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Auf ganz einfache Weise kam es. Volle sechs Monate hatten meine Heimwehferien in der Schweiz gedauert. Aber als diese sechs Monate vorbei waren, zog es mich eben doch wieder nach Rußland zurück. Ich hatte im Sinne gehabt, nach Sibirien zu gehen; nicht ins allerfernste, endlose, bloß hinter den Ural, nach Jekaterinenburg. Jedoch im letzten Augenblick zerschellten meine Pläne an einem Lebensriffchen, einem ganz kleinen bloß; aber das Boot mit den Erwartungen ging doch in die Tiefe. So verreiste ich denn vorläufig nach Odessa, für das ich nie viel Sympathie gehegt, in dem aber meine urlieben Freunde wohnten und lebten, die Familie Tatarinoff. Eines Tages, kurz nach Neujahr, stand ich also wieder in dem trautfreundlichen und eleganten Arbeitskabinett Herrn Tatarinoffs und ärgerte mich, wie auch früher immer über die Gipsbüste Voltaires, die oben auf einem der Bücherregale stand und einem gleich beim Eintritt ihr hämisches Skelettlächeln entgegenlächelte.
Ich sagte, ich liebe Odessa nicht, das prätentiöse, marktschreierische, buntlaute, das sich so pompös mit den beiden Worten »International« und »Kultur« in die Brust zu werfen pflegt. Es bildet sich weiß Gott wie viel ein auf seine einzige guterleuchtete und gutgepflasterte Straße, die Deribasstraße, und glaubt, mit ihr sei nun das Recht auf das »International« erwiesen. Gerät man aber nur ein wenig mehr rechts oder links von dieser berühmten Straße, so fangen russischer Schmutz und russisches Dunkel höchst national an. – Ich will hier nur von zwei Dingen reden, die bei einem Stadtbild doch gewiß wichtig sind und die beim Prätendieren auf Kultur sicher ins Gewicht fallen: Das Straßenpflaster und die Verkehrsmittel. In Odessa paßt nun allerdings eins vortrefflich zum andern; aber mit der Kultur stimmt es nicht. Zuerst das Pflaster. Ich rate keinem Sterblichen, der eine Wanderniere oder Neigung zu Darmverwicklung hat, je einmal mit einer Mietkutsche durch Odessas Straßen zu fahren, außer in der bereits erwähnten Deribasstraße. Es holpert dem Unglücklichen die Niere im Leib herum und die Därme zum Leib heraus, anders ist es nicht möglich. Da legen sich unter die Räder Hügel und Täler von unermeßlichen Höhen und Tiefen; da rumpelt und rasselt und rüttelt es, daß einem auch das Wort »International«, das man vielleicht zuerst auf der Zunge gespürt, wieder zum Munde hinausfliegt. Und sieht man sich trostlos nach einem bessern, ruhigern Verkehrsmittel um, gelangt man an eine Pferdebahn, deren erste Spuren sicher in einem der fünf Bücher Moses irgendwo angegeben sein müssen. Über diese Pferdebahn ärgern sich zwar die Odessiten auch gründlich. Das ist ein retrograder Bazillenkäfig mit zwei Gäulen bespannt, der mit unendlicher Langsamkeit vorwärtskommt und alle Augenblicke hält. »Skandalkasten« könnte man ihn auch nennen. Im Sommer sind die Wagen wie überall offen, und zu beiden Seiten befinden sich aufgerollte dicke Vorhänge. Nun denkt man sich natürlich, diese Vorhänge dürften wohl, bei der brennenden Sonnenhitze, die ja in Odessa vom April bis zum September herrscht, zum Schutz gegen die wütenden Himmelsstrahlen heruntergelassen werden. Keineswegs. General Tolmatschoff, das Stadtoberhaupt Odessas, eine der niedrigsten und höchsten Kreaturen der Regierung, hatte herausgefunden, diese Vorhänge seien für den Regen da. Es regnet aber im Sommer in Odessa höchst selten, und das Publikum gerät, da also nach allerhöchster Vorschrift diese Vorhänge nicht hinuntergelassen werden dürfen, in blinde Wut gegen den Kondukteur, der dem allgemeinen Wunsche nicht nachkommt, nicht nachkommen darf. Der humane Tolmatschoff, der die Juden hinmetzeln und jeden liberalen Gedanken totprügeln ließ, dieser humane Tolmatschoff hatte ferner beschlossen, es sei nicht human, ein Pferd zu schlagen. So wurden denn eines Tages die Peitschen in Odessa abgeschafft. Man konnte eine Stadt von über einer halben Million Menschen sehen, in der kein Droschken- und kein Pferdebahnkutscher sich eine Peitsche halten durfte. Gestattet wurde nur, mit dem Ende des Leitseils den Pferden über den hintersten Teil leise zu säuseln. Es war also in einem Pferdebahnwagen nicht nur das Publikum wütend, sondern auch der Kutscher, der die Pferde nicht antreiben durfte. Holte er einmal mit dem Leitseilende zum Schlage aus, so konnte er sicher sein, daß er den zunächst hinter ihm sitzenden Passagier ins Gesicht traf, und wo es vorher Skandal gegeben hatte zwischen Kondukteur und Passagier, so gab es diesmal Skandal zwischen Passagier und Kutscher. Aber das war noch nicht alles. Tolmatschoff hatte ferner gefunden, der Kondukteur sehe in seinem Sommerdienstkittel nicht stramm genug aus, und so befahl denn wieder die Humanität in ihm, den ohnedies Gequälten in seine Winteruniform zu stecken, die dicke wollene; denn Schwitzen sei das beste Heilmittel, um rebellische Gedanken totzumachen. Nun wird die Situation in der Pferdebahn immer reizvoller: Der Passagier wird dem Kondukteur gegenüber grob wegen des Vorhangs; der Kondukteur will vors Gericht und ruft den Nebenpassagier zum Zeugen auf. Der Kutscher hat indessen einem zweiten Passagier mit dem Leitseilende ins Gesicht geschlagen; der schreit auch nach dem Richter, und der Nebenpassagier soll auch Zeuge sein. Dann gibt's einen allgemeinen Tumult, man fahre viel zu langsam; Kutscher und Kondukteur schreien beide, dafür könne man nichts. In der Luft aber liegt die sengende, brennende Hitze, die einem das Blut zuerst kocht, dann austrocknet. Ist es da zu verwundern, wenn Skandal sich auf Skandal häuft? Und ist es zu verwundern, wenn ich nun behaupte, mit einem solchen Verkehrsvehikel habe Odessa kein Recht auf das protzige Wort Kultur?
»International« könnte man die Stadt höchstens in dem Sinne nennen, daß alles und jedes vertreten ist an Nationen und Sprachen, an Trachten und Kostümen, und daß sie keinen ureigenen Stil hat; alles zerrissen, zersprengt, billig und durchdrungen von dem ganz besondern Geist, den 150+000 Juden einer Stadt aufzudrücken vermögen. Ganz national ist in Odessa auch die Korruption.
Ich wollte demnach aus der Stadt fort, die mir nie zugesagt hatte, und zwar sobald wie möglich. Mein Wunsch war, einmal in ein russisches Dorf zu kommen, auf ein Gut, von wo aus ich die weite Steppe übersehen konnte. Dorf – Gut – Steppe war das Triptychon meines Illusionsaltars. Ich durchstöberte alle Zeitungen und suchte nach Menschen, die eine Erzieherin aufs Land brauchen konnten. Und eines Nachmittags sah ich:
Gesucht eine Erzieherin zu einem Knaben in ein Dorf im Gouvernement Podolien. Sich zu melden Hotel »France«, Zimmer Nr. 14, von 6–7 Uhr abends.
Punkt sechs war ich im Hotel. »Madame Bjelskaja« stand unten an der Aushängetafel bei Zimmer Nr. 14. Ich stieg die Treppe empor und klopfte bei besagter Nummer an. Eine Frauenstimme rief herein. Und wie ich eintrat, erblickte ich gerade mir gegenüber eine kleine Frau, die auf dem Diwan saß und den Kopf niederduckte, um beim gedämpften Lampenlicht besser sehen zu können. Es war ein sympathisches Gesicht, von wenig bemerkbarem jüdischem Typus, und großen, trägen Augen, das mir zugekehrt war.
Frau Bjelskaja hieß mich Platz nehmen und begann sogleich:
»Sind Sie Ausländerin?«
»Ja, Schweizerin«, entgegnete ich. Kaum hatte ich das Wort »Schweizerin« ausgesprochen, huschte es wie ein heller Freudenstrahl über das kleine Gesicht. Die ganze Frau schnellte förmlich in die Höhe.
»Das trifft sich gut«, rief sie. »Ich suche eine Erzieherin für meinen Sohn, und mein Wunsch und der meines Mannes war es längst, gerade eine Schweizerin zu finden.«
Nun wußte ich aus Erfahrung genau, daß man den Schweizer im Ausland überall gern mag und auch gut gebrauchen kann; aber hier schien mir die Freude noch ihre besondern Gründe zu haben. »Warum denn?« fragte ich deshalb neugierig.
»Weil man sagt, die Schweizer seien tüchtig und gebildet und vor allem vorurteilslos.« –
Beinah erschrak ich über das letzte große Wort. Wir Schweizer vorurteilslos? Du lieber Gott, die Nase unseres Volkes steckt ebenso tief im allgemeinen Vorurteilshaufen drinnen wie die jedes andern. Aber das wollte ich der Dame nicht verraten. Ich fragte also: »Wozu brauchen Sie denn in Ihrem Falle Vorurteilslosigkeit?«
»Weil wir Juden sind«, entgegnete sie mit gesenkter Stimme, »und weil nicht jedermann gern in ein jüdisches Haus in Rußland geht.«
Das war's. Und ehrlich konnte ich ihr erwidern, daß dies für mich nicht in Betracht komme. – Frau Bjelskaja sah mich auf meine Versicherung hin plötzlich liebevoll, ja beinah zärtlich an. »Also könnten Sie sich entschließen, zu uns in die Provinz zu kommen?« fragte sie und reichte mir unerwartet über den Tisch hin die Hand. Sie trug am Finger, am Arm und in den Ohren helle, schmucklose Brillanten, alle von derselben ein wenig zu großen Größe.
»Warum denn nicht?« erwiderte ich aufrichtig. »Ich möchte so von Herzen gern auf ein Dorf.«
»O, wir wohnen in einem sehr großen Dorf«, meinte sie. »Beinah eine Stadt.«
»Vielleicht auf einem Gut«, forschte ich.
»Nicht eigentlich ein Gut«, sagte sie gedämpfter. »Etwas ähnliches, ein Gehöft.«
»Und die Steppe ringsum?« fragte ich weiter, um den Topf meiner Phantasien ganz voll zu haben.
»Und die Steppe ringsum«, wiederholte sie. Mehr brauchte ich eigentlich nicht; alles andere war Nebensache. Aber die junge Frau war redselig geworden. »Es wird Ihnen bei uns sehr gefallen, das weiß ich bestimmt«, versicherte sie. »Und sollte es nicht der Fall sein, so sende ich Sie nach zwei Wochen auf meine Kosten zurück nach Odessa.«
Das war nun sehr generös gesprochen, kam mir aber ein bißchen zweifelhaft vor. – Sie hub wieder an: »Bei uns ist Ruhe und Dorffrieden, nicht der Lärm der Stadt. Mein Junge ist ein sehr kluges Kind und so schön, daß die Leute auf den Straßen stehen bleiben. Wer ihn sieht, ist in ihn verliebt; meine Schwester ist bereit, jeden Tag ihr Leben für ihn hinzugeben.«
»So?« sagte ich bloß.
»Auch mein Mann ist sehr schön. Er gefällt allen Frauen außerordentlich. Wenn Sie ihn sehen, können Sie sich dann selbst von seiner Schönheit überzeugen. Momentan konnte er nicht abkommen; er hat sehr viel zu tun. Aber falls Sie sich entschließen würden, zu uns zu kommen, würde er Sie dann abholen und zu uns nach Tultschin bringen; denn ich verreise morgen abend schon wieder heim. Oder am Ende reisen Sie schon morgen mit mir?«
Das war mir nun zu überstürzt; ich wollte doch zuerst alles überlegen und vor allem mit meinen Leuten reden, Herrn Tatarinoffs; sie waren mit den Verhältnissen Rußlands besser vertraut wie ich. So versprach ich denn Frau Bjelskaja vorläufig nur, daß ich ganz bestimmt die mir angebotene Stelle annehme, und daß ich ihr mitteilen werde, wann ich zur Abreise abgeholt werden könne. Während ich sprach, betrachtete sie mich unausgesetzt liebevoll lächelnd, und ich bemerkte, daß ihre Aufmerksamkeit besonders meiner Nase galt. Ich zog daher das Taschentuch hervor, schneuzte und wischte daran herum im Gedanken, es sei irgend etwas nicht in Ordnung. – Erst später habe ich erfahren, welche Bewandtnis es mit meiner unglücklichen Nase hatte bei dieser unserer ersten Zusammenkunft.
Ich stand, nachdem alles besprochen war, auf und wandte mich zum Gehen. Die kleine Frau begleitete mich bis zur Tür, und da meinte sie: »Lassen Sie sich nur nicht umstimmen!« – Vorläufig verstand ich sie noch nicht.
Ich ging nach Hause zurück, durch den Salon ins Kabinett. Da saß auch Herr Tatarinoff, der, so lange wir uns kannten, es stets so väterlich gut mit mir gemeint hat, an dem kleinen runden Tischchen beim Fenster und las die Zeitung.
»Nun?« sagte er bloß.
Ich erzählte. »Wie heißen die Leute?« unterbrach er mich sofort. Ich nannte den Namen.
»Juden«, rief er sehr bestimmt; »da können Sie unter keinen Umständen hingehn!«
»Warum nicht?«
»Weil Sie keine Ahnung haben von der Primitivität jüdischer Verhältnisse in unserer russischen Provinz. Das hält kein Mensch aus außer den Juden selbst!« – Nun wußte ich genau, daß da der jedem Russen mehr oder weniger innewohnende Antisemitismus ein bißchen mitsprach; das gibt sich in Rußland ganz von selbst auch in sehr loyalen und intelligenten Milieux. Ich kehrte also die höchst vorurteilsfreie Schweizerin heraus und versuchte: »Aber es scheinen nette Leute zu sein.«
»Das ist möglich«, erwiderte Herr Tatarinoff, »und doch werden Sie es nicht aushalten; an der Art dieser Menschen und an den Verhältnissen werden Sie scheitern.«
»Aber Frau Bjelskaja sagt, sie wohnen im Dorf.«
»Mag sein.«
»Auf einem kleinen Gehöft.«
»Mag auch sein.«
»Nu, das ist ja alles, was ich längst wollte.«
»Und Sie werden es doch nicht aushalten.«
»Ich werde es aushalten.«
»Wetten wir, daß Sie in Punkt drei Wochen mit Sack und Pack wieder vor unserer Türe stehn?«
»Wetten wir!«
Die Wette ging um ein Pfund der feinsten Lindtschokolade, die Herr Tatarinoff über alles liebte und die in Odessa damals nur in einer einzigen Konfiserie erhältlich war und zu sehr hohen Preisen. – Beim Mittag redete und schrie die ganze Familie Tatarinoff auf mich ein. Alle Schwäger, Schwägerinnen, Tanten und Onkel rieten späterhin auch ab von der Stelle, sogar die prachtvolle Großmama schüttelte zweifelnd den Kopf. Aber: Dorf – Gut – Steppe – wiederholte ich mir und ihnen drauflos, und schließlich sagte man nichts mehr. Die Begeisterung jedoch war nach dem allem so ziemlich dahin. Allerdings begann ich zu packen, aber sehr, sehr langsam. Das Packen ging bereits in die zweite Woche; und immer noch konnte ich mich nicht entschließen, Frau Bjelskaja mitzuteilen, ich sei reisefertig. Dann ging das Packen in die dritte Woche. Da traf ein Brief ein aus Tultschin. Und zu meiner äußersten Verwunderung war dieser Brief beinah ein Liebesbrief, ein Werben um meine Gunst. Frau Bjelskaja schrieb und gestand, sie sei vor lauter ungeduldigen Wartens beinahe krank; ich möchte doch bald kommen; sie könne die Stunde meiner Ankunft nicht erwarten, so sehr habe sie sich zu mir hingezogen gefühlt, und Sascha, der Junge, gucke sich beinah die Augen aus nach mir. Offen gestanden war ich sehr überrascht über das Pathos dieses Schreibens und sprach mit Herrn Tatarinoff darüber.
»Exaltiert wie alle Jüdinnen«, meinte er. »Sie werden noch manches dort erleben. Es läßt sich ja allerdings so vieles erklären und begreifen an dem Volk, wenn man sieht, wie es bei uns in Rußland behandelt wird. Aber leben kann man nicht mit ihnen, ich meine mit den primitiven Juden in der Provinz, und das sage ich Ihnen nun das letzte Mal.«
Ich schwieg. »Dieser Sascha ist selbstverständlich ein geniales Kind«, fuhr Herr Tatarinoff fort.
»Warum denn?«
»Weil alle Juden bei uns in Rußland geniale Kinder haben.«
Und die prachtvolle Großmama, die eben mit ihrem Stopfstrumpf zu uns trat, fügte noch hinzu: »Man wird Ihnen furchtbar viel vorrühmen; machen Sie sich darauf gefaßt.« – Ich packte weiter. Da, eines Tages ein Telegramm: »Halten Sie sich bereit; mein Mann wird Sie heute abend abholen.« Nun mußte ich wohl. Ich klappte den Koffer zu, und der Portier schnürte das dicke Seil drum. Kaum war es geschehn, stand auch Herr Naum Bjelsky bereits vor der Tür.
Ich war gerade allein im Kabinett und schob ein paar gelesener Bücher in den Bücherschrank, als er durch den Salon geschritten kam. Das erste, was ich tat, war, nach seiner berühmten Schönheit zu suchen. Ich fand nichts als den ganz gewöhnlichen Typus des russischen kleinen Handelsjuden, einen Mann mit kurzem, dunklem Bart, und Augen unter schweren Lidern. Auf der Nase und daneben eine ganze Menge kleiner, roter Pickelchen. Die Zähne zeigte Herr Bjelsky alle, als er mich lächelnd begrüßte, und diese Zähne waren wirklich schön. Ich bat ihn Platz zu nehmen; aber er nahm die Einladung nicht an, sondern stellte sich höchst ungeniert mitten ins Zimmer unter den elektrischen Kronleuchter und meinte in sehr familiärem und zugleich herablassendem Ton: »Ist das das Kabinett? Ganz nett, recht geschmackvoll! Und hier nebenan ist wohl der Salon?« Dabei schob er die Seitenportiere zurück und sah sich um, wie jemand, den man speziell hergeschickt hatte zum Abschätzen, Inventarisieren. »Auch ganz nett«, meinte er wieder. Ich wußte nicht was sagen, was denken; nur fühlte ich wie an meinem Phantasiestrickwerk die erste Masche hinunterfiel, recht weit hinunter, unrettbar verloren. Er hub wieder an: »Sie werden nun bald unsern Salon sehn Fräulein, dann können Sie vergleichen!« Im Grunde war ich neben dem Ärger über seine breitspurige Ungeniertheit noch beleidigt für die mir so lieben, schönen Räume in unserem Hause. Das Kabinett war ein in ernstem Stil gehaltenes Zimmer mit prachtvollem Eichenmöbel und persischen Teppichen; der Salon, eine allerdings nicht sehr große, aber heitere Rokokoecke aus geblümter Seide. Der Flügel war ein kostbares Stück; die Vasen kamen aus Venedig, und an den Wänden hingen sehr schöne Porträts von Kusnezoff und Egis, auch Marinebilder von Aiwasowsky. Also was wünschte der Kerl noch? Denn so betitelte ich im Ärger sofort meinen künftigen Herrn. Gespannt aber war ich schon auf seinen Salon.
