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Der Mord auf dem Dorfe

Der frühere Adelsmarschall des Gouvernements Twer, Michail Wladimirowitsch Orloff, stand wartend am Bahnhof des Bezirksstädtchens Torschok. Ein mittelgroßer, ältlicher Junggeselle, Pince-nez, eine ganz kleine Krümmung dicht unter dem Nacken. Er stand, ging, stand wieder und wurde nervös. Der Zug wollte nicht kommen. Ja, dieses Torschok! Eigentlich am Ende der Welt. Ein Straßenpflaster aus Felsblöcken, ein Boulevard nicht größer wie eine Tenne, ein Bahnhof, der nach Kohle, Teer, Staub, sauren Gurken und Petroleum roch. Nicht zum Aushalten. – Und dann das Gesindel, das da herumlagerte, die reinsten Raub- und Mordphysiognomien! Man war ja seines Lebens nicht sicher. Wo blieb auch der Zug? – Unwillkürlich zog der Marschall den Kragen des leichten Sommerüberziehers hoch. – Da kam auch der Zug endlich angefahren. Eine kurze, braungelbe Wagenreihe, eine Art Begrüßungsgebrüll aus einem Abteil zweiter Klasse, vier blonde Köpfe an den Fenstern. Der Marschall tritt dicht an den Wagentritt heran und lächelte ein freundliches, goldplombiertes Lächeln. Von drinnen her rumort es. Da stößt man die Wagentür auf, und es erscheint die dicke, vierzehnjährige Tanja, des Onkels älteste Nichte. Mitten im runden Gesicht sitzt ihr eine russische, häßliche Stulpnase. Stürmisch fällt sie dem Marschall um den Hals und schreit in einem fort auf ihn ein. Hinter ihr Sergey, ganz schmal und ganz dünn; dann Natascha und Vera, auch magere Figürchen mit großen, graublauen Augen. Sie zanken sich den Wagentritt hinunter, umarmen den Onkel zärtlich und zanken weiter. Da stehen sie nun beisammen alle vier, blond, klug und laut wie kleine Höllenteufel, außer Sergey. Der ist still und schüchtern. Zuletzt erscheint die Mutter der Kinder an der Coupeétür, des Marschalls verwitwete Schwester; eine Frauengestalt so unförmlich und massig, daß sie sich seitlings durch die Tür drängen muß, um ins Freie zu gelangen. Der Marschall winkt einen Mann herbei, der bringt eine grünangestrichene, kleine Leiter; diese wird unten ans Trittbrett geschoben, und nun steigt Sophie Wladimirowna langsam, auf ihren Stock gestützt, die Wagenstiege hinunter. Unter dem lächerlich einfachen Strohhut mit der schwarzen Seidenmasche blickt ein gütiges, kluges und freies Gesicht.

»Guten Tag, Mischa!« ruft sie lebhaft ihrem Bruder zu. »Verspätet sind wir, nicht?« – Unten angekommen, küssen sich die beiden Geschwister zärtlich auf beide Wangen.

Hinter dem Bahnhof stehen die Wagen, die die vom Süden Gekommenen auf das Gut des Marschalls, das dreißig Werst entfernt liegt, bringen sollen. Das herrliche Gut! Darauf freut man sich ja so sehr, auf den ganzen, langen Sommer; auf den Bach – die Kahnfahrten –, denn Sergey hat sein eigenes Fahrzeug, auf die Pferde – das Reiten, denn Natascha sitzt ganz gut im Sattel; auf den Wald – die Erdbeerkuchen, denn Tanja ißt sie für ihr Leben gern; auf die Pilze, denn Dera weiß die schönsten Waldplätzchen. Man freut sich auf das lustige Tollen, aus die ungebundene Sorglosigkeit, auf die selige, grüne Freiheit, und aufgehn, ja aufgehn will man wie ein frischgebackenes Brot – wenn, wenn dies alles möglich ist im Sommer 1906, dem Sommer der ersten Reichsduma und der großen Unruhen.

Rasch gehen die Wagen über das Pflaster aus Felsblöcken; dann ist man draußen auf der Landstraße, wo die Räder der Troika tief einschneiden in den dunkeln, weichen Boden; Erdklümpchen purzeln kopfüber in den Schoß der blonden Kinder; ein Hain junger Birken, eine hölzerne Polterbrücke, eine Kastanienallee, Felder, Wiesen, da zeigt sich auch schon das Dorf. Hütten aus Lehm und Stroh, davor zerlumpte Kinder und schwerfällige, alte Leute. Sie grüßen und nicken zu den vorbeifahrenden Wagen hinüber. Geradeaus blickt der Marschall in die blaue Luft; Sophie Wladimirowna aber dreht den Kopf nach allen Seiten und grüßt so lebhaft, daß ihr der Klemmer einmal ums andere über die Nase rutscht. Da hat man noch ein Stück Weges dem Bach entlang zu fahren; jetzt kommt die Ecke, wo das Häuschen des alten Popen steht, der gewiß sein greises Haupt zum Fensterchen hinauszwängt; die weiße Kirche mit den blauen Wasserlilien, nun ein mächtiger Wegstein, dann eine dunkle Tannenallee, hinauf, hinauf, an einem Beet kugelrunder Dahlien vorbei und der Wagen hält vor der Gutstreppe.

Eine große, buntgekleidete Dienerschar harrt der Ankommenden, Männer und Frauen; zuvorderst in der Reihe Waßja, der elegante Diener des Marschalls mit dem fein gezwirbelten Schnurrbärtchen. Er tut sehr wichtig, sehr geschäftig, dreht sich, wendet sich so lange, bis die umfangreichen Löcher seiner Rosastrümpfe schließlich doch aus den alten Hausschuhen des Marschalls herausgucken. Man tritt ein ins dunkelgetäfelte Speisezimmer. Welch herrliches, altes Haus! Es hat seine hohen, weiten Räume, seine dunkeln Treppen und schmalen Gänge, seine ein bißchen zerschlissene, ein bißchen verfärbte, wundertraute Pracht. Da herrscht ein einziges, liebevolles Erinnern an alte, sehr vornehme Großpapas und Großmamas, ein Hauch weitreichender Güte und feiner Lebensführung, von Geist und sinnigem Wesen; in jedem Winkel Wohlbehagen und Geschmack. Im Speisezimmer hat sich im Laufe der Zeiten unter der Last des Eichentisches ein klein wenig der Boden gesenkt, und dem skabrösen Porzellandämchen auf der Mahagonikonsole links fehlt der feine, blaue Pantoffel. Im roten Kabinett gucken die Jasminsträucher und Glyzinenranken zu den hohen Fenstern herein, im Kabinett, wo an roten Wänden die Familienbilder hängen: eine Großtante, die gar schön gewesen sein soll; ein helläugiger Großonkel, dem der Zar mit eigener Hand den Andreasorden auf die Brust geheftet; eine Cousine, die jung gestorben, nach einer großen, großen todestraurigen Liebe, und ein Vetter mütterlicherseits, der sein Leben viel zu rasch gelebt. Doch unter den Bildern, welch ein Prachtstück von einem Diwan! Wenn sie alle in einer verhexten Mitternachtsstunde die Enge ihrer Goldrahmen verließen, die Leute da droben, sie fänden alle Platz auf diesem damastenen Strombett! Würde da nicht der helläugige Onkel mit dem Andreasorden die todestraurige Cousine dort auf das Riesenkissen betten, ihr leise das braune Gelock streicheln, und ihr erzählen, wie gar so wunderlieblich ihr blasses Gesicht zu den blauen Königslilien stehe? – Ein alter, verstimmter Flügel an der Seitenwand und sieh, in einem Kranz mattschimmernder Goldblumen ein echter Murillo: Der Jünger, den Christus geliebt. Mit weiten, tiefdunklen Augen ahnt er die Offenbarung; und was seine dichtende Seele erschaut, versenkt er erschauernd in die Blätter des heiligen Buches. – Die Sommerluft dringt zu den offenen Fenstern herein, die trägt Sonnenstrahlen und den Duft von hohem Gras und rotglühenden Kapuzinern.

Es läutet zum Mittag; der lange Tisch im Speisezimmer ist gedeckt. Aber allein im Raum sitzt vorläufig Sophie Wladimirowna hinter der dampfenden Suppenschüssel. Der Marschall erscheint stets ein wenig später und setzt sich ans andere Ende des Tisches. Von den vier Kindern keine Spur. Das kam überhaupt nie vor im Hause des Marschalls, daß die dicke Tanja, der dünne Sergey, die noch dünnere Natascha und die kleine Dera, daß sie alle zur selben und zur rechten Zeit bei Tisch erschienen wären. Suchend und schreiend gingen dann die Bonne, die Lehrerin, der elegante Waßja und der Officebursche durch Haus und Garten. Saßen schließlich alle vier Kinder auf den hochlehnigen Stühlen um den Tisch herum, so hielt der Marschall stets eine kleine, empörte Rede, die nichts half und auch im Grunde nichts helfen sollte – denn der Onkel wollte es mit der kleinen Schar nicht verderben, und die Kinder selbst hielten sich bei allem an Mutters freundliches Erziehungsprinzip: Nur keinen Zwang und recht viel Freiheit. Bei Tisch sprach der Marschall zuerst – und das blieb Brauch während des ganzen Sommers – vom Essen im allgemeinen, dann vom Essen im besonderen; Sophie Wladimirowna ging immer auf das Thema ein, und so geschah es, daß die beiden hochgebildeten Menschen aus den Saucen, Kuchen, Fruchtpuddings und Nußtörtchen gar nicht herauskamen. Hie und da auch rutschte das Gespräch über zur Literatur; was aber gerade im Sommer 1906 das Nächstliegende war, was alle Köpfe beschäftigte und alle Herzen erfüllte, die politischen Ereignisse Rußlands, dies wurde von den beiden hartnäckig totgeschwiegen. Und sie wußten genau, warum sie dies taten. Das große Schweigen war für die Geschwister, die sich herzlich zugetan waren, ein Ding äußerster Notwendigkeit; denn zwischen ihnen lag die tiefe Kluft verschiedenartiger politischer Ueberzeugung. Der Marschall war physisch und moralisch von einer oft lächerlichen Unsicherheit, gepaart mit einer Handvoll ängstlich-verschanzter Feigheit und tastender Vorsicht; er konnte nur stockkonservativ sein. Er witterte überall Gefahr, Tücke, Bosheit, sah Gespenster, zitterte für sein Leben, und haßte alles und jedes, was Revolution und Revolutionär hieß vom Grunde seiner Seele. Sie aber, die massige, alternde Frau war von einer Beweglichkeit, Tüchtigkeit und Energie der Gesinnung, die zu Taten drängte, weit über alle Grenzen hinaus. Mit überströmender Liebe und beinah kindlicher Naivität hatte sie in ihrem klugen Kopfe Rußlands brennendste Fragen bereits siegreich überwunden. Das gewaltige Reich stand vor ihr als fertige, durchsichtige Zukunftsrepublik. Und wie der Marschall alles verabscheute, was nur das revolutionäre Lager streifte, so verteidigte und unterstützte seine Schwester jeden liberalen Gedanken, auch den verwegensten, unklarsten und unmöglichsten. Wenn sie losbrach gegen des Marschalls Partei – und dies war früher oft geschehen – so sauste jedes Wort, gesprochen mit ihrer tiefen, mächtig anschwellenden Stimme, jedes Wort, das ihr so warm aus der innersten, kampffrohen Überzeugung floß, wie ein zweischneidig Schwert nieder auf den Kopf des Bruders. Er versuchte zuerst sich zu verteidigen, doch die Frau sprach brav und gut und das fühlte er; da hielt er sich nervös mit den beiden gepflegten Händen die Ohren zu. Sie aber schleuderte ihm Verbrechen um Verbrechen seiner reaktionären Parteigenossen ins Gesicht und nannte diese in hohem Zorn Hallunken und Mörder. Das war stets der Augenblick, wo der Marschall retirierte; er schritt hastig zum Ausgang, rief aber noch auf französisch, bevor er die Tür hinter sich schloß, mit erzwungener Ruhe sein gewohntes: » Sophie, si vous vouliez modérer vos expressions!« – Um derartigen Szenen vorzubeugen, die dieses schicksalsschwere Jahr zu ganzen Dramen hätte steigern können, schwieg man im Hause des Marschalls die Politik ganz tot. Er spann sich oben in seinen Gemächern in die »Nowoje Wremja« ein; sie las unten im Speisezimmer den »Ruß.« Auch die Kinder trieben Politik; die Mädchen, mitgerechnet die fünfjährige Vera, hielten zur Mutter; Sergey aber wurde, als zu der Partei des Marschalls gehörend, von den Mädchen »Schwarzhundertmann« genannt und dementsprechend verachtet. –

Der erste Gutstag ging zur Neige. Ein herrlicher Goldabend hatte sich auf das Dorf gesenkt. Vom Westen her kam all das Gold in Streifen und Bändern, Kreisen und Punkten; es kam hinter einer mächtigen Wolke hervor, hinter der die Sonne dick und rund und feuerrot saß. Sie tat so, als ob sie versteckt wäre, und bedachte gar nicht, daß Sonnen ja immer gesehen werden. Der Saum der Wolke schimmerte und blinkte wie echtes Sonnengold; über, unter, neben ihr drangen die weitarmigen Strahlen hervor. Über den Bach glitten die Strahlenlichter und füllten die Kelche der Wasserrosen mit Goldpünktchen. Über das Mühlrad rieselten sprühende Goldfunken, und die schwarze Kuh, die unbeweglich und töricht mitten im Bache stand, hob immer wieder den Kopf, als ob sie in ihrem Kuhverstand all den Goldglanz, das Leuchten und Schimmern nicht fassen könne. Goldlichter drangen ins tiefe Tannendunkel und glitten über die Birkenstämme; die weißen Kirchenwände leuchteten auf, auf dem Glockenturm hatten die grauen Tauben goldene Federn bekommen; in allen Scheiben und Fenstern blitzte es; das kleine Mädchen dort, das mit nackten Füßchen allein seines Weges stapfte, es hatte die Braunaugen voller Glanz und Leuchten. –

Der Marschall, seine Schwester und die Kinder machten ihren ersten Abendspaziergang um das Gut und dem Walde zu. Goldig war alles. Alte Plätze, alte Wiesengründe, alte Bäume wollte man aufsuchen. Man ging langsam und plauderte.

»Was geht im Dorfe vor, Mischa?« wandte sich Sophie Wladimirowna an ihren Bruder. »Ist alles ruhig?«

»Soweit ja!« entgegnete dieser, »wenn man nicht von Jakob Böses zu erwarten hat.«

»Warum?« fragte Sophie Wladimirowna und blieb auf ihren Stock gestützt stehen.

»Weil er sich bereits kund gibt. Schon hat er mir Heu gestohlen. Dann hatte er letzthin Streit mit meinen Leuten; einer zerriß ihm sein Hemd, und nun kommt der Kerl her und fordert es von mir. Ich ließ ihm sagen, er solle sich scheren. Da brannte vor ein paar Tagen das Hühnerhaus – du weißt ja, neben der Scheune – nieder. Nur mit Mühe konnte größeres Unglück verhindert werden. Bis jetzt schwieg ich zu allem. Ich will Jakob nicht reizen; man weiß nie, was daraus entstehen kann. Aber bessert er sich nicht, rufe ich schließlich doch die Polizei«, fügte er ein wenig gereizt hinzu.

»Das mußt du natürlich nicht tun, Mischa«, beschwichtigte seine Schwester. »Wir wollen doch sehen, ob wir mit den Leuten unseres Dorfes nicht sonst fertig werden. Wir kennen ja einen jeden von ihnen ebensogut wie unsere eigenen Kinder.«

»Nun ja! Dich kennt man allerdings auch, Sophie«, meinte der Marschall noch gereizter. »Alles über sich ergehen lassen, und schutzlos abwarten.«

»Wir sind nicht schutzlos. Ich bin überzeugt, unsere Popularität und eigene Klugheit werden uns schützen.« –

»Deine Überzeugung teile ich eben nicht. Popularität? Ja, was erwartest du von diesem Gesindel? Dankbarkeit etwa für das, was unsere Eltern und wir jedem einzelnen unter ihnen getan? Du bist wirklich lächerlich in deiner Sorglosigkeit.«

»Siehst du, Mischa, ich baue eben auf das Volk«, meinte Sophie Wladimirowna ruhig. »Jakob war immer ein Bösewicht, so lange wir ihn kennen, und« –

Der Marschall unterbrach sie. »Ja, wenn er bis jetzt ein gewöhnlicher Bösewicht war, so ist er im Jahre 1906 eben mehr als das.«

»Etwa ein Revolutionär?« fragte Sophie Wladimirowna, und ein leiser Spott klang aus ihren Worten.

»Auf jeden Fall etwas Schlimmes!« wich der Marschall aus. Und ich wiederhole: »Wenn er sich untersteht, noch einmal lästig zu werden, rufe ich die Polizei.«

Sophie Wladimirowna schwieg. Sie fürchtete ihre Bauern nicht. Gerade vor sich hin blickte sie in den jungen Wald hinein und dachte an eine Szene, die sich vor ein paar Jahren, als ihr früh verstorbener Gatte noch am Leben wer, auf ihrem eigenen Gut, im Gouvernement Saratoff, abgespielt hatte. Eines Tages waren dreihundert aufrührerische Bauern mit Pferden und Wagen erschienen und hatten drohend geäußert, sie seien gekommen, um die Obstpflanzungen des Gutes zu plündern. Als der Polizeihauptmann von dem Überfall hörte, bot er der Gutsherrin einen Trupp berittener Gendarmen zum Schutze an. Aber Sophie Wladimirowna hatte den Antrag ernst und entschlossen zurückgewiesen. Sie wollte selbst mit dem Volke reden und sie tat es. Sie sprach wie immer ruhig und voll tiefer Güte. »Die weite, russische Erde, der Boden, der euch Arbeit und Brot bringen soll, ja, der gehört von Rechts wegen euch, Leute, und ihr zu ihm. Der Tag wird kommen, wo ihr der Herr sein werdet, ich erhoffe ihn mit euch. Den Obstgarten aber, diesen meinen und meines Mannes Obstgarten, den haben wir zwei selbst angepflanzt, besorgt, und wahrlich, viel Mühe und Arbeit hineingelegt. Nun reifen die Früchte; zum erstenmal sollen wir ernten. Jetzt allerdings seid ihr da und wollt es für uns tun, ihr, die ihr daran nicht geschafft und keine Stunde Kraft und Schweiß hineingelegt habt. Wenn ihr dennoch glaubt, das Recht sei euer, und ihr dürfet mit gutem Gewissen ernten, was ihr nicht gesäet habt, so tut es; ich verbiete es keinem von euch.« Und zur äußersten Verwunderung des Polizeihauptmanns waren die dreihundert Bauern nach langsamer Beratung einer um den andern abgezogen, und auf dem Gute blieb alles still. Eines indessen hatte sich geändert: Von dem Tage an war die Gutsherrin der Polizei verdächtig geworden. Ihr Haus, das sie im Winter mit ihren Kindern in der Krim bewohnte, war stets von Geheimpolizei umstellt, und es waren des öftern Hausdurchsuchungen vorgekommen. Sophie Wladimirowna aber kannte keine Furcht. Mut, Tüchtigkeit und tiefe Güte machten ihr Wesen aus; Güte dirigierte ihr Handeln und ihre Worte. Sie fragte nichts nach Gut und Geld, empfand es als einen sonderbaren Zufall, daß sie sehr reich war. Sie tat sehr viel für Arme, besonders für die arme, studierende Jugend. In großartiger Freigebigkeit stand ihre reiche Bibliothek jedem Wissenwollenden zur Verfügung. Sie unterrichtete außer ihren Kindern immer noch eine ganze Schar mittelloser Kinder; sie war die geborene Lehrerin und unterrichtete vorzüglich; ihre große Bildung leistete ihr dabei natürlich die besten Dienste. »Sollte man mich eines schönen Tages im Gefängnis haben wollen, so gehe ich eben«, meinte sie oft lachend. »Andere, Bessere wie ich sind auch gegangen; warum sollte ich es nicht aushalten?«

*

Es war neun Uhr geworden. Der elegante Waßja räumte mit knarrenden gelben Stiefeln den Abendbrottisch ab. Der erste Mahnruf an die Kinder ertönte, sich zur Ruhe zu begeben.

Jedoch besonders vor dem Schlafengehen bekundeten die Viere alle Nuancen ihrer politischen Überzeugung und des eigenen Temperaments. Punkt neun Uhr, sobald man vom Zubettegehen sprach, stürzte sich Sergey, der ein ausgesprochener Feind aller Zärtlichkeiten war und den Gutenachtkuß seiner Mutter so lange wie möglich hinausschieben wollte, auf die Zeitungen. Er, der frohlockend zugestand, in seinem ganzen zwölfjährigen Bubenleben nicht mehr als zwei Märchen gelesen zu haben, bezeugte schlags neun Uhr stets die fanatischeste Lesewut. Er stürzte sich auf die Berichte der Reichsduma. Und zwar tat er dies in Mutters liberaler Zeitung.

Die dicke Tanja, der Leader der liberalen, weiblichen Jungmannschaft, geriet regelmäßig mit ihm darüber in Streit. Mit einem einzigen, kühnen Griff entriß sie ihm die Zeitung. Sergey verteidigte sich selten; er kam doch nicht gegen sie auf. Auf Umwegen begab er sich in sein Schlafgemach; die schweren Plüschportieren zog er ganz dicht zusammen, kauerte schmal und still zwischen zwei brennenden Wachslichtern am Schreibtisch und studierte nun, was ihm auch besser zukam, Onkels »Nowoje Wremja«. – Jedoch nicht für Sergey allein war das Schlafengehen eine schwere Kränkung des jungen Lebens; die Mädchen kämpften nicht weniger hartnäckig um ihr abendliches Lampenlichtdasein. Vera und Natascha zankten sich dabei immer so fürchterlich, daß sie direkt zu Bett gejagt werden mußten. Vera, das fünfjährige Menschenkind, legte sich nie zur Ruhe ohne ihre »Mamka«. Das war eine von ihr mit heißer Inbrunst geliebte Puppe, die sie selbst keineswegs schön, aber »angenehm und sympathisch« fand. Diese »Mamka« war das denkbar Fürchterlich-Häßlichste und Unmöglichste, das eine Phantasie in wahnsinnigen Fieberträumen sich gestatten kann. Ihr Gesicht war vom Hinterhaupte völlig losgelöst und lag obenauf wie eine steife, unbewegliche Maske. Von einem Ohr der greulichen Puppe zum andern lief infolgedessen eine offene klaffende Wunde, aus welcher schmutziggraue Watte herausstarrte. Im Gesicht selbst waren nur noch Augen, zwei offene, runde, blaue Glotzaugen; alles andere, Nase, Mund, Brauen hatte Veras mütterliche Zärtlichkeit unter tausend und abertausend heißen Küssen im Laufe der Zeiten weggeschwemmt. Von Haarschmuck keine Rede; oben auf dem zertrümmerten Schädel erhob sich kerzengerade ein Büschel puppenblondes Haar, sehr lang und sehr spärlich. In diesen abscheulichen Schopf hinein preßte Vera jeden Abend zärtlich ihre roten Kinderlippen und ließ sich von ihm so lange das feine Näschen kitzeln, bis die ganze, kleine, freche Person einschlief.

