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Eigentlich hatte er den Tisch, an dem Sibylle saß, in keinem Augenblick aus den Augen gelassen. Sie hatte zwischen ihrer Schwester und deren Bräutigam Platz genommen. Im Augenblick fiel ihm die Ähnlichkeit Gabis mit ihrem Vater auf. Vor einigen Minuten hatten sich Alex Schrötter und Dr. Durlacher dazugefunden, und dann saß noch ein Herr da, auf den Filscher unter andern Umständen neugierig gewesen wäre. Dieser Herr, der der Schriftsteller Amende sein mußte, hatte ein freundliches rundes Gesicht. Die kleine Nase wurde durch eine große gelbe Hornbrille fast verdeckt. Die Glatze verbarg sich hinter einem zurückgebliebenen Schopf blonder Haare.
Sibylle stellte vor. Filscher war ein wenig verlegen, da er jetzt in ihren Kreis eindringen sollte. Es war zugleich der Kreis Erich Torners, gegen den er schon morgen früh den entscheidenden Schlag führen mußte. Der blonde Dr. Wessollek holte zuvorkommend Sessel und Mokkatassen herbei. Sibylle sah ernst zu ihm herüber.
»Dr. Günther Filscher?« fuhr Johannes Amende überrascht auf. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie sind Kunsthistoriker und beschäftigen sich vorzugsweise mit Kunstfälschungen, nicht wahr?«
»Nicht vorzugsweise, aber es ist zur Zeit leider immer noch mein Broterwerb«, sagte Filscher, Sibylles wegen ein wenig verlegen.
»Es ist mir neulich eine merkwürdige Sache passiert«, fuhr Amende fort. »Ist Ihnen vielleicht zufällig diese Notiz aufgefallen, die vor einiger Zeit durch die Blätter ging?« Er zog einen Zeitungsausschnitt aus der Brieftasche und las vor: »Der Brand der Kapelle Sancta Maria in der Scharte bei Haßfurt (Unterfranken) hat erneut die Aufmerksamkeit auf jene wundervolle Madonna gelenkt, die sich in der Sakristei der völlig eingeäscherten Kapelle befand und wie durch ein Wunder gerettet wurde – – – –«
»Einen Augenblick!« unterbrach Filscher ihn. Er hatte selber seine Brieftasche gezogen und fuhr mit dem Schlußsatz fort: »Wie wir erfahren, wurde die Plastik, die den Vergleich mit den größten Bildwerken jener Zeit aushält, von einem holländischen Sammler erworben.«
»Also Sie haben den Zeitungsausschnitt auch! Ich wollte schon lange einen Fachmann fragen: was bedeutet diese Notiz?« Aller Blicke wandten sich dem Assistenten zu. Filscher fühlte Sibylles Augen groß und ängstlich auf sich gerichtet. Ein Zufall stieß das Gespräch gerade in das Gebiet hinein, das sie kaum zu betreten wagten.
»Sie bedeutet, daß in den nächsten Wochen im internationalen Kunsthandel diese wundervolle Madonna, eines der kostbarsten Monumentalwerke der fränkischen Gotik aus dem 13. Jahrhundert, wie hier steht, auftauchen wird!« sagte Günther Filscher mit möglichst fester Stimme.
»Wirklich?«
»Ja, natürlich gefälscht! – Übrigens müssen wir leiser sprechen. Ich vermute, daß in diesem Saal einige Menschen sind, die der Notiz nicht ganz fernstehen.«
Nur Gabi und Wessollek sahen verwundert auf. Alle andern begriffen, daß sich im nächsten Augenblick etwas zutragen würde.
