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Viertes Kapitel

Außer Kamp wußte niemand darum, daß Elma Diepenbroich mit Werneuchen verlobt war, selbst Elmas Eltern sahen in Werneuchen nur einen flüchtigen Bekannten ihrer Tochter.

Ernst Alexander war vielleicht übertrieben vorsichtig. Sein Scheidungsprozeß war noch nicht beendet. Er rechnete damit, daß Gerda ihn überwachen ließ und Elma vor Gericht zog, wenn ihr von dem Verhältnis etwas bekannt wurde. Durch eine solche Anzeige konnte die Entscheidung immerhin zu seinem Nachteil beeinflußt werden. Er vermied es, Elmas Eltern zu besuchen. Die beiden trafen sich fast nur außerhalb des Hauses. Manchmal, wenn Kamp, der oft bei Diepenbroichs zu Gast war, dort an einer Gesellschaft teilnahm, flüsterte er Elma zu, daß ihr Verlobter unten auf sie warte, und das junge Mädchen ging die drei Treppen hinunter, um Werneuchen im Torbogen des Nebenhauses zu treffen. Ein anderes Mal ließ sich Werneuchen einladen, sprach mit Elma nur das Notwendigste, um kein Aufsehen zu erregen, und war um so lebhafter im Gespräch mit Elmas Freundinnen.

Ernst Alexander litt unter dieser Heimlichkeit.

»Sehen Sie,« sagte er einmal zu Kamp, »auch darin merke ich, wie mein ganzes Leben unter mir abbröckelt. Durch diese Heimlichtuerei kommt etwas Lasterhaftes in mein Dasein. Es ist schon fast so, als ob ich nur in Spelunken verkehrte und nur des Nachts auszugehen wagte.«

Er dachte bei diesen Worten sicher an ein Gespräch, das die Freunde vor kurzem gehabt hatten. Es war, als Werneuchen wieder einmal mit dem Gedanken seiner Ermordung spielte, die Rede davon gewesen, daß nur Personen ermordet würden, die augenscheinlich dafür ausersehen wären: alte Damen, die ängstlich in ihrem Bett zweihundert Mark versteckt hielten. Greise, die mit lüsternen Neigungen auf verrufenen Tanzböden verkehrten. Menschen, die irgendwie aus der Art geschlagen wären und dem Laster, einem vielleicht niemals offenbar werdenden Laster, schon die Hand gereicht hätten. Es müsse immer schon eine Verbindung vorhanden sein zwischen dem Opfer und der Welt, die mordet.

Kamp hatte diese Theorie mit Leidenschaft verfochten, um Werneuchen von seinen Ahnungen abzubringen. Ernst Alexander hatte darauf nur leise mit dem Kopf genickt, als wollte er sagen: »Das findet sich dann schon.« Ganz sicher dachte Werneuchen an dieses, seither öfter wiederholte Gespräch, wenn er von seinen Heimlichkeiten mit Elma sprach.

»Ich bin doch auch mit Gerda heimlich verlobt gewesen, als ich nach meiner ersten Verwundung aus dem Felde nach Hause kam«, sagte er. »Wir hatten unsere heimlichen Stelldicheins in den Hinterzimmern einer Konditorei, machten einsame Spaziergänge auf Kirchhöfen oder nachts zwischen Schrebergärten und unterhielten einen postlagernden Briefwechsel. Aber es war damals doch ganz anders. Ich war Offizier, und jeden Augenblick konnten wir als Verlobte hervortreten und uns heiraten. Jetzt berührt sich alles, was ich tue, mit Gericht, Polizei und Detektiven. Glauben Sie nur, das ist nicht gut!«

Auch auf Elma hatte seine düstere Grundstimmung bereits abgefärbt. Es war seit einigen Wochen deutlich zu merken. Noch vor kurzem war sie ein frisches, ja übermütiges Mädel gewesen, und sicher hatte ein Hang zum Abenteuerlichen bei ihr mitgespielt, als sie Werneuchens Annäherung gestattete. Gerade das Schwankende seiner Existenz hatte sie angezogen. Zu der Zeit, als er sie kennenlernte, wurde der Prozeß in den schärfsten Formen geführt. Es war wirklich zu einem Ringen auf Leben und Tod zwischen den beiden Menschen gekommen, die sich doch einmal geliebt hatten.