Und Tanja, die dicke Tanja? Die warf sich auch zuerst auf die Zeitungen und las mit viel Ernst und Sachkenntnis. Dann zog sie ab, immer die letzte. Ein gewaltiges Glas Himbeersaft ließ sie mitwandern. Im weißen Nachtgewand thronte sie jedoch noch lange, einer Kugel gleich, auf ihren Kissen; sie schrieb ihr Tagebuch. Sie schrieb es unter Seufzen und Stöhnen, Ächzen und Wimmern. Denn Tanja wollte sich bessern, o, ganz furchtbar bessern. Sie sah es jeden Abend tief ein, daß sie ein abscheulicher, unnützer Mensch war; das mußte anders werden. Und wenn sie all ihre Besserungsvorsätze, ihre selbstvernichtenden Anklagen, all ihre Reue und herzliche Buße gewissenhaft aufgezeichnet, dann erst betete sie inbrünstig ihr Nachtgebet, bekreuzte sich drei Mal, trank ihr Glas Himbeersaft aus, stöhnte nochmals unter der roten Steppdecke hervor: Ach Gott! Ach Gott! – und entschlief.

Bald daraus stieg auch der Marschall, der immer früh schlafen ging wegen seiner » petite santé«, die knarrende Holzstiege zu seinen Gemächern hinauf. Dann wurde es still im weiten, alten Hause. Nur Sophie Wladimirowna blieb noch lange wach; das waren ihre ersehnten Nachtstunden. Sie begab sich in ihr Schlafzimmer und setzte sich ans offene Fenster in den tiefen Sessel, der hinter der Tür stand, die zu Sergeys Schlafgemach führte. Die Lampe stellte sie auf den Fenstersims, und nun kam die Stunde ihrer Bücher. Gerade jetzt studierte sie Macaulay und zwar auf Englisch. Halblaut las sie sich selbst vor und lachte oft vor sich hin über ihre häßliche, ungefüge Aussprache des Englischen. Sie las und las und sah ab und zu in den Park hinaus. Es schlug Mitternacht. Draußen lag tiefschwarz die Nacht. Im Haselstrauch zirpte es. Auf nackten Füßen schlürfte der Nachtwächter durch den Sand; hart tönte seine hölzerne Klapper. Heulend und fletschend umsprangen ihn die gewaltigen Hunde.

*

Wonnevoll glitten die ersten zwei Wochen dahin. Die Sonne leuchtete durch die hohen Gräser unter die schirmenden Blätter, unter denen Bäckchen an Bäckchen die Erdbeeren kauerten; der laue Sommerregen hatte in verschwiegenen Waldeckchen große Pilzfamilien aus dem Boden herausgeholt, und alles, was die alte Firma Sonne und Regen, in gemeinsamem Schaffen produziert, das genoß man mit leuchtendem Auge, und die Kinder trugen es ins alte Haus hinein zu all dem andern Schönen und Guten. Tags über streifte man an reifenden Ähren vorbei, und abends, wenn die ersten Schatten sich auf die Birkengipfel legten, bestieg man sein schwarzbraunes Rößlein, trabte durch Hain und Wald, schief das Mützchen und unbändig die Lust am Reiten.

Doch sollte es anders kommen. Auf allen Nachbargütern wurde gebrandschatzt, gesengt, gemordet. Wer wirklich schützte dieses Gut? Aufständische Bauern scharten sich überall zu Truppen und plünderten. Auf einem nachbarlichen Sitze waren die Plünderer eingedrungen und hatten der Gutsherrin, die mit ihnen sprechen wollte, die Axt in den Rücken geschleudert. Was hatte man für sich zu erwarten?

Vom Gut hinunter führte ein Fußpfad. Dort lag das Dorf. Klein war es, armselig und vom ersten bis zum letzten Mann dem Trunke ergeben. In der Reichsduma kämpfte man heiß für des Bauern Rechte, für die allweite russische Erde. Auch hier im Dorfe gab der Zerlumpteste laut und lärmend seine berechtigten Forderungen kund. Jedoch – schaute sein Auge und schuf seine Hand? Dachte sein Hirn und wünschte seine Seele? Wie ein Hund fiel er über die vielbegehrte Erde her; hart schlug er sein Haupt auf auf ihrem fruchtbringenden Schoß, und sinnlose Laute, schamlos und wirr, geiferte er in ihr heiliges Antlitz. Der greise Pope unten am Bach war immer berauscht – im Zorn darüber hatte ihm einst sein Weib auf offenem Felde mit einem Scheit das Bein zerschlagen; der Dorfälteste trank sechs Tage in der Woche; der Diakon taumelte oft während des Abendmahls; den Ortsgendarmen sah man selten nüchtern, und der Kirchenhüter Kusma schlief gleich mit Mutter und Schwiegermutter zusammen hinter der schweigsamen Kirchentür den gemeinsamen, täglichen Rausch aus. Im ganzen Nest kein anständiges Haus außer der kaiserlichen Branntweinschenke des Zaren aller Reußen. Auch bestahlen sich diese Bauern mit regelmäßiger Genauigkeit. Wenn Iwan heute nacht dem Peter den Honig aus den Bienenkörben stahl, so trug Peter dem Iwan morgen die Äpfel aus dem Garten. Niemand klagte an; niemand strafte. Man kannte sich und trank weiter. Ein stumpfes, dumpfes Indentaghineinleben, ohne Normen, ohne Gesetze. Zu tiefst in der schlummernden Seele die instinktive, ohnmächtige Sehnsucht nach Aufblick und Befreiung, ein vages Hoffenwollen, gepaart mit dem Bewußtsein, daß die eigene Kraft nicht reiche. Man hatte zu wenig Willen und zu viel Güte; man wünschte zu wenig und verzieh zu viel. Sophie Wladimirowna, ihr Bruder und ihre verstorbenen Eltern hatten ihr möglichstes zur Hebung des Dorfelendes getan. Schule, Versorgungshaus, auch zum Teil die Kirche hatten sie auf ihre Kosten erstellt und unterhielten sie bis auf den heutigen Tag. Michail Wladimirowitsch gab immer Holz aus seinen Wäldern, wenn der Bauer sich eine Hütte zimmern wollte; Mehl, Mais, Kartoffeln usw. wanderte alles aus seinen Kammern an die Ärmsten. Lehrer, Priester, Älteste holten Rat, Hilfe, Beistand auf dem Gute, besonders wenn Sophie Wladimirowna anwesend war; ungehört ging kein Bittender von hinnen. Aber es fehlte eben an zu vielem, als daß das Getane hätte genügen können.

*

Zu äußerst im Dorf, da wo der schmale Fußpfad zum Gut hinaufführte, hauste Jakob, der Jakob, den das gesamte Dorf, sowie der Marschall, wegen seiner Roheit und Bosheit fürchtete. Familiennamen hatte er keinen, wie übrigens viele in der Gegend. Er trank ohne Aufhören, prügelte abwechselnd sein Weib und seine neun unseligen Kinder. Tagelang lungerte er herum und ließ in der elenden Hütte nichts zurück als Furcht und Hunger. Mit dem Marschall lag er seit Jahren hartnäckig in Streit, sobald der Marschall auf dem Gut erschien; jeden Sommer tauchte er mit neuen Bosheiten auf. Mit ihm hatte Michail Wladimirowitsch auch während der kurzen Zeit seines Landaufenthaltes vor der Ankunft seiner Schwester Ärgernis gehabt; von ihm auch erwartete er mehr. Und das Unheil kam auch tatsächlich von Jakob. Schon hatte er dem Marschall Heu gestohlen und das Hühnerhaus in Brand gesetzt, und dieser ließ ihn gewähren. Nun kam noch das Letzte, auf das Michail Wladimirowitsch gewartet hatte, bevor er die Polizei anrief: Jakob hatte unter Fluchen und Lästern alle Birken am Wiesenpfad umgeholzt, dem Gutsherrn zum Trotz, wie er behauptete, für sein zerrissenes Hemd. Da ließ der Erzürnte den Verwegenen rufen.

Andern Tags stand Jakob vor der Gutstür. Struppig das Haar, Wildheit im Auge, eine lebendige Drohung. Neben ihm, erstarrt zu einem Bündelchen Schrecken, sein kleiner Junge. Der Marschall nähert sich mit aufgeregt raschen Schritten der Tür, und wie er erscheint, stößt Jakob dem Knaben roh die Faust in den Rücken. »Sing!« brüllte er. Die Tränen schießen dem Kleinen unter die Lider; jedoch so laut es geht, Töne falsch und Worte verkehrt, schreit er in den Hof hinaus – die Marseillaise. Das sollte den konservativen Gutsherrn erschrecken, aufbringen, dies Lied, an dem im Sommer 1906 jeder Lump in Rußland sich heiser schrie. Und wirklich, Michail Wladimirowitsch geriet mit einem Schlage in die heißeste Wut. »Halt dein Maul, du – du – du!« rief er mit erhobener Stimme und hervortretenden Augen. Wart nur bis die Polizei kommt! Dann kriegst du für alles, fürs gestohlene Heu, den Hühnerstall, die Birken und für dein infames Lied!« Er mußte inne halten; die Wut kroch ihm bereits den Hals hinauf und klammerte sich fest an seiner Kehle. »Für das Lied allein sollte man dich aufknüpfen!« versuchte er nochmals mühsam atmend. Aber Jakob war ganz Roheit und Branntwein. Rotglühend vor Zorn, weiße Schaumflocken auf den fluchenden Lippen, die schmutzigen Fäuste weit vor sich ausstreckend, schrie er dem Gutsherrn das Allerunflätigste ins verstörte Gesicht, und »Sing!« herrschte er seinen Jungen von neuem an. Während der Vater lärmte, tobte, das Höllenschicksal vom Himmel herunterfluchte, stimmte der Knabe noch einmal die Marseillaise an, so frech als er vermochte und doch so schüchtern und trostlos wie ein kleiner, verlassener Sperling. Jetzt zog sich der Marschall zurück; die Aufregung rüttelte zu heftig an seinem nervösen Herzen, und in der Tür erschien Sophie Wladimirowna. Den ganzen Türrahmen füllte ihr gewaltiger Leib aus. Sie blickte ernst. Der kleine Sänger verstummte sofort, und Jakob wartete.

»Jakob«, sprach sie mit ihrer tiefen, furchtlosen Stimme, »was tust du hier? Wie führst du dich auf! Gehört es sich, hier an dieser Stelle so zu sprechen? Haben wir dir ein Leid getan? Wer ist der Schuldige, du oder wir? Sprich, was hast du? was willst du?«

Jakob fühlte selbst im Rausch die Güte dieser Stimme.

»Sophie Wladimirowna«, Hub er an und schwieg kurz.

»Nun?« forschte sie. Doch Jakob schwieg.

»Sophie Wladimirowna«, begann er dann nochmals und brach los. Mit abgewandtem Gesicht schrie er wieder in den Hof hinaus, heftige, wüste Reden, Anklagen – und eine furchtbare Drohung.

»Er wird an mich denken müssen, der Marschall!« schloß er.

»Hör auf, Jakob, um Gottes Willen, hör auf!« fiel Sophie Wladimirowna erschrocken ein. »Geh nach Hause, schlaf deinen Rausch aus, und wenn du mir dann noch was zu sagen hast, so komm wieder; komm wieder nüchtern und anständig, und ich höre dich an!« fügte sie im alten, gütigen Tone hinzu. Jakob warf die Haarbüschel aus der Stirn. »Ich gehe!« sagte er und riß seinen Jungen von der Schwelle hinweg mit sich fort.

Obwohl der Marschall mit der Polizei gedroht, ließ er sie doch nicht rufen. Es war seiner Schwester gelungen, seine Aufregung zu dämpfen und ihn vor dem Schritt, den sie ungern gesehen hätte, zurückzuhalten. Aber am Abend desselben Tages zog sich der Gutsherr früh zurück. Seinen gewohnten Gutenachtspaziergang ums Haus herum im Dunkel unterließ er; ihn fröstelte, und seine Hände waren eiskalt. Jakobs Drohung kam ihm nicht aus dem Sinn.

Drei Tage waren verstrichen. Hoch oben im Sattel saß Natascha, das blaue Mützchen so verschoben, daß es sie herzlich störte, und jeder Pferdeschritt machte die Sache schlimmer. Doch zum Zurechtrücken hatte sie weder Zeit noch Lust; denn mit beiden dünnen Armen hielt sie ihr schwarzbraunes Rößlein fest am Zügel und guckte geradeaus in die jungen Pappelkronen am Bachrand. Diese hüllten sich in violette Abendschatten wie fröstelnde Dämchen in zarte Shawls und wiegten sich leise hinüber, herüber. Am Ackerrand bewegte sich mit im Takt eine Gesellschaft junggrüner Halme. Ein wonnesamer Abend, ein wonnesames Reiten! Auf einmal hebt das Rößlein den Kopf, scheut erschreckt und wirft den schlanken Leib gegen den Ackerrand hin.

Neben der Birke am Wege liegt unbeweglich ein Mann; unter dem grauen Mantel heraus, in den er bis über den Kopf zugedeckt ist, ragen bloß nackte, blauweiße Füße; über diese Füße krabbeln in großen Zügen die Fliegen.

Entsetzt blickt Natascha hin.

»Ein Toter!« sagt sie bestimmt zu dem an ihrer Seite trabenden, eleganten Waßja. »Ein Betrunkener«, meint dieser und lächelt überlegen.

»Betrunkene liegen nicht so!« erklärt die elfjährige Amazone wieder sehr bestimmt. »Reiten wir rascher!«

Sie reißt so heftig an den Zügeln, daß das bereits erschreckte Roß den Kopf weit zurückwirft. Dann rennt es mit seiner kleinen Reiterin vorwärts, die Landstraße entlang, die Gutshöhe hinan. Die herunterhängenden Lindenzweige zupfen Nataschas Blondhaar; das harte Aufschlagen aus dem Sattel tut ihrem schmächtigen Körper weh. Ganz blaß hält sie endlich vor der Stalltür. Da steht zufällig der Marschall, den Spazierstock unter dem Arm.

»Wozu dies rasende Reiten, Natascha?« sagt er vorwurfsvoll. Natascha scheint nicht zu hören.

»Waßja, nimm mich herunter!« kommandiert sie aufgeregt und schiebt endlich das Mützchen zurecht.

»Onkel Mischa, dort unten am Wege neben der Birke liegt ein Toter!« sagt sie rasch und schreitet mit kleinen Schritten neben dem Onkel her. »Mir wurde zuerst ein bißchen schaurig; aber nun hole ich gleich Tanja und Sergey und wir gehen uns den Mann ansehn!« Der Marschall verstand nicht gleich. »Wo ist ein Toter?«

Natascha wiederholte ihre Behauptung und blickte ihn sehr entschlossen an. »Ach, schwatz nicht solches Zeug, Kind. Erstens ist dort kein Toter, sondern ein Betrunkener, und zweitens geht mir keins von euch hin«, meinte er nachdenklich.

»Ich frage Mama!«

»So frag Mama!«

Natascha huschte an ihm vorbei zu der grünen Bank unter den Linden. Dort saß Sophie Wladimirowna und stickte an einem weißen Linnenkleid.

Es wurde beschlossen, der Mann am Wege sei nicht tot, sondern betrunken, und die Kinder hätten zu Hause zu bleiben.

Jedoch des andern Tags in aller Frühe durchlief es die Dorfgassen: Ein Erschlagener!

Wer ist sein Mörder?

Jakob, raunte man sich zu.

*

Und siehe! Die leisen Stimmen behielten recht; Jakob war der Mörder; er hatte sich im Rausche verraten.

Als es des Morgens in aller Frühe kund geworden, daß der Mann an der Birke ein Erschlagener sei, da wurde das Dorf laut. Die Weiber standen vor den Hütten herum, die Männer in den Gassen. Der Dorfälteste, der bärtige Stephan, beschloß hinzugehen, und die andern folgten, ohne Neugier, träge und schwer. Als die Bauern an Jakobs zerfallenem Hause vorbeischritten, riß dieser die lottrige Tür auf. »Wohin?« lallte er; schwerer Branntweingeruch erfüllte auf einmal die frische Morgenluft. Es antwortete ihm niemand; der Älteste wies bloß mit dem bärtigen Kopfe nach der Birke hin. »Ich komme mit!« Jakob schlug die Tür zu, daß die wenigen Fensterscheiben klirrten.

Bei der einsamen Birke angekommen, umstanden sie alle den Toten. Jakob war so betrunken, daß er taumelte und eine Strecke hinter den andern zurückgeblieben war. Der Tote lag auf der linken Seite, dem Gebüsch zugewandt, immer noch bis über den Kopf zugedeckt mit dem grauen Mantel. Jemand schob den Mantel zur Seite. Im Hinterkopf des Erschlagenen gähnte ein rundes, dunkles Loch; von da war ihm das Blut über Haar, Gesicht und Arm geronnen bis an die schmutzigen Fingernägel. Im Gebüsch, dicht neben des Toten ausgestrecktem Arm, lag rot vom Blut ein großer Stein.

»Wer ist er?« murmelte halblaut Stephan. Niemand kannte ihn; gesehn hatte ihn wohl mancher. »Ein Landstreicher«, erklärte Dmitry, der Schönste im Dorf, beinah mit Bestimmtheit. »Ich habe ihn schon vor ein paar Tagen im Dorfe bemerkt, gerade mit diesem Sack da!« Er stieß mit dem Fuß nach einem gestreiften Leinwandsack, der neben dem Toten lag.

»Mit wem hast du ihn gesehn?« fragte Stephan. Dmitry antwortete nicht, zeigte bloß auf den herantaumelnden Jakob. Es war, als ob alle diese Antwort erwartet hätten. Eine Pause trat ein. Jakob schleppte bereits die schweren Füße durchs nahe Gras, der Birke zu. Gläsernen Auges schaute er auf den Toten. Er trat nahe an ihn heran. Da sagte auf einmal Stephan wie für sich: »Hat er wohl mit dem Mörder gekämpft?«

»Nein!« platzte Jakob heraus und schaute Stephan ins dunkle Gesicht, »nicht gemuxt hat er!«

Die Bauern erschraken nicht, wichen nicht von ihm zurück, blickten ihn nicht einmal an. »Woher weißt du das?« forschte Stephan schnell.

»Weil ich ihn selbst erschlug!« entgegnete der Betrunkene bestimmt und ohne Scheu.

»Warum denn?«

Die Bauern harrten gespannt. Jakob bemerkte es trotz dem[des?] Branntwein.

»Meine Sache!« brauste er unerwartet auf. »Was geht's dich an? Scher dich zum Teufel, du Lump, du Schelm, du Halunke!« Über den Toten hin rollten Worte der gemeinsten Roheit, unmenschliche Worte, laut und unverschämt.

»Ruhig Jakob,« beschwichtigte nach einiger Zeit Dmitry und trat an den Tobenden heran. Dieser streckte ihm die Faust entgegen. »Geh nach Hause, Jakob, schlaf deinen Rausch aus.«

Das brachte Jakob vollends auf. »Ich bin nicht betrunken!« schrie er. »Glaubst du vielleicht, ich wisse nicht, was ich sage? Mit dieser Hand da habe ich ihn erschlagen, den da. Hier muß der Stein sein, da im Gebüsch – laßt mal sehn!« – Er bückte sich hastig nieder und hob den blutigen Stein auf. »Da seht ihr nun selbst, Dummköpfe, ob ich die Wahrheit spreche.« Der Zorn loderte ihm aus den Augen. »Dort am Ackerrand hat der Stein gelegen; aus der Furche habe ich ihn gezogen – und dann hab ich ihn dem da an den Kopf geschleudert, dem Kerl da, direkt an den Schädel. Hingelegt hat er sich ohne zu muxen, ja, meine Herrschaften, ohne zu muxen!«

Er schwieg; einige Minuten lang hörte man nur das leise Rauschen der jungen Birke über dem Toten und das Keuchen aus Jakobs Brust. Wassily, der Dümmste und Ärmste im Dorf, hatte mit den Bauern bis jetzt schweigend dagestanden. Halb nachdenklich, halb verständnislos hielt er die mächtig breite Stirn mit den tiefblauen, fatalen Augen gesenkt. Jetzt, als Jakob schwieg, schien er die Sache erfaßt zu haben. Ein dummes Lächeln flog über sein Hungergesicht.

»Das riecht nach Sibirien, Jakob!« brachte er schadenfroh vor.

Sibirien! Das Wort hallte in Jakobs Ohr; er fühlte, wie es ihm ins Gehirn emporstieg und dort etwas mit sich umriß, etwas Furchtbares, Riesiges, wie eine feindliche Mauer. Eine Sekunde noch und das Gewirr von Flocken und Knäueln hinter seiner Stirn teilte sich; ein Gedanke trat heraus, klar umrissen und erfaßte ihn mit seinem ganzen Wesen. Er wurde nüchtern.

»Sibirien?« Er schaute im Kreise herum, lange, langsam. Da fiel sein Blick auf den Toten zu seinen Füßen. Er wandte sich plötzlich, machte kehrt und schritt hinweg, sichern Schrittes, die Landstraße entlang; seine nackten Füße wirbelten den Staub auf.

Am selben Abend schon leugnete Jakob jede Schuld.

*

Seit die Kunde von Mord und Mörder zu des Marschalls Ohr gedrungen, hatte er seine Ruhe verloren. Er trug sich mit schweren, sorgenvollen Gedanken, die er seiner Schwester gegenüber nicht äußerte, weil ihre unentwegte Ruhe und scheinbare Sorglosigkeit ihn bald beschämten, bald reizten. Jakobs Drohung saß fest in ihm, und wenn dieser schon einen andern getötet und nicht ihn, den Gutsherrn, so sah er in seiner ängstlichen Phantasie doch ganz deutlich die geheimen Fäden, die von Jakobs Hütte zum Erschlagenen neben der Birke und von da hinauf aufs Gut führten. Diese Fäden schienen ihm sehr grob geflochten und verflochten sich zum Netze – auf seinem eigenen, hochadeligen Haupte. Was ihn bis aufs Äußerste erregte, war, daß, mangels richterlicher Autorität, der Mörder immer noch frei unter Gottes Himmel herumlief. Es war seine Pflicht gewesen als Gutsherr, den Untersuchungsrichter vom Geschehenen zu benachrichtigen, und er hatte es auch sofort und sehr energisch getan. Aber kein Mensch konnte ja wissen, wann es dem behäbigen Herrn paßte, endlich vorzufahren. Zudem hatte er in den Zeiten der Unruhen alle Hände voll zu tun.

