der Außenwelt abschnitt und sie in der unendlichen weißen Stille einer des anderen Herz klopfen hörten. Stundenlang konnten sie sich unterhalten, sie hatten einander immer etwas zu sagen. Franzi schrieb seinem Sekretär Raff, daß er am 1. Dezember seine Stellung bei ihm antreten solle. Der junge Mann traf auch ein. Er stellte sich höflich vor und ging sofort an seine Arbeit: er schrieb Briefe nach Diktat, er übernahm die Instrumentierung der Kompositionen nach Anweisungen des Meisters, auch die eigentliche Abschreibearbeit und ähnliches mehr. Schon am ersten Tage zeigte sich der neue Sekretär sehr eifrig, aber in seinem Benehmen war etwas, was Franzi auffiel.
»Sagen Sie, Raff«, fragte er, »ich habe den Eindruck, daß Sie etwas sagen möchten und nur nicht wissen, wie Sie es anfangen sollen.«
Der junge Mann wurde rot.
»Na, sehen Sie. Also heraus damit, eins, zwei …«
Raff ließ sich noch eine kleine Weile nötigen, dann griff er in seine Tasche und reichte Franzi ein Zeitungsblatt, nachdem er erst seiner Entrüstung über die gegen den Meister gerichteten Angriffe Luft gemacht hatte. Es handelte sich um ein Gedicht von Heine, in dem der Dichter die tapferen Ungarn pries, um dann fortzufahren:
»Auch Liszt taucht wieder auf, der Franz,
Er lebt, er liegt nicht blutgerötet
Auf einem Schlachtfeld Ungarlands;
Kein Russe, noch Kroat' hat ihn getötet.
Es fiel der Freiheit letzte Schanz
Und Ungarn blutet sich zu Tode –
Doch unversehrt blieb Ritter Franz.
Sein Säbel auch – er liegt in der Kommode.
Er lebt, der Franz, und wird als Greis
Vom Ungarkriege Wunderdinge
Erzählen in der Enkel Kreis –
›So lag ich und so führt' ich meine Klinge!‹«
Auch Franzi wurde rot. Aber vor Zorn. Empört zeigte er das Gedicht der Fürstin. Carolyne, die von dem Zusammenstoß Franzis mit dem Dichter wußte, geriet in Aufregung.
»Es muß in den Zeitungen bekanntgegeben werden, wie er Sie seinerzeit erpressen wollte. Unbedingt muß das in die Zeitungen kommen. Warum zögern Sie? Verdient denn so ein Flegel etwas anderes?«
Er schüttelte nur den Kopf.
»Der Mann ist schwer krank, er ist ja ein lebendiger Toter. Ein unglücklicher Wurm, den man kriechen lassen muß.«
»Da haben wir es«, rief Carolyne heftig, »mit Ihnen kann jeder machen, was er will. Aber es geschieht Ihnen auch ganz recht! Diese Lektion schadet gar nichts. Mit Ihnen kann man ja über solche Dinge gar nicht vernünftig reden.«
»Aber, Carolyne, was fällt Ihnen ein, ich werde wirklich gleich böse.«
»Nein, nein, nur das nicht!« bat die Fürstin sofort.
Sie schlang besänftigend ihre Arme um den Hals des Geliebten. Sie küßten sich. Aber aus den Augen der Frau blitzte noch immer die Kampfeslust.