Man spricht über ganz persönliche und intime Angelegenheiten selten mit Bekannten, eher geschieht es, daß man sich einem gänzlich Fremden mitteilt. So hatte Werneuchen seine traurige Geschichte Fräulein Diepenbroich erzählt, als er sie in jener Zeit einmal aus einer Gesellschaft nach Hause begleitete. Es standen einige wichtige und dramatische Gerichtstermine bevor, und gerade damals fühlte sich Werneuchen überall von Spähern und Mördern umgeben. Er sprach es manchmal offen aus, daß Gerda ihn ermorden lassen wolle. Elma, die sich an Ernst Alexander vom ersten Augenblick an mit heißer Zuneigung anschloß, kam in eine regelrechte Tragödie hinein, die sie ungemein reizvoll fand. Nach jedem Termin trafen sich die beiden in der Torggelstube, und Werneuchen mußte ihr ganz genau den Verlauf der Sitzung schildern. Mit ihr besprach er alle Schriftsätze und Briefe, die er in dieser Angelegenheit schrieb. Sie teilte seinen Haß gegen Gerda und nahm leidenschaftlich für ihn Partei. Zwischen ihr und Kamp gab es oft Auseinandersetzungen über dieses Thema. Erst in der letzten Zeit gewann der junge Student den Eindruck, daß sie über Gerdas Verhalten ruhiger zu denken begann. Daß allerdings Gerda jemals den Versuch machen könnte, ihren einstigen Mann zu beseitigen, hatte sie von Anfang an für ein törichtes Hirngespinst Ernst Alexanders gehalten.

Werneuchen aber ließ es sich nicht ausreden. »Was wollt ihr?« sagte er, wenn die Rede darauf kam. »Kennt ihr Gerda? Ich aber kenne sie. Diese kalte, herzlose Person hat nur für einen einzigen Menschen ein echtes Gefühl, und zwar Angst – vor ihrem Vater. Die Angst vor ihrem Vater bestimmt alle ihre Handlungen. Mit allen Mitteln wird sie es zu verhindern suchen, daß ihr Vater von ihren Ehrlosigkeiten etwas erfährt. Wenn ich vor dem Ausgang des Prozesses sterbe, ist sie gerettet. Sie steht unbescholten da, behält die Kinder und spielt die Rolle der traurigen Witwe. Oh, sie wird diese Rolle herrlich spielen!«

Diese Ansicht war bei ihm weder durch Elma noch durch Kamp zu erschüttern. Anfangs setzte das junge Mädchen den Ausbrüchen seiner gehässigen Verzweiflung ihre strahlende Laune entgegen, aber seit einigen Wochen war sie selbst ernst und verschlossen geworden. Sogar ihren Eltern fiel es auf, und sie sprachen in ihrer Besorgnis mit Otmar darüber. Dem Studenten war nun freilich die Zunge gebunden, und er mußte schweigen, wo er den Eltern Aufklärung hätte geben können. Wirklich war Elma um ihre Verlobung nicht zu beneiden. Je länger sich der Prozeß mit seinem ungewissen Ende hinzog und je mehr sich Werneuchens wirtschaftliche Lage verschlimmerte, desto qualvoller mußte ihr Zustand werden. Kamp bedauerte sie.

An alles dieses dachte der junge Student, als er, nach dem Fortgehen des unheimlichen Besuchers, in dem dunklen Haus am Fenster stand. Natürlich wollte er sofort Fräulein Diepenbroich anrufen und sie von der seltsamen Nachricht aus Regensburg in Kenntnis setzen. Aber er wagte es erst, als vom Bahnhof her der Pfiff der Lokomotive herübertönte und ihm die Gewißheit gab, daß der »Direktor« abgefahren war. Als er in der Ferne das Rollen des Zuges hörte, machte er Licht und ging an den Apparat.

Elma war daheim, an der Art ihres Sprechens konnte er aber erkennen, daß einer ihrer Angehörigen im Zimmer war. So verabredete er sich nur kurz mit ihr für den nächsten Vormittag in eine Münchener Konditorei, wo er ihr alles Nähere mitteilen würde.