Der Marschall entfernte sich wenig mehr vom Gute und ordnete an, daß Iwan, der Nachtwächter, auch von den jungen Hunden auf seinen nächtlichen Rundgängen ums Haus begleitet werde, nicht bloß von den gewaltigen Bestien Hektor und Nora; so ließ man denn Nataschas Togo und Veras Mazeppa mitlaufen und mitfletschen. Trotzdem konnte der Marschall im wundervollen Gobelinbett oben den Schlaf nicht finden. Wenn das Käuzchen in den Tannenwipfeln vor den Fenstern seinen unheimlichen Nachtruf anhub, fuhr er aus kurzem Schlummer empor. Er starrte ins Dunkel, horchte, und das Herz hämmerte ihm an die Brustwand in kleinen, zitternden Schlägen. Unten vor dem Hause schlich jemand auf nackten, leisen Sohlen; man flüsterte halblaut; jetzt, jetzt tastete jemand der Mauer entlang gerade unter seinen Fenstern. Der Marschall richtete sich auf, schlich ans Fenster, schob lautlos die Gardine zurück und setzte sich im Nachtgewand in den tiefen Sessel. Da, unten an der Tanne lehnte wirklich jemand, eine dunkle Gestalt: Iwan, der Nachtwächter, der mit den Hunden plauderte. Auf eiskalten Füßen schlich der Marschall wieder zu seinem Lager.

Wo um Gotteswillen blieb auch der Untersuchungsrichter?

Und wirklich, es war unerhört. Drei, vier, fünf Tage lag der Erschlagene im glühendsten Sonnenbrand unter dem grauen Mantel am Wege. Der Geruch, der von ihm ausging, war so entsetzlich, daß die Bauern, die je zwei und zwei die Pflicht hatten, den Toten bis zur Ankunft des Richters zu hüten, ihr nächtliches Kohlenfeuer immer weiter und weiter wegrückten. Wie auch am fünften Tag kein Richter erschien, murrten sie, des Wartens und Hütens müde; denn die Arbeit auf dem Felde blieb ungetan. Da erbot sich ein altes, hageres Weib ganz allein, den Erschlagenen zu hüten bei Tag und bei Nacht. Und sie wächterte noch zweimal vierundzwanzig Stunden im glühenden Sonnenbrand und im lichten Mondglanz.

Auf dem Gute war außer dem Marschall alles ruhig. Sophie Wladimirowna hatte sich eine Erkältung zugezogen und saß mit hochaufgeschwollener Wange, eingewickelt in eine dicke Flanellkompresse, zwischen Tür und Fenster in ihrem Schlafgemach zu ebener Erde und studierte immer noch ihren Macaulay. Der elegante Wasija nahm seinen Photographenapparat, wanderte jeden Tag zu der Birke am Wege und photographierte den Mann im grauen Mantel, bald so, bald anders. Die Kinder liehen sich in ihrer Fröhlichkeit durch nichts beeinträchtigen; Tanja plante einen Ball auf den Inseln, und Natascha braute bereits auf dem Balkon gegen den Park hin einen Most aus Wasser, Zucker und roten Johannisbeeren, den sie vorzüglich zu bereiten verstand; nur stand nachher der Balkon immer unter Wasser. Auch im Dorfe blieb alles ruhig; Jakob lärmte und trank herum wie immer. Man wartete eben ab, und man war gewöhnt, zu warten.

Am Abend des fünften Tages fuhr endlich ein Wagen den Tannenweg hinan. Der Marschall hörte die Glöckchen schon von weitem klingen und ging so hastig wie möglich hinunter auf die Terrasse, um dort endlich erleichtert aufzuatmen. Jedoch im vorfahrenden Wagen mit dem Kutscher im Sammetrock sah kein Untersuchungsrichter, sondern ein kleines, rundliches und ältliches Dämchen, Gräfin M ... Sie war eine Freundin des Hauses und stattete jeden Sommer dem Gut ihren mehrwöchigen Besuch ab. Der Marschall, der sich zu andern Zeiten stets ein ganz klein wenig und höchst diskret über das rundliche Persönchen der Gräfin lustig machte, wurde jetzt direkt ärgerlich. Jedoch, was ihn noch irgendwie mit dem Besuche aussöhnte, war, daß die Gräfin wie er dachte, und zwar: stockkonservativ. Das konnte er eigentlich jetzt brauchen, um sich ein wenig Luft zu machen. Mit sauersüßem, verbindlichem Lächeln trat er an den Wagenschlag und küßte der Gräfin die kleine, runde Hand. Sophie Wladimirowna dagegen war herzlich erfreut über den Besuch.

Beim Abendbrot wurde nicht viel gesprochen. Über den Mord zu reden vermied man wegen der Kinder und der ängstlichen Gräfin. Man kam zur Literatur und sprach von Baudelaire.

»Weißt du, Mischa, wer ein guter Baudelaire-Kenner ist?« fragte Sophie Wladimirowna über den Tisch hinüber ihren Bruder. »Pawel Pawlewitsch, der Untersuchungsrichter.«

»Zum Teufel mit seinem Baudelaire!« entfuhr es dem Marschall unerwartet und gereizt. »Wenn er nur selbst erst da wäre, das wäre besser … übrigens ein ganz gebildeter, interessanter Mann,« fügte er beschwichtigend hinzu.

»Nur wäscht er sich nie!« rief die dicke Tanja überlaut und kugelte sich vor Lachen.

»Ja, er wäscht sich nie,« bestätigte Sophie Wladimirowna so lebhaft, als es die Flanellkompresse um Wange und Mund erlaubte.

»Passen wir ihm auf, wenn er kommt!« schlug Natascha vor und sündigte im selben Augenblick gegen jeden Tischanstand. Da sie den Spinat nicht leiden konnte, tischte sie die ganze Portion, die die Mutter ihr zerstreut auf den Teller gelegt, auf das Stück Brot, das neben des Onkels Teller lag. Natürlich floß die grüne Sauce über den Rand der Brotscheibe hinunter auf das Tischtuch. Der Marschall schob seinen hochlehnigen Stuhl ein wenig zurück und hielt eine seiner kleinen empörten Reden. Eine Pause entstand. Dann berieten Sophie Wladimirowna und ihr Bruder, wo der Untersuchungsrichter unterzubringen sei, im Hauptgebäude selbst oder im Flügel nebenan.

»Steckt ihn in den Flügel!« unterbrach Natascha wiederum die ernsthaften Beratungen. »Bitte, bitte, steckt ihn in den Flügel!«

»Und recht viel Wasser hineinstellen, den Riesenkrug und die Schüssel, beide bis an den Rand voll; dann wollen wir sehen, ob er nicht vielleicht doch sauber wird!« rief frohlockend Tanja. Da sündigte Natascha ein zweites Mal gegen jede Tischordnung. Mit einer einzigen Bewegung ihrer dünnen Arme zog sie Tanjas dicken Kopf unerwartet energisch an sich heran und flüsterte, tuschelte, wisperte Tanja direkt ins Ohrläppchen; diese konnte sich kaum rühren, aber sie lachte unbändig.

»Ungezogene Mädchen!« rief der Marschall ungnädig und zog die Augenbrauen sehr hoch. Doch ohne jeglichen Respekt entgegnete Natascha frohlockend: »Ach, Onkelchen, wenn du wüßtest! Wenn du wüßtest! O, der Neger, der Neger!«

*

Der Flügel war ein einstöckiges, weißgestrichenes Gebäude, links vom Gut; es stand allein, umgeben von hohen Tannen. Dort standen die prachtvollen Möbel des Marschalls aus seiner Amts- und Würdezeit; dort hingen, standen, lagen Bilder, Bücher, Spiegel, Basen herum, Gerümpel Plunder, tausenderlei alter ungebrauchter Dinge. Dort roch es immer nach Äpfeln und getrockneten Tabaksblättern. Dort befanden sich auch noch zwei sehr hübsche Fremdenzimmer, und dort auch hausten Gespenster. Wenigstens behaupteten dies die Kinder, und jeden Sommer wurden ihre Behauptungen glaubhafter, obwohl jegliche Beweise fehlten. Juliane, die älteste, halbtaube und halbblinde Dienerin des Hauses, die noch aus der Leibeigenschaftszeit stammte, trocknete im Flügel stets ihre paar Apfel auf den Winter; regelmäßig, wenn sie ihrem Hab und Gut einen Besuch abstattete, schlossen sie die Kinder im Flügel ein und hämmerten ihr und sich selbst von allen Fenstern her den Glauben an die Gespenster in den Kopf.

Nach diesem Flügel huschte gleich nach dem Abendbrot Natascha; sie lief so rasch und so frei wie ein Luftzug, gerade so wie nur Natascha laufen konnte. Die Tür stand weit offen; die alte Juliane war dabei, das Zimmer herzurichten und schleppte eben einen riesigen Wasserkrug. Flink wie ein Wirbel rannte Natascha an ihr vorüber zur offenen Tür hinein, nach vorn, und duckte sich in einem Winkel. Den schmalen Rücken gebeugt, das Blondhaar übers Gesicht, zerrten ihre sonnverbrannten Arme an etwas herum. Da saß er, der Neger. Das war das furchtbare Konterfei eines Vorahnen, in so düsteren Farben gehalten und so schaurig, daß der Urahne wie ein wutschnaubender Negerhäuptling aussah, mit blutunterlaufenen Augen und grausamem Grinsen, und angetan war er mit einem kohlrabenschwarzen Harnisch. Dieses Bild trug Natascha behende ins Fremdenzimmer, kletterte auf das frisch zubereitete Bett des Untersuchungsrichters und hing den Entsetzlichen an einem Nagel auf; gerade so tat sie das, daß Pawel Pawlewitsch gleich beim Eintritt ins Zimmer zu Tode erschrecken mußte.

»Juliane! Bleib hier! hörst du?« rief sie zur selben Zeit bittend und befehlend der halbtauben Dienerin zu; denn ihr wurde selbst ganz schauerlich zu Mute in dem dunkelnden Hause.

Feuerrot im Gesichtchen, jedoch ganz Herausforderung und Selbstbewußtsein, trat die kleine Spitzbübin einige Minuten später wieder ins Speisezimmer.

Bald darauf jagte man die Kinder sehr energisch zu Bett. Nur Tanja blieb noch, und zwar hockte sie mitten auf dem Tische direkt unter der Lampe; sie las eine schottische Gespenstergeschichte und behauptete, die Lampe brenne schlecht und sie sehe nichts. Mit vieler Mühe und nach endlosem Zureden gelang es, sie hinab- und hinauszubefördern. Sie ging und schluchzte noch lange über ihrem Tagebuch. Zu Tanjas Ehre sei es gestanden, daß sie nur zu Hause im intimsten Kreise ein unmögliches Ding war. Im Gymnasium, das sie seit vier Jahren besuchte, war sie die ausgemacht beste Schülerin. Tadellos in Haltung und Betragen, fleißig und außerordentlich begabt, übertraf sie alle und wurde als hilfsbereiter, ehrlicher Kamerad von allen sehr geliebt. Ihr Ehrgeiz ging aus die goldene Medaille bei Absolvierung des Gymnasiums aus, und sie erhielt diese goldene Medaille auch, als einzige Schülerin, die während ihrer ganzen Schulzeit vom ersten bis zum letzten Tag nur die besten Noten davongetragen. Die Disziplin, die sie sich im Gymnasium auferlegen mußte, vertauschte sie stets, kaum war sie zu Hause, mit tausend dickköpfigen Launen und Ungezogenheiten.

An diesem Abend wünschte Sophie Wladimirowna lange aufzubleiben. Der Gärtner hatte ihr aus dem Treibhaus einen blutroten Kaktus gebracht, der sich nachts um zwölf Uhr bloß zu voller Blüte entfalten sollte; dies Schauspiel wollte sie abwarten. Sie schlug der kleinen Gräfin eine Partie Halma vor. Doch kaum hatten die beiden Damen die ersten unbedeutenden Züge getan, unterbrach sie der Marschall.

»Was soll wohl noch werden?« Hub er an. »Da soll einer zusehen und abwarten, bis es dem Herrn Untersuchungsrichter behagt, herzukommen, und indessen läuft der Mörder frei herum und steckt uns das Haus überm Kopf in Brand!« Er sprach halb spöttisch, halb herausfordernd und doch so, daß man die Erleichterung des beklemmten Herzens herausfühlte.

»Ach, Mischa, beruhige dich! Wer denkt denn an solche Dinge?« beschwichtigte seine Schwester in ihrer unerschöpflichen Ruhe und hüpfte mit einem roten Figürchen über das Brett, der runden Brust der kleinen Gräfin entgegen.

»Ach, laß doch!« rief schon höchst ärgerlich der Gutsherr. »Du mit deiner ewigen Sorglosigkeit! Du hast doch die Drohung Jakobs gehört vor der Hoftür; du kennst ihn, weißt, daß von ihm nur Schlimmes zu erwarten ist und willst dir und mir einreden, als ob er aus Menschenliebe vielleicht den dort an der Birke gemordet. Als ob ich nicht wüßte, warum er ihn erschlug!«

Sophie Wladimirowna und die Gräfin horchten auf.

»Was meinst du damit?«

Der Marschall rückte nicht gleich heraus; er schob den Stuhl zurück und ging herum, zwei drei Mal vom Buffet bis zum großen Eichentisch.

»Glaubst du denn eigentlich, seine Drohung hier und der Mord dort ständen in gar keiner Beziehung zu einander? Du bist wirklich naiv, Sophie!«

Er wartete; die dicke Frau begriff nicht sofort. Sie nahm den Klemmer herunter und lächelte. Der Marschall blickte sehr überlegen. »Natürlich war das Verbrechen auf dich abgesehen, Mischa. Dich wollte Jakob haben und tötete vorläufig den andern, nicht?« meinte sie erratend.

»Wenn nicht so, dann etwas ähnliches!« erwiderte der Marschall und setzte sich wieder hin. Seine Stimme wurde aus einmal gedämpft. »Auf jeden Fall«, meinte er beinahe flüsternd, »steckt etwas dahinter. Ich will es euch gleich heraussagen: Der Erschlagene ist, wie man mir heute erzählt hat, ein Landstreicher; Jakob hatte ihn seit ein paar Tagen bei sich in der Hütte beherbergt. Die beiden und noch andere Helfershelfer, kurz eine ganze Bande, hatte einen Überfall aus unser Haus und mich im Sinne. Im letzten Augenblick sagte sich der Landstreicher los, wollte nicht mitmachen, lief davon, Jakob hinter ihm drein, und damit nichts auskomme, erschlug er ihn!«

Aus dem freundlichen Gesichtchen der kleinen Gräfin lag höchstes Entsetzen. Sophie Wladimirowna aber lachte aus.

»Du siehst Gespenster! Aber Mischa, wo denkst du hin? Wie kommen dir solche Gedanken?« rief sie fröhlich und hüpfte wieder über die weißen Viereckchen.

»Du wirst sehen, was noch kommt!« brauste da der Marschall empört auf. »Das war nur der Anfang! Und wenn Pawel Pawlewitsch nicht bald erscheint, gibt's noch was in den nächsten Tagen!«

»Er hat eben alle Hände voll zu tun diesen Sommer bei so viel Unruhe«, meinte Sophie Wladimirowna im gewohnten ruhigen Ton.

»Ja eben, die Revolution, deine Revolution, die hält die Leute in Atem!« versetzte der Marschall höhnisch.

»Was, meine Revolution! Du sprichst dummes Zeug, Mischa!«

Sophie Wladimirowna wurde böse. »Als ob ich die Revolution gemacht hätte«, fuhr sie zürnend fort.

»Gemacht hast du sie allerdings nicht, Sophie«, meinte der Marschall mit mühsamer Selbstbeherrschung. »Aber gewünscht hast du sie, und unterstützest sie mit jedem Wort, jedem Atemzug!«

»Sollte ich vielleicht die Leute deiner Partei unterstützen?« fragte die dicke, grollende Frau mit ihrer tiefen, überzeugten Stimme. Sie stieß das Halmabrett zur Seite, daß die roten und schwarzen Figürchen ins Wanken gerieten, und stand auf.

»Sollte ich vielleicht deine Leute unterstützen, Mischa? Die Leute, die seit Jahren unser Land darniederhalten, verbannen und morden ohne Richtspruch und Gerechtigkeit? Sie sind es, deine Leute, die die andern morden und sengen lehren, diese Halunken ohne Gewissen, diese Lumpen ohne Verantwortlichkeit!«

Der Kampf war da. Bei den letzten Worten schon hatte sich der Marschall ebenfalls erhoben. »Gesindel unterstützen wie deine Revolutionäre, Leute, die aus sogenannten Prinzipien heraus handeln, und nur darauf ausgehen, alte, bewährte Ordnung umzustürzen, die nur aufs Verderben und Vernichten anders und besser Denkender sinnen, die die Bomben nur so in der Tasche tragen, und in deren Nähe kein Mensch sicher ist – nein, siehst du, Sophie, um mich zu dieser Partei zu zählen, dafür hätte ich zu viel guten Geschmack!« rief er höhnisch und sehr aufgeregt seiner Schwester zu und retirierte nach der Tür.

»Allerdings«, entgegnete sie sehr ernst, und ihre Stimme klang ganz tief, »ist die Revolution nicht Sache deines Geschmacks. Das Wort Geschmack findet bei Revolutionen überhaupt wenig Verwendung, denke ich. Und es handelt sich ja auch nicht um eine Krawatte oder einen französischen Roman. Du sprichst aber von ›alter, bewährter Ordnung‹ und glaubst selbst nicht daran; denn bei uns von Ordnung reden heißt sich selbst gewaltsam die Augen auskratzen, nur um nicht sehen zu müssen. Absichtlich verstrickst du dich in Lügen, Mischa; das ist die Art der Partei, der du angehörst. Du aber bist gebildeter, umsichtiger als die meisten gerade dieser Partei, und dennoch urteilst du ebenso ungerecht und niedrig wie sie. Ja, bevor ich mich zu diesen Verbrechern und Schurken zählen würde …«

Da steckte der Marschall wie gewohnt beide Zeigefinger in die Ohren. Mitten im Zimmer stand Sophie Wladimirowna in ihrer mächtigen Leibesfülle, und aus jeder Linie ihres Gesichts sprach ehrlicher Zorn. Behende öffnete der Marschall die Türe, ging rückwärts hinaus und rief mit erzwungen ruhiger Stimme: »Sophie, si vous vouliez modérer vos expressions!« – Die Tür fiel ins Schloß. –

Es ging gegen zwölf. Die kleine Gräfin hatte längst den silbernen Leuchter vom Tisch genommen und war, müde von der Reise, in der Richtung ihres Schlafgemachs verschwunden. Sophie Wladimirowna saß wieder ruhig hinter dem angefangenen weißen Linnenkleid. Die Blätter des blutroten Kaktus begannen langsam sich zu regen. Immer weiter öffnete sich die Feuerblüte, bis auf dem Grunde der Stempelansatz sichtbar wurde und das Büschel feiner, schwefelgelber Staubgefäße; ein leiser, betäubender Duft stieg auf. Sophie Wladimirowna schaute hin und stichelte und stichelte. Das Käuzchen neben dem Gespensterflügel im Tannendunkel kreischte. Wütend umkreisten die Hunde das Haus; dicht vor der Glastür hörte man sie schnauben. Da klopfte es laut und hörbar hinten an die Gutstür, zwei, drei Mal nacheinander. Im Hause schlief alles. Sophie Wladimirowna stand schwer auf, zündete ein Licht an und schritt hinaus. Hinter der verschlossenen Tür blieb sie stehen und fragte laut: »Wer ist da?«

»Ein Bote vom Herrn Untersuchungsrichter!« kam es von draußen zurück. Sie öffnete, nahm den Brief und entließ den Boten. Pawel Pawlewitsch kündete seine Ankunft auf den folgenden Tag an.

Drinnen auf dem dunkelgrünen Damasttuch des Speisetisches lag ein Bündelchen glutroter Blumenblätter.

*

Am Abend des folgenden Tages – schon war das Abendbrot vorüber und es dunkelte bereits – rollte endlich Pawel Pawlewitsch den Tannenweg hinauf. Es war kein Eckchen an ihm, das nicht bestäubt gewesen wäre; unter dem Mantel hervor schrie es förmlich nach Wasser und Seife. Der Marschall und seine Schwester empfingen ihn oben an der Balkontreppe. Pawel Pawlewitsch nahm den Mantel von den Schultern und war in seiner weißen Dienstuniform ein stattlicher, behäbiger Mann. Vielleicht ein bißchen zu behäbig; denn die versilberten Knöpfe seines Dienstrockes machten alle eine mühvolle Bewegung gegen die Knopflochseite hin; er hatte außerdem große, offene Blauaugen und sprach weich und gewählt. Oben aus der hohen Stirn ein Schopf strohblondes Haar.

»Es ist höchste Zeit, daß Sie kommen, Pawel Pawlewitsch«, meinte der Marschall gleichsam scherzend; »bei uns hier laufen die Mörder nur so herum!«

Der Richter lächelte liebenswürdig. »Weiß man bereits, wer der Mörder ist?« fragte er.

»Da unten wohnt er in nächster Nähe«, entgegnete der Marschall und deutete mit der schmalen Hand zu Jakobs Hütte hinunter. Pawel Pawlewitsch stutzte. »Da wollen wir ja sehen!« meinte er und schritt hinter der Hausfrau her ins rote Kabinett.

»Vielleicht wünschen Sie ein wenig Toilette zu machen?« wagte Sophie Wladimirowna anzubieten; »da wird man Sie zuerst auf ihr Zimmer führen!«

»Durchaus nicht!« protestierte der Richter sehr energisch. »Ich fühle mich vollkommen frisch, und zudem war der Weg ja auch nicht so weit.«

Er setzte sich in den Sessel vis-à-vis vom wunderherrlichen Murillo und fühlte sich augenscheinlich sehr behaglich im alten Hause. Abwechselnd betrachtete er das Bild und seine eigenen, weißen, rundlichen Hände mit den schwarzgeränderten Nägeln.

Vera, die aus dem hintersten Winkel des Parkes hergelaufen kam, um den Richter zu sehen, stand ganz in seiner Nähe und beguckte ihn bald von dieser, bald von jener Seite, und zwar lag in dem Blick ihrer Blauaugen entschieden viel Wohlwollen und etwas wie mütterliche Zärtlichkeit. Sophie Wladimirowna zog sie zu sich heran. »Vera, warum schaust du ihn so an? Man darf doch fremde Leute nicht so anstarren.« »Mama«, entgegnete Vera flüsternd, »siehst du denn nicht, daß er meiner Puppe gleicht, meiner »Mamka?« Dieselben großen Augen, und das blonde Haar oben auf der Stirn.« – Wirklich und wahrhaftig, Pawel Pawlewitsch hatte Ähnlichkeit mit Veras fürchterlichem Kinde. Sophie Wladimirowna schluckte mit aller Macht das Lachen herunter und wollte Vera zur Seite schieben.