»Es ist mir nämlich etwas Merkwürdiges bei dem Brand dieser Kapelle passiert«, sagte der Schriftsteller und erzählte die Geschichte des vertauschten Koffers. Er beschrieb Herrn Stahl und seine Genossen und die Fahrt zu der Pension Falk. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte er schließlich. »Was wollte dieser Stahl mit den Brandutensilien? Weshalb steckte man die Kapelle wirklich an?«
Günther Filscher warf einen verstohlenen Blick auf Sibylle. Hing sie oder ihre Mutter auch mit dieser Madonna zusammen? Wußte sie davon? Vielleicht hätten sie unter vier Augen nun über alle die Dinge gesprochen, die durch Amendes Anwesenheit jetzt in dem Kreis zur Erörterung kamen. Etwas trieb ihn vorwärts. Er würde sprechen.
»Es ist eine gute Manier, eine Fälschung in den Handel zu bringen«, sagte er. »Taucht eine bisher unbekannte Arbeit von großem Wert auf, so muß mit einiger Genauigkeit nachgewiesen werden, wo sich dieses Stück bisher befand. Eine entlegene Waldkapelle, in der womöglich seit Jahrzehnten nicht mehr amtiert wird, ist herrlich für solche Zwecke. Damit nun nachher nicht jemand kommt, um an Ort und Stelle nachzusehen, wo das Werk gestanden haben könnte, läßt man die Kapelle am besten abbrennen. Dieser Herr Stahl, den Sie erwähnten, ist kein gewöhnlicher Brandstifter, sondern hat die schwere Aufgabe, bei solchen Bränden, die er selbst anlegt und sorgfältig vorbereitet, Kunstwerke zu ›retten‹. Das heißt, er muß dafür sorgen, daß irgendwelche Trümmer oder Reste von Kunstwerken für die betreffende Brandkommission sichtbar werden. Der letzte Beweis der ›Echtheit‹ von solchen Werken wird erst durch Leute wie diesen Herrn Stahl schlüssig. Vermutlich hat ein solcher Spezialist eine ganze Kolonne von ›Kunstrettern‹ an der Hand. Es ist ein schweres, aber einträgliches Geschäft. Bei einem großen Coup kann es sich um eine halbe Million oder mehr handeln. – Und wo haben Sie Ihren Koffer nachher wiederbekommen?«
Der Schriftsteller nannte die Adresse.
»Merkwürdig!« sagte Günther Filscher. »Es ist das Haus, in dem der Kunsthändler Schabrack wohnt!«
»Tatsächlich, mir fiel in dem Treppenaufgang der Name Schabrack auf! Ganz genau besinne ich mich darauf. Und um die Ecke ist der Laden. Ich habe nicht daran gedacht. Wie gehen Sie nun in einem solchen Falle vor? Werden Sie morgen bei Schabrack eine Haussuchung veranstalten?«
Günther Filscher sah Sibylle fragend an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Plötzlich mischte sich Dr. Durlacher ins Gespräch. »Ich kenne Stahl sehr gut!«
Alle Köpfe fuhren zu ihm herum.
»Zuletzt sah ich auf einer Photographie, wie er über die Brandstätte des Ursulinerinnenklosters in Cati geht.«
»Von Cati?« fragte Filscher erregt. »Von Cati? Er ist dort gewesen, als das Kloster abbrannte? Und jetzt war er bei dem Brand dieser Waldkapelle tätig? Auf was für einem Bild haben Sie ihn gesehen? Woher kennen Sie ihn?«
Dr. Durlacher berichtete von dem Vortrag des Dr. Goldbaum im Kunstsalon Schabrack. »Ich wunderte mich gleich, als ich Edmund Stahl auf der Leinwand sah. Wenige Tage vor dem Brand des Klosters war er noch bei mir gewesen. Er muß auf dem schnellsten Wege, dem Landwege, nach Spanien hinuntergefahren sein.
»Und wo hat er damals gewohnt?« fragte der Schriftsteller dazwischen. »Vielleicht in der Pension Falk?«
»Offenbar! Jetzt besinne ich mich. Ich holte ihn einmal im Auto ab. Er wohnte in einer Pension in der Pätzoldstraße in Charlottenburg. Ob es die Pension Falk war, weiß ich nicht mehr. Stahl wartete unten in der Haustür.«
»Da haben wir's!« rief Amende aufgeregt zu Dr. Filscher hinüber. »Einige der Hauptkomplicen sind hiermit identifiziert. Wir sind einem ganzen Fälscherkonsortium auf die Spur gekommen!«
»Es sind das alles noch keine zwingenden Beweise«, wehrte Filscher ab.