Als er tags darauf die Konditorei betrat, war Elma noch nicht erschienen. Da sie bei ihren Eltern wohnte und oft zurückgehalten wurde, war er es bereits von ihr gewöhnt, daß sie unpünktlich kam. Während er sich in eine Ecke setzte und Zeitungen las, hatte er ständig das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl er auch auf dem Wege vom Bahnhof des unheimlichen Menschen von gestern nirgends ansichtig geworden war. Der Besuch hatte ihn nervös gemacht. Im Ernst aber dachte er nicht eigentlich daran, daß etwas Schlimmes geschehen sein könnte.

Eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit kam Elma. Kamp gab ihr Werneuchens Brief. Während er sie beim Lesen beobachtete, kam ihm wieder zum Bewußtsein, wie entzückend sie war. Jedesmal, wenn er sie einige Zeit nicht gesehen hatte, erstaunte er von neuem darüber. Man hätte sie für achtzehn halten können, während sie bereits zweiundzwanzig Jahre alt war. Ihrem klargeschnittenen Gesicht merkte man die norddeutsche Abstammung an. Von der italienischen Mutter hatte sie nur das dunkle Haar und die großen, übrigens blauen Augen. Werneuchen hatte Glück, daß er dieses wundervolle Mädchen gefunden hatte, trotz seines unscheinbaren Aussehens und obwohl seine äußeren Verhältnisse nichts Verlockendes haben konnten.

Elma las den Brief zu Ende. »Da hat er wieder einmal Angst gehabt, daß ihm die Stellung entgeht«, sagte sie. »Ich stelle es mir so deutlich vor, wie er mit dem Direktor im Restaurant zusammensitzt und nun gleich alles festmachen will. Ihn gar nicht mehr losläßt, gleich nach Hamburg mitfährt und ihnen mit seiner Kaution die größten Umstände macht.«

»Ist das nicht alles ein wenig merkwürdig?« fragte Kamp. »Zunächst soll er nach Regensburg kommen, um abzuschließen. Dann schließt man nicht ab, macht ihm aber anscheinend weiter Hoffnung. Wozu war dann die ganze Reise, besonders da der eine Direktor nun doch noch nach München kam?«

Elma meinte hingegen, der Direktor habe eben keine Vollmacht gehabt, sondern sich den Bewerber nur ansehen sollen. Dieser Direktor Goldschmidt hätte wohl Ernst Alexander selbst geraten, gleich die Kaution zu besorgen und nach Hamburg mitzukommen. Im übrigen hegte sie keine Befürchtungen. Über Kamps Schilderung des unheimlichen Besuchs lachte sie.

»Da mußte der arme Kerl über zwei Stunden warten und im Zimmer sitzen, und dann sollte er noch besonders nett sein. Hoffentlich hat sich Ernst Alexander nicht durch seinen übertriebenen Eifer die ganze Sache verdorben. Diesmal scheint es doch aber etwas zu werden.«

»Haben Sie gar keinen Zweifel?« fragte Kamp.

Sie sah ihn plötzlich angstvoll an. »Zweifel? O Gott, ja! Aber ich darf ja nicht zweifeln. Ich muß mich doch an diese Sache anklammern. Es muß doch endlich etwas werden! Dies ist doch unsere letzte Hoffnung!« Nach einer Weile setzte sie wie für sich hinzu: »Ich würde ja wahnsinnig, wenn es diesmal wieder nichts wäre!«

Kamp sah sie erstaunt an. Er wagte nicht, ihrem überraschenden Ausruf den Sinn zu unterschieben, der ihm im Augenblick durch den Kopf ging. »Steht es so mit ihr?« dachte er, verbot sich aber alle Schlüsse. Sie hatte gesehen, daß er stutzte und wurde brennend rot.

»Er muß doch endlich Geld verdienen!« sagte sie zur Erklärung. Im übrigen war sie der Ansicht, daß man diesem Herrn Erkner, oder wie er heißen mochte, das Geld geben müsse. Wenn Ernst Alexander es schriebe, hätte natürlich kein Mensch das Recht, sich dem zu widersetzen. Nur eine Quittung sollte Kamp sich geben lassen.