»Soll ich ihm sagen, daß er einem sympathischen, kleinen Mädchen gleicht?« beharrte Vera; »Mama, soll ich es ihm sagen?«

»Geh Vera, geh hinaus in den Garten, geh und suche mir Juliane!« sagte Sophie Wladimirowna laut und lachte nach der Gartenseite hin.

Der Richter kannte die Verhältnisse des Hauses und die verschieden gefärbten politischen Gesinnungen sehr wohl, schwieg daher auch über Politik. Er sprach etwas von Nietzsche und Baudelaire und sprach leicht und angenehm. Wenn er sich so gehen ließ, war er wirklich interessant und liebenswürdig.

»Ein netter Mensch!« sagte die kleine Gräfin halblaut zu Sophie Wladimirowna.

»Ja, aber nicht energisch genug in Gerichtssachen. Du wirst sehen, die ganze Jakobgeschichte wird dank seiner vornehmen Nachlässigkeit in ewiges Dunkel gehüllt bleiben.«

»Also wann wird mit der Sache angefangen?« fragte der Marschall laut.

»Morgen in aller Frühe«, entgegnete der Richter mit einer liebenswürdigen kleinen Verbeugung.

Und des Morgens in aller Frühe, als die Türe des Gespensterflügels weit offen stand, zum Zeichen, daß der Richter bereits fort war, da schlichen sich Tanja und Natascha in sein verlassenes Zimmer. Oben an der Wand hing der schaurige Neger; jedoch es war und blieb ein tiefes Geheimnis, welchen erschütternden Eindruck er auf den Richter gemacht. Und als die Blicke der beiden Mädchen auf den Waschtisch fielen, da stand in unberührter Klarheit und keuschester Reinheit all das viele Wasser in der rosageblumten Waschschüssel! Also da hatte man den philosophischen Untersuchungsmann.

»Ferkel!« sagte Natascha.

»Schwein!« bestätigte Tanja.

*

Viel Volks war um den Toten; von nah und fern waren sie herbeigeströmt, alle die Leute; sie standen so weit und doch so nah als es ging. Der Untersuchungsrichter allein schien ein Mann zu sein ohne Nase und Nerven. Er setzte sich dicht neben den Toten aus einen Heuhaufen und steckte eine Zigarette an. Mit einem Fußtritt schleuderte er hierauf den Mantel des Erschlagenen in den Busch. Dicht neben Wassily, den Ärmsten und Dümmsten kam er zu liegen. Der Kreisarzt, der vom Richter hergerufen worden war, begann seine ekelhafte Arbeit; wie er den ausgestreckten Arm des Toten heben wollte, löste sich dieser aus der Achselhöhle. Der Arzt erblaßte vor Ekel; Pawel Pawlewitsch aber lachte hell auf.

»Seien Sie nicht so sensitiv!« rief er. – Mit seinen fataldummen Augen hatte Wassilly, der Ärmste, indessen den grauen Mantel zu seinen Füßen betrachtet. Er hob ihn; Würmer krochen ihm über die roten Finger. Ein Gedanke stieg plötzlich in ihm auf, der Gedanke eines gottverlassen armen Teufels. Wieder hob er den Mantel und betrachtete ihn; dann schlich er auf nackten Sohlen in die Nähe des Richters, ganz von der Seite.

»Pawel Pawlewitsch!« flüsterte er über den Busch hin. Dieser hörte nicht.

»Pawel Pawlewitsch, Euer Hochwohlgeboren!« wiederholte er nach einer Pause. Mit dem nackten Fuße schleppte er den Mantel nach sich, so sachte und leise, daß niemand der Umstehenden die Bewegung bemerkte. Der Richter wandte sein blasses, rundes Gesicht. »Kann ich den da haben?« sagte Wassily und deutete mit Auge und Hand auf den grauen Stoffknäuel unter seinem Fuß. Pawel Pawlewitsch hob den Kopf und blickte durch das Blättergrün. »Wenn du willst, meinetwegen«, gestattete er über den Busch hin.

Über Wassilys Hungergesicht legte sich ein Ausdruck unerwarteter, reiner Freude. Mit den eigentümlichen blauen Augen blickte er um sich wie ein ganz Feiner, der einen noch Feinern übertrumpft. Einen Augenblick noch stand er, lächelnd, überlegen. Dann raffte er seine ekelhafte Last vom Boden auf, entschlossen fest in ein Bündel unter den Arm und trabte davon. Jedoch bald darauf hielt er still; in weitem Bogen schleuderte er den Mantel ins Gras. Der Atem ging ihm aus; der entsetzliche Geruch würgte ihm die Kehle zu. »Pfui Teufel!« sagte er halblaut. Er schüttelte sich und wartete. Dann näherte er sich wieder dem Erbteil des Toten, so vorsichtig und behutsam wie einem verächtlichen, schlafenden Feind. Er packte den Mantel mit zwei Fingern und zerrte ihn hinter sich her durch den Weg, durch den Staub hinunter an den Bach; dort warf er ihn ins Wasser. Eingekeilt zwischen zwei Pfählen blieb er liegen, eine, zwei Wochen lang.

Der Tote neben der Birke war begraben. Das heißt beinah Stück um Stück war er in den rohgezimmerten Tannensarg geworfen worden. Dann wurde der Sarg vernagelt und ohne Gesang und Gebet neben der Kirche verscharrt. Jakob, der immer noch hartnäckig leugnete, war verhaftet worden und bereits abgeführt in das acht Werst entfernt liegende Kreisgefängnis.

Am Abend war der Marschall wieder sehr aufgeräumt und gesprächig. Er schlug der kleinen Gräfin einen Spaziergang ums Gut herum vor; diese rückte ihre große Spitzenmasche auf dem grauen Kraushaar zurecht und ging. Der ungewaschene Richter begleitete sie. – –

Andern Tags begann das Verhör. Man hatte zu diesem Zweck dem Richter den zweiten leerstehenden Raum zur Verfügung gestellt. Die vorgeladenen Männer und Weiber kamen von allen Seiten her den Tannenweg hinauf, die einen barfuß, die andern in schweren Stiefeln. Sie setzten sich ins Gras um den Gespensterflügel herum, lehnten an die Hausmauer und warteten still und schweigsam. Einige von ihnen behaupteten bei der Verhandlung, Jakob mit dem Erschlagenen gesehen zu haben. Ein anderer gab vor, er hätte ihn mit einer ganzen Gruppe Betrunkener der Birke zusteuern sehen; ein dritter hatte deutlich aus der Ferne bemerkt, wie Jakob den Toten über den Weg geschleppt und hingelegt hatte, und dann davongerannt war. Am meisten gab plötzlich Wassily, der Dümmste, zu wissen vor. Er kauerte in einem Winkel des dunkeln Hausflurs und drehte sich aus erbetteltem Tabak und einem Fetzen Zeitungspapier eine Zigarette. Er hatte mehr gesehen und miterlebt als alle andern; doch er spielte den Geheimnisvollen und wollte nur Hochwohlgeboren da drinnen berichten. Im Grunde ihrer Herzen wollten die Bauern des Dorfes und der ganzen Umgegend Jakob fort haben. Sie waren zum vornherein überzeugt gewesen, daß unter ihnen nur er morden konnte; daß er zuerst gestanden, dann geleugnet, kam für sie nicht in Betracht; er war der Mörder, ob mit Recht oder Unrecht. Es lag Abwehr in ihren Anklagen gegen ihn, Abwehr für jeden Einzelnen unter ihnen und das ganze Dorf; denn Jakob war des Dorfes Schandfleck und Schrecken; dumpfe Selbstachtung sprach mit. Und dazu bedauerte das ganze Dorf Jakobs unglückseliges Weib Maria und die neun kleinen Kinder. Es war Zeit und Pflicht, die Ärmste von dem Bösewicht zu befreien, das fühlte und wollte jeder. Es lag gar keine Herzensbosheit hinter den Aussagen der Bauern, selbst wenn sie die Unwahrheit sprachen; es galt für sie einfach, den Unwürdigsten, Bösesten los zu werden. So sagte man vielleicht auch mehr, als strikte die Wahrheit war; aber man sprach schlicht, mit großer, phlegmatischer Güte.

Gelassen erschien zum Verhör des Mörders Weib, Maria. Lautlos glitten ihre nackten Füße über die Diele; ganz dicht trat sie an den Tisch heran, an dem der Richter saß. Ihr Auge blickte kalt, verzweifelt, ein gequältes, an Leib und Seele zerprügeltes Weib. Sie hatte das Recht, nicht auszusagen gegen ihren Mann; das wußte sie, und darum wohl stand sie so trotzig und ruhig da. Pawel Pawlewitsch versuchte leise und nach seiner Art höflich in sie zu dringen; doch sie stemmte beide Hände fest auf den Tischrand und blieb stumm.

»Hast du ihm am Abend des Mordes nicht sein Hemd gewaschen?« fragte er leichthin über die Schulter weg, ganz Tändelei und Eleganz. Doch Maria regte sich nicht.

»Ist dir nicht aufgefallen, daß deines Mannes Hände geschwollen waren an selbem Tag?« forschte er weiter. Das Weib tat, als ob sie nicht höre.

»Hat der Ermordete nicht in eurer Hütte gehaust?« fragte er wieder nach einer Pause.

»Wer war er?«

»Ich weiß es nicht!« kam es endlich schroff von Marias Lippen. »Fragt mich nicht.« Doch Pawel Pawlewitsch fuhr in seiner spielenden Weise fort: »Wenn du ihn nicht gekannt, weißt du vielleicht dennoch, warum Jakob ihn erschlagen?«

Da blickten Marias kleine Augen zornig. »Ich sage nichts aus!« rief sie unerwartet laut, und ihre Stimme zitterte. »Ich habe das Recht zu schweigen – und – und …« Pawel Pawlewitsch setzte sich zurecht und horchte scheinbar nachlässig hin. »Nun und?«

Wieder verstummte sie. Dann kam Bewegung in ihre ganze Gestalt. »Fragt mich nicht, Herr Untersuchungsrichter; ich bin ein armseliges Geschöpf, habe neun kleine Kinder und Jakob zum Mann. Ist das etwa leicht?« Ihre weitgeöffneten Augen bohrten sich in das Gesicht des Mannes am Tisch, fragend, voller Qual und Schrecken. Pawel Pawlewitsch blickte sie plötzlich sehr aufmerksam an. Sie gewahrte es, fuhr zusammen und starrte über seinen Kopf hin zum offenen Fenster hinaus. Eine Pause entstand.

»Also du willst mir nicht antworten?« versuchte er noch einmal.

»Nein!« entgegnete sie bestimmt.

»Nun so geh!« sagte er rasch.

Maria ging nach der Tür, lautlos wie sie gekommen; dort blieb sie stehen; ein harter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht wie ein düstrer Schatten. Sie stemmte sich mit dem Rücken fest gegen die Tür und schob hastig das Kopftuch zurück.

»Pawel Pawlewitsch!« keuchte ihre Stimme durch den kleinen Raum. »Ich habe nichts gegen Jakob ausgesagt, weil ich sein Weib bin. Aber wenn ihr ihn mir aus dem Gefängnis wieder zurück bringen solltet in meine Hütte, wenn ich wieder von ihm gemartert, gepeinigt, blutig geschlagen werden soll, dann, dann haue ich ihn in Stücke mit diesen meinen Händen!« Sie warf die harten Arme vor; ihre Augen blickten Haß; unter dem roten Kattun hob und senkte sich die Brust. Sie schien auf etwas zu warten. Doch Pawel Pawlewitsch regte sich nicht. Da riß sie die Tür auf. – –

Noch am selben Abend rüstete sich Pawel Pawlewitsch zur Abreise. Sein rumpliger Tarantaß, der die Zeit über draußen unter freiem Himmel gestanden, wurde wieder mit den zwei braunen Gäulen bespannt und fuhr vor die Gutstreppe. Auch nach dem Gang zu dem Toten am Wege schien der Richter sich nicht gewaschen zu haben.

Tanja und Natascha standen draußen auf der Treppe. »Das ist so ein Typhus- und Choleramann,« meinte Tanja erbost und machte ein ganz unmögliches Gesicht. »Wenigstens ich reiche ihm die Hand nicht!« Jedoch im selben Augenblick trat Pawel Pawlewitsch lächelnd aus dem Speisezimmer auf die Balkontreppe, streckte den beiden Mädchen liebenswürdig die rundliche Rechte mit dem grauen Schleierchen drüber hin, und wohl oder übel mußten die beiden Abschied nehmen. Tanjas Selbstbeherrschung reichte gerade noch zu einem anständigen Scheideblick; dann fuhr sie wie ein angeschossenes Wild um die Ecke und schnaubte förmlich in die Büsche hinein.

»Pawel Pawlewitsch!« rief der Marschall dem Davoneilenden nach, als dieser sich schon in den Tarantaß setzte; »schauen Sie recht zu, daß Sie die Sache mit Jakob heraus bekommen. Unter keinen Umständen möchte ich ihn wieder auf dem Dorfe haben.«

Der Richter nickte, grüßte nochmals, zog die Decke hoch und rollte an den roten Dahlien vorüber den Tannenweg hinunter.

*

Also das war abgetan. Daß der philosophische Untersuchungsrichter kein Licht in das Dunkel bringen würde, wußte man eigentlich zum voraus. Jedoch daß Jakob verhaftet war, das war etwas, mit dem der Marschall rechnete. Auch wenn er im äußersten Falle mangels richtiger und energischer Beweisführung für unschuldig erklärt und wieder aus der Haft entlassen würde, so konnte dies bei dem bekannten langsamen Gang der Geschäfte nur erst nach Monaten geschehen; da war man längst nicht mehr auf dem Gut, sondern wohlgeborgen im Süden. Aber gerade da verrechnete sich der Marschall. Im Jahre 1906 war man mit dem Urteil schneller zur Hand als sonst, gerade weil die Verbrechen sich häuften, und wer mit Politik nichts zu tun hatte, wie Jakob, konnte beinah mit Sicherheit darauf rechnen, daß man mit ihm gelinde verfuhr. Er leugnete denn auch hartnäckig weiter. Auf dem Dorfe hörte man nichts mehr von ihm; es fragte auch niemand; Maria, sein Weib, schlug sich durch schlecht und recht; die Kinder trauerten nicht um den Vater.

Der Marschall wurde von Tag zu Tag ruhiger. Er schlief wieder den tiefen Schlaf seines prachtvollen Gobelinbettes; er inszenierte sogar ein Picknick im Waldesdunkel, und beim Mittagessen sprach man wieder über Fruchtpuddings und Haselnußtörtchen. Wohl brachten die Zeitungen lange Berichte über die aufrührerischen Bauern ringsum, und schon sah es aus, als ob die erste und beste Reichsduma Rußlands ihrer baldigen Auflösung durch den Zaren entgegen gehe. Der Marschall freute sich im stillen darüber, daß die »Bande« vom Ruder weg komme; aber er schwieg natürlich, mochte es jedoch seiner Schwester herzlich gönnen.

Sergeys Geburtstag nahte heran. Man wollte ihn wie immer festlich begehen und hatte dazu Verwandte und Bekannte geladen. Ein bei den Kindern sehr populärer Onkel, Graf O., war aus Moskau bereits eingetroffen. Ein alter Junggeselle wie der Marschall, doch wohlbeleibt, voll Humor, das linke Augenlid ein wenig über das Auge herunterhängend. Die kleine Gräfin machte ihm seit Jahren ein bißchen verschämt, ein bißchen altjüngferlich, doch voll zarter Hoffnung den Hof und wußte es stets so einzurichten, daß ihr Besuch auf dem Gut mit dem seinen zusammentraf.

Für den Festtag sollte ein Stück eingeübt werden, in welchem Tanja eine Kaufmannsfrau aus Moskau, Natascha ein Dämchen mit hoher Frisur, Vera ein kleines Stubenmädchen und Sergey gar nichts vorzustellen hatte. Sergey liebte das Schauspielern nicht; er war zu schüchtern und lernte auch mühsam auswendig. Damit er aber an seinem hohen Tag doch eine Rolle zu spielen habe, schlug man ihm und Natascha ein lebendes Bild vor: Natascha Dornröschen, er der Prinz.

»Du hast gar nichts zu sagen, nur zu küssen«, versicherte ihn Natascha eifrig.

Aber das war ja gerade der wunde Punkt in Sergeys Bubenleben: seine sprichwörtliche, tiefsitzende Abneigung gegen jede Zärtlichkeit. Stumm zog er sich nach Nataschas Versicherung zurück.

Sophie Wladimirowna hatte aus dem Dorfe noch andere Kinder zum Mitspielen hinzugezogen; sie selbst war Regisseur, Souffleur, Schneider, Friseur, alles in allem. Man übte drauf los. Einen Tag vor dem Fest war noch Sergeys Freund eingetroffen, des berühmten Großvaters herziger Großsohn, der kleine Gras Tolstoi; er hieß auch Sergey. Seine englische Erzieherin, Miß H., machte sich gleich hinter das Schneidern des prinzlichen Kostüms. Sergey bekam ein blaues Ritterkleid mit seidenen Brust- und Ärmelfensterchen, einen kostbaren Seemannsdegen von irgend einem Vorahnen her, ein schwarzes Samtbarett mit wallender, weißer Feder, die ihm die kleine Gräfin mit einer Brillantagraffe höchsteigen befestigte. Das rote Kabinett wurde zum Vorstellungsraum hergerichtet; der elegante Waßja übte sich im Auf- und Zuziehen des grauen Vorhangs. Der Riesendiwan bildete den Hintergrund; er wurde von kleinen, grünen Tännchen eingerahmt und bekam sogar ein paar schlanke Bäumchen zu hinterst auf den Sitz hinauf. Die Aufregung erreichte den höchsten Punkt am Geburtstagsfest selbst. Tanja, in einer mächtigen Haube auf dem runden Kopf, angetan mit einem großgeblumten Seidenkleid, raste nur so herum, tobte, schrie und teilte Ohrfeigen aus. Natascha trug das Goldhaar in einer großen Kugel oben auf dem Kopfe; zierlich raffte sie ihr Schleppkleid und bekam einen ganz besondern, präziösen Zug um die Mundwinkel. Sergey war trotz der Geburtstagsgeschenke unerklärlich melancholisch. Man hätte eigentlich mit dem Spiel beginnen können. Aber man wartete noch auf »Seelchen«, wie sie die Kinder nannten. Das war eine Freundin des Hauses, die Nichte des berühmten Kadettenführers P. Man erwartete sie mit ihrer Schwiegermutter vom acht Werst entfernt liegenden Gute her. Endlich fuhr der Wagen vor. Leichtfüßig sprang die junge, brünette Frau heraus; die Schwiegermutter aber, Generalin M., blieb stocksteif und unbeweglich sitzen. Die Generalin steckte nämlich trotz der Julihitze bis oben zugeknöpft in einem kostbaren Pelzmantel; hochrot im Gesicht, blinzelte sie daraus hervor. Sehr feierlich stieg vom Bocke Alexander, des Hauses ältester Diener. Seit 30 Fahren war er im Dienst der Generalin; ganz grau war bereits sein breites, beidseitiges Backengekräusel; eine massive Goldkette prangte auf dem rundlichen Bauch. Seit dem Tode des Generals hatte er es sich zur heiligen, unverbrüchlichen Pflicht gemacht, die hinterlassene und ewig trauernde Gemahlin vor Erkältung jeglicher Art und Witterungsunbill zu schützen. Alexander hatte das erste und letzte Wort im Hause; Alexander hatte den Pelzmantel befohlen und Alexander mußte gehorcht werden.

Er stand auch tiefernst am Wagenschlag und schälte seine gekochte Herrin aus dem braunen Pelzwerk heraus. »Die ist so langweilig, daß die Koteletten auf dem Tisch sauer werden«, flüsterte Natascha hinter dem Vorhang.

Es klingelte; Waßja riß am Vorhang; das Stück begann. Das rote Kabinett war gedrängt voll Leute; der junge Pope, der den alten, von seinem Weib zum Krüppel geschlagenen, ersetzte, war mit Weib und Kind da, dann die Lehrer und Lehrerinnen samt Familien, die Dorfhebamme mit ihrem Manne, der Dorfälteste Stephan und alle die vielen Dienstleute des Gutes. Tanja spielte vorzüglich; Natascha zitterten die Hände, und die Stimme klang zuerst ein wenig heiser; dann ging's. Vera rannte als stummes Stubenmädchen emsig hin und her. Man applaudierte lebhaft; dreimal nacheinander riß Waßja den Vorhang so ungestüm auf, daß der Draht kreischte. – Dann folgte Dornröschen. Ganz in Weiß, die glitzernde Flitterkrone im aufgelösten Blondhaar lag Natascha auf dem mit Rosen bestreuten Diwan und wartete. Sergey erschien zaghaft zwischen den grünen Tannen im wallenden Federstrauß, die Hand am Degenknauf. Leise näherte er sich der schlafenden Schönen. Doch wie er ganz nahe an die Reizende herangetreten, bleibt er steif stehen. Man wartet gespannt. Jetzt machte er eine rasche, energische Ruckbewegung nach vorn, richtet sich aber gleich wieder kerzengerade auf. Dornröschen hält krampfhaft die Lider geschlossen. »Seelchen« neben dem Grafen im tiefen Sessel errät sofort die Situation. »Das Küssen wird er nicht fertig bringen,« tuschelt sie. »Armer Junge«, seufzt die Generalin und wird melancholisch. Ein leises Kichern fliegt durch den Saal.

»Na, Sergey, so küß sie doch!« ruft Sophie Wladimirowna leise und ermutigend hinter ihrem Souffleurbäumchen hervor.

Wieder neigt sich der Brave entschlossen, die helle Verzweiflung in den Augen. Doch wieder richtet er sich unverrichteter Dinge auf.

»Worauf wartest du eigentlich noch?« ruft plötzlich ärgerlich das schlafende Dornröschen in die erwartungsvolle Stille hinein. Schallendes Gelächter erfüllt das rote Kabinett. Ein letztes Mal noch neigt sich der Prinz tapfer über die erwachte Schöne, jedoch der Kampf mit der Selbstüberwindung hat ihn ganz blaß gemacht. Es geht einfach nicht; lieber sterben, als die da küssen. Nun stürzt er so eilig aus dem Zimmer, daß das Federbarett in den Tannenästen hängen bleibt. Das Lachen folgt ihm, nur der kleine Sergey Tolstoi kann nicht verstehen, wie man das allerliebste Dornröschen nicht zu küssen wünschte – denn Natascha ist seine kleine, angebetete Bubensympathie. Tanja ist Sergey nachgestürzt; sie ist wütend.