Frau Tatarinoff, die selten schöne und selten gütige Frau begleitete uns auf den Bahnhof. Sie hatte den Pelzkragen ihres Mantels bis an die Ohren hinaufgestülpt, und aus dem Pelzwerk heraus lachten ihre dunklen Augen mich an. »In drei Wochen stehn Sie mit Sack und Pack wieder vor unserer Tür«, sagte sie nun auch, nachdem sie sich Herr Bjelsky recht eingehend betrachtet hatte. – Ich muß gestehen, ich bin mit recht schwerem Herzen, aber mit den besten, ehrlichsten Vorsätzen und Absichten abends um halb neun Uhr mit ihm in den Wagen eingestiegen.
Wir fuhren die ganze Nacht. Im Anfang waren nicht viel Passagiere da; aber jede Station goß uns einen neuen Menschenstrom in die Wagen; man lärmte, hustete, schleppte das Gepäck, keuchte, stieß an den Türen und Bankkanten an und setzte sich. An ein Schlafen war nicht zu denken. Ich streckte mich zwar behaglich auf der bequemen Polsterbank der Eisenbahn aus; aber der Schlaf kam nicht. Jemand schnarchte außerdem noch fürchterlich, und auf der Matratzenbank über mir rumorte jemand und schien nicht zur Ruhe zu kommen; es ächzte, stöhnte, gähnte und seufzte, und schließlich kam ein Fuß über den Bankrand hinunter. Beim Kerzenschein gewahrte ich, daß dieser Fuß in einem weißschwarzen Strumpfe steckte und daß an der Ferse ein ungeheures Loch gähnte; der Besitzer konnte sehr gut zu diesem Loch hinein in den Strumpf gefahren sein. Auf der Bank mir gegenüber lag Herr Bjelsky und schlief auch nicht. Er hatte es sich, wie es schien, zur Höflichkeitspflicht gemacht, die künftige Erzieherin seines Sohnes nächtlicherweise zu unterhalten. Jedesmal, wenn ich eine Bewegung machte, gähnte oder den Kopf hob, fuhr er in die Manteltasche und zerrte eine Düte vielfarbiger Bonbons heraus, die er mir präsentierte. Dabei lächelte er stets mit dem gewinnendsten Lächeln eines galanten Theaterdieners; alle seine Zähne blitzten miteinander auf. Wie er sah, daß aus dem Schlafen nichts wurde, setzte er sich schließlich hin und sagte: »Fräulein, es wird Ihnen bei uns sehr gefallen. Und das verspreche ich, falls es Ihnen nicht behagen sollte, daß wir Sie nach zwei Wochen auf unsere Kosten wieder nach Odessa zurücksenden.« Also, da war das unwahrscheinliche und pompöse Versprechen wieder; ich steckte es, ohne etwas darauf zu erwidern, in die Manteltasche.
»Wie viel Einwohner hat das Dorf?« fragte ich.
»25+000«, erwiderte mir Herr Bjelsky. »10+000 sind Russen, Soldaten, Offiziere, denn wir bilden eine kleine Garnison, und 15+000 sind Juden.«
»Also nicht ein russisches, sondern ein jüdisches Dorf«, resümierte ich.
Da ich bereits aus Erfahrung wußte, daß der Garnisonsoffizier nicht mit dem kleinen Provinzjuden verkehrt, sondern mit echtem barbarischem Herrenstolz auf das Pogromfutter hinuntersieht, so wagte ich die Frage, mit wem denn er und seine Frau verkehrten und wen sie empfingen; denn in der russischen Provinz kann einzig und allein noch Gesellschaft das Leben angenehm und erträglich machen. Herr Bjelsky erwiderte mir nicht ohne protziges Selbstgefühl: »Wir leben ganz isoliert, meine Frau und ich. Die Russen verkehren nicht mit uns und wir nicht mit den andern Juden. Wir gehören zu den Vornehmsten. Der gewöhnliche, ungebildete Jude unseres Dorfes ist keine Gesellschaft für meine Frau!«
Mir wurde recht bange. Ich brauchte Menschen, Gesellschaft, Anregung, um existieren zu können. Was sollte aus mir werden? Kaum konnte ich mir vorstellen, daß Frau Bjelskaja und der schöne, geniale Sascha mir das Leben so ausfüllen konnten, daß da kein Leck im Tage entstand.
»Sind irgendwelche Vergnügungen da?« fragte ich nach diesen Reflexionen.
»Wo denken Sie hin?« erwiderte man mir, »die tote Provinz.«
Ich legte mich hin und überlegte, daß Verlockendes vorläufig nicht zu erblicken sei. Aber vielleicht ersetzte das für mich neue Leben auf einem Gehöft und die weite Steppe, die ich von meinem Fenster aus überblicken würde, doch manches. Abwarten, nur hübsch abwarten.
»Sie werden entzückt sein von meinem Sohn«, flüsterte mein Gegenüber wieder. »Ein so schönes Kind, daß die Leute auf den Straßen stehen bleiben.«
Das hat die Mama auch gesagt, dachte ich; wenn er aber ungefähr so schön ist wie du, Herr Naum, und sicher gleicht er dir, so wird es mit der Schönheit nicht so weit her sein.
»Er deklamiert vorzüglich, hat ein phenomenales Gedächtnis. Die längsten Gedichte behält er. Ich versichere Sie, ein geniales Kind.«
Ich lachte leise für mich und dachte an Herrn Tatarinoffs Bemerkung. Jedoch Herr Bjelsky flüsterte gedämpft weiter und reichte mir die Bonbondüte: »Wissen Sie, meine Frau wird auch bei Ihnen Stunden nehmen, nicht nur Sascha.«
»So«, entgegnete ich bloß, denn davon war früher bei der Abmachung keine Rede gewesen. Das konnte hübsch werden.
»Ich auch, wenn ich zu Hause bin«, fuhr er fort; »man gehört doch zu den Gebildeten.«
Vielleicht die Köchin auch noch? dachte ich.
»Meine Frau ist ungewöhnlich intelligent. Gewiß hat der Junge die Klugheit von ihr, ich weiß es nicht.« Dabei sah er mich an, als ob er ganz bestimmt zu hören erwarte: »O, der Vater ist doch auch so riesig intelligent; Sascha kann das nur von ihm haben!« Aber ich schwieg, schwieg schnöde und hartnäckig. So fuhr er denn fort: »Das ganze Dorf ist vernarrt in Sascha; die Schwester meiner Frau ist so verliebt in [Zeile fehlt im Buch. Re] Bjelskaja vor drei Wochen. Am Ende wollte man mir damit nahe legen, ich sollte mein Leben für Sascha bereit halten.
»Sie werden sehen, Sie werden auch noch so weit kommen«, sagte wirklich mit prophetischem Ernst Herr Naum.
»Ich ins Wasser für Ihren Jungen? Aber um Gottes willen warum denn?« rief ich ganz laut vor Bestürzung in den schlafenden Wagen hinaus.
»Still da unten!« brummte der Herr über uns, und sein Fuß im durchlöcherten Strumpf kam in lebhafte Bewegung. Erschrocken legte sich mein Gegenüber wieder hin auf seine Bank.
Als die ersten Morgenlichter in den Wagen hineinguckten und ich die Schlafenden übersehen konnte, gewahrte ich, daß jeder Passagier ein Jude war und jeder Jude ein Passagier. Alle schienen sie dem Westen zuzustreben wie auch wir zwei. Die Morgenlichter huschten den Kindern Israels in den offenen Mund und über den Bart; da machten sie die Augen auf und erwachten. Der Fuß, der wie ein Damoklesschwert die ganze Nacht über mir gehangen, zog sich zurück. Der Herr über uns schien Toilette zu machen.
»Bitte, stellen Sie die Leiter an!« rief er nach einer Weile Rumorens hinunter. Herr Naum schob die kleine Leiter an das Tischchen beim Fenster, und nun kroch der Mann herab; vorsichtig setzte er zuerst den einen Fuß auf die oberste Sprosse, dann den andern. Ein ganzer Berg Unsauberkeit schien hinunterzuklettern; mir ging in dem ohnedies mit allen möglichen Gerüchen gefüllten Wagen beinah der Atem aus. Als er glücklich unten war, wandte er sich zu uns um und meinte unerwartet im Tone freundschaftlicher Selbstverständlichkeit: »Guten Tag, Bjelsky!« Und ohne weiteres setzte er sich breitplätzig neben Herrn Naum, also mir gegenüber. Ich muß ein blödsinniges Gesicht gemacht haben, und der Schrecken lief mir in kleinen Schauern den Rücken auf und ab. Sollte dieses duftende Monstrum am Ende ein Freund des Hauses sein, in das ich bald einziehen würde? Und sollte ich von dieser Bekanntschaft auf das Niveau meines künftigen Aufenthaltsortes schließen? Mir wurde angst. Allerdings, wer den galizischen, polnischen, russischen kleinen Handelsjuden nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, wird vielleicht meinen Schrecken kaum begreifen. Dieser Jude trägt einen schwarzen, bis auf die Fersen hinabreichenden Rock, der von Schmutz und Fett glänzt und um die Beine schlottert; auf dem Kopf sitzt mehr oder weniger zerquetscht die Schirmmütze, unter der die beiden Ringellöckchen vor den weitabstehenden Ohren hin und her hopsen. Er trägt Pantoffeln und weiße Strümpfe, gestikuliert lebhaft mit den Händen und spricht im schnarrenden Singsang des jüdischen Idioms. Eine so typische, unter den andern Bewohnern dieser Gegenden so absolut charakteristische und isoliert dastehende Erscheinung, daß sie einem völlig fremd anmutet. Dieser Jude ist wie eine fossile Erinnerung an alttestamentarische Vorzeiten, eine so fernabstehende Figur, daß man wohl versucht ist, ganz abstrakt den reinerhaltenen Typus eines einst großen Volkes an ihm zu studieren; aber es braucht Mühe, ein warmes, menschliches Zusammengehörigkeitsgefühl für ihn zu empfinden.
Herr Bjelsky war diesem Freunde gegenüber in dem dunkelblauen Kleide, das er trug und der knallroten Krawatte der reinste moderne Kulturdandy. Ich glaube gerade behaglich fühlte auch er sich nicht, als der Herr von Oben sich so mir nichts, dir nichts neben ihn setzte, und unbehaglich fühlte er sich wegen meiner erschrockenen Gegenwart. So wie es in mir zu dämmern begann, ich gehöre doch kaum in dieses Milieu hinein, gerade so dämmerte es in diesem Augenblick vielleicht in Herrn Naum. Aber vorläufig ließ man sich nichts merken.
Da machte der Zug Halt. »Frisches Wasser! Reines Wasser!« riefen einige Stimmen draußen auf dem Perron. Und geschäftig liefen Frauen in Kopftüchern, den Wasserkrug in der Hand, vor den Wagen hin und her. Der Herr von Oben schob das Fenster hinunter. »Heda, Wasser!« rief er hinaus. Zu meinem unermeßlichen Erstaunen wurde ich nun Zeuge einer äußerst praktischen und auch äußerst ekelhaften Waschprozedur. Der Mann machte das nämlich so: Er ließ sich die beiden hohlen Hände mit Wasser füllen und nahm die Hälfte dieses Wassers in den Mund; mit der andern Hälfte reinigte er sich die Hände. Nachdem er den Mund gespült, auch gegurgelt und gegluckst hatte, spie er den ganzen Strom wieder zurück in die hohlen Hände und wusch sich nun damit das Gesicht. Mich würgte der Ekel an der Kehle; der Herr von Oben aber fuhr sich mit einem unsauberen Riesentaschentuch ganz selbstverständlich über Gesicht und Bart und setzte sich dann wieder zu uns. Wie hilfesuchend sah ich mich um. Aber die Situation wurde noch schlimmer. Der Herr von Oben kramte in einem Bündel, das er neben sich auf die Bank gelegt hatte; daraus zog er ein Stück Brot und ein paar frische, grüne Knoblauchstengel. Weiß Gott, wo er sie in dieser Jahreszeit her hatte! Und nun aß er und erstarkte zusehends zu neuem Leben; dabei sprach er drauflos jüdisch auf Herrn Bjelsky ein; ich verstand kein Wort; ich horchte auch nicht hin, sondern sprach intensiv zu meiner erschrockenen Seele: Abwarten, nur hübsch abwarten.
Glücklicherweise ging ja der Zug vorwärts, und der Morgen kam immer heller in den Wagen hinein, hell vom Februarschnee, der in unabsehbaren Feldern zu beiden Seiten der Eisenbahn lag. Ich öffnete ab und zu das Fenster und atmete, was ich nur atmen konnte, die frische Morgenluft in die Brust hinein. Um zehn Uhr hielten wir endlich an unserer Station. Wir schritten um das kleine Stationsgebäude herum, und da erblickte ich etwas, was mich auf einmal mit allem aussöhnte: Einen uns erwartenden komfortablen Schlitten mit zwei prachtvollen Apfelschimmeln bespannt. Das war doch wenigstens etwas. Hopla, wie würde ich da im Frühling in die ergrünende, duftende Steppe hinausfahren! Den Kutscher mußte ich mir sofort zum Freunde machen! Er saß oben auf dem Bock, ein alter, griesgrämiger Kleinrusse, kaum sichtbar unter seiner Pelzmütze.
»Wie heißt er?« fragte ich Herrn Bjelsky, der sich eben in die warme Pelzdecke einnistete.
»Ambros«, entgegnete er mir. »Ein sonderbarer Kauz!«
Wir fuhren auf der breiten Landstraße dahin in den weiten, weißen Schnee hinein. Nirgends ein Haus, nirgends ein Baum, nur der endlose Schnee. Aber unter ihm ruhte sie, schlummernd und träumend, die Steppe, meine Steppe, die wie ein Trost und ein Warten für mich dalag. Ob wohl das Haus wirklich mitten drinnen im kommenden Grün lag und ob das leise Gesumme, das Gesumme Tausender von Bienen und Käfern und der herrliche Wiesenduft zu mir durchs Fenster hineindrang?
»Fahren Sie gern?« unterbrach der Nachbar mein Sinnen.
»Für mein Leben gern«, gestand ich, fröhlich geworden.
»Nun, dann können Sie bei uns ausfahren, so viel Sie wünschen. Ambros wird Ihnen die Umgebung zeigen.«
An dieser Versicherung richtete sich mein Herz immer mehr in die Höhe.
»Wissen Sie, daß ich Geige spiele?« fragte Herr Naum nach einer Pause wieder und sah mir triumphierend ins Gesicht.
»A?« entgegnete ich bloß. Aber er rühmte schon wieder.
»Wir sind alle sehr musikalisch. Schon mein Großvater war Musiker; auch meine Frau hat ein ausgezeichnetes Musiktalent. O, ich werde Ihnen übrigens mit meinem Spiel die Langeweile verjagen, falls sie sich doch einstellen sollte.«
»Ich danke«, sagte ich ziemlich tonlos.
Eine lange, kalte Pause entstand. Der Schlitten wollte auf einmal nicht mehr glatt vorwärts; stellenweise zeigte sich unter dem frischgefallenen Schnee die dunkle Landstraße.
»Du hättest den Wagen nehmen sollen, Ambros«, sagte Herr Bjelsky zum Kutscher. Der alte Mann wandte sich halbwegs um. »Ging nicht«, entgegnete er bloß.
Wieder fing mein Nachbar zu rühmen an; das lag, wie es schien, in seiner Natur. »Unser Salon wird Sie direkt überraschen, Fräulein. Und dann erst das Klavier! Bei Tatarinoffs habe ich einen Flügel gesehn. Aber ich ziehe ein Klavier vor und meine Frau auch.«
»Weil ein Klavier billiger ist«, warf ich nun schnöde ein; denn ich fand, es sei genug mit dem Herausstreichen seiner eigenen Habseligkeiten auf Kosten meiner Freunde.
»O, absolut nicht!« rief er. »Glauben Sie nur nicht, daß es uns an Geld mangelt. Wir lieben die Einfachheit, absolute Einfachheit. Nur kein Protzigtun. Sie müssen nicht vergessen, wir sind gebildete Leute.«
Das wußte ich nun allerdings zur Genüge. Er unterbrach von neuem meine Gedanken.
»Hier in der Provinz leben wir bescheiden; wir könnten viel mehr ausgeben, wenn wir wollten. Unsere Mittel gestatten uns das. Aber wir gedenken später in Odessa zu wohnen; was wir uns hier der Verhältnisse halber versagten, gönnen wir uns dann um so besser in Odessa.«
Da hatte man ihn. Ich sah ihn schon in Gedanken mit seiner Frau am Arm durch die internationale Deribasstraße brillantieren: Pelze hinten, Pelze vorne, Diamanten hinten, Diamanten vorne. Hintendrein ging Sascha und daneben ich, die vorurteilslose Schweizerin und Erzieherin. Ich mußte lachen, ganz laut lachen. Dies war mein letztes Lachen vor und in dem Dorf für volle drei Wochen; Herr Naum lachte mit und wußte gar nicht warum.
Bald darauf tauchten Häuser auf, Bauernhütten mit kleinen Fensterchen und Binsendächern; hartgefrorene Wäsche flog am festgespannten Seile zwischen zwei Bäumen hin und her. Also doch Bauernhütten, sagte ich mir froh und hätte überlegen sollen, daß, wo 15+000 Juden und 10+000 Soldaten sind, es nicht so weit her sein könne mit dem Bauernstand. Aber das waren eben noch die letzten Zipfelchen meiner hoffenden Phantasie, die absolut in ein russisches Bauerndorf hinein wollte. Mit einem Schlage wurde bald alles und jedes zu nichts, was meinen Frohmut bis jetzt aufrecht erhalten. Die Bauernhütten hörten auf; eine Kirche erschien. Aber wie wir an der Kirche vorbeigefahren waren, hörte zu meinem Entsetzen auch die schöne, breite Landstraße auf. Es war, als ob sie vor lauter Schreck über dem gottserbärmlichen Nest, das da vor meinen Augen auftauchte, einfach Halt gemacht hätte und um keinen Preis weiter zu gehen wünschte.