Der Student schrieb die Quittung gleich in einem Blatt seines Notizbuches aus. Der »Direktor« brauchte dann nur zu unterschreiben. Da es allmählich Zeit wurde, brach Kamp auf. Auf einmal äußerte Elma den Wunsch, diesen Herrn Erkner zu sehen. Vielleicht, fuhr es ihr durch den Sinn, daß sie ihn sprechen und von ihm Näheres über die Anstellung ihres Verlobten erfahren würde. Sie beschlossen, daß Kamp vorausgehen sollte, Elma wollte langsam nachkommen und die beiden um ein Uhr vor der Bank beobachten. Alles Weitere würde sich finden.

Auf der Bank erhielt Kamp gegen den Scheck ohne Schwierigkeiten die fünftausend Mark. Als er auf den Promenadenplatz hinaustrat, war es einige Minuten vor eins. Erkner war nirgends zu sehen, obwohl der Student den Platz und die Menschen, die vorübergingen, bei dem hellen Vormittagslicht weithin überschaute. Auf der anderen Seite sah er Elma, wie sie langsam am Bayrischen Hof vorüberschlenderte, lange vor einem Buchladen stehen blieb und sich dann allmählich näherte. Jetzt ging sie quer über den Platz, gerade auf Kamp zu, und setzte sich auf eine Bank, als ob sie die erste Frühlingssonne in aller Gemütsruhe auskosten wollte. Es war der erste warme Tag in diesem Frühjahr. Kamp beobachtete ihren Gang und dachte an die Befürchtungen, die bei ihrem plötzlichen Ausbruch im Café in ihm aufgestiegen waren. Er konnte kein klares Urteil gewinnen. Elma war wohl von Hause aus gewohnt, sich zusammenzunehmen.

Kamp ging langsam auf und ab und wußte nicht, was er von dem Fernbleiben Erkners halten sollte. Es waren schon zehn Minuten über eins. Hatte die Summe keine Wichtigkeit für den Mann, daß er es ruhig darauf ankommen ließ, den Geldgeber zu verfehlen? Es war doch immerhin möglich, daß er ihn dann überhaupt nicht mehr fand. Oder hatte er eine Depesche erhalten, daß man mit Werneuchen überhaupt nicht abschließen wollte? Vielleicht war Ernst Alexander schon unverrichteter Dinge nach Hause gekommen und lief draußen verzweifelt umher, weil nun auch diese letzte, so aussichtsvoll begonnene Sache sich zerschlagen hatte?

Kamp beschloß, bis halbzwei, aber nicht eine Minute länger zu warten. Er sah, daß Elma Werneuchens Brief vorgenommen hatte und in ihm las. Sie mochte dieselben Befürchtungen hegen wie er und suchte in dem Brief nach Untertönen, aus denen sie etwas herauslesen konnte.

Als es von der nahen Frauenkirche halbzwei schlug, gab er das Warten auf und ging zu ihr.

»Er ist nicht gekommen.«

Elma war sehr aufgeregt. »Da muß etwas geschehen sein!« Sie hatte aus dem Briefe herausgefunden, daß die Sache doch nicht so sicher war, wie Ernst Alexander es darstellte. Kamp beschloß, sie zu Fuß nach Hause zu begleiten und dann gleich zurückzufahren. Vielleicht hatte der Fremde nur keine Zeit gehabt und suchte den Studenten am Nachmittag in der Villa auf. Eigentlich dachte Kamp mit Schrecken daran, mit dem unheimlichen Menschen wieder allein in einem Zimmer zu sein.

Während sie nebeneinander hergingen, unterhielten sie sich darüber, was das Ausbleiben Erkners zu bedeuten haben konnte. Sie dachten dabei weit weniger an ein Unglück, als daß Werneuchen nun auch diese Stelle nicht bekommen würde. Nur, um sie von dieser Befürchtung abzubringen, tischte Kamp sein Schauermärchen von dem unheimlichen Unbekannten wieder auf und erreichte wirklich, daß Elma ihn aufzuziehen begann.

»Sie mit Ihrem Totschläger!« sagte sie.

