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Margot Liedtke reckte und streckte sich in ihrem Bett. In einem ersten Hotel zu schlafen, war doch etwas ganz anderes als das Leben in den gräßlichen Mietbuden. Sie hatte genug davon.
Eigentlich hatte sie ihr arbeitsames Leben bei Herrn Berdelow noch einige Monate oder sogar Jahre fortsetzen wollen. Sie hätte ein größeres Betriebskapital in die Hände bekommen. Nun hatte die Kriminalpolizei sie plötzlich gestört. Wahrscheinlich hatte man auf sie gar keinen Verdacht. Nichts konnte sie hindern, am nächsten Morgen wieder an ihrer alten Arbeitsstelle zu erscheinen, und die Ein- und Ausgänge der Firma zu kontrollieren. Aber der Teufel soll der Polizei trauen. Vielleicht fand man auf einmal doch etwas heraus, und dann war es zum Fliehen zu spät.
Und dann hatte sie so wenig Lust, immer wieder dasselbe Tagwerk abzureißen. Obwohl ja durch die Verhaftung von Herrn Berdelow ein wenig Abwechslung in die Sache gekommen war. Als sie munter in das Polizeiauto hineinhüpfte, dachte sie noch an nichts. Auf einmal war es ihr aufgefallen, daß die Kriminalisten hinausgegangen waren und sich draußen beraten hatten. Das konnte doch nur auf ihre Person abzielen. Sollte sie so dumm sein, den Leuten in die Falle zu gehen? Nein! Das »Grüne Schiff« war heute abend ein verbotener Boden. Ebenso die »Diana«. Diese beiden Lokale hatte sie den Kommissaren angegeben. Wenn sie gesucht wurde, wurde sie dort gesucht.
Einen Augenblick hatte sie im Auto daran gedacht, Herrn Berdelow telephonisch zu warnen. Aber seine Mutter hatte kein Telephon, und hinzulaufen, schien ihr doch zu bedenklich. So mochte er selbst zusehen, wie er sich herauswickelte. Sie hielt es auch für möglich, daß sie aus dem Auto nicht mehr herausgelassen und gleich mit zur Polizei genommen würde. Der eine der beiden Männer schien dumm und aufgeblasen zu sein. Zu ihm hatte sie festes Vertrauen. Aber der stillere und kleinere gefiel ihr nicht. Auch daß er sie nicht am Maxmonument herauslassen wollte, gab ihr zu denken. Schade, sie hätte gleich die Therese aufsuchen können!
Als sie dann am Nationaltheater aussteigen durfte, hatte sie das deutliche Gefühl, daß man ihr nachspionieren würde. Sie lief, so rasch sie konnte, in das Gewirr der kleinen Gassen nach links hinein, ging ins Hofbräuhaus und rief von dort Herrn Bötticher im »Grünen Schiff« an. In einer halben Stunde trafen sie sich in einem Tanzlokal, das sie sonst nicht zu besuchen pflegte. Sie war so guter Laune wie seit langem nicht mehr. Noch immer wußte sie nicht, was sie unternehmen würde. Sie rechnete ihre Barschaft durch, die sie in ihrer Tischschieblade versteckt hielt. Es waren jetzt über achthundert Mark. Damit ließ sich etwas anfangen. Sie mußte sich nur klar darüber sein, daß sie jetzt nicht sparen durfte. Die großen Abenteuer gab es in den erstklassigen Hotels und nicht in den bescheidenen Absteigequartieren. So endete sie denn im Laufe der Nacht in dem Hotel, an dem sie bisher nie ohne leise Sehnsucht nach mondänem Leben vorbeigegangen war.
Als sie mit dem Lift in ihr Zimmer fuhr, wurde ihr klar, daß sie weniger Lust nach Hochstaplerbeute als nach romantischen Abenteuern hatte. Sie wollte ihr Leben genießen. Einige Ahnung hatte sie ja bereits. Herr Bötticher hatte ihr stets gesagt, daß sie sich in der besten Gesellschaft zu benehmen verstünde. Das war alles, was sie vorläufig brauchte.