»Da wären wir«, meinte strahlend Herr Bjelsky. Statt des weißen, reinen Schnees war da stiefelhoher und tiefdunkler Kot. Durch diesen Kot watschelte uns eine Herde Gänse entgegen; dann kam eine ungeheure, selbständige, schutzlose Sau gegangen, so schmutzig und borstig, wie ich im Leben nie eine Sau gesehen. Ich glaube, sie wollte symbolisch aufgefaßt sein, als Deputierte und Repräsentantin des Dorfes, in das ich einzog. Hinter der Sau drein erschien ein ganzer Zug der bereits erwähnten, charakteristischen Judenfiguren, alle mit Löckchen und alle in hohen Stiefeln. Sie sprangen und hopsten durch den Kot und grüßten meinen Herrn mit kurzem, kaum bemerkbarem Kopfnicken. Ebenso dunkel wie der Kot wurde es bei dem allem in mir.
»Das ist die Hauptstraße«, belehrte mich Herr Bjelsky. Zu beiden Seiten eine Art Läden, eher Buden mit verfallenen Türen und schiefen Schildern. Eine kleine Apotheke war auch da. Unser Schlitten wollte nicht vorwärts; Ambros stieg ab und führte die Pferde eine Weile am Zügel; dann versank der alte Mann aber zu tief im Kot und schwang sich wieder auf den Bock.
»Wo geht man denn da spazieren?« fragte ich im Tone großer Niedergeschlagenheit.
»Man geht bei uns nicht spazieren«, meinte Herr Naum ganz selbstverständlich; »man bleibt zu Hause.«
Ich verstummte. Gerade vor unsern Augen tauchte ein mächtiges, weißes Gebäude auf. Ich dachte, daß es die Kaserne sein müsse. Nun bogen wir mühsam in eine Straße ein, die rechts lag; und in beständiger Gefahr, mitsamt dem Schlitten in den Kot geworfen zu werden, glitten wir von der Straße ab und fuhren die Straßenböschung hinan. Da erblickte ich hinter einem verlotterten, grünen Holzgitter ein kleines, einstöckiges Haus.
»Da ist unser Haus«, bedeutete mir Herr Bjelsky und strahlte wieder. Ich machte von neuem eins meiner blödsinnigen Gesichter, wie ich sie in den folgenden drei Wochen noch öfter machen sollte, und sagte:
»Aber – das ist doch kein Gehöft?«
»Wozu brauchen Sie absolut ein Gehöft?« erwiderte mir darauf Herr Naum. »Sie werden sehn, Sie werden auch ohne Gehöft glücklich sein.«
Gesenkten Hauptes und furchtbar enttäuscht schritt ich hinter Herrn Bjelsky her. Bei der Eingangstür stand ein Knabe; das mußte Sascha sein. Vorläufig sah ich nichts als einen ungeheuren Kinderbauch, der in verwaschenen Höschen steckte. Dieser Bauch schien die Höschen sprengen zu wollen; denn die zwei obersten Knöpfe standen weit offen. In normaler Höhe von diesem abnormen Bauch befand sich Saschas Kopf und da suchte ich nun auch die vielgepriesene Schönheit zu entdecken. Natürlich war die Enttäuschung dieselbe wie mit Vater, Dorf und Gehöft. Sascha war der Papa wie er leibte und lebte oder geleibt und gelebt haben mochte als Kind; ein ausgesprochen typisch-jüdisches Kindergesicht mit dunklem Haar und denselben verschlafenen Augen unter breiten Lidern. Herr Bjelsky küßte seinen Sohn und meinte dann ziemlich pädagogisch streng zu ihm: »Sascha, da ist deine Erzieherin; komm und gib ihr die Hand!« Sascha kam, reichte der Erzieherin die Hand und schnaufte dazu.
»Sehn Sie seine prachtvollen Augen?« sagte laut Herr Naum zu mir. Da erschien aber die Hausfrau. Zu meiner äußersten Verwunderung umarmte sie mich mit einer Zärtlichkeit, die eines bessern wert gewesen wäre und hieß mich unter heißen Küssen willkommen. Halb war ich gerührt, und halb war ich amüsiert; denn ich sah, daß ich hier mit meinen bisherigen Begriffen vom Leben nicht auskam. Herr Bjelsky sah strahlend der Umarmungsszene zu und meinte zu seiner Frau: »Ich hoffe, liebe Fanny, du wirst mit unserer Erzieherin recht gute Freundschaft halten.« Ich konnte gar nicht begreifen, warum er das Wort »Erzieherin« so gern und so viel wiederholte und zwar stets mit ganz bestimmter und charakteristischer Präzision. Später erfuhr ich es. Ich war nämlich die einzige Erzieherin im Ort, und das Bewußtsein, diese Einzige zu besitzen, bedeutete für ihn und seine Fanny beinah so viel wie eine Ehrenmedaille.
»Sascha, geh und zeig deiner Erzieherin ihr Zimmer!« kommandierte wieder der Papa. Durch einen schmalen, dunklen Korridor führte mich der Junge und machte eine Tür auf. Ich trat mitsamt meinem Handgepäck ein, und mit einem Blick überflog ich die ganze Ausstattung: Ein eisernes Bett mit einem Kissenberg, ein höchstprimitiver Waschtisch samt Waschschüssel, deren Schmutzringe ich schon von weitem entdeckte, zwei Stühle und ein kleiner, runder Tisch. Und wie ich durchs Fenster schaute, durch welches mir im Frühling Steppenduft und Steppengesumme kommen sollten, gewahrte ich einen großen, großen Kehrichthaufen dicht davor und zwei watschelnde, pickende Truthähne drauf. Sascha stand neben mir und schnaufte, und obwohl ich mich zwingen wollte, mit dem Knaben zu plaudern, brachte ich kein Wort hervor; die Eindrücke waren zu trostlos. Ich machte ein wenig Toilette; dann begann ich meine Sachen auszupacken. Dabei bemerkte ich, daß das Schlafzimmer von Herrn Naum und seiner Fanny nebenan liegen mußte; denn ich hörte sie lebhaft sprechen, allerdings jüdisch, so daß ich kein Wort verstand. Ich packte also aus; Sascha fuhr mir aber gleich in alles und jedes hinein, zerrte einen Gegenstand um den andern aus dem Körbchen und fragte dann stets: »Was ist das?« Zuerst antwortete ich ihm eingehend auf alle seine Fragen. Als er mir aber auch alles neugierig beguckte und betastete, ging es mir auf die Nerven, und ich fand es an der Zeit, mit meiner erzieherischen Tätigkeit einzusetzen. Ich verwies ihm das Betasten und Hervorreißen aller meiner Sachen. Er schaute mich aber ganz verständnislos an und fuhr ruhig fort: »Was ist das?« Da pochte man an die Tür. Arm in Arm und strahlend stand das Ehepaar Bjelsky davor. »Wie behagt Ihnen Ihr Zimmer?« fragte mein Gebieter. »Nicht wahr, sehr hübsch?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich gleich an seinen Sohn: »Wie gefällt dir deine Erzieherin?« Dabei blinzelte er mich an, als ob er sagen wollte: Passen Sie auf; jetzt sagt Sascha gleich etwas Geniales! Aber Sascha antwortete gar nichts, sondern bückte sich bloß wieder, um etwas aus meinem Reisekörbchen herauszuzupfen.
»Sascha ist ein wenig neugierig«, wagte ich.
»O absolut nicht«, bedeutete man mir, »bloß wißbegierig, wie alle intelligenten Kinder.«
Hm! …
»Gehn wir in den Salon!« meinte darauf Herr Bjelsky. Mit großer Spannung und großen Erwartungen schritt ich nach dem vielbesprochenen Raum, wo alles so prächtig war, daß jeder andere Salon der Welt in den Abgrund des Nichts rollen mußte. Die Tür ging auf …
Ein mittelgroßes, viereckiges Zimmer. Darinnen erblickte ich ein ganz billiges, schwarz angestrichenes Gartenhausmöbel; das stand in Gruppen und Knäueln verteilt herum; an jedem Stuhl, jedem Tisch, an allen Kanten, Beinen, Lehnen, Sitzen, baumelten Hunderte von vergoldeten Fichtenzäpfchen, an denen jedes Kleid in Fetzen gehen mußte. Unter dieser Möbelpracht lag ein Teppich ausgebreitet mit knallrotem Fond; mitten drinnen stand ein schwarzlockiger Engel mit einem goldgelben Riesenfüllhorn; aus diesem Füllhorn stürzten zu Bächen, Strömen und Meeren lauter himmelblaue Blümchen in den knallroten Fond, so daß man nicht recht wußte, ob das Blau im Rot ertrank oder das Rot im Blau. In einer Salonecke gewahrte ich ferner ein mit Ketten und vergoldeten Rosetten reichverziertes, schwarzes Tischchen mit einer weißen Marmorplatte. Auf der Marmorplatte befand sich eine Lampe mit grasgrünem Glasfuß; ein violetter Seidenschirm behütete sie vor Unbill, und ins Glas hinein war zur Dekoration ein großer Büschel Pfauenfedern gesteckt. Unter dem Tischchen lag ein zweiter, kleinerer Teppich, auf dem eine Troika fuhr mit funkensprühenden Gäulen, die direkt der Hölle entgegenzurasen schienen. – Ich stand stumm und wußte nicht wohin das Auge wenden.
»Schauen Sie sich unsere Bilder an, Fräulein, diese zwei Pendants! Sie kommen aus dem Ausland.«
Das Wort »Ausland« sprach Herr Bjelsky ebenso respektvoll und pompös aus wie »Erzieherin.« Es schien in diesen beiden Worten für ihn etwas Spezielles zu sitzen, etwas, dessen Wert man sehr hoch zu taxieren hatte. Ich blickte an die Wand empor. »Sonnenuntergang« hieß es unter dem einen der Bilder. Wie ein blutrotes, rundes Ungeheuer stand die Sonne am Himmel und überblutete die sämtliche Schneegegend wie ein mittelalterlicher Strafrichtermantel. Blutige Hirsche liefen herum, und in der Ecke rechts stand ein blutiger Jäger im Anschlag und zielte auf ein blutiges Hirschtier. – »Mondlandschaft« hieß es unter dem Pendant. Da war nun alles in Blau, Mond- und Nachtblau. Ein Wasser zog sich von dem Rahmen rechts bis zum Rahmen links, und das war in blaue Mondstrahlen getaucht, und ein blauer Nachen ruderte drauf herum, in dem zwei blaue Liebende saßen, und blaue Wasserrosen schwammen um den blauen Kahn mit den blauen Liebenden. Er, der Jüngling, hielt eine blaue Gitarre und sang ein blaues Lied, und sie, die Jungfrau, lehnte an seiner blauen Brust und tat einen blauen Liebesseufzer. Ich bemerkte, daß das Ehepaar Bjelsky auf Ausrufe des Entzückens von meiner Seite her wartete; ich aber war so entsetzt, so greulich niedergedonnert von allem Gesehenen, daß mir auch die Ausdrücke des Schreckens in der Kehle hängen blieben. Noch blieb mir ja das Furchtbarste zu bewundern übrig. Wie ich mich nämlich umwandte, erblickte ich das Klavier, das wirklich neu war und gut aussah. Auf dem Klavier aber standen zwei Leuchter, – ich glaube, wenn mein Haar nicht in einem festen Knoten aufgesteckt gewesen wäre, so hätte sich wohl jedes Haar einzeln himmelwärts aufgebäumt vor maßlosem Schrecken. Diese Leuchter stellten Engel dar, knieende Engel aus Gips, mit einer dünnen Bronzeschicht übergossen. Sie hatten beide die Arme kreuzweise übereinandergelegt; die eine der Engelshände diente als Kerzenhalter, und zwar war dies so eingerichtet: Vier Finger der bronzierten Hand lagen geschlossen auf dem Arm, der Zeigefinger aber fehlte; statt des fehlenden Fingers war nur ein kreisrunder Fingeransatz, und in diesem Fingeransatz steckte die Kerze. Sie bildete also des goldenen Engels unproportionierten, wächsernen Zeigefinger, der natürlich weit über den Kopf des Engels hinausragte und den er in einem fort drohend in die Luft streckte. Wenn dieser Zeigefinger brannte, sah das direkt fürchterlich aus. Ich bin während der drei Wochen meines Aufenthaltes in Tultschin nie an diesen wächsernen Fingern vorbeigegangen, ohne daß alles, was an gutem Geschmack in mir war, sich nicht um und um gedreht hätte. Stumm starrte ich auf die beiden Himmelsfiguren. Herr Bjelsky, der mein Starren für Bewunderung hielt, meinte strahlend: »Schön? Nicht wahr? Die sind auch aus dem Ausland. – Wie finden Sie übrigens unsern Salon? Ich sagte Ihnen ja, er sei großartig. Gestehn Sie nun ganz offen, welcher ist geschmackvoller, der unsrige oder der bei Ihren Freunden in Odessa?«
Der Mann wurde heikel. Ich bohrte in meinem Hirn nach einem anständigen Ausweg; denn beleidigen wollte ich doch die beiden Glücklichen nicht in all ihrer baumelnden und vergoldeten Salonherrlichkeit.
»Man kann die beiden Räume nicht miteinander vergleichen«, entgegnete ich ausweichend. »Der in Odessa ist viel größer wie der Ihrige.«
»Ja, aber geschmackvoller ist der unsrige, nicht?« beharrte er.
»Jeder auf seine Weise«, entgegnete ich, und glaubte mich glücklich aus der Sache gezogen zu haben.
»Sehn Sie sich unser Klavier an!« beharrte er. »So ein Klavier ist doch entschieden viel schöner wie jeder Flügel. Fanny, geh und spiel dem Fräulein etwas vor«, wandte er sich an seine Frau. – »Wenn er nun noch seine Geige holt, dann ist's aus«, stöhnte es in mir. – Aber Frau Fanny weigerte sich zu spielen, und das Konzert unterblieb. Dafür mußte nun Sascha herhalten; denn etwas von den Künsten des Hauses sollte absolut vorgeführt werden. Herr Bjelsky kommandierte seinen Sohn mitten auf den Blaublümchenteppich, und er wurde veranlaßt, ein ellenlanges Gedicht aufzusagen.
»Ein phenomenales Gedächtnis«, sagte der Vater wieder stolz zu mir. »Weiß Gott, wie er diese Sachen alle behält.«
Die Köchin, eine spindeldürre, ältliche Jüdin, genannt Rose, machte meinem Salonunbehagen ein Ende, indem sie zum Mittag rief. Auf dem Mittagstisch lag ein rotes Tischtuch mit weißen Blumen. O, auch dieses Tuch wird nie aus meiner Erinnerung hinausschlüpfen – denn es lag, lag bei Tag und bei Nacht, morgens, mittags und abends, zu jeder Stunde in unerschütterlicher Ruhe auf dem Speisetisch, lag auch noch, als ich nach drei Wochen verreiste und lag wahrscheinlich noch bis Weihnachten. – Ich setzte mich auf den mir angewiesenen Platz gegenüber der Hausfrau. Oben am Tisch thronte würdevoll der Hausherr in der Knallkrawatte. Zu meiner Verwunderung saß Sascha nicht mit am Tisch, sondern er bewohnte für sich ganz allein ein kleines, niederes Tischchen mit einem ditto Stühlchen. Gerade wie der Junge sich schnaufend niedersetzen wollte, rief ihm sein Vater.
»Sascha, komm her und zeig dem Fräulein deine Augen.« Mein Gott, ich hatte ja die berühmten Augen Saschas längst gesehen; was wollte man eigentlich noch von mir? Gehorsam kam der Junge her, postierte sich an die Tischecke, und der Vater kommandierte:
»Dreh die Augen nach rechts!«
»Jetzt nach links!«
»Jetzt guck hinauf!«
»Jetzt hinunter!«
»Sehn Sie diese prachtvollen Augen, Fräulein!« strahlte Herr Naum beglückt.
»Sascha, schließ die Augen ganz!«
Und Sascha schloß die Augen.
»Diese Wimpern, sehn Sie! Rühren Sie sie an! Wie Seide! Sascha, halt die Augen geschlossen!« gebot er streng, als der Knabe Miene machte, die Vielbesprochenen zu öffnen.
Ich muß wieder ein eigentümliches Gesicht gemacht haben während dieser Augenprozedur. So etwas war mir im Leben noch nie vorgekommen, und soviel primitivprotzige Eitelkeit und naive Dummheit hatte ich noch nie an einem Haufen beisammen gesehn. Ich mußte absolut etwas sagen, das hielt mich nicht; ich schob also die Erzieherin in den Vordergrund und bemerkte:
»Ich glaube, es ist einem Kinde nicht von Nutzen, derart seine Schönheit zu rühmen. Es wird eitel vor der Zeit. Lassen Sie Sascha groß werden; dann wird er vernünftig und selbst urteilen können.« Und großartig schloß ich: »Dies sage ich als seine Erzieherin.«
Herr Bjelsky zeigte alle seine Zähne und hörte mit so großem Respekt zu, wie wenn einer der alttestamentarischen Propheten den Mund zu weisen Reden aufgetan hätte. Und nachdem ich geendet, wandte er sich an seine Gattin und sagte laut:
»Wie klug sie spricht! Wie geistvoll! Wie sie ihre Sache versteht! Gottlob haben wir eine solch treffliche Erzieherin gefunden, nicht wahr, Fanny? Also der Junge wird nicht mehr gerühmt. Der Erzieherin muß gehorcht werden! Gebildete Eltern unterstützen die Erzieherin immer! Sascha, geh an deinen Platz!«
Das war das unerwartete Resultat meiner so ganz selbstverständlichen Rede. Mit tiefgründigem Respekt überreichte mir hierauf der Hausherr den Teller mit Suppe; ich hatte, wie es schien, mit meinen paar Worten unbewußt eine Art Examen abgegeben über meine pädagogischen Fähigkeiten und mir mit einem Schlage das Terrain erobert.
»Erziehen Sie meinen Sohn ganz nach Ihrem Gutdünken«, meinte Herr Naum mit Pathos, als er den Teller vor mich stellte; »seine Erziehung liegt in Ihren Händen; wir werden uns nicht dreinmischen.«
Auf den Tisch kam zuerst eine rote Kohlsuppe. Dann erschien ein Huhn, das, da es in der roten Suppe gekocht sein mußte, auch ganz rot war. Dazu schien es bis zur äußersten Trockenheit ausgekocht zu sein und schmeckte schlecht; Salzgurken bildeten seine Garnitur. Zuletzt wurde vor mich ein Teller gestellt mit einem so dicken, steifen Quittenkompott, daß ich den Löffel darin nicht vorwärts bewegen konnte.