»Erlauben Sie!« führte er weiter aus, »vielleicht sind sie ihm schon auf der Spur, und er hat flüchten müssen ohne die fünftausend Mark. Vielleicht ist er aber auch nur vorsichtig und fürchtete vor dem Bankhaus eine Falle. Wenn er wirklich ein Verbrecher ist, hat er uns schon in der Konditorei beobachtet, folgt uns jetzt von fern und wird an einer stillen Straße auftauchen, um uns das Geld abzunehmen.«

Aber sie hörte gar nicht mehr zu. »Nein!« sagte sie auf einmal und bog in ihre alten Gedankengänge wieder ein. »Er hat die Stelle nicht bekommen! Es ist aus seinem Brief ganz klar zu ersehen, daß die Sache durchaus unsicher ist, und wenn erst etwas unsicher ist, wird es bei Ernst Alexander nie etwas. Der Mann wird ihn mit einigen Höflichkeitsphrasen vertröstet haben, die Werneuchen in seiner Angst sich zu günstig auslegte, oder vielmehr auszulegen sich bemühte. Mein Gott, er will eben nicht daran glauben, daß es auch diesmal wieder nichts ist. Er hoffte vielleicht, er würde es doch noch schaffen, wenn er seine Kaution sofort bar auf den Tisch legt und nach Hamburg mitfährt. Gewiß hat er sich mit aller Gewalt an den Direktor geklammert. Es hängt ja auch so unendlich viel davon ab. Sie ahnen ja gar nicht, was alles davon abhängt!«

Da war es wieder! Kamp bemerkte, wie sie mit Tränen kämpfte. Wieder stiegen in ihm allerhand Befürchtungen auf. Wie konnte sie ihm, mit dem Werneuchen fast alles besprach, sagen, daß er keine Ahnung von der Schwere der Folgen hatte? Da mußte noch etwas mitspielen, wovon er nichts wußte.

»Wissen Sie überhaupt,« fuhr sie, immer mit Tränen kämpfend, fort, »was das für ein Elend heute ist? Alle Stellen sind besetzt. Überall werden die Leute abgebaut. Es ist geradezu ein Wunder, wenn man noch irgendwo unterkommt. Und noch dazu ein ehemaliger Offizier!«

Werneuchen hatte wirklich besonderes Pech. Andere Offiziere hatten inzwischen längst etwas gelernt und einen Beruf ergriffen. Er aber war ja wohlhabend gewesen. Das war sein Unglück. Als sein Vermögen verlorenging, hatte er sich in allen möglichen Versuchen verzettelt, weil er es für zu spät hielt, noch einmal von Grund auf anzufangen.

Übrigens hatte er doch schon einmal einen kaufmännischen Posten bekleidet. Es war eine Art Vertrauensstellung bei einer Exportfirma Berdelow & Hahn gewesen. Damals hatte er noch große Ideale. Er wollte seinen Chef zwingen, die Fabrik in einem arbeiterfreundlichen Sinne und unter dem Gesichtspunkt einer von ihm erträumten deutschen Volkswirtschaft zu leiten. Solche Ideale lagen damals zu Dutzenden in der Luft. Natürlich war es in wenigen Wochen zu einer Auseinandersetzung gekommen. Er hatte Herrn Berdelow vor dem gesamten Kontorpersonal »furchtbare Anklagen« ins Gesicht geschleudert, daß er den Staat und die Arbeiter betrüge, und war fristlos entlassen worden. Dabei unterschieden sich Berdelows geschäftliche Grundsätze, wie Werneuchen später selbst zugab, in nichts von den durchaus üblichen Normen. Die Entlassung nahm er nicht tragisch, da er ja damals noch Geld hatte.

Das war seine ganze kaufmännische Laufbahn. Viel ließ sich damit nicht anfangen. Wenn er in Regensburg unvorsichtig von seinem Zusammenstoß mit Herrn Berdelow erzählt hatte, konnte es sehr wohl sein, daß sich die Anstellung daran, vielleicht auch durch eine Erkundigung bei Berdelow & Hahn, im letzten Augenblick zerschlug.

Kamp fragte Elma nach einer solchen Möglichkeit. Aber sie sah darin keine Gefahr. Ernst Alexander hatte, wie sie von ihm wußte, noch vor wenigen Wochen Herrn Berdelow aufgesucht und ihn um Entschuldigung gebeten. Der Fabrikant wäre ausnehmend liebenswürdig gewesen und hätte, Werneuchens sonstige Befähigung anerkennend, fest versprochen, eine gute Auskunft zu erteilen, falls man sich an ihn wenden sollte.