»Esel!« kreischt sie. In ihrer großen Seidenhaube tritt sie ganz dicht an ihren blamierten Herrn Bruder heran und will ihm eins verabreichen. Da bemerkt sie Tränen in seinen Augen.

»Nu laß doch!« meint sie weich geworden und legte den ausgestreckten Arm um seinen Nacken.

»Ich kann einfach nicht küssen,« schluchzte er.

»Warum hast du es denn nicht gesagt?«

»Weil ich dachte, es gehe vielleicht doch. Und lernen muß ich es ja doch einmal.«

Der Abend verlief sehr rasch und fröhlich. Sophie Wladimirowna hatte alle zum Abendbrot gebeten, die gerade da waren.

»Aber es ist nicht genug Fleisch für alle«, flüsterte der elegante Waßja in einem Winkel der Hausfrau zu.

»Macht nichts, wird schon reichen«, entgegnete Sophie Wladimirowna sorglos; »wir behelfen uns eben wie es kommt.«

Und es ging, aber sehr knapp.

»Sophie Wladimirowna in ihrer sorglosen Gastfreundschaft ist wirklich oft geradezu großartig; ein volles Haus, ein leerer Tisch«, äußerte Waßja sich im Office zum pompös dastehenden Alexander.

Als es dunkelte, blitzte beim Gespensterflügel das glitzernde Feuerwerk auf, das der gräfliche Onkel zu Sergeys Geburtstag alljährlich mitbrachte. Dies Mal waren es auch gar so prächtige Raketen. Die Bauern des Dorfes mit Weib und Kindern kamen wie gewohnt an dem Tag den Wiesenpfad hinauf, um sich das leuchtende Schauspiel mitanzusehen. Beim aufblitzenden Funkenregen erkannte man alle die bärtigen Gesichter. Sie beglückwünschten unter tiefem Verneigen Sergey und seine Mutter; herzlich dankte Sophie Wladimirowna einem jeden von ihnen. Später ging man wieder in das rote Kabinett, aus dem schon alles Überflüssige verschwunden war, und tanzte.

»Seelchen« spielte auf; allerhand lustige Tänze wirbelten durch die Luft. Und die Kinder wirbelten mit. Zart umschlang der kleine Graf Natascha; aber er tanzte ziemlich schlecht, und sie entfloh zum Onkel aus Moskau. Der walzte ernsthaft mit ihr im Kreis herum. Der Marschall unterhielt indessen die Generalin vom verstorbenen General und seinem gewaltigen Teleskop, das der Verblichene der Gattin zum ewigen Andenken an seine wissenschaftliche Sternentätigkeit hinterlassen. Die Zeit rückte vor. Die Wagen warteten vor der Balkontreppe. »Seelchen« fuhr mit der pelzumhüllten Schwiegermama ab; der Onkel aus Moskau, Sergey Tolstoi und seine Miß sollten erst andern Tags verreisen. – Man hatte die beiden kleinen Freunde im selben Zimmer zur Nacht eingerichtet. Beim Kerzenschein betrachteten sie gemeinsam nochmals die Geburtstagsgeschenke. Dann plauderten sie noch lange im Bett.

»Warum wolltest du denn heute Natascha nicht küssen?« fragte der kleine Graf sehr interessiert.

»Weil – nun, weil …« entgegnete Sergey schlafmüde und löschte hastig die flackernde Kerze.

Unten im roten Kabinett setzte sich indessen die zierliche, kleine Gräfin ans alte Klavier und sang ein altmodisches Liebesliedchen; sie sang es mit winziger, geborstener Stimme. Der Graf lächelte; der Marschall auch.

*

Unten am Bache wohnt Genia, des alten Popen einziger Sohn. Er ist auch blond, hat ein kleines, über und über mit Pickelchen besätes Gesicht und sieht immer tröst- und hoffnungsbedürftig in die Welt. Er ist im Priesterseminar, also ein künftiger Priester wie sein Vater und hat so gar keine Neigung zum geistlichen Stande. Doch seine energische Mutter, die dem Vater mit dem Scheit das Bein zerschlagen, daß er lebenslänglich ein Krüppel bleibt, sie will nichts davon hören: Genia ist, Genia bleibt Seminarist.

Die Kinder wollen eine Kahnfahrt machen. Vor Genias Häuschen machen sie Halt. Sie klopfen ihn heraus. Er kommt auch. Unter dem linken Arm die Balalaika, unter dem rechten den rot; und weißgestreiften Teppich, den er immer mit sich schleppt. »Wohin?« fragt er.

»Zu den Inseln!« entgegnet Natascha.

»Wer soll rudern?«

»Du und ich!« meint sie und blickt ihn mit den großen, grauen Augen fest an.

Man geht über den Mühlsteg der großen Buche zu, wo der »Polarstern«, Sergeys Fahrzeug, festgebunden liegt; blau und weiß, ein leichtes, schmuckes Schifflein. Da an der Buche scheint das Wasser sehr tief zu sein; ganz schwarz dämmert es vom Grunde herauf; weit, weit hinunter senken sich die knorrigen Wurzeln des Baumes. Vera blickt schaudernd hinunter und streckt ihr fünfjähriges Bein so weit vor als sie vermag, um den Kahnrand zu erreichen. Es schaukelt heftig; dann plumpst Tanja nach, setzt sich ans Steuer so verächtlich, zuversichtlich und schwer, daß ihr graues Leinwandkleid sich wie eine Kugel um sie herum aufbläht; – natürlich sucht sie Streit. Genia setzt sich neben Sergey auf den gestreiften Teppich und rudert ab. Natascha hilft kraftvoll mit den schlanken, braunen Armen. Da, ein sich überstürzender Wasserstrahl hoch in die Luft. »Affe du!« kreischt Tanja am Steuer. Große Tropfen rieseln von ihrem breiten Hutrand hinunter in die Leinwandkugel. »Mach, daß du vom Ruder wegkommst, sonst …«

Wütend erhebt sie sich, setzt sich aber gleich wieder hin und reißt mit einem Ruck das Steuer herum. Etwas muß da in der Nähe sein. Der Kahn gleitet vorwärts, langsam, ruhig; doch Tanja blickt wie ein Sperber. Durch die grünen Ranken langer Wasserpflanzen mit winzigen Fangarmen – da, eine weiße, heißersehnte Wasserrose. Natascha hat sie auch bemerkt. Stumm, erwartungsvoll, mit nervöser Unruhe schaut und schaut sie hin. Auf einmal läßt sie die Ruder fliegen und bückt sich über den Rand des Kahns. Tanja verfolgt alle ihre Bewegungen; wie ein Tiger stürzt sie her. Vier Arme strecken sich in stummem Kampf nach der königlichen Rose. Der Kahn schaukelt, schaukelt, schaukelt, auf und ab, hin und her. Am Ufer stehen der Marschall und die kleine Gräfin. »Kinder, um Gottes willen, Kinder!« tönt ihr schwaches Stimmchen herüber.

»Idioten!« ruft laut, böse und vernehmlich der erzürnte Marschall.

Genia erhebt sich rasch vom rotgestreiften Teppich; ein Ruderschlag, weitausholend und kräftig, die vier ausgestreckten Mädchenarme greifen in die leere Luft. Tanjas Hand saust herab auf Nataschas schmale Schulter. »Affe!« kreischt sie nochmals.

– Tanja, Tanja, wie steht es um dein Tagebuch?

Man fährt weiter, am Entenrohr vorbei, saust raschelnd durch das hohe Schilf, und aus der größten der Inseln, die den Namen »Tanjenruh« trägt, läßt Genia die vier Kinder aussteigen. Er wird sie später abholen. Langsam gleitet er wieder im Kahn das bewegungslose Wasser hinauf in den Abend hinein. Die Ruder hat er eingezogen und läßt sich treiben. Ganz leise spielt er ein schwermütig kurzes Liedchen aus seiner Balalaika. Jetzt singt er sogar und sucht sich mit tastenden Fingern die Melodie aus den Saiten zusammen. Ganz bescheiden gleiten die Töne über das ruhige Wasser; niemand hört, niemand stört. Genia ist ja so todtraurig und möchte am liebsten ganz laut sein Leid über das junge, verfehlte Leben in die Welt hinaussingen. Wenn man froh sein möchte wie andere, und zur Universität wie andere, das Haar kurz tragen wie andere – und so gar keine Aussicht hat, den Kampf mit der Mutter siegreich zu bestehen – was dann? Tief senkt er den blonden Kopf, vergißt den herrlichen Abend ringsum und starrt schwermütig auf den Boden des Kahns. Das Schifflein gleitet langsam vorwärts, an Büschen und Sträuchern vorüber; nun fällt schon der Schatten der Kirche mit den blauen Wasserlilien über das Wasser. Da blickt Genia auf und richtet den Blick zum Turm. Eine fremdartige Erscheinung ist da droben; er sieht deutlich eine Frau in einem brandroten Kopftuch. Sollte das seine Mutter sein, die schon nach ihm ausspäht? Nein, die hat kein solch brandrotes Tuch. Die Frauengestalt oben neigt sich vor aus dem Glockenturm, blickte lange den Bach hinab; nun durchquert sie den Glockenraum, steht still, wendet sich, streckt nochmals den Kopf weit vor, so daß das brandrote Kopftuch von der weißgetünchten Turmwand aufleuchtet und verschwindet. Wer war das? Was bedeutete das? Mit einigen wuchtigen Ruderschlägen ist Genia am Land; mit ungewöhnlicher Hast knüpft er den Kahn an die alte Eiche und läuft mit Teppich und Balalaika der Kirche zu. Neben der Kirchentür hockt die steinalte Mutter des Kirchenhüters Kusma, halbbetrunken und glotzt ins Leere.

»Wer ist da oben im Turm?« fragt Genia ungewöhnlich energisch.

»Wer sollte da oben sein?« entgegnete die Alte tonlos und dreht sich langsam um.

»Ist keine Frau im roten Kopftuch an dir vorbeigekommen?«

»Nein, weshalb?« fragt die Alte wieder.

Genia schreitet an ihr vorüber und rennt die Turmtreppe hinauf. Oben im Glockenturm eine verzehrende Hitze, schwere, dumpfe Luft, und unzählige, kleine, krause Taubenfederchen; überall Staub, schwerer, dichter Staub auf der geborstenen, knisternden Diele Nirgends eine Spur von einem menschlichen Wesen. Genia steht und schaut sich lange um; auch keine Fußspuren. Nachdenklich poltert er wieder die Holztreppe hinunter. »Das bedeutet Unglück!« behauptet er sich zwei, drei Mal nacheinander.

Das erste, was er zu tun hatte, war, daß er zu Sophie Wladimirowna aufs Gut hinauf ging, um ihr über die seltsame Erscheinung zu berichten. Man lachte ihn aus und behauptete, er habe Halluzinationen. Genia blieb zum Abendbrot. Der elegante Waßja holte die Kinder im Kahn ab.

Vom Glockenturme schlug es zehn. Ein seltsamer Fug bewegte sich den Tannenweg hinauf. Vorne stapfte, angetan mit der Uniform der höchsten kirchlichen Feiertage, braun, mit Silberknöpfen, Kusma, der ewigbetrunkene Kirchenhüter. Seine Rechte hielt eine verstaubte Riesenlaterne, mit der er ängstlich in jeden Winkel hineinleuchtete; seine Linke schwang einen rostig-grimmigen Türkensäbel. Hinter ihm drein, mit einer Sichel bewaffnet, schritt keuchend des alten Popen Weib, Benins Mutter. So holte energische Mutterliebe nächtlicherweise den einzigen, verlornen Sohn. Man lebte ja in gefahrvollen Zeiten.

*

Am folgenden Morgen war der Himmel mit schwerem Gewölk behangen. In der Ferne rollte es; zerrissen waren da und dort schon die Wolken, und wo der Regen bereits niederprasselte, glich der zerfetzte Wolkensaum aufgelöstem, langem Frauenhaar, das im Winde flatterte. Schwüle Stille ringsum. Die hohen Tannen standen in Erwartung; gesenkt die breiten Äste, gesenkt das dunkle Haupt.

Sophie Wladimirowna im Zimmer zu ebener Erde füllte ihre Blumenvasen mit roten Kapuzinern und feinköpfigen Reseden; dünne Spargelkräutchen steckte sie auch dazu. Auf den Schreibtisch zwei kleine Töpfchen und die große grüne Vase vor das Bild des verstorbenen Gatten. Da leuchtet ein kurzer Blitz auf. Sie will das Fenster schließen, damit der Staub vor dem Regen nicht seine Wirbel ins Zimmer hineinfegt. Doch, was hört man da? Die Sturmglocke? Sie horcht auf. – Ja, das ist die Sturmglocke! Was hatte Benin gestern behauptet? Die rote Frau? – Wo brennt es?

Ununterbrochen, schrill zogen sich die Töne über Bäume und Häuser hin, als ob sich hoch oben über den Häuptern aller eine Decke wöbe aus Unheil und Schrecken.

Auf ihren Stock gestützt, schritt die schwere Frau aus dem Zimmer, die Tannenallee hinunter. Von allen Seiten strömten die Leute herbei. Wassily, der Dümmste, kam ihr entgegen; trotz der herrschenden Schwüle trug er stolz den grauen Mantel des Ermordeten, beide Hände in den Taschen.

»Kirchenschändung!« sagte er läppisch Sophie Wladimirowna mitten ins Gesicht. Dann machte er kehrt und trabte neben ihr her. Also das. Alles drängte nach der Kirche. Da mußte man die böse Entdeckung eben erst gemacht haben; nun rief die Sturmglocke das bestohlene Dorf herbei. Neugier und Sorge lag auf allen Gesichtern. »Auch das noch!« murmelte der bärtige Stephan halblaut für sich. Allen voran trat die Gutsherrin in den Kirchgang. Die alten Heiligen in den morschen Holzrahmen blickten wie immer mit vor Feuchtigkeit triefenden Augen; die Sandsteinfliesen waren schlüpfrig und ausgetreten. In der Kirche selbst war es dunkel und still; das Geheimnis des neuen Verbrechens schien den Raum mit stummen, aussichtslosen Fragen zu füllen. Von der Kuppel herunter floß mattes grauweißes Licht auf die entblößten Häupter der Bauern. Sie schlichen geräuschlos den Mauerwänden entlang; doch ihre Neugier war wie immer ruhig, ohne Hast. Alle schienen sie plötzlich Mitwisser des Verbrechens zu sein, Leute, die ahnten, Leute, die wußten, Leute, die gefragt sein wollten. Es roch nach Stiefeln und dumpfen Hüttenstuben. Sophie Wladimirowna bekreuzte sich ernst. – Dicht hinter ihrer breiten Gestalt schritt gesenkten Hauptes, sehr blaß, der junge blonde Priester. Geradezu hinausgepeitscht hatte ihn die Sturmglocke aus seinem Hause. Das war seine eigene Sache da, die Kirche, die ihm anvertraut war, eine Sache, die ihm lieb und heilig war und für die er einzustehen hatte. Wann war es geschehen? Heute nacht? Warum auch war die Kirche nicht erbebt in ihren Grundfesten, als verbrecherische Schritte auf ihren Altarstufen widerhallten? Warum hatte sie ihr Haupt nicht geschüttelt im heiligsten Zorn, daß hoch oben im Turm die Glocken gesprungen? Vielleicht wäre das träge Land da unten doch ausgefahren aus tiefem Schlaf, um der Geschändeten zu Hilfe zu eilen! – Kaum wagte der Pope hinüberzublicken zum geplünderten Hochaltar, und Tränen traten in seine Augen. Sophie Wladimirowna wandte sich um und gewahrte trotz des Dunkels die Trauer in des Priesters Antlitz.

»Väterchen!« sagte sie gütig und streckte ihm die Hand hin. »Es ist ja ein Unglück, ein großes Unglück für die Kirche und das Dorf. Aber sehn wir doch vorerst zu, was die Diebe uns dagelassen, vielleicht mehr wie wir glauben.« Sie schritten zum Altar, hinter ihnen das Volk. Da links, von einem Seitenfenster her, drang ein scharfer Luftzug. Durch eine herausgebrochene Scheibe, vor der der dicke Eisenstab weggefeilt war, und woher man jetzt den Regen draußen fallen hörte, mußten vermutlich die Diebe eingedrungen sein. Ein einsam brennendes Altarkerzchen flackerte unruhig hin und her. Des Priesters Fuß stieß in der Dunkelheit auf Silber- und Kupfermünzen, auf Bündel gelber, dünner Wachskerzchen, die, von den Dieben in der Hast verloren, auf den Marmorfliesen herumlagen. Er hob sie auf.

»Wo mag Kusma stecken?« fragte leise Sophie Wladimirowna. »Der hatte doch die Kirche zu hüten.«

»Da hinter dem Altar ist er«, entgegnete ihr belustigt der breitschultrige Diakon, der mit erhitztem Gesicht neben dem jungen Popen aufgetaucht war.

In der Nähe des Altars roch es auffällig nach Branntwein. Jemand seufzte, schluchzte und stöhnte. Und siehe! Da hinten kauerte, wie ein Bündel in sich zusammengesunken, Kusma, der Kirchenhüter, ein Bild des allertiefsten menschlichen Jammers; er stak immer noch in der Livree der großen Feiertage, gerade so wie er Genias Mutter am Abend vorher aufs Gut begleitet hatte. Sein ganzes Gesicht troff; aus Augen, Nase und Mund rann es unaufhörlich.

»Ich bin unschuldig, Sophie Wladimirowna!« jammerte er, kroch auf allen vieren hinter dem Altar hervor und küßte den Kleidersaum der Gutsherrin.

»Ich weiß nichts, von allem nichts, habe nichts gesehen, nichts gehört. Gott allein mag wissen, wie die Kerle in die Kirche gekommen sind!«

»Du hattest natürlich einen Rausch!« sagte die erzürnte Frau ernst und vorwurfsvoll und trat von ihm hinweg. Kusma fand die Antwort nicht gleich; das Ja und Nein schienen ihm gefährlich. Wieder begann er laut zu heulen und wischte mit dem schmutzigen Handrücken über all das Naß in seinem Bart. Sophie Wladimirowna begann zu verstehen und die Bauern ebenfalls. Sie blickten zu Kusma hinüber – und lächelten gutmütig. Den ganzen Zusammenhang hatten sie mühelos erraten. Das war ja wohl das Merkwürdige an all den Ereignissen dieser Tage, daß der Bauer, der sich und seine Natur genau kannte, ohne Überlegung, bloß durch die ruhige Bestimmtheit des untrüglichen Instinkts, Grund, Ursache, Zusammenhang und Handelnde erriet und auch den ehrlichen Willen zeigte, der guten Sache zu ihrem Recht zu verhelfen. Nur der grenzenlosen Nachlässigkeit und dem oberflächlichen Vorgehen der Behörden ist es zuzuschreiben, daß auch dieses Verbrechen in unaufgeklärtes Dunkel gehüllt war und blieb.

Ja, wenig genug war es, was die Diebe dagelassen. Die herrliche Festbibel, die so schwer war an Silber, daß des jungen Geistlichen Hand sie kaum hob, die Bibel mit den prachtvollen Silberreliefs und buntfarbigen Goldlettern, der würdigste, stolzeste Schatz der Dorfkirche, sie fehlte. Es fehlten auch die vergoldeten Becher, die weißen Lampen an den Silberketten, die hohen Leuchter mit den kostbaren Sockeln, die schweren Ornate aus Brokat, das massive Kreuz, das der Priester an höchsten Feiertagen auf der Brust zu tragen pflegte; es fehlte die dunkelsamtene Altardecke mit den gewundenen Golddrahtfransen; aus den Behältern waren die Kerzen geraubt, aus der Kasse das Geld, und es fehlte auch das wohl kostbarste Stück, ein Muttergottesbild, das des Gutsherrn Mutter, die Fürstin O., der Kirche bei der Einweihung zum Geschenk gemacht; eine Muttergottes, deren Strahlenkrone rote Rubinen und deren Mantelsaum große runde Perlen schmückten.

Sophie Wladimirowna blickte betrübt; sie sah in das trostlose Gesicht des jungen Priesters und auf die Bauern. Heißes Mitleid stieg in ihr auf mit all diesen Bestohlenen; sie empfand den Raub wie an sich selbst begangen; denn das vernachlässigte, unglückliche Volk da vor ihren Augen liebte seine Kirche, die der Stolz des Dorfes und der Umgebung war. Sie hätte gleich helfen, handeln wollen, und doch fühlte sie hier gerade wie so oft schon das tiefe Unvermögen des guten Menschen so verwickelten, tiefgründigen Verhältnissen gegenüber. Mit Güte allein kam sie hier nicht aus. Da brauchte es Autorität und Macht, um rechtzeitig in dieses Dunkel Licht zu bringen. Die geraubten Sachen konnten noch nicht weit sein. Sie hoffte auf den Beistand ihres Bruders, des Gutsherrn, der, wenn er schnell und energisch handeln würde, bis der Richter eintraf, vielleicht manches retten konnte. Prüfend überlegte sie. Da drängte sich Dmitry, der Schönste, im rötlichen Vollbart, an sie heran. »Die Leute sagen, man wisse, wo sich die gestohlenen Sachen befinden«, flüsterte er; »fragt nur Kusma, der weiß es am besten.« Also hatte sie recht mit ihrer Vermutung, die Sache fing bei Kusma an.

»Wo stecken sie?« fragte sie nach einer Weile leise zurück. »Sag es; denn Kusma lügt doch.«

»Gegenüber der Kirche in der Schenke, bei Abraham unter dem Dache.«

»Woher weißt du es?«

»Von dem da.«

Dmitry deutete auf einen kleinen Mann im roten Bart, der abseits im Halbdunkel stand; die Augen hielt er unverwandt auf die Gutsherrin gerichtet wie ein aufmerksamer Hund. Sophie Wladimirowna winkte den Mann herbei. (Er schien genau unterrichtet und begann sogleich mit halblauter Stimme: »Es waren ihrer vier. Sie saßen gestern abend bei Abraham in der Schenke bis zehn; dann gingen sie zu Kusma hinter die Kirchentür, wo sie gemeinsam weitertranken. Mich wollten sie auch dabei haben; aber ich lief davon. Wenn Sie wollen, Sophie Wladimirowna, ich kann Ihnen jeden Einzelnen genau beschreiben; die Namen kenne ich nicht. Drei der Diebe wohnen ziemlich weit entfernt; einer aber ist ganz in der Nachbarschaft in A … Wenn Sie sofort hinsenden, wird man sie alle vier finden. Die geraubten Sachen aber befinden sich ganz bestimmt noch bei Abraham unter dem Dache.« Der Mann sprach hastig, mit der Wichtigkeit eines Kleinkrämers, der ein Trinkgeld erwartet. Doch sprach er die Wahrheit.

»Das herausgebrochene Fenster samt dem Eisenstab, das inszenierten die Diebe also wohl für Kusma? – denn gewiß kamen sie, von ihm sogar geführt, direkt zur Tür hinein?« meinte Sophie Wladimirowna.