»Behagt Ihnen dies Kompott, Fräulein?« fragte mich Frau Fanny über den Tisch. »Es schmeckt sehr gut. Unsere Köchin versteht keine süßen Platten zuzubereiten, und so haben mir meine Verwandten aus Kischenjoff ein ganzes Faß voll davon geschickt. Da mein Mann beinah immer abwesend ist, ich kein Süßes esse und Sascha nichts davon bekommt, so wird Ihnen das Kompott für mindestens ein halbes Jahr reichen.«
Reizend, diese Quittenperspektive! Entschieden mußte ich an dem Faß zu Grunde gehen. Ich gab mir ernstlich Mühe, kein erschrockenes Gesicht zu machen, stand nach dem Kompott vom Tische auf und äußerte den Wunsch, mich ein wenig ausruhen zu dürfen, da ich von der Reise müde sei. Herr Bjelsky meinte sofort sehr zuvorkommend: »Wie Sie wünschen. Sie sollen sich bei uns glücklich fühlen. Ganz wie zu Hause. Bei uns ist die Erzieherin ein Mitglied der Familie, wie es sich in einem gebildeten Hause geziemt. Gehn Sie nur und ruhn Sie sich aus!«
Ich begab mich auf mein Zimmer, das mich in seiner ganzen spärlichen Dürftigkeit so absolut nicht wohnlich anmutete. Aber ich war wenigstens allein und legte mich auf mein Bett. Zugleich konstatierte ich, daß es sehr hart war; jedoch der Kissenberg sollte aushelfen. Ich füllte das ganze Bett mit den großen Kissen aus, eins neben das andere, so daß ich, wenn auch nicht bequem, so doch wenigstens weicher zu liegen kam. Nun bohrte ich den Kopf in den Flaum und dachte nach. Im Grund war so vieles zum Lachen da. Wenn aber niemand um dich ist, der mitlacht, sondern wenn alles und jedes ernst gilt und ernst gefaßt sein will, da vergeht das Lachen bald, und die Trostlosigkeit kommt. – Beim Worte Trostlosigkeit angelangt, fühlte ich, wie mir etwas in der Kehle drückte und wie es mir die Lider schmerzhaft zusammenzog. Ich heulte, heulte in das Kissen, in den Überzug, in den Flaum hinein, Tränen der Enttäuschung und des Selbstmitleids. Wo war ich hingeraten? Hatten mich die Leute absichtlich getäuscht mit dem schönen Dorf, dem Gehöft, pochend auf meine Jugend und Unkenntnis der Verhältnisse und Gegend? Ich weiß es nicht. Sie hatten andere Augen, andere Ohren, andere Vorstellungen, andere Begriffe als ich, das war mir bereits aus den kurzen Erfahrungen klar geworden. Sie selbst fühlten sich ja augenscheinlich behaglich und waren gewiß ehrlich überzeugt, es könne mir bei ihnen nur gefallen. Bis jetzt aber erblickte ich auch nicht das kleinste Anknüpfungsmäschchen, woran ich mein Fädchen hätte einspinnen können. Da war ein großer, leerer Raum zwischen diesen Menschen und mir, ein Raum, der nicht mit gutem Willen von meiner Seite und Güte von ihrer Seite ausgefüllt werden konnte. Ich kam mir so fürchterlich kultiviert vor seit den paar Stunden die ich im Hause war, und alles, was getan und gesprochen wurde von Herrn Naum und seiner Fanny, das schien mir so entsetzlich primitiv. Das war wohl der leere Raum: der Unterschied, der zwischen völlig verschieden gearteten und erzogenen Menschen liegt, und dieser Raum konnte gewiß mit der Zeit nur weiter, nicht enger werden. Ich liebe Kinder, und liebe sie stets und überall; vielleicht machte mir Sascha am Ende die Eltern sympathischer und die Verhältnisse erträglicher? Obwohl das Dorf ein elendes Nest und das Gehöft kein Gehöft war, ließ es sich vielleicht doch leben?
»Abwarten, nur hübsch abwarten«, sagte ich mir wieder und merkte, wie ich bei dem Selbsttrost langsam einschlief. –
Als ich erwachte, dunkelte es bereits. Ich ging ins Speisezimmer. Frau Fanny und Sascha standen am Fenster und blickten in den Hof hinaus. Ich trat zu ihnen. Da legte, wieder zu meiner äußersten Verwunderung, die junge Frau ihren Arm um mich und drückte mich so fest an sich, daß mir die Umarmung geradezu Schmerzen verursachte. Ich wandte den Kopf und blickte ihr ins Gesicht.
»Sie gefallen mir so außerordentlich«, meinte sie zärtlich. »Ich dachte, ich würde Ihre Ankunft nicht erwarten können; die zwei letzten Nächte habe ich kein Auge geschlossen.«
»Ja, warum denn?« fragte ich furchtbar nüchtern und fühlte, wie mir dank dieser exaltierten Gefühlsgeschenke die Kälte bis ans Herz hinanstieg.
»Ich weiß nicht, das ist meine Art. Wir lieben alle so in der Familie.« Dabei fuhr sie mir mit der flachen Hand über die Wange, und ich hatte die Empfindung, als ob an der berührten Stelle ein nasser Streifen zurückgeblieben sei. So war es auch. Frau Fanny hatte nämlich die üble Gewohnheit, die Nägel zu kauen, und da war sie mir nun mit den nassen Fingerspitzen die Wange hinuntergeglitten. Mir wurde unheimlich, und ich löste mich sachte aus der unmotivierten Umarmung.
»Wer wohnt hier im Hof?« fragte ich.
»Da hinten im großen Haus wohnt ein Offizier mit seiner Frau, seiner Köchin und seinen zwei Soldaten. Bei ihnen zur Miete ist ein anderer, unverheirateter Offizier mit seinem Soldaten.«
»Also zwei Offiziere, drei Soldaten und zwei Frauen«, addierte ich. »Verkehren Sie mit der Frau des Offiziers?«
»O nein«, entgegnete mir Frau Fanny. »Die würde ihren Fuß nie über unsere Schwelle setzen. Sie soll aber deutsch und französisch sprechen; vielleicht gelingt es Ihnen, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Im selben Augenblick trat ein junger Offizier in den Hof, blond, mit kurzem Spitzbart. Er schlug sich wacker durch den Kot und hüpfte von einem der hingelegten Bretter auf das andere.
»Ist das der Verheiratete oder der Ledige?« forschte ich.
»Der Ledige«, wurde mir zur Antwort.
Als die Lampe angezündet war, betrachtete mich Frau Bjelskaja bald von dieser, bald von jener Seite, und ihr aufmerksames Betrachten begleitete sie mit wohlwollendem, halb geheimnisvollem Lächeln. Ich glaube, dies Lächeln hatte wieder etwas mit meiner Nase zu tun; aber ich konnte nicht erraten was.
»Also morgen fange ich mit Sascha an«, begann ich, nur um etwas zu sagen.
»Ja, und mit mir auch«, erklärte mir die junge Frau. »Ich will nämlich auch Stunden haben, und wenn mein Mann Zeit hat, wird er der Stunde auch beiwohnen.«
Ich sagte kein Wort, daß davon in unserer Abmachung nicht die Rede gewesen, sondern freute mich im Gegenteil auf die Zerstreuung – denn wie um Gottes willen sollte ich auch sonst den Tag totschlagen?
»Lesen Sie viel?« fragte ich wieder, um das Gespräch nicht ausgehen zu lassen.
»Nein«, gestand mir lächelnd Frau Fanny. »Ich lese seit zwei Monaten immer dieselbe Geschichte und kann nicht damit zu Ende kommen.« –
»Aber was tun Sie denn immer vom Morgen bis zum Abend?«
»O, bis jetzt erteilte ich Sascha Unterricht. Jetzt werden Sie ihn übernehmen. Nun, dann gehe ich in mein Schlafzimmer und liege auf meinem Bett. Ich schlafe gewöhnlich schlecht nachts; da schlafe ich denn tags. Übrigens geht mir der Tag stets sehr schnell um.«
Wenn ich dies nur von mir hätte behaupten können! Dieser heutige Tag schien ja kein Ende nehmen zu wollen.
Nach dem Abendbrot brachte ich Sascha selbst zu Bett. Dies stand auch nicht in meinem Programm; beide, Herr und Frau Bjelsky, wehrten sich entschieden dagegen und meinten, das solle Rose tun. Ich hatte aber so innig den Wunsch, mich wenigstens an das Kind anzuschließen, daß ich Sascha stets selbst zu Bett brachte. Er lernte dabei immer noch zwei bis drei französische Wörtchen. Als ich an diesem ersten, trüben Abend seine weiche, runde Wange mit meinen Lippen berührte, und hörte, wie er gegen die meine liebkosend schnaufte, fühlte ich es für einen Augenblick warm werden in mir – aber nur für einen Augenblick.
Am andern Morgen erwachte ich in höchst melancholischer Stimmung. Beinah mit Furcht und Entsetzen sah ich dem kommenden Tage entgegen. Aber ich raffte mich von neuem energisch in die Höhe und versuchte, als ich das Fenster öffnete, neben dem Kehrichthaufen sonst noch etwas zu sehn, etwas Freundlicheres, Wohltuenderes, vielleicht den Schnee weit draußen oder doch Menschen. Aber da war nur Kot und Kot und die zwei Truthähne, die eben dahergewatschelt kamen, ihrer großen Fundgrube, dem Kehrichthaufen zu. Mit gemacht heiterem Gesicht trat ich ins Speisezimmer. Hinter dem Samovar und dem roten Tischtuch saß Frau Fanny; aber sie war nicht allein. Mein Auge überflog mit Blitzesschnelle eine ganze Schar den Fenstern entlang sitzender Gestalten, und im Nu zählte ich ihrer zwölf. Alles waren schmutzige, übelriechende Juden, halb Krämer, halb Bettler, im langen, fettigen Schwarzrock; jeder von ihnen war einer der bekannten und unglückseligen Pogromtypen, dessen bloßer Anblick im Russen den Barbaren mit den unmenschlichen Gelüsten herausfordert. Der Herr über uns im Eisenbahnwagen war ein perfekter Gentleman gegen jeden einzelnen von diesen da gewesen. Das Zimmer war voll von den unseligsten Düften. Und ich sollte nun in dieser Gesellschaft Tee trinken.
»Haben Sie gut geschlafen?« fragte freundlich die Hausfrau. Ich wußte es in diesem Augenblick wirklich nicht mehr, sondern stellte meine entsetzte Frage: »Wer um Gottes Willen sind diese Leute?«
»Geschäftsleute«, wurde mir ruhig die Antwort zuteil. In dem Tone bemerkte ich, daß Frau Fanny für meinen unbehaglichen Zustand absolut kein Verständnis haben mußte; gelassen goß sie mir ein Glas Tee ein und reichte mir die Butter über das rote Tischtuch. Aber ich konnte mich nicht setzen und fuhr leise fort: »Warum sind sie hier im Speisezimmer?«
»Sie warten auf meinen Mann,« entgegnete sie mir und schlürfte ihren Tee.
»Warum warten sie denn hier und nicht im Bureau?«
»Weil das Bureau schon voll ist.« Allerdings war das Bureau kein Bureau, wie auch das Gehöft kein Gehöft war, sondern es war ein ganz kleiner Vorraum, in dem an der einen Wand eine Art Pult stand, sonst nichts.
»Aber mein Gott, sie könnten doch in der Küche warten,« wagte ich, ungeduldig geworden über die stumme, stinkende, zwölfköpfige Gesellschaft.
»Die Köchin will sie nicht haben,« erwiderte mir Frau Bjelskaja darauf und lachte. So, und ich sollte sie haben! Resigniert setzte ich mich endlich doch nieder, nahm mir aber vor, zu bitten, man möchte für ein und alle Mal die Krämerbettler oder Bettlerkrämer mit den Ringellöckchen an einem andern Ort unterbringen. Den Rücken den zwölf Stämmen Israels zugekehrt, zwängte ich mühsam ein Glas Tee hinunter. Dann stürzte ich hinaus und forderte Sascha, der in der Küche herumhantierte, zu einem Spaziergange auf; denn trotzdem Herr Bjelsky mich versichert hatte, man gehe in Tultschin nicht spazieren, wollte ich es doch versuchen. Es war so trübe und grau auf der Welt und am Himmel, als ich mit Sascha auf die Straße trat. Straße, hm! Es waren eigentlich in Tultschin keine Straßen, bloß Kotbetten, Schmutzgräben, und zu beiden Seiten davon erhob sich eine Art erhöhter, holpriger Fußpfad. Sascha trug einen schmutzigweißen Wintermantel und eine ebensolche Mütze; der Mantel mußte vorne zwei Knöpfe offen behalten für den bereits erwähnten, sich stark vordrängenden Riesenbauch des Knaben. Als wir aus dem grün angestrichenen Holzgitter, das unsern Hof umgab, herausgetreten waren, erblickte ich zuerst wieder die mächtige, palastähnliche Kaserne.
»Das ist die Kaserne,« bedeutete mir mein Zögling und schnaufte dazu. Das waren die ersten Worte eigentlich, die er von sich aus an mich richtete; der Junge war nämlich nicht lebhaft, nicht gesprächig, sondern phlegmatisch und langsam, jedoch begabt. Ich hatte stets alle Mühe, etwas aus ihm herauszubekommen, obwohl ich auf jede Weise versuchte, ihn vertraulich zu machen. Ich beschränkte mich schließlich darauf, daß ich ihm auf unsern Spaziergängen stets vier bis sechs französische Wörtchen beibrachte und sie ihn so oft wiederholen hieß, bis wir wieder zu Hause waren.
Sascha und ich bogen also an der Ecke in die große Hauptstraße ein. Mein Bestreben war, aus all dem Schmutz herauszugelangen auf die breite, schöne Landstraße, wo zu beiden Seiten die im Schnee gehüllte Steppe schlummerte. Wir standen an dem einen Ufer des Kotstroms, und vergebens spähte ich nach einem passenden Übergang. Da riß der Apotheker, der seine kleine Bude gleich in der Nähe unseres Standorts hatte, die Apothekentür auf und rief uns zu: »Dort oben, weiter oben, ist ein Übergang; versuchen Sie's dort!« Wir schritten hinauf. Der freundliche Mann blieb uns bei unsern Ausgängen auch fernerhin Wegweiser. Bald war der Übergang weiter unten, bald weiter oben, je nach dem massenhaften Auszug der Gänse, Schweine, Soldaten und der Kinder Israels. Ich nahm Sascha fest an die Hand, und wir schritten mutig in den Kot. Aber schon beim ersten Vorwärtstappen blieb der Junge hängen; er verlor beide Galoschen zur selben Zeit und erhob ein fürchterliches Gebrüll. Der Apotheker trat erschrocken vor die Ladentür und versuchte uns durch Zurufe zum Vorwärtswagen zu ermuntern. Jedoch Sascha schrie wie am Spieß. Hilfesuchend spähte ich umher. Da kam von der Kaserne her ein menschenfreundlicher Soldat gerannt; er watete in seinen hohen Stiefeln in den Kot von der andern Seite her, nahm den brüllenden Sascha auf den Arm, zerrte die beiden Gummischuhe aus der dunklen Untiefe heraus und stapfte mit seiner Last glücklich ans andere Ufer. Mit unendlicher Kühnheit zog ich hintendrein. Nun ging es auf dem erhöhten Fußpfad weiter um die Ecke rechts. Da stand die Kirche, und nicht weit von ihr erschienen die mir schon bekannten Bauernhütten. Endlos dehnte sich von hier ab der Schnee. Wir wanderten drei Mal von der Kirche bis zu den Hütten und wieder zurück. Niemand begegnete uns als ein Soldat mit einem Paar Stiefel und zwei Juden mit einem großen Sack. Beim Rückweg kamen zwei Offiziere den Fußpfad hinauf in Begleitung zweier Damen. Beide Damen trugen dicht unter dem Kinn riesiggroße Seidenmaschen, die eine blau, die andere rot. Frau Fanny bedeutete mir später, das seien Offiziersgattinnen gewesen; denn diese trügen hier im Dorf alle die Maschen, als Abzeichen der Würde.
Der aussichtslose Spaziergang hatte auf mich sehr böse eingewirkt. Ich resümierte meine Enttäuschungen: Das Dorf – kein Bauerndorf; das Gehöft – kein Gehöft; die Menschen – keine Menschen; der Spaziergang – kein Spaziergang. Was blieb mir ums Himmels willen denn noch?
Als wir in den lottrigen Holzzaun eintraten, repetierte Sascha noch einmal seine frischgelernten sechs französischen Wörtchen und wußte sie alle. Im Speisezimmer waren die zwölf Stämme Isreals bereits verschwunden. Ich setzte mich bald darauf an das rote Tischtuch und erteilte Frau Fanny die erste Stunde. Herr Bjelsky kam auch auf kurze Zeit und versuchte ein paar Wörtchen aufzuschnappen.
»Die Feder« und »die Pille« wünschte er zu wissen. Warum gerade die zwei, wußte ich nicht. Unglücklicherweise aber brachte er es nicht fertig, gerade diese beiden Wörtchen richtig auszusprechen; denn da das Russische kein »ü« hat, sondern nur »u« und »ju«, so bekam er die verlangte Nuance einfach nicht heraus. Mit seinen »pljüme« und »pilljüle« verschwand er aber dennoch glückselig und gebildet wieder in seinem Bureau. Ich war froh, als er ging; denn während allem Unterricht bekam ich die Erinnerungen an die zwölfköpfige Morgengesellschaft immer deutlicher zu fühlen. Das zwackte und stach und hüpfte und kniff nur so an mir herum. Ich mußte in meinem Zimmer verschwinden. Zwölf lebende Flöhe habe ich an diesem verhängnisvollen Tage elendiglich zu Tode geführt – also von jedem Geschäftsfreunde einen.
Zum Mittag gab es dies Mal Nudelsuppe, gehackte Koteletten, die üblichen Salzgurken und mein unvermeidliches Kompott. Ich will hier gleich noch bemerken, daß im Hause Bjelsky jeden zweiten Tag dasselbe auf den Tisch kam und zwar mit stereotyper Sicherheit und Selbstgenügung. Einmal erschien die rote Suppe und das rote Huhn und das andere Mal die Nudelsuppe und die gehackten Koteletten. Am Samstag durfte dem Gesetz gemäß nicht gekocht werden; so wurden denn die Speisen am Freitag zubereitet und am Sabbat bloß in den warmen Ofen gestellt. An diesem Tage gab es statt des Kompotts stets eine Art Eiweiß- und Gelatinepudding, der in einem Papier serviert wurde und auch rosenrot aussah.
Nach dem Mittag fragte ich Frau Fanny nach Büchern. Sie führte mich in ihr Schlafzimmer, das neben dem meinen lag, und zeigte mir auf einem Regal den gesamten Bücherschatz des Hauses. Es befand sich kein einziges russisches Buch darunter; alles war hebräisch. Unglücklicherweise hatte auch ich nichts an Lektüre mit mir genommen; alles war in Odessa zurückgeblieben. Ganz zufälligerweise fand ich aber unten in meinem Koffer meine Bibel, die mir die Patin zur Konfirmation geschenkt hatte. Nun beschloß ich, die Bibel recht eingehend zu studieren, und vor allem wollte ich aus dem alten Testament die soziale Stellung der Frau im jüdischen Altertum herausbeobachten. Ich setzte mich also im Speisezimmer ans Fenster und schlug die Bibel auf. Da fiel mein Blick zufällig auf die Stelle im 5. Mose 23, Vers 12-14. Da hieß es: Und du sollst außen vor dem Lager einen Ort haben, etc.