Besonders stolz war sie auf den Gedanken, ihren Namen in Maria Leist zu verwandeln. Der Name gefiel ihr, ganz abgesehen davon, daß ihr Koffer mit den Buchstaben M. L. gezeichnet war. Sie mußte an den kleinen Studenten denken, der ihr den Koffer vor zwei Jahren geschenkt hatte. Eigentlich hatte sie damals schon ein Abenteuerleben beginnen wollen. Aber sie war noch zu jung gewesen. So ganz junge Mädchen gingen immer um die Ecke. Sie hatte das gesehen, und so wartete sie bis jetzt, wo sie dreiundzwanzig Jahre alt war. Das war das richtige Alter. Es fiel nicht mehr auf, wenn sie allein reiste. Man hatte vor einer jungen Dame von dreiundzwanzig Jahren Respekt.
Jetzt hieß sie Maria! Maria war ein schöner Name. Sie dachte sich ordentlich in die Rolle der Maria hinein. Wenn man sie mitten in der Nacht geweckt hätte, wäre sie Maria gewesen. Wenn ihr der Name in einigen Tagen nicht mehr gefiel, konnte sie sich ja anders nennen. Es gab Namen genug. Renate war fein. Oder Brigitte. Oder Liselotte. Eine Freundin von ihr hieß Liselotte. Eigentlich war es schade, daß sie sich nicht gleich als Liselotte eingetragen hatte. Das gefiel ihr jetzt bedeutend besser als das ernste Maria.
Sie wusch sich in dem fließenden Wasser, stellte fest, daß das Leben doch sehr schön war, wenn man nicht immer an der Schreibmaschine zu sitzen hatte, und schlief selig ein.
Am nächsten Morgen brauchte sie sich nicht im geringsten darauf zu besinnen, wo sie war. Nur als sie den Koffer aufmachte, mußte sie lachen. Damit er voll würde und die wenigen Sachen in ihm nicht hin und her schaukelten, hatte sie zwei Tischdecken ihrer Wirtin eingepackt. Ob die das gleich bemerkt hatte? Aber wer kannte sie in der großen Stadt. Und außerdem würde sie schon mittags irgendwo anders hinfahren.
Sie wusch sich wieder höchst ausgiebig an dem schönen Waschtisch und zog sich ihr Sonntagskleid an. Das war das einzige, was ihr ein wenig schlechtes Gewissen machte. In der nächsten Stadt, in die sie fahren würde, mußte sie sich noch etwa drei solcher Kleider, und sogar noch schönere und kostbarere, kaufen. Denn von jetzt an würde sie immer in schönen Kleidern gehen. Das mußte man einfach, wenn man Abenteuer erleben wollte. Das ganze Leben war jetzt für sie so, als wenn sie abends tanzen ging.
Ein wenig war sie unsicher, was sie jetzt in dem Hotel zu tun hatte. Zum Glück hatte sie im Vorbeigeben die Bezeichnung Frühstückszimmer gelesen. Man frühstückte also in einem besonderen Raum. Ob man dazu den Mantel mit hinunterbrachte? Sie nahm ihn für alle Fälle über den Arm und setzte auch den Hut auf.
Das Frühstückszimmer entzückte sie. Menschen saßen an kleinen Tischen. Meistens Ehepaare, aber auch zwei junge Damen und verschiedene Herren. Von ihnen gefiel ihr keiner. Dennoch beschloß sie, nicht müßig zu gehen, sondern ihre Waffen zu erproben. Sie mußte jetzt lernen. Ein Kellner kam und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie bestellte Kaffee und Butter.
»Auch Aufschnitt?«
»Ja, bringen Sie mir auch Aufschnitt!«
Auf Befragen nannte sie ihre Zimmernummer. »Das kommt dann alles auf die Rechnung!« kalkulierte sie.