»Gewiß, gewiß«, bestätigte der Mann im roten Bart; »Kusma hat mitgeholfen, und Abraham ist der Hehler.«

Die dicke Frau wußte genug. Sie schritt so rasch sie vermochte dem Ausgang der Kirche entgegen. Man drängte sich ihr nach. Draußen vor der Kirche stand noch eine kleine Menge trotz des fallenden Regens, Neugierige, die doch schon alles zu wissen schienen.

»Was ist zu tun? Was ist zu tun?« klagte der junge Geistliche, als er mit Sophie Wladimirowna die Tannenallee hinaufschritt. Es drängte auch ihn ehrlich zu einer schnellen Tat für die Kirche, die ihm lieb war, und doch durfte er hier am allerwenigsten handeln. Man würde ihm von oben herab gleich zu verstehen geben, daß die Sache nicht ihn, sondern die Behörde angehe. Er hatte stille zu sein und weiter nichts.

»Selbst wenn wir Pawel Pawlewitsch auch heute noch den Raub anzeigen, so kommt er doch erst in zwei Wochen. Bis dann wird jede Spur verwischt sein«, resümierte er trübe.

»Wir wollen doch versuchen, ob wir selbst nichts tun können ohne geschriebene Kompetenzen. Vielleicht richten wir etwas aus«, beschwichtigte Sophie Wladimirowna so gut es ging, glaubte aber beinah schon selbst nicht daran. »Ich hoffe, mein Bruder wird sich dieser unserer gemeinsamen Sache annehmen, Väterchen.«

Aber da irrte sich die gütige Frau.

Es regnete immer mehr vom grauen Himmel herunter. Der elegante Waßja kam in meergrüner Krawatte und würgendem Hochkragen die Allee hinunter und brachte seiner Herrin einen Regenschirm. Die Regentropfen prasselten drauf wie kleine Wurfgeschosse.

»Wo ist Michail Wladimirowitsch?« forschte sie.

»Unten im Park beim Badehaus!«

»Was tut er dort?«

»Tatjana Iwanowna ist ein Unglück passiert«, meinte Waßja und lächelte blendendweiß unter dem dunklen Schnurrbärtchen.

*

Ja, derartige Unglücke erlebt Tanja oft im Laufe des Jahres.

Sie hatte nämlich beim Kämmen ihres Haares etwas gefunden, das sich vorwärts bewegte, etwas Kleines, Grauweißes, etwas höchst Unappetitliches. Aber wo andere Menschen diskret und schaudernd die lebendige Tatsache konstatieren und aus Rache und Vernichtung sinnen, machte die dicke Tanja natürlich eine Schicksalstragödie draus mit viel Lärm und Gepolter. Es ist nun in Rußland eine eigene Sache mit der Einwohnerschaft des Haarbodens; wo sie ist, geht man stillschweigend darüber hinweg, nennt die Laus und auch den Floh gemeinhin »Insekten«, weil man die richtige Benennung dieser beiden anspruchslosen Füßler als etwas Unkorrektes empfindet; der Himmel mag wissen warum. Dagegen turnen Schwabenkäfer und Wanzen am helllichten Tag über Wände und Betten, verirren sich in Suppe und Milch, sind aber als sympathische Haustiere ganz wohl gelitten und sollen sogar Glück bringen. Weh aber einem Floh! Der gehört den Hunden und niemandem sonst. Für Läuse erst findet man in bessern Häusern gar keine Verwendung.

Tanjas Schande nahm natürlich fürchterliche Dimensionen an. Sie schleuderte den Kamm in weitem Bogen von sich, rannte mit aufgelöstem Haar zum Zimmer hinaus, über den Balkon und verschwand hinter den Bäumen des Parks. Als die Sturmglocke ertönte, hätte sie für ihr Leben gern gewußt, was geschehen war; aber die Flucht mußte ausgeführt werden. Obwohl sie sich furchtbar schämte, mußte doch das ganze Gut wissen, daß Tatjana Iwanowna ein »Insekt« mit sich herumgetragen und vielleicht schon seit einiger Zeit.

Als sie zum Frühstück nicht erschien – sie war immer die Letzte – fragte man sich endlich, wo sie sei. Niemand wußte es. Man glaubte sie unten in der Kirche. Da kam aber die alte Juliane und verkündete, sie hätte das Fräulein durch den Park laufen sehen, in der Richtung des Badehauses hin. Schon begann es zu regnen. Der Marschall, der, als er die Sturmglocke vernommen, annahm, es brenne irgendwo und sich weiter nicht irre machen ließ, setzte sein Mützchen auf, nahm den Regenschirm und machte sich auf die Suche nach seiner verlorenen Nichte. Er ging ins Gartenhaus, unter die Linden, zum Ententeich, nirgends eine Spur. Da schritt er nach den tiefer gelegenen Partien des Parks; hier war es immer naß und kotig, und in all dem Kot stand das hölzerne, aus großen Balken gezimmerte Badehaus. Daneben befand sich ein Holzstoß, und auf diesem Holzstoß lag mit offenem Haar, einer büßenden Magdalena gleich, Tanja, die vom Schicksal schwer Heimgesuchte. Wie sie den Onkel kommen sah, erhob sie sich, rumpelte vom Scheiterhaufen herunter, und rannte um das Häuschen herum, wie Leute, die vor übergroßer Scham gleich auf dem Platze in ein Mäuseloch kriechen oder in die Grube fahren wollen.

»Tanja! Liebe Tanja, so wart doch!« rief der Onkel.

Aber die Geprüfte strebte vorwärts, der Marschall hinter ihr drein, immer um die Ecken herum. Endlich machte sie gnädigst Halt; der Marschall konnte verschnaufen.

»So sag doch, Kind, was ist geschehen? Warum bist du da?« fragte er atemlos. »Komm doch unter meinen Regenschirm!«

Sie ließ sich bereden und kam. Und unter Onkels Regenschirm erzählte sie diesem die furchtbare Geschichte mit dem »Insekt.«

»Und das ist alles, Tanja?« meinte er hierauf vorwurfsvoll. »So schäm dich doch!«

»Eben schäme ich mich. Zu Tode schäme ich mich. Ich komme nie mehr zu euch hinauf, nie mehr; eher werfe ich mich in den Ententeich«, behauptete sie, und mächtige Tränen rieselten ihr an der Stulpnase vorbei in den Mund hinein.

»Aber, Kind, so ein »Insekt« kann ja vorkommen; dafür kannst du doch nichts«, tröstete der Marschall. »Sei vernünftig und komm hinauf; du hast ja auch noch nicht gefrühstückt.«

»Tut nichts; ich werde im Leben nie mehr frühstücken.«

Der Marschall nahm sie beim Arm und wollte sie mit sanfter Gewalt fortziehen. Aber den Schirm halten, an seiner schweren Nichte herumzerren, dazu nicht in den Kot treten, das war ein bißchen viel. Und Tanja wollte ja auch nicht vorwärts. Er fühlte, wie er tropfnaß wurde.

»Nu, so bleib da«, meinte er ärgerlich, und ging davon.

Jedoch nach zehn Minuten kam er wieder durch den Kot gestapft. Diesmal war er im mäusefarbenen Regenmantel, trug dazu Tanjas Sturmhaube auf dem Arm, ihre Gummischuhe und einen zweiten Regenschirm.

»So komm doch, Tanitschka, vergiß alles, und da iß vorläufig etwas«, meinte er bittend; denn sein weiches Onkelherz schmolz in großen Tropfen.

»Nie mehr esse ich etwas, niemehr im Leben«, behauptete jedoch wieder die Nichte und machte ein schmerzversteinertes Gesicht.

»Vielleicht soll ich Juliane herschicken, damit sie dir gleich ein Bad macht; dann wäschst du das »Insekt« herunter? Willst du?«

Über Tanjas steinerne Züge glitt ein wohltuendes Lächeln.

Jedoch im selben Augenblick erschien oben am kleinen Abhang, immer noch von Waßjas Regenschirm überschattet, Sophie Wladimirowna.

»Tanja!« rief sie in strengem Ton zwischen den Bäumen hindurch, »du machst, daß du sofort hinaufkommst. Hörst du? Sonst kannst du dann gänzlich dort unten bleiben!«

Nun wurde Tanja auf einmal ganz Zärtlichkeit für den Onkel. Sie lehnte sich an seine Schulter, und er streichelte ihr trotz des »Insekts« das aufgelöste, nasse Haar.

»Ich sende dir Juliane!« sagte er gerührt, ging schnell davon und vergaß wie unabsichtlich zwei Butterschnitten auf dem Holzstoß. Wie ein hungriger Tiger stürzte die Selbstmörderin über sie her.

Als man schon beim Mittag saß, kam sie durch eine Seitentür geschlichen. Krebsrot vom heißen Bad war ihr Gesicht, und auf dem Scheitel klebte jedes Haar in tadelloser Sauberkeit, schnurgerade. Unter diesen Umständen war einem andern »Insekt« das Dasein derart erschwert, daß jede Existenzmöglichkeit ausgeschlossen schien. Tanja setzte sich an den Tisch und aß sehr viel. Der Onkel betrachtete die Wiedergefundene mit verstohlen zärtlichen Blicken.

»Mischa«, Hub Sophie Wladimirowna an, als sie vom Tische aufstanden. »Also unsere Kirche ist beraubt. Sozusagen alles ist weg. Aber die Sachen sind noch unter Abrahams Dach. Willst du uns helfen, sie zurückzuerlangen? Du bist hier der Herr, und in deiner Hand liegt es allein, vorläufig erfolgreich einzuschreiten, bis die Behörde zur Stelle ist.«

Der Marschall schaute zuerst zur kleinen Gräfin hinüber, dann hinauf an die Wand.

»Nein, Sophie, da mache ich nicht mit.«

Diese Antwort hatte seine Schwester allerdings nicht erwartet; sie verstummte einen Augenblick.

»Du bindest mir damit die Hände«, meinte sie dann.

»In Gottes Namen. Mögen sie selbst sehen, wie sie wieder zu ihren Sachen kommen.«

»Mischa, das ist ungerecht. Es ist unsere Schuld einer Bestohlenen gegenüber, und diesmal ist die Bestohlene die Kirche. Du brauchst Stephan nur zu beauftragen, mit andern hinzugehen und die Diebe fassen zu lassen.«

»Dazu habe ich kein Recht.«

»Sprich mir nicht von Recht oder Nichtrecht. Formale Rechte haben wir keine, aber menschliche tausend, die wir in unserer Stellung mit Erfolg anwenden können; es wäre nicht das erste Mal. Du weißt ja so gut wie ich, was du vermagst, wenn du nur willst.«

»Ich will aber nicht!«

»Das ist allerdings was anderes.«

Der Marschall blickte noch höher an die Wand hinauf.

»Übrigens verbiete ich dir nichts. Tue selbst, was du für gut findest; nur für den Erfolg garantiere ich dir nicht«, meinte er dann wieder einlenkend.

»Wollen sehen; hier ist Selbsthülfe eben unser heiligstes Recht«, entgegnete die dicke Frau, und ihre Stimme wurde wieder ganz tief. –

Wie stets nach dem Mittag legte der Marschall sich oben in seinen Schlafraum auf sein wundervolles Gobelinbett und tat seinen alltäglichen Junggesellenschlummer. Nichts haßte er so sehr, als wenn jemand diesen Schlummer unterbrach. Und gerade heute geschah es. Denn kaum hatten sich Sophie Wladimirowna und die kleine Gräfin ins rote Kabinett zurückgezogen, so erschien der junge Geistliche unter der Portiere und verlangte den Marschall zu sprechen. Sein Antlitz blickte trostlos und verstört, und seine Stimme zitterte. Nach einigem Zögern entschloß sich die dicke Frau, ihren Bruder wecken zu lassen.

Der Marschall trat in ganz infamer Laune ins Kabinett.

»Was wollen die Halunken wieder von mir?« fragte er bitterbös, ließ den Geistlichen stehen und reichte ihm die Hand nicht.

»Michail Wladimirowitsch«, hub dieser bittend an. »Ich habe nun noch Näheres erfahren. Ich kenne alle Diebe mit Namen. Man brauchte auch nur Iwan, den Gendarmen, zu beauftragen, bei Abraham Hausdurchsuchung vorzunehmen, bevor die Sachen weitergeschleppt werden. Ich darf es von mir aus nicht tun. Und vielleicht senden Sie gütigst Stephan …«

»Jetzt kommen Sie mir auch noch mit Stephan!« rief der Marschall übellaunig und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Und dann, gesetzten Falls, Stephan macht die Diebe ausfindig, was dann weiter?« fügte er immer ärgerlicher werdend hinzu.

»Dann bringt man sie irgendwohin in Gewahrsam, vorläufig bis Pawel Pawlewitsch kommt«, warf Sophie Wladimirowna ein.

»Es handelt sich doch um die Kirche«, versuchte der Geistliche, und wieder traten Tränen in seine Augen.

Doch der unausgeschlafene Marschall fuhr auf: »Gewahrsam, hm, Gewahrsam! Wohin vielleicht, Sophie? Zu mir aufs Gut etwa? Nicht? Ja, ich könnte sie ja allerdings neben dich an den Tisch setzen, damit du die edlen Herren über Revolutionsprinzipien unterhältst! Nein, mein Gutester«, wandte er sich wieder an den Geistlichen, »schauen Sie selbst zu, wie Sie Ihre Sachen wieder bekommen. Ich bin hier nicht das Gericht und will nichts damit zu tun haben!«

Mit diesen Worten verschwand er hinter der Portiere und legte sich oben wieder auf sein Gobelinbett. Und wie er so da lag und die bunten Blumen der Bettstelle betrachtete, merkte er, daß er eigentlich ganz ruhig war innerlich, so, als ob ihn alles nichts anginge. Jakob, sein Mörder, war ja in sicherem Gewahrsam. Er blinzelte und blinzelte. Dann fielen ihm die Augen zu und er schlief, schlief volle zwei Stunden fest und ruhig.

*

Und dadurch, daß er schlief, gerade jetzt schlief, lud er eine schwere menschliche Schuld auf sich. In einem Lande wie Rußland, wo arm und abseits sein beinahe so viel heißen will wie Rechtlosigkeit, hat der Mächtige, Reiche mehr wie irgendwo sonst die heilige Pflicht zu helfen. Gerade diese Art Verhältnisse, Gleichgültigkeit und Bestechlichkeit der Regierenden, lassen der privaten Einmischung viel Spielraum und Betätigungsmöglichkeiten offen. Und der Rechtlose setzt seine Hoffnung eigentlich nur auf die tiefe, leidenschaftliche Menschenliebe dessen, der ihm wohl will, nicht auf die Behörden seinerseits kommt der wohlwollende Mächtige dem nicht zu seinem Rechte Gelangenden auch liebevoll entgegen. Es sitzt tief im Russen der Hang zur allgemeinen Verbrüderung. Nicht in die Höhe will man wie in Westeuropa; in die Breite, in die Masse geht das Bestreben, mit dem Volke und für dasselbe auf- und untergehen. Dank diesem Hang ist auch kein Land so durch und durch demokratisch wie Rußland, trotz dem Widerspruch der absolutistischen Regierungsform. Jahrhunderte langes, gemeinsam ertragenes Leid, das gemeinsame Hoffen auf den lichten Morgen eines menschenwürdigen, freieren Auflebens hat wohl den tiefwurzelnden Hang noch mehr ausgeprägt, so daß das »schwarze Volk« mit der »Intelligenz« eine große Familie zu bilden scheint. Es kommt nicht von ungefähr, daß der Zar »Väterchen« heißt; einen zuverlässigen, treuen Beschützer will man in ihm sehen. Es kommt auch nicht von ungefähr, daß auch die Geistlichen »Väterchen« heißen, und daß jeder Bittende auf der Straße dich mit »Väterchen«, »Mütterchen«, »Onkelchen« oder »Tantchen« anredet, selbst wenn du noch so jugendlich aussiehst. Es kommt auch nicht von ungefähr, daß die Kirche »Mütterchen« genannt wird, und daß die Wolga, der Leben schenkende, machtvolle Strom, der so viel Tausenden Arbeit und Brot verleiht, daß auch er »Mütterchen« heißt.

Man muß in Rußland mit wachen Augen gelebt haben, um zu sehen, wie trotz Lüge und Korruption, Mord und Raub, im Bauern eben doch das gutgeartete Kind sitzt, das die Regierung nicht zum Menschen zu erziehen weiß. Es war nicht allein der Schwärmer Tolstoi, der ihn den Bauernkittel nehmen hieß und noch ein paar kärgliche Stunden vor seinem Tode in die Welt hinaustrieb zum Volke, um unter ihm zu sterben. Besser wie jeder andere in Rußland wußte er, welch großer Raum zu Laster und Schuld dank der phlegmatischen Gutmütigkeit und der Beweglichkeit des Charakters dem russischen Bauern offen steht. Jedoch klagte Tolstoi, diese einzige moralische Autorität des mächtigen Reiches, sein Ankläger und sein Gewissen, nie den Bauern an, allein nur die gewissenlose Regierung. Und das kam auch nicht von ungefähr. Für ihn, Tolstoi, der in voller, liebevoller Erkenntnis die Bande zwischen sich und dem Volke immer enger knüpfte, war es Gewißheit, daß gerade dieser raubende, trinkende, mordende Bauer, in seinem kindlichen religiösen Glauben, seiner Schlichtheit und Güte, seiner Geduld und einfachen Größe doch den tiefinnersten Vorstellungen vom »guten Menschen« am nächsten komme. Ein »guter Mensch« sein, ist in Rußland das höchste Prädikat, das die öffentliche Meinung zu vergeben hat. Und diese öffentliche Meinung, die mächtiger ist als Behörde und Regierung, die neben beiden einherschreitet als völlig selbständige Macht, sie allein ist es, die die Menschen richtig taxiert. Ein »guter Mensch« sein im politischen Leben Rußlands bedeutet: Abseits von der Regierung seine Wege gehen, ehrlich und sich selbst getreu bis in den Tod. Helden nennt man sie in Westeuropa. Politisch indifferent ist beinahe so viel wie verächtlich sein; aber Macht besitzen, Reichtum, Stellung, und diese drei Faktoren nicht zum Guten des Volkes ausnutzen, heißt schuldig werden; sie gegen das Volk anwenden, ist hier mehr wie ein Verbrechen.

Und der Marschall lud unbewußt eine schwere Schuld auf sich. Hätte er sich der Sache energisch angenommen, so würde erstens die Kirche ihre Schätze zurückerhalten haben, und zweitens wäre das ganze Dorf vor der Mitschuld, in die es schon zwei Tage später verstrickt wurde, bewahrt geblieben. Dem Dieb auf die Hände sehen, hätte ihn hier ehrlich machen heißen. So schlief der Marschall denn auf dem Gobelinbett weiter. Im roten Kabinett beschloß indessen die wachende dicke Frau, das zu unternehmen, was der Marschall hätte tun und besser tun können, und von dem sie sich nicht viel Erfolg versprach.

Sie ließ den Gendarmen rufen und hieß den Priester das Resultat abwarten. Es verging eine Stunde, bis Waßja zurückkam und den Gerufenen vor der Hoftür meldete. Nun stand er im Hof, im weißen Dienstkittel mit den braunroten Schnüren drüber, schwer die Stiefel und schwer der Kopf. Hinter ihm her waren noch einige Neugierige den Tannenweg hinaufgekommen, natürlich auch Wassily im grauen Mantel. Als der Gendarm Sophie Wladimirowna unter der Hoftür erscheinen sah, schlug er militärisch die Hacken zusammen und grüßte stramm. Aber das Geradestehen wurde ihm schwer; er taumelte.

»Iwan«, begann Sophie Wladimirowna, »du weißt, was heute geschehen ist. Mütterchen Kirche ist beraubt worden.«

»Ja«, sagte der Gendarm und versuchte, ein tragisches Gesicht zu machen.

»Man sagt, die geraubten Sachen seien noch bei Abraham unter dem Dache …«

»Wer sagt das?« unterbrach sie unerwartet der Gendarm und glotzte die Sprechende sonderbar an.

»Alle sagen es. Du weißt es eben so gut wie ich. Und dich, Iwan, beauftrage ich hiemit, zu Abraham zu gehen und in der Schenke Hausdurchsuchung zu halten, bevor die Sachen weitergeschleppt sind.«

Der Gendarm senkte den Kopf und schwieg. Dann meinte er plötzlich: »Aber ich gehe nicht!« Und frech schaute er dabei des Gutsherrn Schwester an. Sophie Wladimirowna war so verblüfft über die Antwort, daß sie die Augenbraunen hochzog und der Klemmer ihr von der Nase rutschte.

»So? warum denn nicht?«

»Weil ich nicht gehe!« sagte er noch frecher und trommelte an den Schnüren seiner Uniform.

»Erkläre, warum du nicht gehst!« versuchte die dicke Frau nochmals in ziemlich strengem Tone.

»Da könnte jeder kommen und befehlen: Iwan geh! Iwan steh!« rief er. »Mir ist hier niemand Vorgesetzter. Wenn Ihr eine Hausdurchsuchung haben wollt, so geht selbst.« Und mit diesen Worten wandte er der Gutsherrin den Rücken und trollte sich taumelnd davon.

Wassily im grauen Mantel stand dicht an die Hauswand gelehnt.

»Hat selbst mitgestohlen!« schrie er so laut er konnte, duckte sich aber gleich fast bis zur Erde, wie einer, der fürchtet, einen Schlag auf den Kopf zu bekommen. Doch Iwan schaute sich nicht um.

Trotz des gescheiterten Versuches und der immer schlimmer werdenden Situation muhte Sophie Wladimirowna herzlich lachen. Und lachend trat sie auch wieder ins rote Kabinett, wo der Geistliche sie erwartete. »Die, die uns Schutz sein sollen, sind selbst die Diebe, oder mindestens Hehler. Iwan ist ebenso sicher mit von der Partie wie Kusma«, meinte sie. »Und da soll man den Faden aus dem Wirrwarr nicht verlieren.« Aber mit dem Lachen kam wieder über sie das peinigende Gefühl, das sie schon vorher in der Kirche befallen hatte: völlige deprimierende Ohnmacht dem allem gegenüber. In Wahrheit lag bis jetzt alles noch so klar vor Augen, wenn der richtige Mensch zur richtigen Tat am Platze gewesen wäre. Der hätte das ganze Dorf vor Mitschuld retten können. Der Bauer, der in seinem kindlichen Unverstand nicht imstande war, folgerichtig zu handeln, und der heute noch über etwas klagte, was er morgen feil gab, der Bauer hätte auch der richtige Wegweiser werden können. Nach vierundzwanzig Stunden schon konnte es zu spät sein und der Branntwein war die oberste Gewalt. Es war vielleicht nicht allein Bequemlichkeit gewesen, was ihren Bruder bewogen hatte, sich von allem zurückzuziehen. Vielleicht waren es auch schlechte Erfahrungen, die man gemacht hatte. Aber zur Bequemlichkeit vor allem hatte man in Rußland kein Recht, – wo es so viel zu tun und zu helfen gab, – resümierte ihre energische Natur. Jedoch alle Augenblicke stand sie selbst vor turmhohen Mauern. Das war auch wieder so eine, über die ihr Blick nicht hinübersah.