Und wie ich das gelesen hatte, fing ich erst ernstlich an, über die intimeren Verhältnisse unseres Hauses nachzudenken.
Dann fuhr ich in meiner Lektüre weiter und spähte ab und zu in den Hof hinaus, ob nicht irgend etwas Interessantes am Ende dort zu entdecken sei; nichts, nichts als Kot. Frau Fanny war nach ihrem Schlafzimmer gegangen; Sascha steckte bei seinem Vater im »Bureau«, und ich saß über meine Bibel gebeugt hinter dem Vorhang und ließ die Fliegen um mich herum summen. Da hörte ich Schritte im Hof. Der junge Offizier mit dem blonden Spitzbart trat soeben in den Hof, kam auf das Pfützenbrett zu und gab sich alle Mühe, seine Stiefel nicht zu beschmutzen. Ich habe früher nie viel Sympathie und herzlich wenig Interesse für den russischen Offizier empfunden. Aber der da, der des Morgens, Mittags und Abends aus dem Hof hinausging und in den Hof zurückkehrte, der schien mir plötzlich der Inbegriff alles Erstrebenswerten. Erstens war er ein Mensch, zweitens ein Christenmensch, drittens ein – sage und schreibe – Kulturmensch und viertens ein Gesellschaftsmensch. Da hatte ich also vier ganze Menschen beieinander. Dieser Offizier mußte absolut der Held meines Romans werden, und beide Augen zur selben Zeit wollte ich auf ihn werfen. Bekanntschaft würde man ja vielleicht doch machen können trotz der Verhältnisse, und alles andere sollte sich dann geben. Nur um Gottes willen nicht dies objektlose Vegetieren von Tag zu Tag, wie ich es in dieser totalen Einsamkeit kommen sah; ein Interesse mußte ich mir schon jetzt schaffen! Mit diesen unternehmenden Gedanken preßte ich die Nase fest ans Fenster, um meinen Auserkorenen gut betrachten zu können und um allenfalls auch von ihm gesehen zu werden. Aber er hob nicht einmal den Kopf, sondern spähte, beide Hände in den Manteltaschen, wie er am besten durch den Kot gelangen könne. Ich Unglückselige! – Später kam der alte Ambros mit seinem Faß Wasser in den Hof gefahren, das er jeden Tag beim Fluß zu füllen hatte; denn Kanalisation war natürlich in Tultschin keine, und das Trinkwasser kam direkt vom vorbeifließenden Gewässer her. Als auch Ambros um die Ecke verschwunden war, herrschte wieder die alte Kotstille um das Haus herum, und ich studierte in meiner Bibel weiter. Später erschien Sascha, und ich erzählte ihm eine Geschichte, und schließlich trat verschlafen die Hausfrau ins Speisezimmer. Wir saßen beisammen in der bereits dämmrigen Stube und plauderten so gut es ging. Die junge Frau drückte mir ab und zu zärtlich die Hand und betrachtete mich wiederum bald von dieser, bald von jener Seite, und zwar tat sie dies mit einem leisen, zärtlichen Wiegen des Kopfes.
»Warum betrachten Sie mich so?« fragte ich endlich.
»Ich werde es Ihnen sagen, wenn die Lampe angezündet ist«, antwortete sie geheimnisvoll. Schon das dritte Mal beschlich mich das Gefühl, als ob meine Nase an der Sache beteiligt sei. Als es ganz dunkel war, zündete sie die Lampe an, und das Licht fiel mit mattem Petroleumschimmer auf das rote Tischtuch, auf dem bereits die Spuren aller Frühstückseier in gelben Schmieren abgelagert waren.
»Nun?« fragte ich.
Sie saß mir am Tisch gegenüber und beguckte mich mit erneuter Aufmerksamkeit. Dann hub sie lächelnd an: »Wissen Sie, daß Sie beim Lampenlicht noch viel hübscher sind als am Tage?«
»So?« entgegnete ich bloß.
»Und wissen Sie, warum ich Sie absolut in meinem Hause haben wollte?«
»Nein«, gestand ich verwundert.
»Wegen Ihrer Nase.« – Also doch die Nase; so ganz unschuldig war sie demnach nicht. Und wieder fuhr ich unwillkürlich mit dem Taschentuch über sie hin.
»Lassen Sie sie nur in Ruh!« rief Frau Bjelskaja lachend. »Sie ist hübsch und gerade, ich bemerkte das schon bei unserer ersten Zusammenkunft im Hotel; ich liebe nämlich gerade Nasen.« – Das war es also.
Daß die junge Frau gerade Nasen liebte, kam mir nun nicht sonderbar vor, denn in ihrer Familie waren sie nicht heimisch; daß aber meine Nase mir diesen Streich gespielt und mich in dies elende Nest gebracht hatte, das konnte ich ihr lange nicht verzeihen. Ich verfiel auf dieses hin langsam, ganz allmählich in garstige, trübe Reflexionen.
Mein Gott, mein Gott, wohin bin ich eigentlich geraten! Ich arbeite nichts, ich erlebe nichts, rein gar nichts, und doch wird mir alles zum Erlebnis, und zwar zum deprimierenden Erlebnis; es riecht von Stunde zu Stunde mehr nach Lindtschokolade und Flucht.
Gestern ist Herr Bjelsky wieder in Geschäften verreist; ich habe ihn im Grunde wenig gesehen während seines Aufenthaltes hier; er war immer im »Bureau« und erschien nur bei den Mahlzeiten. »Wie gefällt Ihnen das Dorf?« fragte er mich gestern beim Quittenkompott. »Ich hoffe gut. Warum sollte es Ihnen nicht gefallen? Sie wollten ja auf ein Dorf. Ich traf heute einen Geschäftsfreund, der hat Sie mit Sascha auf dem Spaziergang gesehen und erkundigte sich, ob dies unsere Erzieherin sei. Ja, à propos, wie steht es mit Saschas Erziehung?« schloß er. »O damit steht es gut in den paar Tagen,« erwiderte ich. »Aber schlimm steht es mit dem Spazieren.«
»Sie brauchen ja nicht zu spazieren; bleiben Sie zu Hause, da ist es viel schöner. Musizieren Sie ein wenig mit meiner Frau auf dem prachtvollen Piano. Übrigens werde ich Ihnen nach dem Mittag Geige spielen. Heute abend verreise ich nämlich wieder nach Odessa. Ach wir Geschäftsleute, immer auf der Reise«, schloß er seufzend.
»Schon heute abend verreist du, Naum?« fragte seine Frau. »Da bleiben wir denn allein, das Fräulein und ich.«
»Du brauchst dich ja nun nicht mehr zu fürchten, Fanny«, entgegnete er und streichelte ihre Hand. »Ihr seid nun euer drei, und sollte was passieren, so verteidigt ihr euch eben alle drei.«
»Warum verteidigen, gegen wen?« fragte ich.
»Ich fürchte mich des Nachts«, sagte mir hierauf Frau Fanny, und ich bemerkte, daß Tränen in ihre Augen traten.
»Vor Dieben. Ich schlafe manchmal ganze Nächte lang nicht und weine vor Angst.«
»Nicht so schlimm, nicht so schlimm«, beschwichtigte zärtlich Herr Bjelsky und stand vom Tische auf. »Sie ist nervös«, meinte er gegen meine Seite hin, und küßte seine Frau.
»Gehen wir in den Salon!« fuhr er dann mit einer einladenden Handbewegung fort. »Ich werde das Fräulein nun ein bißchen zerstreuen; denn mir scheint, sie mache ein trübseliges Gesicht.« Im Salon setzte sich Sascha andächtig auf ein Fichtenzäpfchenstühlchen und schnaufte. Herr Naum stimmte die Geige, und Frau Fanny tippte ihm die Noten auf dem Klavier vor. Aber als das eigentliche Konzert anheben sollte, weigerte sich Frau Fanny wiederum zu spielen. »Nun, da musiziere ich eben allein«, sagte der Hausherr resigniert und blickte mich dabei entschlossen an.
Er legte die Geige auf die Schulter, den Bart darüber und geigte. Nein, er geigte nicht, er gog, go-o-og, wie auch sein Vater und Vorvater gegogt haben mußten und auch Sascha einst gogen wird. Er kratzte und rieb auf seiner Geige herum wie mit einer Stiefelbürste; er schnaufte darüber hin und preßte schmerzverzerrte Töne heraus, Töne, die kaum geboren, sofort wieder erstarken, untertauchten im Geigenkasten; Töne, die tief drinnen geschlummert hatten und nun auf einmal aufwimmerten, seufzten, stöhnten, jubelten, schnurrten; Töne, die hin und hergehackt wurden wie rohes Fleisch; klänge voll unverdorbener musikalischer Naivität und ungewohnter Klangfülle; ein Gehetze, Gestreiche, ein rasendes Auf- und Abschwellen, ein Gequetsche und Gesurre, so ungefähr wie es sein mußte, als die Welt noch ein Chaos war und die Teufel sich mit ihren Großmüttern herumbalgten. Als Herr Bjelsky geendet, nahm er die Geige von der Schulter, sah mich strahlend an und erklärte, daß das eine Phantasie gewesen sei oder eine Improvisation, wie man es nennen wolle; denn am liebsten sei es ihm, wenn er sich so recht gehen lassen könne. Mir blieb jedes Wort im Halse stecken, und die Ohren noch voll von dem Gehörten starrte ich ausdruckslos hin zu den zwei Engelsleuchtern auf dem Klavier. Herr Bjelsky nahm die Geige wieder auf, und nun erklangen die Melodien des sogenannten jüdischen »Fröhlich,« der an jeder Hochzeit aufgespielt wird. Während des Spiels machte der Geiger kleine, hüpfende Bewegungen, als ob er tanzen wolle. Als Sascha das bemerkte, glitt er von seinem Stühlchen herunter, gesellte sich zum Vater, und nun hüpften die beiden auf dem Blaublümchenteppich herum, wiegten sich auf ganz charakteristische Art langsam hin und her und neigten die Köpfe bald rechts, bald links. Die Köchin Rose öffnete bei den bekannten Klängen vorsichtig die Tür; immer lebhafter klang das Spiel, und immer großartiger wurde gehüpft. Als der Tanz zu Ende war, klatschte Frau Fanny laut lachend Beifall, und Rose verschwand wie sie gekommen. In mir aber wollte trotz aller Bemühungen kein einziger Gedanke froh werden.
Am Abend verreiste der Hausherr, nicht ohne mir pathetisch wiederholt zu haben, er lege Saschas Erziehung ganz in meine Hände, und er hoffe, ich werde mit seiner Frau gute Freundschaft halten. –
Wenn wenigstens an Sascha etwas zu erziehen gewesen wäre! Aber es gab auch in dieser Beziehung nichts für mich zu tun. Er hatte im Grunde ja keine Unarten, war viel zu phlegmatisch dazu. Und wenn ich auch einiges sah, das zu tadeln gewesen wäre, so verlor der Tadel in den Verhältnissen, in denen er geboren war und wohl auch bleiben würde, den Sinn. Die Eltern fanden Sascha genial; die Tante wollte für ihn ins Wasser; instinktiv fühlte ich, daß ich hier allem nur den gewohnten Lauf lassen müsse; denn für ein Eingreifen in entgegengesetztem Sinne würde mir niemand Dank wissen trotz der pathetischen Versicherungen.
Und nun muß ich erzählen, auf welch unverhoffte Weise das Schicksal mich mit meinem Auserkorenen, dem Offizier mit dem blonden Spitzbart, zusammenführte und auch auf ewig auseinanderriß.
Ich hatte also Frau Fanny nach den intimern Verhältnissen des Hauses gefragt, und mit ganz natürlicher Selbstverständlichkeit wurde mir die Antwort: »Gehn Sie nur hinauf in den Hof; dorthin gehn alle!«
»Wer alle? Die zwei Offiziere, die drei Soldaten, die Dame, die Köchin und unser ganzes Haus?«
Ich schritt hinauf in den Hof. Noch nie war ich solche Pfade gewandelt; herausgeschmissen aus aller Kultur kam ich mir vor – aber ich ging. Weiter oben, da, wo man an Ambros' Häuschen vorbeikam, lag noch Schnee; dann erweiterte sich der Hof ganz unerwartet, und das andere lottrige Ende des grünen Gartenzauns kam zum Vorschein. Ganz hinten bei diesem Gartenzaun lag ein Schneehaufen. Dahin lenkte ich meine bebenden Schritte. Und wie ich ziemlich nahe war, sah ich, daß etwas neben dem Schneehügel sich bewegte; jedoch konnte ich nicht unterscheiden was. Da kam aber in vollem Trab von der andern Seite her ein Soldat den Hof hinaufgerannt, einer, der sehr in Eile zu sein schien. Er stürzte, ohne mich zu bemerken, nach dem Winkel neben dem Schneehaufen.
»Geh zum Teufel!« knurrte da eine militärische Stimme hinter dem Schneeturm hervor. Aber der eilige Soldat stellte sich idiotisch indiskret und erschrocken in Positur und grüßte stramm.
»Geh zum Teufel!« rief nun die Stimme böse und ungeduldig, und ich sah deutlich nicht weit über der Erde eine Offiziersmütze auftauchen und einen blonden Spitzbart darunter. Wie besessen rannte ich davon. –
Da hatte ich ihn also gefunden, den Mann, auf den ich meine Augen hatte werfen wollen. Ich fühlte, daß es aus war, aus sein mußte barbarischer Umstände halber, in denen ein zweites ähnliches Zusammentreffen ganz gut möglich war. Unwillkürlich und mit tiefer Wehmut gedachte ich der entdeckten Bibelstelle 5. Mose 23, Vers 14 – 16, und seufzte in mich hinein.
Noch am selben Nachmittag schrieb ich ein französisches Briefchen an die Offiziersgattin im Hof. Ich bat sie, mir Bücher zu leihen, wenn sie solche habe, und lud sie ferner im Namen von Frau Fanny zu uns ein. Schon nach einer halben Stunde kam die Antwort; derselbe Soldat, der es am Morgen im Hof so eilig gehabt, überbrachte sie mir: Bücher habe sie leider keine zum Ausleihen, und sie bedaure ferner, uns nicht besuchen zu können, da sie keine Zeit habe. Das hätte ich mir eigentlich denken sollen. Also auch da die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ja, du lieber, lieber, lieber Gott, was war denn zu tun? Womit sollte ich meinen Geist beschäftigen und wo meine junge Arbeitskraft hinstellen? Ich erteilte meine Stunde an Frau Bjelskaja; dann ging ich auf mein Zimmer, um mir dort irgend eine Beschäftigung zu konstruieren. Ich nahm Wasserkrug und Wasserschüssel, die ja gar schmutzig waren, und trug sie hinaus auf die Holzstiege gegen den Hof hin, um sie beide einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Sascha saß neben mir und guckte zu, und wir wiederholten unsere bereits gelernten Wörtchen. Im Hofe standen gerade die drei Soldaten beisammen und hantierten an einem ungeheuren Fisch herum, den sie an einem Eisenpflock zur bessern Handhabung aufgehängt hatten. Ich holte mir eine Handvoll nasser Erde und rieb an den Schmutzjahresringen meines Waschbeckens herum. Da kam Frau Fanny herausgestürzt: »Ums Himmels willen, Fräulein, was machen Sie da? Solche schmutzige Arbeit ist nicht für Sie! Was sollen auch die Leute im Hof von uns denken, daß wir unserer Erzieherin solche Arbeit gestatten! Das ist doch nichts für Damen. Dazu ist Rose da! Rose!« rief sie in die Küche hinein, »komm und reinige das Becken!« Und bei diesen Worten riß sie mir den Gegenstand meines Arbeitsdranges aus der Hand und übergab ihn Rose. – Ich hatte hernach die feste Überzeugung, die junge Frau zürne mir; denn meine selbständige Reinigung des Waschbeckens sah so aus, als ob ich Kritik übe an ihrer Haushaltführung. Ich war überhaupt im Hause ganz ungewollt und unbewußt die wandelnde Kultur und Kritik; ich schien voller Ansprüche, die im Grunde keine Ansprüche waren, sondern bloß Selbstverständlichkeiten, jedoch in andern Verhältnissen. Und weil ich dies empfand, schlich noch eine neue Dosis Unbehagen in meine Seele, und dies Unbehagen mußte sich Frau Fanny mitteilen. Ich wollte also den Waschbeckeneindruck auslöschen in Frau Fannys Gedanken und ging zu ihr ins Schlafzimmer, wo sie, den Kopf ins Kissen gedrückt, auf ihrem Bett lag. Ich setzte mich zu ihr auf den Bettrand und wollte sprechen. Sie aber fuhr in die Höhe, riß mich zu sich nieder und umschlang mich so fest, daß mir der Rücken schmerzte. »Liebe«, sagte sie, »habe ich Sie beleidigt? Sind Sie nicht glücklich bei uns; gefällt es Ihnen nicht?«
»Sie haben mich nicht beleidigt«, entgegnete ich, ohne ihren Gedankengang zu verstehen und ohne auf ihre zwei letzten Fragen zu antworten.
»Aber Sie sind unglücklich bei uns?« drängte sie.
»Ich bin nicht unglücklich; nur habe ich nichts zu tun und langweile mich furchtbar.«
»Aber warum müssen Sie denn den ganzen Tag etwas tun?« fragte sie verwundert. »Andere Leute sind froh, wenn sie nichts zu tun brauchen. Das Nichtstun ist doch besser, angenehmer und gesünder. Seien Sie froh, daß Sie in einem Hause sind, wo Ihre Kräfte nicht überanstrengt werden.«
Ich seufzte. »Wissen Sie was«, fuhr es ihr durch den Sinn, »lassen Sie anspannen, und fahren Sie ein wenig aus!«
»Kommen Sie mit! Das wird für mich netter sein, als mit Sascha allein«, bat ich.