Werneuchen war also zu Kreuz gekrochen und hatte sich vor dem einstigen Chef gedemütigt! Was blieb ihm auch anderes übrig? Irgendeine kaufmännische Empfehlung mußte er schließlich haben, wenn er sich um eine Stellung bemühte. Kamp konnte es dem Freunde nachfühlen, wie peinlich ihm dieser Gang gewesen sein mochte, mußte aber doch bei der Vorstellung lächeln, daß Werneuchen ihm so gar nichts davon erzählt hatte. Wahrscheinlich, weil er sich schämte.

Was war das überhaupt für eine furchtbare Zeit! Da trieben sich die Arbeitsuchenden zu Zehntausenden in allen Berufen umher. Wenn irgendwo eine Stellung ausgeschrieben war, ging es wie ein Ruck durch die ganze Welt dieser Elenden. Viele, viele hundert Menschen geraten in Bewegung, werden emsig wie die Ameisen, schreiben Briefe und Lebensläufe, machen Bittgänge, betteln um Referenzen, und das alles, damit ein einziger unter ihnen eine magere Brotstelle erhascht. Kamp pries seine Lage, die ihn in so furchtbarer Zeit noch Student und von einem wohlhabenden Vater reichlich ausgestattet sein ließ. Soviel hatte er durch seinen Verkehr mit Werneuchen jedenfalls kennengelernt, daß ihn der Gedanke an einen freien Beruf geradezu entsetzte. Er nahm sich vor, möglichst rasch sein Examen zu machen, um in einer sicheren Laufbahn unterzukommen. Er konnte es so gut verstehen, wenn Werneuchen von Grauen gepackt war bei dem Gedanken, daß er, ganz allein auf sich angewiesen, diesen unendlichen Ozean des Lebens durchschwimmen sollte.

Das waren die Dinge, die sie auf ihrem Gang besprachen. Wie Kamp das schöne Mädchen, dessen Züge nun schon leidgezeichnet waren, neben sich hergehen sah, fragte er sich zum ersten Male, ob Elma ihre Verbindung mit Werneuchen nicht schon längst bereute. Liebte sie ihn so, daß sie gern alle diese Sorgen auf sich nahm, nur um mit ihm ewig zusammenzuleben? Es trieb ihn geradezu, eine solche Frage an sie zu richten. Gleichwohl hielt er an sich, aus Furcht, durch eine Andeutung in dieser Richtung sein Verhältnis zu Elma wie zu Werneuchen zerstören zu können.

Sie waren inzwischen von der Leopoldstraße links abgebogen und schritten eben über den Elisabethplatz durch die hölzernen Verkaufsbuden, als Direktor Erkner plötzlich auf sie zutrat. Elma wußte sofort, daß er es war.

»Haben Sie das Geld?« fragte er Kamp, ohne seine Verspätung oder sein plötzliches Auffauchen mit einem Wort zu erklären. Von Elma nahm er nicht die geringste Notiz. Das junge Mädchen war ein wenig zur Seite getreten und beobachtete den Mann mit halbgeschlossenen Augen, wie sie es tat, wenn sie sich etwas genau einprägen wollte.

»Ist das seine Braut?« fragte Erkner unvermittelt.

»Eine Freundin oder gute Bekannte«, entgegnete Kamp.

»Hübsches Mädel!«

Es war Kamp in diesem Augenblick nicht nur unheimlich, sondern ganz und gar widerlich, wie der Mann unverhüllt nach Werneuchens Freundin hinübersah und sie mit seinen schwarzen Augen geradezu verschlang. Lebensart hatte er jedenfalls nicht und legte nicht einmal Wert darauf, sie vorzutäuschen.

Kamp zog die Geldscheine aus der Tasche und zählte sie ihm vor. Erkner sah genau auf das kleine Paket. Kamp schien es, als ob er mit gierigem Ausdruck darauf hinstarrte. Oder bildete er sich das alles nur ein?