Der Geistliche saß noch immer mit gesenktem Kopfe. Er selbst durfte zur Wiedererlangung der geraubten Sachen keinen Finger rühren, und doch war er, ganz abgesehen von der großen Pflichttreue und Liebe, mit der er seinen Beruf auffaßte, der heiligen Synode Rechenschaft über den Vorfall schuldig; er trug gleichsam die Verantwortung. Dasselbe Gefühl, das auch Sophie Wladimirowna beherrschte, das Gefühl tiefster Ohnmacht überkam auch ihn. Und da er jung war, blaß und nervös, stiegen wieder Tränen in seine guten Augen, Tränen, die auf seine gefalteten Hände und von da auf den persischen Teppich niedertropften.

»Vielleicht schickst du doch noch zu Stephan«, sagte ganz kleinlaut die Gräfin in französischer Sprache zu Sophie Wladimirowna. Der Geistliche hatte nur »Stephan« verstanden. Der Name barg für ihn eine Art Erlösung und Hoffnung.

»Sophie Wladimirowna«, bat er mit bebenden Lippen und stand auf. »Vielleicht gehe ich doch zu ihm und bitte ihn, einen der Diebe wenigstens, den, der in A. wohnt, abzufassen und herzubringen.«

Die dicke Frau besann sich einen Augenblick. »Ja, gehen Sie auf meine Verantwortung hin«, meinte sie dann, »wenn wenigstens der Dieb so gütig ist, auf uns zu warten, und das wird er gewiß.«

Daß sie im Herzen fest überzeugt war, jetzt schon nichts mehr erreichen zu können, das allerdings verschwieg sie dem Betrübten.

*

Am Abend, als es bereits dunkelte, begab sich der junge Geistliche zum bärtigen Stephan, dem Dorfältesten. Er hatte es sehr eilig; sein Gang war so aufgeregt und rasch, daß sein graues, langes Priestergewand hoch aufflatterte und die braungestreiften Beinkleider darunter sichtbar wurden. Er erhoffte alles von diesem Gang. Er fand denn auch Stephan in seiner Hütte und setzte ihm die Sache auseinander. Dieser schien ihn erwartet zu haben. Er nickte kurz, versprach, den Wagen einzuspannen, sechs der zuverlässigsten Bauern mitzunehmen und den Dieb herzubringen.

»Ich werde den Diakon mitschicken«, sagte der Geistliche noch, und es schien ihm, mit Hilfe des Diakons müsse die so ernste Sache glücken. – Als der Wagen angespannt, Stephan und die sechs Bauern wartend herumstanden, erschien als Letzter endlich der breitschultrige Diakon, das schmutzigblonde Haar in Strähnen um den roten, kurzen Hals.

»Vorwärts, Brüder!« rief er fröhlich, als er endlich breitspurig oben saß. Die mageren Pferdchen zogen an, und die acht Braven machten sich auf die Suche nach dem Dieb. Dunkel war die Nacht.

Ein Beweis, wie durchsichtig das ganze Gewebe des Raubes am ersten Tage nach der Entdeckung noch war, ist, daß der Dieb aus A. ruhig in seiner Hütte saß. Keinen Augenblick war es ihm eingefallen, Widerstand zu leisten, als die Männer vorfuhren und Stephan ihn zum Mitkommen aufforderte. Bei unverschlossenen Läden hatte er gerade hinter dem Fensterchen gesessen und die Kupfer- und Silbermünzen überzählt, die er der Kirchenkasse entnommen. Der helle Lichtschein hatte den Vorfahrenden sogar den Weg zur Hütte gewiesen. Der Dieb steckte das geraubte Geld ruhig in die Tasche, löschte das Licht aus, verschloß die Tür und kletterte auf den Wagen.

Es war längst nach Mitternacht, als das Gefährt wieder vor Stephans Hütte hielt: Der Diakon, der Dorfälteste, der Kirchenräuber, die sechs zuverlässigen Bauern, alle samt und sonders bis zur Besinnungslosigkeit betrunken! Der Dieb war ein sehr netter Mensch, hatte vor jeder Schenke halten lassen und hatte bezahlt, nur so bezahlt. Das war eine fröhliche, sehr fröhliche Fahrt gewesen! Als sechse der Braven bereits aus dem Wagen hinaus- und hinuntergetorkelt waren und nur noch der Dieb und der Diakon oben waren, machte eines der müden, mageren Pferdchen unabsichtlich einen Ruck nach der Stallseite hin. Da purzelten die beiden kopfüber zum Wagen hinaus. Der Dieb kam unten zu liegen, der Diakon oben.

»Täubchen, mein herziges Schätzchen!« gurgelte der Diakon und umschlang zärtlich den neuen Freund da unten im Kot.

Arm in Arm, Schulter an Schulter, verbrachte Stephan den Dieb darauf in seine Hütte. Als er aber am Morgen die dummen runden Augen aufriß, war der Mann verschwunden. Und blieb es auch.

*

So war die nächtliche Fahrt gescheitert. Volle vierzehn Tage waren ins Land gezogen. Man stand im August, das Korn war reif. Hinter den Halmen sah man gekrümmte Rücken, barfüßige Frauen, die mit der Sichel die Kornbüschel schnitten und lockere kleine Garben banden. Wie blaue und rote Riesenblüten leuchteten die bunten Kopftücher aus dem Weizengold. Die glockenlosen Kühe des Gutes weideten immer noch im sommerlichen Sattgrün, und die jungfräulich herzigen Kälbchen, mit den großen Augen und schnuppernden, nassen Nasen guckten neugierig über die vorgelegten Stangen nach dem großmächtigen Norahund, der ihnen immer so wunderlich vorkam. Es war alles sommerlich, satt und zufrieden ringsum.

Unzufrieden aber war Sophie Wladimirowna. Sie war mehr wie das, sie war empört. Vierzehn volle Tage waren seit dem Kirchenraub verstrichen und noch kein Pawel Pawlewitsch da. Selbstverständlich waren die geraubten Sachen unter dem Schenkendach längst verschwunden; man behauptete sogar, man habe sie auf dem Wochenmarkt in Torschok im Handel gesehen; man nannte auch da wieder Käufer und Verkäufer mit Namen. Die Diebe selbst, hieß es ferner, seien fortgezogen, man wisse nicht wohin, und der, der in der denkwürdigen Nacht bei Stephan abgestiegen, sei überhaupt seither nie gesehen worden. Kusma, der Kirchenhüter, trank wie vordem und heulte bloß jedesmal, wenn er jemanden vom Gute sah. Der Gendarm Iwan war öfter denn je in Abrahams Schenke zu sehen. Als Sophie Wladimirowna von der nächtlichen Fahrt der acht Braven gehört, hatte sie wieder herzlich lachen müssen. Das war ja auch zum Lachen. Wenn dieselben Menschen, die am Morgen über die beraubte Kirche gejammert, am Abend der Bestohlenen letztes Gut dem Diebe aus der Tasche verjubeln helfen und dies tun nicht aus Bosheit, sondern weil Gedanken, Gesetze und sittliches Empfinden in diesen Menschen noch keinen Boden gefunden, weil keiner da war, der diesen Verwahrlosten mit den kindischen Herzen zu Hilfe gekommen, das war zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen war. Aber sie wollte hier einmal nur das Lächerliche sehen. Sie kannte ja das Volk genau! die Vorkommnisse überraschten sie nicht. Es war bloß ein neuer, ernster Beweis, wie tief das Übel saß und wie tiefgehendes, jahrhundertelanges Wollen notwendig war, um aus diesen Kindern Menschen zu machen. Wenn nicht direkt am Verbrechen beteiligt, so war schließlich doch das ganze Dorf in Mitschuld gezogen; denn der Richter ließ immer noch auf sich warten. Aber nun standen die Dinge auch so, daß, wenn noch etwas zu retten war, es allein durch die Untersuchung geschehen konnte. Sophie Wladimirowna hatte nach der verhängnisvollen Diebsfahrt eingesehen, daß sie die Waffen strecken mußte vor einer Justiz, die eben so denkfaul war wie der Bauer selbst, nur um so schuldiger, je höher seine Machtbefugnis und Verantwortung wuchs. Sie wußte auch, je größer der Apparat sein würde, den der philosophische Untersuchungsrichter in Gang setzte, desto geringer das Resultat. Am Ende ließ er gar die berittenen Gendarmen kommen, zu einer Generaldurchstöberung der Gegend, und der Gedanke an diese Art Leute, die sie ehrlich haßte, empörte sie derart, daß sie sogar ein paarmal des Tags ihre frühzeitige Empörung laut werden ließ. – Die kleine Gräfin war abgereist. Als eines Abends Waßja vor dem Schlafengehen den beiden Halma spielenden Damen mitteilte, der Officebursche Wanja gespenstere im Haus herum, steige jede Nacht die Stiege hinunter und rumore im Schlafzustand unten im Buffet, als er ferner mitteilte, des Nachtwächters Bruder, der 18 Jahre wegen Mord und Totschlag in Sibirien gewesen, sei zurückgekehrt und habe hinter dem Gut Wohnung genommen, da wurde dem kleinen Wesen doch ein bißchen unheimlich. Mit klingenden Glöckchen war sie abgereist zu ihrem noch lebenden, sehr alten Papa in der Krim, dem früheren Kriegsminister Nikolaus I. Dafür barg das Haus bereits neuen Besuch. »Seelchen«, die junge hübsche Frau, des Kadettenführers Nichte war da. Und mit ihr tauschte Sophie Wladimirowna alle ihre Gedanken. Beide waren sie höchst entrüstet über die gewissenlose Verschleppung der doch so wichtigen Angelegenheit und steckten sogar den Marschall an – denn der hörte »Seelchen« gar gern singen, und »Seelchen« kokettierte regelrecht mit ihm. Er selbst war sehr unzufrieden, den Richter wieder beherbergen zu müssen, obwohl er sehr gastfrei war; aber Pawel Pawlewitsch war ihm nicht sympathisch und für seine, Jakobs Sache, nicht sachlich und ernst genug. Dazu schien es ihm auch, der Richter würde diesmal nicht allein kommen, sondern pompöser, in Begleitung eines zweiten Beamten, um die Sache noch schneller erledigen zu können; dann hätte er zwei zu beherbergen. Und so kam es auch. Als endlich am sechzehnten Tag Pawel Pawlewitsch in seinem staubigen Tarantaß den Tannenweg hinauffuhr, war er nicht allein, sondern neben ihm saß ein junger Mann in einem sehr hohen Stehkragen. Das war der Gehilfe des Staatsanwalts, also ein Beamter, der eine Stufe höher stand als der Richter selbst. Er sah sehr geckenhaft aus, dazu dümmer als fünf gewöhnliche Menschen miteinander. Jedes Mal, wenn er den Mund auftat, fuhr eine Dummheit heraus. Glücklicherweise machte er ihn selten auf; er schwieg meistens und wurde erst recht laut und gewaltig, wenn er ganz Untergeordnete vor sich hatte, solche, bei denen jede Gegenwehr von vornherein ausgeschlossen war. Da schrie er denn wie ein wildes Tier, gebärdete sich ganz fürchterlich und stampfte mit den Füßen. Pawel Pawlewitsch stellte den jungen Mann vor und machte dazu ein Gesicht, als ob er sagen wolle: »Nun könnt ihr zwischen uns vergleichen, ihr Herrschaften, ich überlasse es ganz euch.« – Die beiden Herren wurden im Gespensterflügel untergebracht. Pawel Pawlewitsch zog aus der Rocktasche ein Buch und legte es aus den Nachttisch. »Also sprach Zarathustra« stand darauf.

Beim Abendbrot versuchte »Seelchen« zu verschiedenen Malen den »Gehilfen« ins Gespräch zu ziehen. Es ging nicht. Schließlich meinte sie liebenswürdig: »Haben Sie schon eingemachte Zuckermelone gegessen, Alexander Alexandrowitsch?«

»Nein, nie!« entgegnete er, legte die Hand mit dem großen Brillanten an den Schnurrbart und sandte der jungen Frau einen eingemachten Zuckermelonenblick über den Tisch hinüber.

»Da wissen Sie nicht, was gut ist!« erwiderte sie kokett. Nun zwirbelt er bereits das Schnurrbärtchen hoch.

»Das Beste auf der Welt ist eine Frau!« meint er dann tiefsinnig und hochbeglückt über die prachtvolle Banalität. Sophie Wladimirowna gähnt hinter der Serviette; Tanja kneift Natascha ins Bein; der Marschall horcht erschreckt auf, und der Richter, der seinen Vorgesetzten in die Patsche bringen will, meint lächelnd:

»Ganz richtig, verehrter Alexander Alexandrowitsch! Aber eine Frau kann man nicht essen!«

»Ja gewiß, gewiß, das wollte ich auch nicht sagen; aber … aber …« Und über das Aber kam er gottlob nicht hinaus. Tanja kniff Natascha ein zweitesmal so, daß diese quietschte. Der Marschall hielt wie gewohnt eine kleine, empörte Rede, und das Gespräch nahm eine andere Wendung.

*

»Wie steht es mit Jakob, Pawel Pawlewitsch?« forschte der Marschall, als man aus dem Speisezimmer hinaus auf die Terrasse trat. Immer wenn er von Jakob sprach, bekam seine Stimme einen ganz eigenen, heisern Klang.

»O, darüber läßt sich nicht viel sagen,« entgegnete der Richter sehr aufgeräumt nach dem saftigen Brombeerkuchen da drinnen und klopfte mit der Zigarette auf die silberne Tabaksdose. »Er wird wahrscheinlich schon bald wieder hier eintreffen, wenn das Dorf Bürgschaft übernimmt für sein ferneres Verhalten, wie es ja Brauch ist.«

Bei diesen Worten steckte er die Zigarette in Brand und blinzelte belustigt durch den blauen Rauch hindurch in das erschreckte Gesicht des Marschalls; denn er kannte dessen Furcht vor Jakob genau.

Michail Wladimirowitsch schien einen Augenblick die Sprache verloren zu haben.

»Das kann doch Ihr Ernst nicht sein, Pawel Pawlewitsch«, sagte er hierauf, »umsomehr, da ich in letzter Zeit beinah fest überzeugt bin, Jakob stehe auch mit dem Kirchenraub in indirekter Beziehung. Gewiß war das ein Plan von ihm gewesen, die Kirche zu bestehlen; von der Kirche hinweg wollte man dann wohl zu mir hinauf aufs Gut. Die Bande, die er organisiert hatte, vollbrachte nun allerdings den Raub ohne ihn … aber Pawel Pawlewitsch, das kann doch Ihr Ernst nicht sein!« wiederholte er nochmals und versuchte zu lächeln.

»Mein völliger Ernst«, sagte der Richter auch lächelnd. »Sehen Sie, die Gefängnisse sind überfüllt. Ich selbst habe gleich nach Ihnen hier noch dreißig andere Rechtsfälle zu besorgen. Ja, um Gottes willen, wo sollen wir die Leute unterbringen? Da läßt uns eben die Regierung durchblicken, daß man die, die mit Politik nichts zu tun haben, wieder heimspediert.«

»Aber seine Schuld ist ja erwiesen!« schrie ihm der Marschall beinah ins Gesicht.

Der Richter blieb sehr ruhig. »Eben nicht. Was er gestanden, hat er längst widerrufen; dazu gestand er im Rausche. Und andere sichere Beweise haben wir keine.«

»Da hört doch alles auf!« schrie nun der Marschall laut und zornig. Er hatte einen ganzen Vorrat Schimpfwörter in der Kehle, die er alle hinunterwürgen mußte, und das tat ihm direkt weh; auch hämmerte sein Herz wieder in heftigen Schlägen an die Brustwand.

»Entschuldigen Sie!« sagte er unvermutet zum Richter, ließ ihn stehen und verschwand hinter der Glastür.

*

Er ging in sein Schlafzimmer, nahm dreißig Tropfen Baldriantinktur und ging dann wohl ein paar hundertmal im Raume auf und ab. Hierauf setzte er sich in den tiefen Sessel am Fenster und versuchte zu lesen. Heute gerade war aus Moskau ein ganzer Stoß Bücher gekommen, Willy's: »Claudine à Paris«, »Claudine en vacances", »Claudine en mariage." Er las gern pikant. Aber die Lektüre ging nicht. Neben Claudines Minette drohte Jakobs rohes Gesicht. Seine Zunge klebte am Gaumen. Da waren sie wieder alle, diese bösen und ängstlichen Gedanken. Dieses Gesindel da unten, die beiden lächelnden Herren mit der boshaften Nachricht. Da sollte man also wieder abwarten, bis Jakob zurückkam. – Es wurde ganz dunkel im Zimmer; unten im Hause war es bereits ruhig; gewiß legte man sich schon zu Bett. Und er konnte die Ruhe immer noch nicht finden. Da klopfte es. Waßja kam das Zimmer für die Nacht herrichten.

»Michail Wladimirowitsch, sind Sie da?« rief er halblaut mit dem familiären Ton des treuen Dieners. Vom Sessel am Fenster her kam die Antwort. Waßja drehte die Lampen auf.

»Wissen Sie das Allerneueste? Es heißt im Dorf, ein Teil des Kirchensilbers sei in Torschock bereits verkauft; einiges aber befinde sich bei uns auf dem Gut im Waschhaus.«

»Wie kämen die Sachen dorthin?« kam es müde und nachdenklich vom Fenster her.

»Unsere ständige Waschfrau ist Abrahams Schwägerin und half ihm die Sachen verbergen.«

»Ach, Waßja!«

»Das sagt man.«

»Wiederhol nicht so dummes Zeug.«

Und Waßja schloß leise die Tür und stieg die Treppe hinunter.

Im Waschhaus? Das war ja Ironie! Eine ganz infame Ironie! Wollte man sich über ihn lustig machen? Übrigens war das Geschwätz, und nicht möglich. – Doch, es war möglich, bis jetzt war noch alles möglich gewesen, selbst das Unmöglichste: Jakobs Freilassung. Aber so weit konnte doch die Frechheit des Gesindels nicht gehen, daß man das Waschhaus der Gutsherrschaft zum Versteck erkor? Dann würde man ja wohl sagen, der Respekt vor dem Gutsherrn sei so groß, daß man ihm sogar dieses bieten könne. – Er mußte selbst gehen und nachsehen, bevor jemand sonst die Entdeckung machte. – Vielleicht war es auch nicht wahr; Waßja liebte solche Schauernachrichten. – Und doch und doch. – Er wollte sich nicht auslachen lassen; seine Schwester hätte ja da wohl am besten gelacht und würde ihm, dem Konservativen, der die Hände beizeiten aus der Sache gezogen, den Schabernack wohl gönnen. – Er erhob sich vom Sessel und suchte unten im Schrank nach Gummischuhen. Dann schlüpfte er in den mäusefarbenen Regenmantel, nahm eine Kerze, eine Schachtel Streichhölzer und schlich leise, vorsichtig wie ein Dieb in der Nacht, die Treppe hinunter. Er machte die Hoftür auf und trat ins Dunkel hinaus. Gottlob, der Wächter war mit den Hunden auf der andern Seite des Gutes; er hörte die Klapper. Die Hunde waren ja so gefährlich, daß sie jeden des Nachts überfielen, auch den Gutsherrn selbst, wenn der Wächter ihn nicht rechtzeitig erkannte. Schräg durch den kleinen Hof, an den Lindenbäumen vorbei, am Pferdestall, da rechts am Wege das Waschhaus. Mit zitternden Fingern, hämmerndem Herzen tastet er an der Tür; der Riegel ist vorgeschoben. Da drinnen war er im Leben noch nie gewesen; was ging ihn die Wäsche an? Er zündete die Kerze an; der Riegel knarrte; der Marschall trat ein. In großen Kufen stand die in Wasser gelegte Wäsche da, der weißgetünchte Herd noch warm, die Kohle am Verglimmen. Zuhinterst im Winkel ein großer Haufe schmutziger Wäsche. Dorthin ging er, bückte sich und begann, in der einen Hand die Kerze haltend, mit der andern in der Wäsche zu wühlen. Gerade angenehm war die Arbeit nicht: Tanjas Leinenkleid, Sergeys Socken, ein riesiges Hosenpaar seiner Schwester – »das könnte ein Kleidungsstück sein für einen Donkosaken« dachte unwillkürlich der indiskrete Bruder. Ein feines, gelbes Spitzenhemd von »Seelchen« und noch was und noch was. Da, – zu unterst, ein blau und weiß gestreifter Knäuel, sein eigenes neues Batisthemd. Das fühlte sich hart an. Was war da drinnen? Hastig wickelte er es auf und erblickte beim Schein der flackernden Kerze den großen, silbernen Abendmahlsbecher mit den gravierten Goldlinien drauf.

»Gott im Himmel!« flüsterte der Marschall, »also doch!« Und wieder schlich er sich hinweg wie ein Dieb, ein Kirchendieb diesmal. Seine Knie zitterten. Wenn er nur erst wieder auf seinem Zimmer wäre! Diese Infamie! Er schlich sich denselben Weg zurück. Er lief beinah; denn die Klapper des Wächters kamen immer näher und näher. Große Schweißtropfen quollen ihm unter der verschobenen Mütze hervor. Wenn er nur rechtzeitig an die Hoftür gelangte, bevor die Hundebestien ihn schnupperten. Da stieß sein Fuß im Dunkel an eine leere Konservenbüchse. Die machte Lärm. Nora, die Entsetzliche, vernahm das Geräusch, spitzte das Ohr und lief Kopf unten in der Richtung des Marschalls hin. »Iwan, um Gottes willen, Iwan, so halt doch die Hunde!« schrie der Gequälte in wahrer Todesangst. Da war er auch am Hoftor, drehte den Schlüssel und war in Sicherheit. Mit der ganzen Wucht ihres gewaltigen Leibes warf sich Nora gegen die Tür und heulte wütend in die Nacht hinaus.