»O nein«, entgegnete sie mir und streichelte meine Hand. »Ich bin müde und mag nicht Toilette machen. Ich gehe so ungern aus. Ambros wird Ihnen das Dorf zeigen, und Sascha kann Ihnen alles erklären.« Sie küßte mich mit großer Überschwenglichkeit; der Waschbeckeneindruck schien in Vergessenheit geraten zu sein, und ich machte Toilette zur Ausfahrt. Nicht mit dem Schlitten, aber mit einem schönen, hochrädrigen Break fuhr Ambros vor. Wieder beschlich mich das unbehagliche Gefühl, auch der alte Kutscher müsse mich heute nicht ausstehn können; denn sicher war in ganz Tultschin außer mir kein Mensch, der Ausfahrten machte in dem Schmutz und dem Kot. Das blankgescheuerte Fahrzeug mußte ja in Zeit von einer Minute über und über besudelt sein, und er, der Alte, hatte das Zusehn. Aber Ambros machte kein grimmiges Gesicht, sondern meinte, indem ein freundliches Grüßen in all die Falten und Fältchen um seine Augen kam: »Will das Fräulein Französin ausfahren?«
Die Sonne stand hoch am blauen Märzhimmel, als wir zum grünen Holztor hinausfuhren. Ich fahre für mein Leben gern, und etwas wie ungetrübte Freude zog für Augenblicke in den einen der vielen Winkel meines nachtdunklen Herzens ein. Aber schon an der nächsten Straßenecke verkroch sich die Freude; denn die Kot- und Pfützenspritzer, die unter den Rädern hervor uns ins Gesicht und ins Haar schossen, verdarben die Stimmung sofort. Der Apotheker trat vor die Tür und grüßte uns. Wir fuhren gegen den Markt hin. Da waren so tiefe Pfützen, daß die Pferde bis über die Kniee darin versanken und mich der alte Ambros mit dem schönen englischen Break lebhaft dauerte. Hierauf ging es wieder ganz unmotivierte Hügelchen und Anhöhen hinan. Buden waren in langer Reihe beieinander, schief die Fenster, lottrig die Türen. Bündel getrockneter Fische hingen an Nägeln neben der Tür und baumelten hin und her; Kringel in großen und kleinen Ringen, alte, dürre, waren dicht daneben, auch Stiefel und binsengeflochtene Schuhe, sogenannte Lapti. Da sah ich auch ein paar plaudernder, handelnder Bauern, den Schafspelz über den Schultern. Für die Fußgänger waren halbertrunkene, lange Bretter in den Kot und das Wasser gelegt, und darauf ruderten die Juden herum, einen Packen alter Kleider unter dem Arm oder einen Sack Graupen über der Schulter. Ab und zu ein Soldat mit einer Kantineschüssel oder einem Riesenbündel. Ich bat Ambros zu halten, und Sascha und ich begaben uns in eine der Buden. Ich kaufte mir weißen Flanell und himmelblaue Seide (denn andere bekam ich nicht), um ein Tragkleidchen zu sticken, weiß Gott für welches Kind. Dann stiegen wir wieder ein, und die Leute glotzten uns an. – Wir fuhren im Kreis herum um das ganze Dorf. Überall zerstreute, in den Kot gesäte Häuser, in denen man hinter den kleinen Fenstern nur dumpf zu vegetieren, aber nicht zu leben schien. Die gütige, helle Sonne machte da nichts besser, im Gegenteil; sie deckte die garstigen Winkel der Trübheit und der Vernachlässigung nur auf und machte einen zum kritischen Zeugen und Ankläger dieses menschenunwürdigen Daseins. So trost- und zukunftslos, stumpf und dumpf die ganze Atmosphäre über dieser Gegend! – Wir fuhren dann fern ab hinaus auf die Landstraße, wo in endlosen Weiten immer noch der Schnee lag und an keinen Frühling zu denken schien. Doch die weiße Welt da draußen stimmte mich noch trüber als die schwarze drinnen, und so bat ich denn den alten Ambros heimwärts zu lenken. Wie in einem Sarg kam ich mir vor, eine Lebendigbegrabene. Jedoch gerade nach dieser Fahrt begann ich bereits am Sargdeckel zu hämmern, und ganz mächtig polterten meine Fluchtgedanken. Wie nur sollte ich es anstellen? –
In der Nacht wachte ich ein paarmal jählings auf, und immer war mir, als ob jemand nebenan schluchze und unter der Decke heftig die Nase schneuze. War es Frau Fanny? Was fehlte ihr? Fürchtete sie sich? – Es mochte gegen zwei Uhr sein, da hörte ich deutlich, wie sie aus dem Bett sprang und in der Richtung des Ofens hin lief. Ich hörte sie die Ofentür aufreißen und hastig wieder schließen. »Was gibt es?« rief ich hinüber. Aber ich erhielt keine Antwort, und alles blieb still.
Am andern Morgen – die Nacht war sehr kalt gewesen und Rose hatte bereits mächtig eingeheizt – trat ich wie gewohnt ins Speisezimmer. Sascha schlürfte sein Ei, das ihm auch wie gewohnt in zwei kleinen Bächen zum Mund hinaus auf das rote Tischtuch floß, und Frau Fanny war noch nicht erschienen. Schließlich kam sie von der Küche her, und sofort bemerkte ich, daß ihre Augen vom Weinen ganz rot und verschwollen waren. Sie wünschte mir guten Tag und setzte sich dann schweigend hinter den Samovar.
»Was ist geschehn?« fragte ich sie, als sie mir mein Glas Tee über den Tisch hinüber reichte.
»Nichts, was sollte geschehen sein?« gab sie mir zur Antwort.
»Sie haben geweint. Warum denn?«
»Nur so, weil ich nicht schlief.«
»Hörten Sie vielleicht Diebe?«
»Ja«, gestand sie dann, »ich hörte die ganze Nacht jemand um das Haus herum schleichen«, und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Kaum aber hatte sie die letzten Worte gesprochen, stieß sie einen kurzen, erschrockenen Schrei aus und rannte in der Richtung ihres Schlafzimmers. Ich hinter ihr drein. Was um Himmels willen konnte geschehen sein? Frau Bjelskaja stürzte nach dem Ofen, in dem das Feuer lustig prasselte und riß das Türchen auf. Ich verstand gar nichts; aber ich kniete neben ihr am Boden, und neben mir kniete Sascha, und alle drei starrten wir erschrocken in den Ofen hinein.
»Meine Brillanten, meine Brillanten!« jammerte Frau Fanny und begann mit dem eisernen Ofenhaken das brennende Holz und die Kohle im Ofen auf die Seite zu schieben. Jetzt begriff ich so nach und nach. Die junge Frau versteckte nämlich alle ihre Kostbarkeiten stets in einer Pappschachtel unter dem Kopfkissen, in ihrer beständigen Angst vor eingebildeten Dieben. Nun hatte sie heute nacht die bewußte Pappschachtel in den Ofen geworfen, um ihr Hab und Gut auf diese Weise sicherzustellen. Am Morgen aber war die Schachtel vergessen worden, und Rose hatte brav eingeheizt. Wir saßen nun wohl eine halbe Stunde lang vor dem Ofen mit dem Brillantschatz, töteten zuerst das Feuer und fanden natürlich keine Schachtel mehr. Nach vielem Herumwühlen in Glut und Asche zogen wir endlich das Armband mit dem großen Brillanten hervor, und dann kam der eine Ohrring, dann der Fingerring, dann der zweite Ohrring. Geschadet hatte das Feuer natürlich den Steinen nicht; nur das Gold war ganz braun angelaufen und sah glanzlos aus.
»Gottlob«, meinte Frau Fanny erleichtert aufatmend, lächelte und fiel mir um den Hals, ich wußte wirklich nicht warum.
Schon bin ich die dritte Woche hier; nach Herrn Tatarnioffs Rezept hätte ich also bloß noch diese Woche auszuhalten, und dann wäre seine Schokolade gewonnen. Die Tage sind endlos, kriechen an mir vorbei wie die Schnecken; ich weiß nicht, was ich mit ihnen tun soll. Ich studiere meine Bibel, erteile meine Stunden, sticke mein Flanelltragröckchen für das geheimnisvolle Kind, schleppe Sascha durch den Kot, führe notdürftig Konversation, würge an meinem Quittenkompott und langweile mich halb krank. Warum bleibe ich auch noch? Weil man mich bei Tatarnioffs auslachen würde? O nein? Warum sollten liebe Leute einen nicht gehörig auslachen dürfen? Ich gäbe ja soviel für ein fröhliches, ansteckendes Lachen, das ich in diesem Trübsinnshaus nie höre – und ohne Lachen kann ich nicht leben, ebenso wenig wie ohne Bücher und Gesellschaft. Also was hält mich noch? Ich glaube, es ist die naive Hoffnung, ich könnte mich doch am Ende noch diesen Verhältnissen anpassen und würde schließlich nicht so kritisch und verständnislos, so nervös und ungeduldig davor- und danebenstehen, wie ich es jetzt tue. Denn die Leute meinen es wirklich herzlich gut bis jetzt. Dazu quält mich auch das Empfinden, als ob ich Frau Fanny verletzen würde durch meine rasche Flucht, und da möchte ich denn, daß alles sich ganz von selbst und natürlich gäbe. Sie hat sich zwar sehr, sehr verändert mir gegenüber in den letzten Tagen. Und ich glaube zu wissen, woher das kommt. Ich ließ unvorsichtigerweise, als ich mit Sascha ausging, mein Tagebuch auf dem kleinen, runden Tischchen in meinem Zimmer liegen. In diesem Tagebuch aber verzeichnete ich gewissenhaft all die Not der zwei Wochen meines Aufenthaltes hier; Frau Fanny behauptet zwar, sie könne und verstehe nicht Deutsch; aber ich weiß, daß sie ganz gut Deutsch lesen und verstehen kann, und entschieden ist sie nun im klaren, wie es um mich steht. Sie ist nicht mehr zärtlich mit mir, weicht meinem Blick und mir aus. Sie beobachtet mich voll Mißtrauen und setzt sich langsam, ganz allmählich in Kampfpositur. Noch tue ich mein möglichstes, heiter zu erscheinen; aber meine Situation ist schief. Aus meinem Tagebuch muß sie gesehen haben, daß ich fort will, und nennt mich wohl undankbar, am Ende gar falsch. Es hält mich kaum mehr in dem lautlosen Hause; die Stimmung wird beinah von Stunde zu Stunde gereizter, und alles in mir ist bis zum Platzen gespannt. Manchmal nehme ich einen tapfern Anlauf und setze mich im Salon ans Klavier. Aber es dauert nie lange; die Zeigefingerengel ärgern mich nach der ersten Viertelstunde schon hinaus. Dann kauere ich, mit der festen Aussicht auf Erkältung, auf der Holztreppe vor der Küche, die in den Hof hinausführt. Ich stütze das Kinn in die Hand und schaue unbeweglich, stumm und stupid in den dunklen Kot. Es kam mir sogar einst der Gedanke, ein Lied auf den Kot zu singen; aber wie ich gerade dabei war, die ersten zwei Verse zusammenzufügen, geschah etwas. Die alte Köchin des Offiziersehepaars aus dem Hause im Hof kam aus einem Schuppen heraus und schleppte einen großen und offenbar schweren Gegenstand mühsam durch den Schnee- und Kotbrei. Und wie ich genauer hinsah, war der Gegenstand ein totes Schwein. Die gute, alte Köchin! Sie besaß nämlich zwei eigene Schweine, die sie seit längerer Zeit mästete und dann für gutes Geld verkaufen wollte. Aber nachdem sie Wochen lang gemästet und gefüttert hatte, war einer ihrer Lieblinge während der letzten Nacht in dem kalten Schuppen elendiglich erfroren. Nun schleppte sie ihn am Schwänzchen durch den Hof und heulte ganz laut dazu. Alle drei Soldaten stürzten auf ihr Gejammer aus ihren Türen, und ich stürzte mit; in einem stummen Halbkreis umstanden wir die Schweinegruppe. Die unglückliche Köchin aber erhob ein Beil und hieb damit auf das tote, dicke, hartgefrorene Schwein los. Allem Anschein nach wollte sie es schlachten; aber das Beil war zu stumpf und der Leichnam zu hartgefroren. Wohl ein Dutzend Mal schlug sie unter strömenden Tränen auf das Tier los; aber jeder Schlag prallte ab wie an einer zu fest gespannten Trommel; wohl wiegte sich der tote Liebling unter der Wucht des Schlages langsam hin und her und streckte alle viere in die Luft; aber nachgeben wollte er nicht. Und wie die Brave noch ein paar weitere Male fruchtlos das stumpfe Beil auf das Schwein hatte niedersausen lassen, nahm sie es wieder beim Schwänzchen und zog es schluchzend zurück in den Schuppen. Wir vier, die drei Soldaten und ich, machten ganz melancholische Gesichter. –
Ich habe Frau Fanny gegenüber letzthin den Wunsch geäußert, ein Bad zu nehmen, und fragte sie, ob keine Möglichkeit vorhanden sei, eins zu bekommen.
»Ach, Sie baden gerne?« entgegnete sie mir. »Mein Mann badet auch gern und tut es, so oft er kann.«
»Aber wo denn?«
»Hier im Hause«, sagte sie, blickte mich aber dabei nicht an und rumorte etwas im Buffet.
Aber ich gab sie nicht frei. »Wie stellt er denn das an?« wünschte ich zu wissen; denn ich hatte bis jetzt im Hause keine andere Bademöglichkeit entdeckt außer einer ganz kleinen Holzkufe, in der Sascha wohl gebadet wurde, als er das Licht der Welt erblickt hatte; größer wie für ein neugeborenes Kind war die schmale Kufe nicht.
»Wir haben eine große Badewanne«, erklärte Frau Bjelskaja trocken und wandte sich nach der Tür. Aber ich trieb sie in die Enge; die Sache war mir wichtig. »Wo denn?« forschte ich hartnäckig. »Drunten im Keller«, sagte sie schnell und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Die junge Frau log, ich wußte es ganz genau; im Keller war keine Badewanne. Sie glaubte lügen zu müssen, weil die gradnasige Ausländerin ungewöhnliche Fragen an sie richtete. Sie schämte sich, die Wahrheit zu gestehn, weil ich sogenannte Kulturforderungen an sie und das Haus stellte, denen beide nicht gewachsen waren. Und etwas scheinen, vormachen wollte sie um jeden Preis; umsomehr da sie aus meinem Tagebuch ja mein Staunen und Verwundern über vieles herausgelesen hatte. Meine ungeheure Kultur begann demoralisierend zu wirken, das bemerkte ich; ich trug das große Unbehagen in die stille Atmosphäre hinein; ich, der großartige Träger der ausländischen Zivilisation und Verfechter des Komforts! Es war wirklich bald Zeit, daß ich ging. Wohlweislich sprach ich später nicht mehr von der Wanne im Keller; denn Frau Fanny tat mir leid. Ich gab aber Ambros Geld und bat ihn, mir eine Sitzbadewanne zu kaufen und herzubringen; denn bei unserer Marktfahrt hatte ich bemerkt, daß diese Bademöglichkeit in Tultschin zu haben war, und zwar sehr billig. Ambros brachte denn auch nach kurzer Zeit das Verlangte, und nun ging die Baderei los. Zuerst steckte ich Sascha hinein und wusch ihn gehörig vom Kopf bis zum Fuß, und ordentlich als brauchbarer Mensch fühlte ich mich, als der Junge so blitzsauber vor mir stand. Frau Fanny schien wider mein Erwarten unzufrieden über das improvisierte Bad. »Sie hätten das nicht zu tun brauchen, Fräulein«, sagte sie ziemlich mürrisch. »Ich weiß es; aber es machte mir Vergnügen«, entgegnete ich ihr. »Ich muß doch etwas tun; sonst halte ich es nicht aus.«
Sie sah mich einen Augenblick fragend und stumm an; dann ging sie hinaus. –
Am nächsten Tag kam ihr Bruder in Geschäften her, ein blonder, junger Mann, der Moses hieß und eine stark vorstehende Unterlippe hatte. Er kam des Abends an, übernachtete bei uns, und war des Morgens in aller Frühe mit Ambros über Land gefahren. Ganz natürlich und selbstverständlich war meine Frage an die Hausfrau, wo sie ihren Bruder zur Nacht untergebracht habe, da ich ja wohl wußte, daß außer dem leeren Bett des Hausherrn sonst keine Lagerstätte mehr vorhanden war. Frau Fanny wurde feuerrot. »Im Salon«, meinte sie tonlos. »Aber da ist ja kein Bett«, warf ich unbeirrt ein, wirklich und wahrhaftig bloß aus purem Hausinteresse. »Es ist ein Bett im Keller; das wird abends herausgeholt und aufgerichtet.« – Was doch alles in diesem Keller sein mußte, außer meinem Faß Quittenkompott! Wunderbar dieser Zauberkeller! Natürlich war das mystische Bett ebensowenig dort unten wie die Badewanne. Am Abend hatte ich übrigens Gelegenheit zu konstatieren, daß die kleine Frau wieder einmal der vorwitzigen Erzieherin etwas vorgeschwindelt hatte. Der Bruder Moses kam von seiner Geschäftsfahrt zum Übernachten zurück, und ich hörte die beiden Geschwister im Schlafzimmer nebenan ganz leise, kaum hörbar jüdisch sprechen und flüstern. Dann vernahm ich deutlich, wie Frau Fanny sich zu Bett legte, und kurze Zeit darauf kletterte Bruder Moses in das zweite Bett, das Ehebett seines lieben Schwagers Naum, und dann hörte ich ihn schnarchen.
Frau Bjelskajas Benehmen mir gegenüber wird immer schroffer. Sie ist unzufrieden über mein langes, trübes Gesicht und gewiß noch über vieles, das sie mir nicht zu gestehen wagt. Aber schließlich bin ich auch unzufrieden und habe tausend Gründe dafür. Ich grüble nur noch beständig über die Form nach, in welcher ich der jungen Frau meine Kündigung und meine Fluchtgelüste klarlegen will; denn nun hält mich nichts mehr. Wider ihre sonstige Gewohnheit schreibt sie jeden Tag Briefe an ihren Mann; wahrscheinlich klagt sie ihm alle ihre Enttäuschungen. Heute ging sie sogar dem Postboten in den Hof hinaus entgegen und sagte ihm, sie warte schon lange auf ihn. Der russische Grobian aber wollte ihre Worte als Vorwurf gegen seine geheiligte Beamtenperson auffassen, und da in Rußland jeder Hund den Juden beleidigen darf, so nannte er sie sofort mit Verachtung eine »räudige Jüdin.« Frau Fanny wurde glühendrot und wandte sich schweigend dem Hause zu.
Sascha hat sich heute kurz vor dem Mittag mit einer Stecknadel in den kleinen Finger gestochen. Er erhob ein furchtbares Gebrüll und wollte sich über das verlorene Tröpfchen Blut absolut nicht trösten lassen. Ich sprach ihm zu und beruhigte ihn; aber er schrie drauf los. Schließlich wurde ich, in der bösen Stimmung, in der ich mich schon außerdem befand, recht ärgerlich und fuhr ihn ziemlich ungeduldig an: »Dummer Junge du, ein solches Gezeter anzustellen!« Die Frau Mama, die eben zur Tür hereintrat, hatte meine Worte gehört und meinte mühsam beherrscht: »Warum ist Sascha ein dummer Junge? Wenn ein Kind sich verletzt, hat es das Recht zu schreien.«
»Ja, aber doch nicht so arg wegen des Tröpfchens Blut«, entgegnete ich nun auch ziemlich scharf. »Ein Junge soll doch einen so kleinen Schmerz ertragen können.«
»Vielleicht«, erwiderte man mir sehr spitz. » Unser Sohn ist nun eben anders. Jedes Kind wird auf seine Art erzogen, und ich erziehe ihn so wie ich will. Sie haben übrigens an Sascha immer etwas auszusetzen.« Damit nahm sie den einzigen Sohn bei der Hand, schritt hinaus und ließ mich im Speisezimmer stehn. Da stand ich nun mit Saschas Erziehung in meinen Händen. Das erste Mal, wo ich mir einen ungeduldigen Tadel ihm gegenüber herausgenommen, wurde ich als unzulänglich an meinen Platz verwiesen. Siedendheiß brodelte der Ärger in mir empor. Aber beim Mittag bekam ich Gelegenheit, die originellen erzieherischen Fähigkeiten der Frau Mama zu studieren, und wenn nicht alles so trübselig gewesen wäre, ich glaube, ich hätte laut aufgelacht. Sascha saß mit verbundenem kleinem Finger an seinem einsamen Tischchen; kaum ein Wort wurde gesprochen. Als mein unabänderlicher Teller Quittenkompott erschien, äußerte der Junge, der offenbar seinen schlimmen Tag hatte, er möchte auch Kompott. Wie gerne hätte ich ihm abgetreten! Aber die Mutter meinte auf seine Bitte hin kurz: »Das Kompott ist nicht für dich!«
»Ich will aber haben«, beharrte Sascha ganz gegen seine sonstige Gewohnheit energisch.