»Wollen Sie bitte diese Quittung unterschreiben?«

Er reichte dem Fremden das Blatt und einen Tintenstift. Erkner zögerte einen Augenblick, nahm den Stift ungeschickt in die Rechte und malte mit ungelenken Buchstaben seinen Namen hin. Kamp reichte ihm das Geld, war aber im Augenblick unentschlossen, ob er nicht den in der Nähe stehenden Schutzmann herbeirufen sollte. So völlig ausgeschlossen schien es ihm, daß dieser Mensch, der so schwerfällig seinen eigenen Namen schrieb, ein kaufmännischer Direktor sein konnte. Und doch – es ist seltsam, wie die Gedanken manchmal in die Quere gehen – hielt ihn gerade die Nähe des Schutzmanns ab, etwas Derartiges zu unternehmen. Sollte der Kerl wirklich die Frechheit haben, uns unter den Augen des Polizisten anzusprechen? dachte er und versuchte sich zu beruhigen. Dabei war er seiner Beobachtungen während der ganzen Zeit nicht sicher. Wenn das alles so ist, wie ich es sehe, überlegte er sich, dann müßte Elma mit einem Schrei vor diesem Menschen zurückweichen. Er sah nach ihr herüber, sie aber stand ganz ruhig da und beobachtete die Szene. Sie schien keinen Blick für das Unheimliche dieses Menschen zu haben.

Im Gegenteil, sie sprach ihn sogar an. Natürlich wollte sie Näheres über Werneuchens Anstellung erfahren.

»Ist Herr Werneuchen nun bei Ihnen angestellt?« fragte sie wie leichthin.

Erkner überließ sich eine ganze Weile dem Genuß ihres Anblicks, ehe er antwortete. Zum erstenmal fiel es Kamp auf, daß er in einem gemeinen Berliner Straßenjargon sprach.

»Wissen Sie, Fräulein, mit dieser Anstellungsgeschichte habe ich nichts zu tun. Ich erledige das andere, wissen Sie, das andere!« Er ließ offen, was »das andere« sein konnte.

Elma fragte weiter, ob Herr Werneuchen lange in Hamburg bleiben würde.

»Wissen Sie, wenn man erst mal in Hamburg ist –« sagte er, drehte sich um, griff mit der Hand flüchtig an die Krempe des steifen Filzhutes und ging davon, die Barerstraße hinauf.

Kamp schüttelte den Kopf. Dieser Mann hatte den Gang eines Arbeiters, der mit schweren Lasten umgeht. Daß Elma das alles nicht sah! Kamp stand wie vor einem Rätsel. Elma sah nicht, daß dieser Mensch nur ein Betrüger oder ein Raubmörder sein konnte. Oder bildete er sich das alles nur ein? War wirklich etwas von Werneuchens ewigen Befürchtungen in ihm zurückgeblieben? Noch immer kämpfte er mit dem Gedanken, den Schutzmann, der einige Schritte weiter ruhig auf und ab ging, anzurufen.

Elma sah dem »Direktor« ebenfalls eine Weile nach. Dann sagte sie: »Ein hübscher Mensch!«

Kamp war wie vor den Kopf geschlagen. Er fand den Kerl gräßlich, gemein, widerwärtig und konnte es sich nicht anders vorstellen, als daß jedermann ihn ebenso finden mußte. Und nun fand Elma ihn einfach »hübsch«. Natürlich war er »hübsch«. Kamp sah es eigentlich erst in diesem Augenblick. Hübsch und von dem bestrickenden Zauber eines gefährlichen Tieres. Aber der ganze Eindruck, der rohe Ausdruck, die gewöhnliche Sprache, der Gang hatten etwas Beklemmendes.

»Wie können Sie!« sagte er entsetzt und zeigte ihr zur Bekräftigung die Unterschrift auf der Quittung. Sie lächelte nur. Männer sähen das nicht so. Natürlich wäre dieser Mensch kein »Herr« und auch kein »Direktor«. Hübsch wäre er aber doch.

Dennoch hatte die Begegnung mit Erkner sie seltsam erregt. Kamp merkte trotz ihrer Versicherung, daß etwas Unheimliches sie angerührt hatte, nur daß es ihr vielleicht selbst nicht bewußt wurde. Plötzlich sank sie wieder in sich zusammen.

»Von der Anstellung wußte er auch nichts! Oder meinen Sie, daß er nur nichts sagen durfte?«

Kamp beruhigte sie. Da man nun das Geld genommen habe, müßte man Werneuchen doch auch die Stelle geben.

»Ach, wer weiß, wie das alles zusammenhängt!« sagte sie traurig.

Sie waren an der Ecke der Agnesstraße angelangt und verabschiedeten sich voneinander.


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