Sie frühstückte mit Appetit und in bester Laune, bemerkte aber doch die Verwandlung, die mit ihr vorgegangen war. Bisher hatte sie sich stets als Herrin der Situation gefühlt. Sie war geradezu frech, denn sie verstand ihren Beruf wie wenige andere. In Schreibmaschine und Buchführung machte ihr keiner etwas vor. Sie konnte mit Geschäftsbüchern förmlich jonglieren. Und ob sie es konnte! Hier aber fühlte sie sich doch unsicher. Das Leben einer jungen Dame war nicht ganz leicht. War es richtig, wenn man sich hier so benahm wie in der Tanzdiele? Oder war hier anderes nötig? Sie wußte es noch nicht genau. Zunächst also mußte sie abwarten, wie es die anderen machten. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob nicht ein Ober mit strengem Blick erschien, wenn sie mit einem der Herren an den Nebentischen zu flirten anfing. Eine Zigarette zur letzten Tasse Kaffee, wie zu Hause, wagte sie schon gar nicht zu rauchen.
Zu den beiden jungen Damen am Nebentisch kam von draußen ein junger Mann herein. Sie begrüßten ihn mit Getöse. Das also durfte man? Vielleicht war es dann gar nicht so schwer. Aber sie entdeckte doch, daß das Getöse bestimmte Grenzen einhielt. Man mußte sich also doch zusammennehmen. Erst als sich der junge Herr zu den beiden hinsetzte und ihnen Zigaretten anbot, wagte sie auch zu rauchen. Dann holte sie sich eine Zeitung und tat, als ob sie lese.
Ein komischer Herr mit rotem Zwickelbärtchen war zweimal an ihr vorbeigegangen. Endlich fiel es ihr auf. Sie warf ihm einen Blick zu. Er setzte sich so, daß er sie im Auge hatte, vermied es aber, allzusehr nach ihr herüberzusehen. Ob der anbandeln wollte? Verführerisch war er gerade nicht. Doch sie mußte ihre Abenteuerschule nun einmal beginnen. Aber wie weit durfte man gehen? Sie sah einige Male zu ihm hin. Er erwiderte ihren Blick. War es ein feiner Herr? Sie überlegte sich, daß die feinen Herren der wirklichen Welt wahrscheinlich anders aussehen als die feinen Herren der Tanzdiele, die manchmal keine sind. Vielleicht war der kleine Rothaarige wirklich ein feiner Herr. Feiner als Herr Berdelow, der nicht so sehr fein war, war er jedenfalls. Allerdings lange nicht so fein wie der Juniorchef des Nürnberger Schuhhauses, den sie eines Abends begleitet hatte. Schade, daß kein jüngerer Herr hier war. Mit jungen Herren kannte sie sich besser aus. Ob er wenigstens Geld hatte? Ob er sie vielleicht einlud? Ob er ihr ein Kleid schenkte?
»Verzeihen Sie«, sagte der Herr. »Darf ich vielleicht einen Blick in Ihre Zeitung werfen?« Sie hatte das Blatt gerade fortgelegt.
»Bitte sehr!« sagte sie möglichst freundlich, sich über seine sächsische Aussprache amüsierend. Er war übrigens verheiratet.
Er nahm die Zeitung, blieb aber noch bei ihr stehen.
»Endlich wird es schönes Wetter! Jetzt kommt er, der Frühling.«
»Ja«, sagte sie und lachte ihm ins Gesicht. Also so wurde es gemacht? Es war nicht anders, als sie es aus ihren Kreisen kannte. Vielleicht gab es da überhaupt keine besonderen Unterschiede. Ach, hätte sie doch fürs erste einen ihrer Freunde zur Einführung hier gehabt! Herrn Bötticher oder den Kunstmaler Eisenstein! Aber vor denen mußte sie sich jetzt wohl hüten, da sie doch wahrscheinlich von der Polizei gesucht werden würde. Pah! machte sie. Sollte man sie erst einmal finden! Natürlich durfte sie nicht gerade einem der beiden Herren von gestern abend in die Finger laufen.
Der Herr fragte, was sie für den Tag vorhatte. Ob sie sich München ansehen wollte. Woher sie käme.
Sie käme aus – aus Erfurt, sagte sie auf gut Glück, und würde sich gern die Stadt ansehen.