»Du bekommst nicht!« rief Frau Fanny streng.
»Böse Mama, böse Mama!« räsonierte zu wiederholten Malen der rebellische Sohn.
»Schweig«, befahl Frau Fanny, »sonst strafe ich dich!« Aber Sascha fuhr fort mit seinem lauten: »Böse Mama!« Da bekam die böse Mama plötzlich einen rot flammenden, zornigen Kopf. Sie stand auf, schritt zum Buffet, nahm das lange Gläsertuch, das neben demselben an einem Nagel hing, und ging auf ihren dreisten Sprößling zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, was mit dem Gläsertuch geschehen sollte, und blickte sehr gespannt auf die Szene. Sie faßte den ängstlich grimassierenden Sascha beim Arm, zerrte ihn zum Speisetisch und band den Ungehorsamen zu meinem großen Erstaunen mit dem Gläsertuch an das dicke, dicke Tischbein. Sascha begann sofort zu heulen und zu schreien; wie ein Bär an der Kette bewegte er sich hin und her. Aber der energisch und in pädagogischem Zorn geschlungene Gläsertuchknoten hielt stand, und der Junge riß und zerrte erfolglos. Ich erwartete, das Mutterherz würde bei diesem Anblick sofort weich werden; aber nein, keineswegs. Endlich entschloß ich mich zu der leisen, mitleidigen Frage: »Wie lange lassen Sie ihn denn so angebunden?«
»Bis er erbricht«, entgegnete sie mir kurz, aber sehr bestimmt.
»Bis er erbricht? Aber um Gottes willen, warum muß er denn erbrechen?«
»Das ist meine Erziehungsmethode!« war die in verbissenen Zorn erteilte Antwort. »Jeder erzieht auf seine Weise. Dies da wirkt sehr gut auf ihn.«
Der Junge zerrte noch immer am Tuch, pendelte daran hin und her, und fuhr fort mit Heulen. Auf einmal gab es einen würgenden, gurgelnden, glucksenden Laut, und das Erwartete geschah: Saschas Mittag schwamm auf der Diele, und Rose hatte das Resultat der großartigen Erziehungsmethode wegzuputzen. Frau Fanny schien beruhigt, Sascha auch; das Tuch wurde losgebunden, und die Sache war erledigt. –
Später hörte ich, Ambros, der Kutscher, sei krank geworden; er habe böse, rheumatische Schmerzen in den Beinen und liege in seinem Stübchen. Mir tat der alte, einsame Mann leid, und ich beschloß, ihm einen Besuch abzustatten; denn gewiß kümmerte sich kein Mensch um ihn. Ich schritt durch den Hof seinem Häuschen zu und trat bei ihm ein. Er lag auf dem harten Eisenbett, die schweren Stiefel an den schmerzenden Füßen; das Gesicht der Wand zugekehrt, schien er mein Kommen nicht zu hören. In dem engen Raum war außer dem Bett und einem Stuhl nichts als ein Papierheiligenbild und ein alter Kamm, der in einer klaffenden Wandspalte steckte, und dem viele Zähne fehlten.
»Ambros!« rief ich.
Der Alte drehte sich langsam um, schlug aber, als er mich erkannte, seine beiden mächtigen Tatzen vor das runzlige Gesicht und meinte in einem Tone von Verwirrtheit und Verwunderung zugleich: »O, das Fräulein Chranzösin!«
Ich setzte mich neben ihn und fragte, wie es ihm gehe. Aber nur Brocken um Brocken brachte ich zuerst aus dem Alten heraus.
»Ihr solltet jemand haben, der für Euch sorgt«, sagte ich sehr laut; denn Ambros hörte schlecht.
»Ich werde bald jemand haben«, entgegnete er nach einer Weile.
»So, wen denn?«
»Eine Frau.«
»Welche Frau?«
»E, meine Frau!« –
»So, so, Ambros, Ihr habt Heiratsgedanken?« fragte ich wieder. »Wie viel verdient Ihr denn!«
»Eben leider gar wenig, zwölf Rubel«, meinte er trübselig; »aber ich trinke nicht, und sie wird was mitbringen.«
»Kennt Ihr sie schon lange?«
Er lachte auf einmal leise und verschmitzt auf, der Alte. »Ich habe sie noch gar nie gesehen; der Kutscher Wassily vom Gute in O. hat mir von ihr gesprochen.« –
»Wie kommt Ihr denn dazu, sie heiraten zu wollen?« fragte ich.
»Man hat sie mir angeboten. Sie ist ganz jung. Hundert Rubel bekomme ich für sie; denn sie ist schwanger vom Gutsherrn.«
»So, so. Und da wollt Ihr also heiraten, Ambros. Wann ist Hochzeit?«
»In zwei Wochen; aber vorerst müssen meine Beine wieder gesund sein. Fräulein Chranzösin, Ihr könnt dann auch an die Hochzeit kommen!« Wieder lächelte er verschmitzt. –
Ich habe die Hochzeit des alten Kutschers verpaßt; ich war schon nicht mehr in Tultschin, als er seine junge Braut heimführte. –
Frau Bjelskaja scheint immer ungeduldiger zu werden; ich glaube, sie erwartet mit Sehnsucht ihren Mann, der in den nächsten Tagen eintreffen muß. Ich fühle es ihr förmlich an, wie sie all ihre Enttäuschungen, die sie mit mir erlebt, (denn so wird sie die Sache wohl nennen), brühwarm in sein Ehegattenherz übergießen möchte. In Gottes Namen, warum hat sie die fürwitzige Nase in mein Tagebuch gesteckt! Ich hatte doch mein gutes Recht hineinzuschreiben, was ich wollte; denn ich besitze und besaß ja keinen Menschen, dem ich hätte klagen können. Meine Lage wird von Stunde zu Stunde unerquicklicher.
Ich bin heute mit Sascha nicht spazieren gegangen; ich wollte versuchen, an die junge Frau heranzukommen und mich mit ihr aussprechen. Im Laufe des Gespräches hätte sich dann meine Kündigung vielleicht von selbst ergeben, hoffte ich. Aber sie verschanzte sich gleich nach unserm stummen Mittag in ihrem Schlafzimmer, und ich blieb mit Sascha allein.
Am Abend war ein prachtvoller Mondschein. Es riß mich förmlich hinaus ins Freie. Noch einmal versuchte ich Frau Fanny zum Spazierengehen zu bewegen, nachdem Sascha zu Bett gebracht war. Aber sie verneinte schroff. »Wer geht um diese Zeit noch aus?« meinte sie im Tone eines spöttischen Vorwurfs. Da fühlte ich, wie es mir wie ein Verzweiflungsschrei auf die Lippen trat; so recht aus den Tiefen meines geärgerten Wesens hinauf: »Ich gehe aus, Frau Bjelskaja, weil ich frei atmen möchte, außerhalb dieses trostlosen Hauses, in dem ein junger, lebendiger, gesunder Mensch wie ich toll werden muß!«
Sie sah mich einen Augenblick eisigkalt an, ohne etwas zu erwidern; dann öffnete sie die Tür, die in die Küche führte und rief hinaus: »Rose, geh mit dem Fräulein spazieren!« – War das Ironie oder Wohlgemeintheit? Ich mit Rose spazieren, der jüdischen Köchin, die kein Wort russisch sprach? Aber da erschien diese bereits im Speisezimmer; sie hatte ein großes, dunkles Wolltuch um Kopf und Schultern geschlungen und sah mitsamt ihrer spindeldürren, hohen Figur wie ein verhärmtes Klageweib vor den Mauern Jerusalems aus. Wir traten hinaus in den Mondschein, das heißt: ich trat, und Rose schritt immer zwei Schritte hinter mir drein; ab und zu verlor sie ihren Pantoffel im mondbeleuchteten Kot und schälte ihn dann geduldig wieder heraus. Wozu brauchte ich dies überflüssige Wesen da hinter mir, das mich in meiner abscheulichen Stimmung nur ärgerte? Frau Fanny konnte doch nicht wähnen, daß ihre Küchenrose mir Menschen ersetzte, Menschen, nach denen mein Sehnen ging und mein Herz in der großen Einöde förmlich schrie? Am liebsten hätte ich sie heimgeschickt; aber das Spazieren würde unheimlich so allein in den leeren Straßen. Die Abendluft tat mir übrigens wohl, und der Mondschein war oben an der Turmwand der Kirche und huschte über die Glocken hinweg wieder hinunter zu den Dächern der Häuser, spiegelte sich in den Pfützen und tat sein möglichstes, das dunkle Nest froh zu machen. Aus einem Hof trat eine kleine Gesellschaft Offiziere mit ihren Damen, und das Mondlicht fiel auf die Metallknöpfe der Uniformen, fiel in frohe Augen und große Seidenmaschen und machte weiße Zähne unter dem Schnurrbart aufblitzen. »Welch herrlicher Abend!« sagte jemand; die Gesellschaft blieb stehn, und alle guckten zum dunkelblauen Himmel empor, wo die Goldkugel des Mondes ausgehängt war. Dann wandelten sie den Fußpfad hinunter und lachten. Also konnte man in Tultschin auch lachen! Nur ich hatte kein Teil daran, das war's. Geärgert, erbost, einem Tiger gleich schritt ich hinter den Lachenden drein; zwei Schritte von mir entfernt immer die stumme Rose von Jericho in ihrem dicken Wolltuch. – In der bösartigsten Stimmung kroch ich später unter meine Bettdecke. Lange konnte ich nicht schlafen. Ich lag auf meinem Kissenbett und sah ins Dunkel. Morgen, beschloß ich, mußte der Sache ein Ende gemacht werden, und ich wollte der Hausfrau kündigen. Aber jedesmal, wenn ich mit meinen Gedanken so weit war und ruhig werden wollte, schreckte ich in die Höhe. Nebenan wälzte sich, wie es schien, Frau Fanny auch schlaflos auf ihrem Lager, und ab und zu hörte ich sie unter der Decke die Nase schneuzen. Endlich schlief ich ein. Mitternacht mochte vorüber sein. Auf einmal poltert es an meiner Tür; diese fliegt auf, und beim Schein der flackernden Kerze erblicke ich Frau Fanny im weißen Nachtgewand, einen Stock in der Hand. »Diebe!« haucht sie totenblaß mit versagender Stimme, stürzt gegen mein Bett und packt mich wie eine Verzweifelte am Arm. Schlaftrunken schnelle ich in die Höhe, fühle, wie ihre dumme Furcht sich mir dummerweise sofort mitteilt und stottere: »Wo sind Diebe?« »Vor meiner Schlafzimmertür«, flüstert sie atemlos; »sie kamen durch den Salon geschlichen und klopften. Hören Sie?« Ich sprang aus dem Bett und vernahm wirklich an der besagten Tür ein leises, vorsichtiges Klopfen. Viel lauter und hörbarer hämmerte aber in der Stille der Nacht Frau Fannys Herz dicht neben mir. »Kommen Sie, Fräulein, helfen Sie!« stöhnte sie, und ihre Stimme schien am Herzklopfen ersticken zu wollen. »Gehn wir in die Küche; wecken wir die Köchin!« Zufälligerweise entdeckte ich in einem Winkel meines Zimmers einen Besen; ich ergriff ihn, und nun zogen wir beide im Nachthemd mit Stock und Besen bewaffnet durch Saschas Zimmerchen, der Küche entgegen. Dicht hinter der Tür, die in die Küche führte, stand Roses Bett. Zu unserm gemeinsamen Entsetzen war dieses Bett leer, die Decke zurückgeschlagen, die Kissen in Unordnung. Auf dem Küchentisch aber erblickten wir eine enorme, brennende, uns völlig unbekannte Laterne. Wem gehörte sie? Wie kam sie hieher? Die Tür, die von der Küche ins Speisezimmer und von da zu der Hausfrau Schlafgemach führte, stand weit offen. »Rose ist bereits ermordet«, hauchte Frau Fanny und zitterte so, daß ihr die Zähne aufeinanderschlugen. Mir wurde sehr unheimlich. »Retten wir uns und Sascha«, flüsterte die junge Frau wieder. Aber im selben Augenblick trat ein Mann in hohen Stiefeln und einem dunklen Mantel vom Speisezimmer her in die Küche. Schreckensvoll fuhren wir zurück. Jedoch sonderbarerweise angesichts des Mörders, der ganz friedlich aussah, schien meiner Herrin Mut zu wachsen. Sie trat mit ihrem Stock einen ganz kleinen Schritt vor und fragte mit bebender, aber ziemlich lauter Stimme: »Was wollt Ihr?«
Und der Mann, der mit den besten Absichten ins Haus gekommen war und nur ein Trinkgeld, aber nicht zwei bewaffnete Frauen im Nachtgewand erwartet hatte, meinte im kurzangebundenen Ton eines Postbeamten: »Ich habe ein Telegramm gebracht!«
Frau Bjelskaja ließ ihren Stock auf den Küchenboden gleiten, atmete auf und blickte mich wie eine zu neuem Leben Erstandene an. Mir wurde auch bedeutend leichter, und bereits fühlte ich, wie mir nach der ausgestandenen Angst das Lachen kommen wollte über das improvisierte Mord- und Raubnocturne. Nun tauchte auch die lebendige Rose im dunklen Türrahmen auf. Sie war wie wir im Hemd, hatte aber den dunkeln, bekannten Wollshawl um sich geschlungen und hielt das Telegramm, von dem der Mann gesprochen, in der Hand. Um niemand im Hause außer der Hausfrau zu wecken, war sie durch das Speisezimmer gegangen und hatte leise bei Frau Fanny angeklopft. Alles klärte sich auf; der Mann bekam zehn Kopeken; im Telegramm stand, Herr Naum kehre morgen abend heim, und so schlichen wir denn halberfroren wieder unter unsere drei Decken. Der Morgen dämmerte bereits, als meine Glieder endlich wieder warm zu werden begannen und ich zum zweiten, mühsamen Mal einschlief.
Die Hausfrau verbrachte den ganzen Morgen im Bett; als ich ihr einen Besuch abstattete, erklärte sie mir, sie fühle sich so matt und abgespannt nach dem Schrecken der letzten Nacht, daß sie sich nicht rühren könne. Viel sprachen wir nicht zusammen; das Gespräch geriet bald ins Stocken, nachdem die Räubergeschichte nochmals durchgenommen war. Und ich fand den Moment nicht günstig, gerade jetzt von meinem Fortgehn zu reden. Am Nachmittag stand Frau Bjelskaja auf; denn es war Freitag, und der Freitag war ihr Wohltätigkeitstag. Es erschienen nämlich um drei Uhr ungefähr vor der Tür im Hofe zu Dutzenden elende, zerlumpte Judengestalten, wohl das Armseligste, was das Dorf an Armut besaß, und da übte Frau Fanny, die Wohlhabende, sich im Wohltätigkeitshandel. Anders kann ich diese Art des Almosenreichens nicht nennen. Sie schenkte z. B. dem einen der Bettler ein Dreikopekenstück, verlangte aber von ihm einen Kopeken zurück; oder sie gab ein Fünfkopekenstück und forderte drei Kopeken heraus. Also über zwei Kopeken schenkte sie keinem der Armen. Der Jude ist dies Handeln und Feilschen mit dem Almosen übrigens gewohnt und hält die Kupfermünzen stets bereit in der Hand, um das Geforderte gleich dem Wohltäter zurückerstatten zu können. Mir aber war dieses Markten und Feilschen mit diesen Unglücklichen stets in der Seele zuwider, und ich verkroch mich irgendwo hin, nur um der Szene nicht ansichtig zu werden. –
Am selben Abend noch erschien Herr Naum wieder; ich war bereits zu Bett, als er ankam. Frau Fanny saß im Speisezimmer und erwartete ihn. Ich hörte sie durch die Wände des leichtgebauten Hauses hindurch sehr lebhaft sprechen. Dann kamen sie ins Schlafzimmer und flüsterten höchst angelegentlich bis tief in die Nacht hinein. Selbstverständlich handelte es sich um meine schuldige, undankbare Person.
Am andern Morgen kam der Hausherr nicht zum Tee; er war im Bureau und sprach intensiv auf die Geschäftsfreunde los, die wieder massenhaft erschienen waren, aber draußen im Hof herumstanden. Auch später bekam ich ihn nicht zu Gesicht; denn Frau Fanny teilte mir mit, er nehme ein Bad. Der Morgen ging um, die Mittagszeit war da, und immer noch badete Herr Naum. Es rollte noch eine Stunde hinunter in die Ewigkeit. Endlich, wie es schien, nach sehr gründlicher Toilette, erschien er strahlend schön wieder an der Bildfläche. Er gab mir zeremoniell feierlich die Hand, fragte gezwungen, wie es mir gehe, und setzte sich hinter seine Kohlsuppe. Er gab sich alle Mühe, ein belangloses und unbefangenes Gespräch zu finden, seufzte über das ungesunde Wetter, erging sich über Odessa und reichte mir nachlässig höflich, als der perfekte Weltmann, die Salzgurken. Mich Elende aber fraß die Neugier nach der Badewanne aus dem Keller. Unter dem Vorwand, mein Taschentuch holen zu wollen, stand ich vom Tisch auf und schritt hastig nach meinem Zimmer. In Gedanken tat ich Frau Fanny bereits herzlich Abbitte wegen des vermeintlichen wannenlosen Zauberkellers. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als ich die Tür zu Saschas Zimmer öffnete: Die Dielen waren vollständig unter Wasser, und in den trüben Seifenfluten trieb – meine schöne, neue Sitzbadewanne! – Ich glaube, ich machte wieder ein arg blödsinniges Gesicht. Selbstverständlich hätte ich die Sache nicht sehen, nicht wissen, nicht erraten, nicht entdecken sollen; darum auch war ja die Baderei so eingerichtet worden, daß das Ende mit dem Mittag zusammentraf, wo man mich dann mit meinem Quittenkompott an den Stuhl zu kleben gehofft hatte. Äußerst bestürzt und mit einem elendiglich betroffenen Gesichtsausdruck schoß Rose an mir vorbei in Saschas Zimmer und zerrte die verhängnisvolle Wanne zum Tempel hinaus. Als ich wieder ins Speisezimmer trat, schauten mich die beiden Sünder am Tisch fragend und befangen an. »Ja, ja, Herr Naum«, dachte ich und mußte auf den Stockzähnen lachen, »ich begreife ja vollkommen, daß du dich gerne wäschest; aber warum muß es gerade in der Badewanne der Erzieherin sein?«
Herr Bjelsky blieb diesmal nicht lange; schon am Abend verreiste er wieder weiß Gott wohin. Er hatte sehr viel mit seiner Frau gesprochen, und jedesmal brach das Gespräch plötzlich ab, sobald ich irgendwo auftauchte. Beim Abschied sagte er mir notgezwungen scherzend: »Sehn Sie zu, Fräulein, und laufen Sie uns nicht Hals über Kopf davon!« Er lächelte dabei das Lächeln des schönen Mannes, und das letzte Mal in meinem und seinem Leben zeigte er mir alle seine weißen Zähne.