»Wir haben die wichtigste Person vergessen!« mischte sich Alex Schrötter in die Unterhaltung. »Sogar die einzig interessante Person. Es handelt sich hier um Kunstwerke von Belang, auch wenn es Nachahmungen sind.«
»Durchaus keine bloßen Nachahmungen«, sagte Günther Filscher, »sondern um außergewöhnlich bedeutende und originelle Arbeiten, auch wenn sie in einem lange zurückliegenden Stil gehalten sind.« Ihm war, als leuchtete bei seinen Worten etwas in Sibylles Augen auf.
»Um so mehr! Die einzig interessante Person ist der Verfertiger oder, wenn das Wort in diesem Zusammenhang am Platze ist, der Schöpfer dieser Werke! Weder Herr Stahl, noch Herr Schabrack können diese Arbeiten hergestellt haben. Wer ist der Kunstfälscher, um den sich doch hier alles drehen müßte?«
Es konnte nicht anders sein, als daß Günther Filscher und Sibylle sich in diesem Augenblick ansahen.
»Mir ist heute eine Madonna angeboten worden«, sagte Durlacher überraschend. »Fränkische Gotik, 13. Jahrhundert, Meister unbekannt, Preis eine halbe Million, sie soll aus holländischem Besitz stammen.« Er griff in die Tasche und holte ein Photo hervor.
»Einen Augenblick!« unterbrach Filscher. Er fühlte die Entscheidung niedersausen. »Hier wurde die Frage nach dem Kunstfälscher angeschnitten. Sofort als ich die Zeitungsnotiz las, witterte ich, daß der Schöpfer dieser fränkischen Madonna derselbe sein könnte, der auch die unvergleichlich herrlichen Sachen des Fundes von Cati geschaffen hat. Mein Chef und ich, wir fragten uns neugierig, ob auch diese Madonna dieselben Züge tragen würde, die auf allen Werken des Fundes von Cati wiederkehren.«
»Ja, sie hat das gleiche Antlitz!« sagte Dr. Durlacher und reichte Filscher das Blatt hinüber.
Filscher nahm das Bild in die Hand. Eine ungeheure Spannung hatte sich auch der andern Personen bemächtigt. Johannes Amende rückte mit seinem Stuhl näher heran. Die andern standen auf und schauten ihnen über die Schultern. Es dauerte eine Weile, bis sich ihnen der architektonische Aufbau offenbarte: das faltige Gebirge des langhin fließenden Gewandes, der geschwungene Bogen der Knie unter dem Tuch, die sanfte Mulde des Schoßes und der ansteigende Hang des Oberkörpers, und dann, im Gegenspiel der Kräfte als Ausgleich der Massen, die Gestalt des Kindes, schaukelnd auf dem Joch des Oberschenkels, hangend an den gespannten Seilen der Arme, die es dem Auge fernhielten wie eine Welt zum besseren Überschauen und zugleich mit leichter Krümmung aus Liebe an sich zu ziehen schienen.
Ein seltsamer Zauber stieg von dem Blatt aus. Die überströmende Lebensfülle einer entlegenen Zeit, die Beseeltheit ihrer Formensprache, die große Gebärde ihres Ausdrucks schlugen selbst in dem kleinen Format der Wiedergabe aus dem Bild heraus. Minutenlang starrten sie schweigend auf das Blatt.
»Mein Gott,« fing Alex Schrötter auf einmal an, »das Gesicht, das ist doch – Fräulein Mareks!«
Sie fuhren aus der Versunkenheit auf, suchten die Besonderheit der Züge zu erfassen und zu vergleichen, sahen sich um. Sibylle war verschwunden!