Ob sie München kenne?
Nein, sie wäre zum erstenmal hier. Berlin kenne sie und Hamburg und Dresden und Leipzig, aber noch nicht München. Deshalb sei sie endlich hierhergefahren.
Der Herr erbot sich, sie mit München bekannt zu machen.
Sie nahm dankend an, aber am Nachmittag müßte sie abfahren.
Er müßte am Abend abfahren. Vielleicht schaffte man das Gepäck gleich auf die Bahn. Wenn man ein Auto zusammen nähme, käme es billiger. Ob sie zusammen zur Bahn fahren wollten?
Natürlich wollte sie. Man konnte das Gepäck an der Aufbewahrungsstelle abgeben. Und es war ihr auch lieb, das Hotel zu verlassen. Immerhin wußte Herr Bötticher, daß sie hier abgestiegen war. Wenn der sie auch nicht verraten würde, so konnte man doch nicht wissen. Vielleicht war man ihr schon auf der Spur. Eine plötzliche Unruhe befiel sie.
Der Herr stellte sich ihr als Direktor Goldschmidt vor. Er war Feuer und Flamme, für sie zu sorgen. Es war ihr lieb, denn dadurch lernte sie, wie es gemacht wird. Er forderte beim Portier die Rechnung, auch gleich für sie mit. Er ließ auch gleich ihr Gepäck herunterkommen. Wie gut, daß sie Hut und Mantel schon mitgenommen hatte. Der Portier winkte ein Auto heran, stand grüßend mit der Mütze in der Hand. Es fiel ihm nichts auf. Nein, es konnte ihm gar nichts auffallen.
Sie war noch ein wenig beklommen, wie sie neben dem fremden Herrn im Auto saß. Tröstete sich damit, daß ihm vielleicht noch viel beklommener zu Mute war. Er winkte einen Gepäckträger herbei. Ohne die schöne Begleitung hätte er seinen Koffer wahrscheinlich selbst zur Aufbewahrungsstelle gegeben. Er besorgte ihr alles und drückte ihr zum Schluß den Schein in die Hand. Auch Fahrkarten konnte man sich gleich besorgen. Wohin sie fahren wollte?
»Ich will nach Paris!« sagte sie mit plötzlichem Entschluß.
»Nach Paris?« fragte er ehrfürchtig.
»Ja, natürlich nach Paris. Kennen Sie es? Ich habe dort gute Bekannte. Auch Verwandte!« log sie, als sie seine Unkenntnis des Pariser Bodens merkte. »Aber vorläufig fahre ich nur bis Frankfurt.«
Ob sie sich schon einen Zug ausgesucht hätte.
Nein, das hätte sie noch nicht getan. Man führe wohl am besten nachmittags. Aber es ging erst abends ein D-Zug, und ein D-Zug mußte es sein.
»Ach, lassen wir's!« sagte sie plötzlich. »Ich kann es mir ja noch überlegen.«
Ihr fiel ein, daß auch dieser Herr nicht zu wissen brauchte, wohin sie fuhr. Vielleicht fuhr sie am Nachmittag dann nach Nürnberg oder sonst wohin. Man konnte ja auch nach dem Süden fahren, vielleicht nach Wien. Die Wiener sollten so nett sein. Jedenfalls nahm sie noch keine Karte. Herr Direktor Goldschmidt brauchte nun seinerseits plötzlich auch keine.
»Vielleicht bleibt man noch eine Nacht in dem schönen München, gelt?« fragte er, mit deutlichem Bemühen, in die Münchner Mundart zu fallen und seine Dame aufmunternd anzusehen.
Sie lachte. »Vielleicht bleibt man noch wirklich eine Nacht hier!« Seit sie ihr Gepäck am Bahnhof abgegeben hatte und die ganze Welt offen vor ihr dalag, war sie unternehmungslustig geworden. Ihr Zutrauen zu sich selber stieg. Sie mußte sich noch an die Hotels gewöhnen. Das fühlte sie. Im Augenblick drückte eine solche Institution noch auf ihre Nerven. Jetzt war sie wieder frei und lustig.