Nun war er fort, und ich wollte reden. Ich brauchte die Gelegenheit diesmal nicht zu suchen; sie ergab sich am andern Tag ganz von selbst.
Es war in der Dämmerung. Trübe prasselte draußen der Regen hernieder, und ein so mächtiges Einsamkeitsgefühl hockte mir in der Brust, daß ich ordentlich Mühe hatte, nicht wie im Anfang zu heulen. Wie ich so dasaß und mit der Hand über das schmutzige, rote Tischtuch strich, bemerkte ich, daß Sascha das Buffet sorgfältig abschloß und die Schlüssel in seine Tasche steckte. Dann ging er zu einem kleinen Schränkchen, das auch im Speisezimmer stand und in dem stets meine unselige Portion Quittenkompott aufbewahrt wurde, schloß es ab und schob auch diesen Schlüssel in die Tasche neben seinem großen Bauch.
»Sascha, wo willst du mit all den Schlüsseln hin?« fragte ich.
»Ich stecke sie unter mein Kopfkissen für die Nacht!« erwiderte er schnaufend.
»Warum denn?«
»Damit Rose und Ambros nichts stehlen.«
Der Temperamentsausbruch des sonst so apathischen Jungen wunderte mich, und daß dieser Ausbruch gerade nach dieser Richtung hin erfolgte, fand ich unkindlich.
Wie kam er auch auf den Gedanken, es könnten die beiden braven Dienstboten das Haus bestehlen wollen, wo doch im Grund so wenig Stehlenswertes war, besonders im Buffet, das außer ein paar Gläsern absolut nichts enthielt? Hatte ihn die Mama angesteckt?
Nun äußerte ich auch meine Meinung Frau Fanny gegenüber und fügte hinzu, ich fände dies ängstliche Hüten von Hab und Gut an einem siebenjährigen Knaben sonderbar. Gereizt warf mir aber hierauf die Frau Mutter entgegen: »Mein Sohn hat ganz recht. Ich kann das an ihm nur gutheißen. In Abwesenheit seines Vaters ist er der Hausherr und fühlt sich als solcher. Ein Kind kann nie früh genug auf seine Interessen bedacht sein.« Ich wagte aber doch Einsprache. Da fuhr sie auf: »Sie haben überhaupt an dem Kinde stets zu tadeln. Kein Mensch hat bis jetzt an ihm einen Fehler gefunden, ein so geniales Kind, wie er ist. Alle, die ihn kennen, vergöttern ihn. Meine Schwester ist jede Stunde bereit, sich für ihn ins Wasser zu werfen; nur Sie, Sie …«
Da unterbrach ich sie aber; denn nun hörte ich die verrückte Forderung bereits ein drittes Mal, und zwar klang es wie ein Vorwurf, daß ich bis jetzt absolut keine Neigung bekundet, mein Leben für den Jungen hinzugeben. »In welches Wasser soll ich denn um jeden Preis hinein?« rief ich. »Genügt der Kot nicht? da war ich oft für ihn drinnen. Wenn aber absolut jemand für Sascha sterben soll, warum gehn Sie denn nicht ins Wasser, Frau Bjelskaja? das stände doch der Mama am ersten und besten an!«
Ich war mit einem Schlage sehr böse geworden, so böse, daß ich einen feuerroten Kopf bekam und vom Stuhle aufstehn mußte. Um keinen Preis wollte ich jetzt das Thema fallen lassen, sondern sobald es ging meine Kündigung dranknüpfen.
»Es gefällt Ihnen überhaupt nicht bei uns«, kam mir Frau Bjelskaja zuvor und zog die Brauen dicht zusammen. »Ich habe längst erraten, daß Sie fort wollen.«
Nun sollte ihre Neugier nach meinen Memoiren bestraft sein. »Erraten, sagen Sie? Gelesen haben Sie es in meinem Tagebuch.«
Sie wurde über und über rot und senkte einen Augenblick die schweren Lider. – »Sagen Sie mir bloß, warum sind Sie eigentlich hergekommen, wenn Sie doch im Sinn hatten, nach drei Wochen wieder zu gehn?« fragte sie hierauf gedämpfter.
Aber ich platzte los; das mußte heraus, was ich drei Wochen lang an Enttäuschungen und trüber Bitternis in mir herumgetragen. »Weil ich jung bin, unerfahren, und mein Brot verdienen muß, und weil man mir Liebesbriefe schrieb und behauptete, man könne ohne mich nicht mehr leben, und weil man mir allerhand Versprechungen machte, und mir hoch und teuer versicherte, es müsse mir gefallen.«
»So!« rief die kleine Frau, nun wieder zornig geworden. »Welche Versprechungen hat man Ihnen gemacht, die man nicht gehalten hätte?«
Und da kam mir der Gedanke, sie zuerst an das Versprechen mit der bezahlten Rückreise zu erinnern, das zweimal so großartig wiederholt worden war, und sehr gespannt war ich zum voraus auf ihre Antwort. »Man hat z. B. versprochen«, hub ich an, »daß man mir nach vierzehn Tagen –« Aber ich kam nicht weiter. Böse und laut, wie ich ihre Stimme nie gehört, rief sie: »Da irren Sie sich, verehrtes Fräulein! Nicht nur die Rückreise werden Sie nicht bezahlt bekommen, sondern Sie erhalten auch keinen Lohn!« – Ich war einen Augenblick so verblüfft über das Gehörte, daß mir der Mund offen blieb. Frau Fanny lief indessen nervös hinter dem Tisch hin und her und schien auf meine Antwort zu warten. Aber meine Antwort kam noch immer nicht. Da fuhr sie denn fort und warf mir Wort um Wort über das rote Tischtuch hin entgegen: »Sie bekommen keinen Lohn, weil Sie keinen verdient haben; denn Sie haben Ihre Pflichten nicht erfüllt, sondern vernachlässigt!«
Mich um Geld mit jemand herumstreiten, ist mir, solange ich mich erinnern kann, immer in der Seele zuwider gewesen. Ich hatte es auch hier nicht im Sinn; aber empört war ich über den Grund der Vorenthaltung meines so mühsam erkämpften Provinzgehältchens. Sicher hatte ich mehr wie meine Pflicht getan, wenn auch mit trüben Gedanken und trübem Gesicht; aber das Gesicht hatte ja mit den paar Rubeln nichts zu tun.
Ein böses Wort stand mir auf der Zunge, ein sehr böses; aber ich unterdrückte es und sagte bloß: »So, so, Frau Bjelskaja, das ist ja eine sonderbare Art Erzieherinnen zu halten!«
Sie nahm einen ruhigeren Ton an. »Ich heiße Sie nicht gehn. Sie gehn von sich aus; denn was mich und meinen Mann betrifft, hätten Sie bei uns bleiben können.«
»Nein, ich danke. Und ich möchte Ihnen auch hiemit kündigen.«
»Wie Sie wünschen.« Sie sprach wieder laut und höhnisch; aber ihre Lippen zitterten: »Jetzt haben Sie wenigstens Stoff, um sich mit Ihren Freunden in Odessa über uns lustig zu machen. Denn dafür, gestehn Sie's nur, sind Sie eigentlich hergekommen. Und doch haben Sie sich als so vorurteilsfrei aufgespielt damals im Hotel, machten ein so unschuldiges Gesicht.«
Nun hatte ich genug. »Fügen Sie den Enttäuschungen und Kränkungen nicht noch Dummheiten bei, Frau Bjelskaja!« rief ich. »Ich sagte Ihnen, ich gehe, und damit basta!«
»Wann verreisen Sie?« fragte sie, und wieder zitterten ihre Lippen nervös.
»Schon morgen.«
»Gut. Unsere Pferde bekommen Sie selbstverständlich nicht mit zur Station. Ich werde aber zusehn, daß Sie sonst fortkommen.«
Mit diesen Worten schritt sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. – Die ärgerliche Szene hatte einen bösen Eindruck mehr in mir hinterlassen, und doch war ich froh, froh, froh, daß ich nun endlich gehn konnte, fort aus diesem Haus, aus diesem Nest, wieder unter Menschen, Menschen, die dachten wie ich, Menschen, die fühlten wie ich. Ich begab mich leichten Schrittes auf mein Zimmer und packte, packte sehr rasch, und ich glaube, ich pfiff dabei, pfiff leise und schnöde in meinen offenen Koffer hinein. Adieu, ihr bronzierten Engel mit dem riesigen Zeigefinger! Leb wohl, du rotes Ewigkeitstischtuch! Bhüt Gott Jungfrau Rose mit dem wollumwickelten Busen; leb wohl Ambros, du alter, morscher Hochzeiter! Auch du, schnaufender, dickbäuchiger Sascha, leb wohl! Ich wünsche von Herzen, du mögest einst so schön gogen wie dein Papa, und ich wünsche ferner, du mögest die Erzieherin finden, die sich für dich ins Wasser wirft! Bhüt Gott, du Kothof mit dem Holzgitter, du Schweineköchin, und du, mein blonder Geliebter mit dem Spitzbart! Des Dorfes einzige Erzieherin geht, und nimmer kehrt sie wieder! – Vom Pfeifen geriet ich ins Singen, in ein indiskretes, unverschämtes Singen, und schließlich öffnete ich das Fenster und begann ein längeres Gespräch mit den zwei Truthähnen auf dem Misthaufen. Du lieber Gott, ich kehrte ja wieder ins Leben zurück, ins rege, frische, frohe Leben eines zweiundzwanzigjährigen Menschenkindes! Ich hätte meinem lieben Herrn Tatarinoff gern die gesamte Schokoladefabrik an der Matte in Bern aufgekauft, nicht nur das versprochene, schäbige Pfund! Ich freute mich schon auf das herzliche Auslachen, mit dem man mich empfangen würde! Ich wollte mitlachen, für volle drei Wochen mitlachen. – Als Schlafenszeit war, lagen alle meine Sachen wohlverpackt im Koffer.
Meine Abreise sollte am Abend des folgenden Tages erfolgen; denn am Abend ging der beste Zug. Frau Fanny begrüßte mich beim Morgentee wieder freundlich; aber sie sah blaß aus, und die Augen waren wieder einmal vom Weinen geschwollen. Wir sprachen den ganzen Tag nicht viel miteinander; sie teilte mir beim Mittag bloß mit, sie habe mir bereits einen Platz im Wagen bestellt, der gewöhnlich die Passagiere auf die Station bringe; ich dankte. Zum letztenmal zog ich Sascha den schmutzigen Mantel an, und zum letztenmal stürzten wir uns in den Kot. Dann kam ich heim, schloß den Koffer ab und konnte gar nicht verstehn, wohin der Tag heute gegangen war, so rasch war er vorbei. Frau Fanny sah sehr traurig aus; als es dunkelte, überreichte sie mir ein Packetchen, verschiedene in Papier gehüllte Gegenstände. »Das ist Proviant für die Reise«, sagte sie. In meinem Zimmer schälte ich die Gegenstände aus ihren Umhüllungen: Zwei Butterschnitten, zwei Schenkelchen des rotgekochten Huhns, und in einem sorgfältig verschlossenen Glas: Meine letzte Portion Quittenkompott! –
Abends um acht Uhr fuhr ein Wagen in den Hof, nein, eigentlich nicht ein Wagen, ein Kasten des Krachens und Holperns. Er war mit elendiglichen Pferdchen bespannt. Die Nacht war sehr dunkel, so daß ich kaum die Silhouetten von drei Männern im Wagen unterscheiden konnte. Ich begann Abschied zu nehmen. Und wie ich Saschas weiche, runde Wange küßte, da fühlte ich, wie es mir trotz allem leid tat, den Jungen nie mehr zu sehn. Hierauf reichte ich der Mama die Hand. Zu meiner Überraschung aber fiel sie mir ebenso stürmisch um den Hals wie bei meiner Ankunft, und ich fühlte denselben zärtlichen Druck wie in den ersten Tagen der Liebe. Wie ich ihr darauf ins Gesicht sah, bemerkte ich Tränen in ihren grauen Augen. Jedoch – Gehalt bekam ich keinen.
Mein Koffer wurde hinten aufgebunden, und ich stieg in den Wagen. »Guten Abend«, wünschte ich. »Guten Abend«, erwiderten mir drei Männerstimmen. In der Dunkelheit konnte ich kein Gesicht unterscheiden; ich sah bloß undeutlich, daß der mir Gegenübersitzende einen Offiziersmantel trug, und darüber freute sich meine gesellschaftshungrige Seele. Wir fuhren aus dem Hof, aus dem Dorf hinaus auf die Landstraße. Immer noch lag unbeweglich der Schnee, und Schnee- und Pfützenspritzer flogen uns ins Gesicht. Aber ich war in der fröhlichsten Laune der Welt und hätte am liebsten die drei nachtdunklen, schweigsamen Männer umarmt, gleichviel wer sie waren. Niemand sprach ein Wort; aber ich wollte und mußte absolut reden, mich unterhalten, mich entschädigen für die drei letzten Wochen. So hub ich denn an:
»Eine dunkle Nacht!«
»Ja«, sagte der im Offiziersmantel – die zwei andern schwiegen.
»Wie lange dauert es bis zur Station?« fragte ich in der helläugigsten Laune weiter.
»Anderthalb Stunden«, erwiderte mein Gegenüber – die zwei andern schwiegen.
»Sind Sie aus Tultschin?« forschte ich dann.
»Gottlob nicht«, entgegnete er mir. Und er erzählte, daß er nur in Geschäftsangelegenheiten in dem Nest gewesen sei. Nun begann ich über das Dorf zu schimpfen, sprach über die Soldaten, die Garnison, die Juden, den Schmutz, die Langeweile und alles mögliche. Aber keiner der drei nachtdunklen Mannen schien mich recht zu verstehn, und niemand warf ein Wort dazwischen, als hie und da der Offizier. Was mir aber an ihm auffiel, waren die Aussprache und die Ausdrucksformen seiner Rede; er führte die typischen Ausdrücke des nichtintelligenten und nicht zur Gesellschaft gehörenden Russen. Aber das beeinträchtigte mich keineswegs, und ich zog die Schleusen meiner rosiggestimmten Redseligkeit hoch. Ich sprach über die Schweiz und machte mehr oder weniger patriotische Bemerkungen. Aber keiner der drei schien mich zu verstehn. Der Offizier fragte nur auf einmal, ob die Schweiz nicht eine Republik sei und zu Deutschland gehöre. Wohl war ich ein bißchen erstaunt über solche Unkenntnis der Verhältnisse meines Vaterlandes; aber ich nahm es dem Manne nicht übel, sondern klärte ihn in der stockdunklen Nacht liebevoll über die Schweiz auf. O, ich sprach eine Menge, und rühmte die Schweiz als Kulturstaat, wie ich sie vorher und nachher nie gerühmt habe. Ich redete auf die drei Recken ein, dozierte hoch von Zivilisation und freiem Menschentum, und konnte mit dem Geistreichtun nicht fertig werden.
Wir kamen endlich an der Station an und stiegen mühselig, halbgerädert aus dem Kasten. Der Offizier stieg zuerst aus, und beim Schein der Stationslaterne bemerkte ich, daß er ganz unmilitärisch klein war und dazu stark hinkte; die andern zwei schienen auch merkwürdige Gestalten.
»Leben Sie wohl, Herr Hauptmann!« sagte ich. Und da entgegnete er mir: »Ich bin kein Hauptmann. Der Mantel gehört einem Offizier in Tultschin. Ich habe ihn zum Flicken abgeholt und angezogen. Ich bin ein Schneider.«
Da machte ich Geistreiche mein letztes, aber auch mein blödsinnigstes Provinzgesicht. –
Am andern Morgen kam ich in Odessa an. Aber bevor ich zu meinen Freunden ging, fuhr ich in die Konfiserie Fanconi nach der Schokolade. Über das holprige Pflaster fahrend konstatierte ich, daß das Elend der Provinz mir weder eine Wanderniere noch Darmverwicklung verursacht hatte; denn ich blieb ganz und hätte heute sogar Odessa eine Kulturstadt nennen mögen. Herr Squäder, ein Schweizer, dem die Konfiserie gehört, band mir selbst das rote Schnürchen um mein Paket.
Gerade nach drei Wochen, punkt zehn Uhr morgens, stand ich vor der bekannten Haustür und läutete. Hinten im Flur hörte ich Frau Tatarinoffs angenehme Stimme sagen: »Wer kann das sein?« Und Herr Tatarinoff, der, zum Ausgehn bereit, in der Nähe der Tür gestanden haben mußte, entgegnete überzeugt: »Das kann nur die Provinzmamsell sein, niemand sonst!« Rasch kam er auf die Tür zu, und mitsamt meiner Lindtschokolade fiel ich ihm jubelnd und glückselig um den kurzen, dicken Hals. –
Nach einer Woche bekam ich aus Tultschin meinen Paß zugeschickt, den Sascha irgendwo eingeschlüsselt hatte. Dem Passe lag ein Brief bei von Frau Fanny. Sie schrieb, sie hätte mich unendlich lieb gehabt, und der Gedanke, ich könne sie verlassen, habe sie mir gegenüber so verändert in der letzten Zeit. Sie sei ganz krank seit meiner schleunigen Abreise. Ihre Schwester aus Kischinjoff sei da, um sie zu trösten. Das ganze Dorf (wer wohl?) empfinde es als eine Beleidigung mit ihr, daß die Erzieherin auf diese Weise davongelaufen. Sie könne nicht über die ihrem Hause zugefügte Kränkung und Schande hinwegkommen. Zuletzt folgte ein P. S., in dem sie mich anfragte, was sie mit meiner Badewanne tun solle.
Das Schreiben machte Eindruck auf mich; aus der Ferne tat mir die kleine, einsame Frau, die als geringgeschätzte Jüdin so sehr nach Liebe und Verständnis dürstete, wieder herzlich leid. Aber war es wirklich meine Schuld, daß ich die Verhältnisse nicht ertrug?
Ich schrieb ihr einen Brief, ließ sie schön grüßen und sagte ihr, die Badewanne schenke ich Herrn Naum Bjelsky zum ewigen Angedenken an die vorurteilslose Schweizerin.
*