Herr Goldschmidt machte Programm. Die Sache schien ihm höchst aussichtsreich. Ein solches Abenteuer erlebte man nicht alle Tage. Er wurde nicht ganz klug aus seiner jungen Begleiterin. Offenbar war sie aus gutem Hause, dachte er beruhigt, den Verkehr mit Hochstaplerinnen und internationalen Diebesbanden scheuend. Aber sie schien noch unerfahren. Vielleicht hatte sie eine Erbschaft gemacht und reiste zum erstenmal in der Welt umher. Wer weiß, was sich noch alles herausstellen mochte.
Er schlug eine Fahrt durch den Englischen Garten vor. Dann wollte man bei Schleich zu Mittag essen. Dann im Luitpold-Café Kaffee trinken. Alles Weitere war dem Himmel anheimzustellen. Sie schlug sich gerade noch zur rechten Zeit auf den Mund, als es aus ihr herausplatzen wollte: »Da is' ja fad!« Sie durfte doch in dieser Stadt nichts kennen, mußte beim Chinesischen Turm in Erstaunen geraten, beim Monopteros fragen, was das wäre, und sich wundern, wenn man wieder in die Stadt zurückbog.
Herr Direktor Goldschmidt erklärte ihr alles. Sie amüsierte sich königlich dabei. »Dös, wenn er g'wußt hätt!« dachte sie immer wieder. Dabei hatte sie die schönste Zeit, ihn zu belauern, wie er sie in Stimmung zu versetzen und auf sie Eindruck zu machen versuchte. Er war ganz Kenner und Weltreisender.
Er begnügte sich nicht mit dem Englischen Garten, er mußte ihr auch die Frauenkirche und die Kauffingerstraße zeigen. Als sie über den Karlsplatz fuhren, begegnete ihnen Elma Diepenbroich. Sie schleppte sich gerade durch das Tor und trat, wie Margot, ihren Weg in die weite Welt an. So verschieden waren sie beide, und so verschieden war die Art, wie sie sich gerade von allen alten Verhältnissen gelöst hatten. Und doch standen sie beide unter dem Eindruck einer abenteuerlichen und ungewissen Zukunft und schwankten unter dem Wind eines neuen Schicksals.
Sie waren zu verschieden geartet, als daß sie sich hätten bemerken können. Nur, da Elma mitten auf der Straße stehenblieb, mußte der Kutscher des Wagens, in dem Margot saß, einmal »Holla!« rufen, ehe sie beiseitetrat. Die Augen der beiden Mädchen lagen einen Augenblick ineinander, aber sie sahen sich nicht, und schon hatte das Schicksal sie nach verschiedenen Richtungen auseinandergerissen.
Im Weinhaus Schleich rechnete Herr Goldschmidt nach, daß die romantische Bekanntschaft ein großes Loch in seine Spesen riß. Aber er ließ es sich nicht verdrießen, bestellte einen weißen Bordeaux, eine Hummermayonnaise als Vorgericht, ein Kalbssteak und Pfirsich-Melba als Nachtisch. Er überlegte, ob der Bordeaux ihn schon bis zum ersten Kuß tragen würde, aber es schien noch nicht so. Maria – sie hieß auch vor ihm Maria – hatte schon einen Schwips und nannte ihn Onkelchen. Herr Goldschmidt ließ das Wort Sekt fallen.
»Du, Onkelchen, wenn es jetzt noch Sekt gibt, dann kriegst du einen Kuß von mir!«
Da gab es Sekt, und als gerade niemand hinsah, drückte sie, augenschließend, einen Kuß auf seinen gespitzten Mund. Es war unglaublich komisch. Aber auch hier schon machte sie die Feststellung, daß ihr neuer Beruf sie letzten Endes jenseits allen Lebensgenusses stellte. Sie konnte und mußte sogar hemmungslose Ausgelassenheit markieren, aber etwas in ihr mußte dennoch ständig wach und auf der Lauer bleiben. Sie sah voraus, daß das immer so sein würde, und stellte mit einigem Erstaunen, aber durchaus sachlich fest, worin das Anstrengende und Pflichtgemäße ihres neuen Lebens lag. Eigentlich hätte sie sich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre, denn sie wußte ja, daß man nichts umsonst haben kann.
Sie bewunderte sich selbst wegen des vielen Unsinns, der ihr einfiel und den sie hinausschwatzte, um »Onkelchen« bei Laune zu halfen. Ihr lag zwar an seiner guten Laune nicht viel, aber sie wollte nun einmal ihre Waffen erproben. Mit einiger Befriedigung stellte sie fest, daß sie sich einiges zutrauen durfte.
Nach dem Pfirsich gab es einen Mokka. Herrn Direktor Goldschmidt gefiel es so gut hier, daß er das Aufbrechen hinauszögerte. Als er die Rechnung bezahlte, bekam er noch einen Kuß.
Wohin nun?
Sie wollte irgendwohin ins Freie, da es nun doch einmal Frühling geworden war. Sie gingen untergefaßt zu den Arkaden und ließen sich in einer Konditorei nieder. Es war schon spät. An der Ecke riefen Zeitungsverkäufer das Abendblatt aus.
»Was ruft der da immer? Wer ist ermordet worden?«
Herr Goldschmidt kaufte ein Exemplar. »Die Ermordung des Hauptmanns Werneuchen!« schrie der Verkäufer ihm ins Ohr.
Wo hatte er doch den Namen Werneuchen schon gehört? War das nicht jener Mann aus Regensburg, mit dem er wegen der Stellung verhandelte?
Margot schlug das Blatt auf und las die Sperrzeilen. Natürlich mußte es heute in der Zeitung stehen! fiel ihr ein. Da stand die Verhaftung ihres Chefs. So hatten sie ihn also glücklich bei seiner Mutter erwischt. Na, die alte Dame würde einen Schrecken bekommen haben! Auf einmal mußte sie laut loslachen. Hier war ihr Name genannt. Das war nun freilich nicht sehr erfreulich. Gewiß würde sie nun steckbrieflich verfolgt werden. Aber das Komische war, daß dicht daneben Herr Direktor Goldschmidt aufgeführt war. Wenige Zeilen getrennt prangten ihre beiden Namen in der Zeitung, und sie selbst saßen nun ebenfalls hier in fröhlichem Verein. Das war zum Totlachen.
»Hier! Da! Lies, Onkelchen! Du stehst in der Zeitung!«
Er hatte schon die Nachrichten überflogen. Ja, um's Himmels willen, was war denn das? Er hatte im »Grünen Baum« mit Werneuchen zusammengesessen. Dann war er in sein Zimmer gegangen und hatte sich schlafen gelegt. Am nächsten Abend sollte dieser Werneuchen an der Bahn sein. Er war aber nicht gekommen. Er hatte auch morgens dem Kollegen Erkner nicht den Brief an den Zug gebracht. Sie hatten nachher in Hamburg noch über den unzuverlässigen Kerl geschimpft, den sie beinahe engagiert hätten. Und nun war er ermordet worden. Kein Zweifel! Da stand es in der Zeitung. Werneuchen war aus dem »Grünen Baum« herausgegangen und war dann ermordet worden. Und ihn, den Direktor Goldschmidt der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft, ihn suchte man. Man nahm sogar an, daß er gar nicht Goldschmidt hieß, sondern einer Mörderbande angehörte.
»Nun sagen Sie, gutestes Fräulein! Ist Ihnen schon mal so was vorgekommen!«
Margot aber schüttelte sich vor Lachen. Das war ja köstlich! Sie und der Direktor Goldschmidt, der Werneuchen ermordet haben sollte, saßen hier zusammen unter den Arkaden, und ihr armer Chef war eingesteckt worden.
»Aber nun hören Sie doch mal zu!« Er erzählte ihr den ganzen Vorgang. Sie mußte die Zeitungsnachrichten zweimal durchlesen, bis sie den Zusammenhang begriffen hatte. Dann war ihr alles klar. Herr Berdelow stand im Verdacht der Anstiftung zum Morde, und ihre, Margot Liedtkes, Flucht war es, was diesem Verdacht die eigentümliche Stütze gab. Der arme Herr Berdelow! Und er hatte ihr noch einen Heiratsantrag gemacht!
Herr Direktor Goldschmidt schnaubte entrüstet.
»Da gehe ich sofort auf die Polizei! Das kann ich nicht auf mir sitzenlassen! Wenn das meiner Firma bekannt wird! Ich will denen sagen, wer ich bin! Hören Sie, werde ich sagen!«
»Onkelchen, Sie gehen auf die Polizei?«
»Aber sofort, meine Guteste! Ich bezahle jetzt und gehe los!«
Dann bedachte er, daß damit das reizende Abenteuer ein Ende hatte. Er sah sie fragend an.
»Und Sie?«
»Ich gehe nicht auf die Polizei!« sagte sie und fand es furchtbar komisch, das zu sagen.
Auf einmal fiel ihr ein, wie sie ihrem Chef in seinen Nöten zu Hilfe kommen konnte. Sie bestellte beim Kellner Briefpapier.
»Onkelchen, wir sehen uns doch nachher wieder, nicht wahr?«
»Gewiß doch, Kleine!«
»Ich werde Ihnen hier einen Brief schreiben. Ich schreibe Ihnen ganz genau auf, wo und wann wir uns wiedersehen. Sie aber schwören, daß Sie den Brief nicht vor – na sagen wir – nicht vor fünf Uhr aufmachen!« Es war zehn Minuten vor fünf.
Er schwor es.
Sie schrieb eine, zwei, drei Seiten voll in fliegender Eile. Er brannte vor Neugierde, was sie ihm schreiben konnte. Es war ein richtiges Abenteuer!
Endlich hatte sie den Brief fertig, klebte ihn zu und übergab ihn. Er steckte ihn in seine Tasche.
»Nun kommen Sie!« sagte er und wollte aufstehen.
»Wir gehen doch noch ein Stück zusammen, Onkelchen? Warten Sie einen Augenblick! Ich muß mir noch die Hände waschen.«
Sie ging in das Café hinein und betrat auf der anderen Seite die Ludwigstraße. Da sie in der Zeitung stand, paßte man wohl schon am Bahnhof auf sie auf. Wenn sie ihren Koffer wieder haben wollte, fuhr sie am besten mit einem Auto nach Pasing und von dort mit der Vorortbahn wieder herein. Dann holte sie den Koffer ab. Niemand würde sie aufhalten, da sie ja von der anderen Seite kam. Dann mit dem Auto nach Starnberg, und von dort nach Garmisch. Garmisch sollte ein eleganter Badeort sein. Dort konnte sie in einem vornehmen Hotel absteigen. Sie kannte sich jetzt aus. Herr Direktor Goldschmidt war ihre hohe Schule gewesen.
Sie winkte ein Auto herbei.
Indessen saß der Direktor noch immer an seinem Tischchen und wartete. Es dauerte fünf Minuten, und sie war nicht gekommen. Braucht die lange! dachte er und stieß nervös mit dem Stock auf den Boden. Es vergingen noch fünf Minuten. Von den Türmen hallten Glockenschläge hernieder. Es war fünf Uhr.
»Herrgott! Um fünf sollte ich doch ihren Brief aufmachen! Die verdammte Kröte ist fortgegangen! Aber vielleicht hat sie geschrieben, wo ich sie wieder treffe!«
Er riß den Brief auf. Was schrieb sie da? Er mußte noch einmal mit dem Lesen anfangen, ihm schwammen die Buchstaben vor den Augen.
»Sehr geehrter Herr Goldschmidt! Ich bin Margot Liedtke, die Sekretärin des verhafteten Herrn Berdelow, und es ist herrlich, daß wir beide zusammen in der Zeitung stehen. Wenn Sie auf die Polizei gehen, sagen Sie doch dort bitte ...«
Er ließ den Brief niedersinken. »So eine verdammte Kröte!«