Oben auf seinem Zimmer war der Marschall. Er zitterte. Den Becher stellte er hinter einen Bücherstoß auf den Schreibtisch. Dann legte er sich zu Bett. – Sein Herz machte ganz sonderbare Sprünge. Es war, als ob jemand es in der Faust gewaltsam zusammenpreßte, dann wieder losließe. Er hatte Schmerzen; das Atmen wurde ihm schwer. Er schob die Kissen recht hoch und schloß die Augen. – Aber das hämmerte und arbeitete krampfhaft in der Brust und würgte im Hals. Was sollte er tun? Er wartete und fühlte Hände und Füße eiskalt werden. Seine Schwester wecken? Nein. Er wartete wieder. Das Herz wurde ruhiger; das Atmen ging leichter. Er lag mit wachen Augen. Also, den Streich hatte man ihm gespielt! Selbst vor ihm schreckten diese Schurken nicht zurück; so gleichsam mithineingezogen hatten sie ihn in ihre abscheuliche Schurkerei. Was kam wohl noch? Und Jakob würde vielleicht schon bald wieder da sein; dann konnte die Angst von neuem beginnen. Wieder polterte sein Herz. Er erhob sich in den Kissen und sah ins Dunkel. – Dann zündete er die Lampe an und schaute lange nach dem grünen Schirm. Er war müde, sehr müde- aber der Schlaf wollte nicht kommen. Und er kam nicht bis gegen Morgen.

Spät stand der Marschall auf, und sehr blaß war er. Er hatte keine Lust zum Rasieren, noch zum Frühstücken. Noch weniger Lust verspürte er, die beiden Herren unten zu sehen.

Als es zehn schlug und er noch nicht erschienen war, wurde Sophie Wladimirowna besorgt und stieg schwer die Stiege zu ihm hinauf. Sie fand ihn im tiefen Sessel am Fenster. Den Becher bemerkte sie nicht.

»Was ist mit dir, Mischa? Du bist blaß? Hast du nicht geschlafen?« fragte sie liebevoll und setzte sich neben ihn. In des Marschalls Kehle würgte es wieder und stieg den Hals hinauf. Er schluckte. Er wird doch nicht heulen wollen wie ein kleines Kind? Und doch fühlt er, daß alles in ihm zum Platzen gespannt ist. Das Weinen hätte ihm gut getan. Soll er sich gehn lassen? Er kennt ja die herrliche Frau an seiner Seite. Und auf einmal nimmt er den Klemmer herunter und weint, weint wirklich und wahrhaftig, der alte Junggeselle, weint, daß es ihn schüttelt von den Schultern bis an die Knie.

»Mischa, um Gottes Willen, Mischa, was ist dir?« ruft Sophie Wladimirowna ganz erschrocken und faßt ihn an der Schulter. »Erzähl', was hast du?«

Und wie er sich gefaßt, da schämt er sich und schaut durchs Fenster. Dann erzählt er, der Nervöse, Ängstliches von Jakobs Freilassung und von seinem Fund. Jetzt erst bemerkt die dicke Frau den Becher. Zuerst sitzt sie sprachlos da. Dann sieht sie aber, ihrer frohen, ruhigen Natur gemäß, doch wieder zuerst das Komische der Situation, und ihr herzliches Lachen durchzieht das Gemach. Das war es ja gewesen, wovor der Marschall sich gefürchtet hatte; aber sonderbarerweise beruhigte es ihn jetzt.

»Ist das nicht infam, Sophie?«

»Nein, absolut nicht«, entgegnet sie herzlich und sieht ihm fröhlich ins Gesicht. »Es hätte ja wirklich nichts Komischeres passieren können. Dir, dem Gutsherrn! Die Frechheit ist so naiv, daß sie lächerlich wirkt. Weißt du was?« Sie nahm den Becher und betrachtete ihn. »Es ist so gar nicht von Belang, ob wir nun die Wäscherin auch anklagen; schuldig sind sie ja bald alle im Dorf. Die Herren unten mögen sie selbst herausfinden. Aber den Becher behalten wir vorläufig und stellen ihn dann dem Geistlichen, wenn alles vorüber ist, selbst wieder zu. Ich hatte so viel guten Willen, etwas für die Kirche zu tun, und konnte es nicht; du aber, der du dich nicht damit befassen wolltest, du schenkst ihr nun den Becher zurück. Ist das nicht komisch, Mischa?«

Der Marschall schwieg; aber er lächelte, und allmählich wurde es in ihm stiller. Seine Schwester legte ihre Hand auf die seine. »Und was nun Jakob betrifft«, fuhr sie fort, »so sind wir ja in der Krim, bevor er wieder eintrifft; so schnell wird das nicht gehn. Also beruhige dich, Lieber. Oder wie wär's, wenn du noch für die Zeit vor unserer Abreise nach Moskau gingest, um dich auf andere Gedanken zu bringen? Dann müßtest du unsre Packerei nicht mitansehn, und wir träfen dich in Moskau.«

Der Marschall besann sich. »Ja, aber du und die Kinder allein?« fragte er dann zweifelnd. »Du weißt ja, ich kenne keine Furcht«, entgegnete sie warm, und ihre Stimme wurde ganz tief. Liebevoll sah sie ihm wieder ins Gesicht. Er wurde immer ruhiger. Sie lachte ihn ja nicht aus. »Ich werde es mir noch überlegen«, beschloß er.

»Geh so bald du kannst und du dich besser fühlst, Mischa. Waßja soll dir deine Sachen packen.«

Er blieb den ganzen Tag oben auf seinen Zimmern. Er speiste auch oben. Die Kinder kamen abwechselnd hinauf. Sophie Wladimirowna saß mit ihrem angefangenen Linnenkleid den ganzen Nachmittag neben ihm. Dann kam auch »Seelchen« mit ihrer Stickerei. Und auf die Sticklilien gebeugt, sang sie mit ihrer wunderbaren, weichen Stimme dem kranken Marschall ein altes, verträumtes Lied. Ihm wurde ganz warm und still dabei. Und als sie geendet, verschränkte sie die Arme hinter dem braunen hübschen Kopf und schaute lange und unbeweglich in den Spiegel. Die weiten Ärmel ihres weißen Kleides fielen zurück und gaben die braunen, schlanken Arme frei. Mit unverhohlenem Entzücken betrachtete sie der Marschall. Sie gewahrte es und wandte den Kopf. Da wurde der alte, kranke Junggeselle ganz, ganz rot.

*

Andern Tages packte Waßja. Und gegen Abend verreiste der Marschall. Er sah immer noch blaß aus und schien viel älter; die Furchen neben der Nase waren tiefer und die Falten breiter. Die beiden Herren wünschte er nicht mehr zu sehen, und das müßige Stillsitzen und Nachdenken machte ihn auf einmal ängstlich. So ging er denn. Tanja hatte dem Kutscher den sonderbaren Befehl erteilt, mit dem Wagen unten an der Tannenallee zu halten, damit man den Onkel noch ein Stück Weges zu Fuß begleiten könne. So marschierten denn alle vier Kinder neben dem Onkel her; auch Sophie Wladimirowna schritt, auf ihren Stock gestützt, daneben. Dann folgte ein zärtlicher Abschied. »Schreib mir, sobald du mich brauchst«, waren die letzten Worte des Marschalls an seine Schwester. Und sie küßte ihn herzlich und versprach es ihm.

Was geschah indessen im Verhandlungsraum? Pawel Pawlewitsch und der Gehilfe des Staatsanwaltes hatten das sämtliche Dorf en bloc vorgeladen. Und da sahen sie denn beide, daß die Angelegenheit sehr verwickelt war. Vorläufig aber verhafteten sie Abraham, den Hehler.

»Die Sache wird immer interessanter«, hatte der Richter beim Mittag zu Sophie Wladimirowna gesagt und hatte sich höchst vergnügt die graulichen Patschhände gerieben. »Und dazu geht alles in immer rasenderem Tempo.«

Abraham war ein kleiner, kranker Mann mit eingesunkener Brust, hohlen Augen und mühsamem Atem. Er sollte, nachdem er seine Schuld eingestanden, in das acht Werst entfernte Kreisgefängnis verbracht werden, wo auch Jakob untergebracht war. Iwan, der Gendarm, hatte ihn hinzubringen. Iwan bekam von den beiden Herren ein großes Paket Aktenpapiere mit an den Polizeioffizier des Gefängnisses.

»Jetzt geht, ihr Lümmel!« schrie der Gehilfe hinter dem Tisch hervor. »Und daß du gleich wieder zurück bist, Iwan«, fügte er noch hinzu. »Ja, Euer Hochwohlgeboren!« antwortete der Gendarm und legte drei Finger an die Mütze.

Und die beiden waren abgezogen wie zwei gute Kameraden.

Eine Stunde verging.

Da kam Wassily, der Dümmste, ins Verhörzimmer gelaufen und teilte den Herren mit, der Gendarm sei ja gar nicht mit Abraham gegangen; er sitze in der Schenke.

»Was sagst du? Was sagst du? Wo? Was? Bringt mir die Bestie! Hört Ihr? Sofort!« schrie der Gehilfe wie toll auf ein paar Bauern ein, die da herumsaßen.

Und Iwan kam; so betrunken war er, daß der Branntweingeruch den kleinen Raum füllte.

Der Gehilfe sprang auf ihn los, hochrot im Gesicht, und zerrte ihn wütend an der Schulter in die Mitte des Zimmers.

»Schuft! Weißt du auch, vor wem du stehst?« fauchte er.

»Ja, Euer Hochwohlgeboren!« gurgelte der Gendarm und legte militärisch die Hand an die Mütze.

»Weißt du auch, mit wem du sprichst?«

»Ja, Euer Hochwohlgeboren!« Er salutierte abermals.

»Also, wo ist Abraham?«

»Der ist auf dem Weg zum Polizeiposten«, entgegnete der Gendarm gelassen.

»Mit wem denn?« Der Gehilfe versetzte ihm einen Stoß in den Nacken, daß die Mütze nach vorn in die Stube hinausflog.

»Aber, verehrtester Alexander Alexandrowitsch, regen Sie sich doch nicht so auf«, beschwichtigte lächelnd und mit leisem Spott der Untersuchungsrichter.

»Mit wem, antworte?« schrie aber der Gehilfe nochmals.

»Mit einem Vertrauensmann«, lallte Iwan und blickte ihm gerade ins Gesicht.

Die beiden Herren sahen sich sprachlos an, und dann lächelte Pawel Pawlewitsch wieder. Das wurde ja immer besser und interessanter. Alle Tage kam wirklich so was nicht vor.

»Mit welchem Vertrauensmann?« fragte er ruhig wie jemand, der über nichts erstaunt.

»Mit einem Vertrauensmann«, beharrte der Betrunkene.

»Warum bist du denn nicht selbst hingegangen, wie man dir geheißen?«

Da richtete sich der Gendarm zur vollen Höhe auf und meinte, indem er wie absichtslos die Hand an die Revolvertasche an der rechten Seite legte:

»Meint ihr denn, ihr hochwohlgeborenen Herren da, ich führe jede Dummheit aus, die man mir befiehlt?«

Die beiden Herren sahen sich wieder an, und ein so unverhohlenes, stummes Staunen drückte sich auf beider Gesichter aus, daß Pawel Pawlewitsch wieder lachen mußte. Da hörte aber auch alles auf. Übrigens – mochte der Gehilfe mit dem Gendarmen fertig werden. »Hinaus!« schrie denn auch der Gehilfe, nachdem er sich erholt hatte. »Hinaus! Du räudiger Hund, du vermaledeite Bestie du!« Er schrie so laut, daß er sich an der eigenen Stimme überschluckte; sein Kragen war entschieden zu hoch; er erstickte beinah und riß heftig daran. »Nicht so, nicht so«, beschwichtigte wieder ruhig und mit leisem Spott der Richter. »Sie haben ja nur einen einzigen Kragen bei sich, Alexander Alexandrowitsch!«

Der Gendarm war indessen zur Türe gegangen und schlug sie heftig hinter sich zu. Während der Gehilfe sich von seiner Wut erholte und den Kragen vor dem kleinen Spiegelchen im Winkel zurechtrückte, ging Pawel Pawlewitsch langsam im Zimmer auf und ab und trällerte mit gutem französischem Akzent:

»Si vous n'avez rien à me dire, pourquoi me serrez vous la main?«

Dann setzten sich beide auf ihre Stühle hinter den Tisch und berieten, was nun zu tun sei. Abraham war natürlich auf und davon, das war sicher. Man müsse ihn einholen, beschlossen sie, und ihn samt dem Vertrauensmann und dem Aktenbündel herbringen. Sehr weit konnte er noch nicht sein. Man schickte wieder nach Stephan. Der spannte die magern Gäulchen vor, nahm wieder ein paar zuverlässige Bauern mit und fuhr ab.

*

Es war spät in der Nacht. Das Käuzchen flatterte in den Tannenwipfeln beim »Flügel« und versuchte leise seinen Ruf. Drinnen im Verhörzimmer saßen die beiden Richter und warteten. Schon schlug es elf. Der Gehilfe legte ab und zu den Kopf an die weißgetünchte Wand und schloß die Augen, eine halbabgebrannte Zigarette am Lippenrand. Pawel Pawlewitsch schritt zuerst langsam auf und ab; dann setzte er sich an den Tisch und zeichnete auf einem Aktenbogen Figuren, Figuren, lauter dicke runde Frauen in sonderbarem Kopfputz. Der Gehilfe gähnte laut, dann war es wieder still. Es schlug halb zwölf. Endlich hörte man einen Wagen den Weg hinauf. Der Richter nahm schnell die Lampe vom Tisch und trat hinaus, der schläfrige Gehilfe hinter ihm drein. Der Wagen fuhr eben vor. Da saß oben, das Aktenbündel auf den Knien, müde vom Gehen und Fahren, Abraham, der Hehler, mit keuchender Brust. Ein buntes Tüchlein hatte er sich um den dünnen Hals geschlungen. Im Walde, dicht an der Landstraße, hatten sie ihn gefunden, wie er auf einem Steine zusammengekauert saß und hustete und hustete. Sieben Werst war er bereits gegangen, das Aktenbündel getreulich in der Hand.

»Wo ist denn der sogenannte Vertrauensmann?« forschte der Richter und suchte beim schwachen Lampenschein den Mann irgendwo zu entdecken.

»Wahrscheinlich bin ich es selbst«, gestand mit sanfter Stimme Abraham; »denn Iwan ließ mich allein gehen.«

Er stieg mühsam vom Wagen herunter. »Warum hießet Ihr mich zurückbringen, Herr Richter? Glaubt Ihr, ich wäre nicht allein hingegangen? Ihr brauchtet Euch wirklich keine unnützen Sorgen zu machen«, meinte er freundlich, wie einer, dem es leid tut, andern Sorge und Mühe verursacht zu haben.

Man trat mit ihm ins Gemach. Und als Pawel Pawlewitsch ihm das Aktenbündel aus der Hand nahm, fand er unter die verkreuzten Schnüre gezwängt einen verschlossenen Brief, der vorher nicht da gewesen war. Mit ungelenken, holprigen Buchstaben stand drauf der Name des Polizeioffiziers des Kreisgefängnisses. Der Richter öffnete ihn und las:

»Ich weiß, wo die gestohlenen Sachen sind. Ich weiß auch, wer sie gestohlen. Aber ich sage es nicht.

Iwan Popoff, Gendarm.«

*

Das war wieder eine Überraschung. Sophie Wladimirowna hatte fröhlich aufgelacht, als sie es erfuhr. Ein Schabernack den Herren Richtern, wie der Becher ihrem Bruder. Einer übertölpelte den andern auf die natürlichste und naivste Weise der Welt. Dagegen suchte sie dem Richter zu beweisen, daß solch kindlich ehrliche Verbrecher wie Abraham, die allein mit der Anklageschrift ins Gefängnis wandern, eben keine Verbrecher seien, sondern eher eine Rarität, die man ausstellen sollte. »Wiederum ein Beweis, wie an der guten Natur unseres Volkes systematisch gesündigt wird«, schloß sie.

Der Richter lächelte nur schwach.

»Und Iwan?« wandte er ein.

»Der ist auch nicht so schlimm. Kusma auch nicht. Arme, verwahrloste Teufel sind es. Es ließe sich bei ehrlichem Willen der Regierung aus allen etwas Menschenwürdiges machen. Schließt da unten die Schnapsschenke; dann würde weniger getrunken.«

»Die gehört dem Zaren.«

»Eben das ist es ja. Im Trunk läßt man Rußland seine Schulden zahlen. Als ob wir nicht tausend andere Quellen hätten, dem Staate Mittel zu verschaffen. Aber es ist der Regierung vorteilhafter, die physischen, geistigen und moralischen Kräfte unseres Volkes brach liegen zu lassen und damit das sorgsam gehütete und verschanzte oberste Prinzip zu wahren: Den Absolutismus.«

Der Richter blickte zerstreut in die Luft, blieb aber noch einen Augenblick höflich sitzen. Jeden Moment konnte Alexander Alexandrowitsch, sein Vorgesetzter erscheinen; allerdings war er ein dummer Kerl, aber darum um so gefährlicher; er könnte ihn später als liberal verschreien und seine Karriere konnte zu wackeln beginnen. Nur nicht als das gelten, was man im Grunde nicht war oder wenigstens nicht zu sein wagte.

»Aber so geht es bei uns in Rußland«, fuhr die dicke Frau unbeirrt fort. »Man läßt jahrhundertelang das Volk schuldig werden und schreit dann über seine Korruption. Warum, Pawel Pawlewitsch, sind Sie nicht früher gekommen? Auch in einem höher kultivierten Land wie das unserige würde sich Verbrechen auf Verbrechen häufen, wenn niemand da ist, um zu strafen und zu richten. Und dann wundert man sich über die Revolution. Sie ist das einzige Gesunde, die einzige Gerechtigkeit Rußlands.«

Der Richter stand auf; er hatte genug gehört. Höflich machte er eine kleine Verbeugung, murmelte etwas von Geschäften und verschwand. –

Am Morgen in aller Frühe – der Untersuchungsrichter hatte sich sauber gewaschen, weil der Gehilfe im dranstoßenden Zimmer, dessen Türe offen stand, auch gar mit dem Wasser hantierte – beschloß man nach den berittenen Gendarmen zu schicken. Die sollten die Gegend absuchen. Sophie Wladimirowna war in hohem Zorn. Nun würde dies unnütze Polizeigesindel wahrscheinlich volle zwei Tage ums Gut herumlungern, und auf Schritt und Tritt würde man diesen Gesichtern begegnen; zuletzt würden sie auf höhern Befehl nicht nach dem Silber, aber nach etwaigen Proklamationen fahnden, dann abziehen mit der Erklärung, das ganze Dorf sei ein revolutionäres Nest. Um die beiden spitzfindigen Herren nicht sehen zu müssen, kam sie ganz spät zum Tee und setzte sich hinter den Riesensamovar. »Seelchen« kam zu einer andern Tür herein und wortlos und verstimmt strichen die beiden Damen ihre Brotschnitten. Da meldete auf einmal Waßja den Polizeioffizier. Also mußten die Berittenen bereits draußen sein. Warum brachte aber auch Waßja den Kerl herein? Der konnte doch draußen bleiben. Doch da war er auch schon.

Der Offizier machte eine tiefe, respektvolle Verbeugung. »Ich wollte Ihnen vorerst meine Aufwartung machen, wenn Sie gestatten, Sophie Wladimirowna«, sagte er, und küßte … und küßte ihr die Hand. Die massige Frau wurde glühend rot und blickte wie hilflos um sich. Erröteten denn nicht auch die Wände? Einer der Polizei, dieser von ihr mit aller Macht gehaßten und verachteten Leute, küßte ihr die Hand? Sie hieß mit ganz kleiner Stimme den Offizier sich setzen, goß ihm ein Glas Tee ein, reichte ihm das silberne Brotkörbchen und stand auf. »Entschuldigen Sie einen Augenblick«, sagte sie dem Offizier.

Und was tat sie? Die Frau, deren Leben so reich war, die so viel gesehen, gehört, ertragen hatte, die so viel verstand und so gerne verzieh, diesen Kuß konnte sie nicht verzeihen. Sie ging in ihr Gemach, nahm Seife und Wasser, und rieb fest an der geküßten Hand herum. Dann kam noch ein ganzer Guß Eau de Cologne oben drauf, und erst als die letzte Spur verschwunden zu sein schien, trat sie wieder ins Speisezimmer.

Die Berittenen standen wirklich überall im Hof herum. Als die Kinder nach dem Stall marschierten, um ein neugeborenes Kälbchen, das sie schon zum vornherein »Lilli« getauft hatten, zu sehen, stießen sie mit den Weißröckigen zusammen. Die Pferde standen im Kot herum und sie daneben. Vera, die ihre entsetzliche Puppe mit auf die Stallpromenade genommen hatte, spähte gerade aus, wie sie am allerbesten durch den aufgewühlten Kot zum Stalle gelangen könne. Die andern waren bereits drüben; sie aber wagte es immer noch nicht. Da wurde der kleinen, sehr liberalen Vera auch etwas angetan, das sie noch lange nachher zu hören bekommen sollte. Ein Gendarm nämlich, der ihren vergeblichen Bemühungen zugesehen, kam auf sie zu und nahm mit den Worten: »Kleines Fräulein, ich werde Sie hinübertragen«, Vera auf den Arm und an seine Brust. Nur ihr angebornes Takt- und Anstandsgefühl verbot ihr, mit den Füßen recht gehörig zu strampeln oder dem Beflissenen ins dunkle Gesicht zu schlagen. So aber stemmte sie beide Arme mit der Puppe drunter gegen des Gendarmen Brust, hielt sich so weit wie möglich steif nach hinten, sah ihn unverwandt böse an und wurde übers ganze rosige Gesichtchen ebenso rot wie ihre Mama eine halbe Stunde vorher.

»Ätsch, ätsch, in den Armen der Polizei«, spottete Tanja, kaum stand Vera auf der Erde. Und Vera kam sich in der Tat ganz besudelt vor. –

Am Nachmittag wurde auf Befehl des Gehilfen ein sonderbarer Auftrag ausgeführt. Obwohl jedes Kind im Dorfe wußte, daß das gestohlene Silber längst zum Teil verkauft sei, hatten die beiden Herren sich vom Schreiben Iwans, des Gendarmen, düpieren lassen und beschlossen, den Bach, an den Abrahams Haus grenzte, abzusuchen. So wurden denn die Schleusen aufgezogen, und die Berittenen wühlten den ganzen Nachmittag im Bachbett. Natürlich fand sich nichts.

In den Verhandlungen selbst wurde noch viel abgehört, protokolliert, angeordnet. Lüge und Wahrheit verflochten sich immer enger ineinander, und schuldig waren alle und niemand. Die beiden Herren hatten auch für den Fall keine Zeit mehr übrig; so wurde er denn so rasch wie möglich zu Ende geführt. Nach zwei Tagen zogen sie im rumpligen Tarantaß wieder ab. Das Ergebnis war folgendes:

1. Kusma verlor seine Stelle als Kirchenhüter.

2. Abraham wurde nochmals verhaftet.

3. Der Gendarm Iwan – wurde versetzt.

Und die geraubten Sachen kamen nie mehr zum Vorschein.

Als die beiden richterlichen Autoritäten sich verabschiedet hatten, ließ Sophie Wladimirowna den Geistlichen kommen. Sie überreichte ihm den Becher. Über sein blasses, verhärmtes Gesicht huschte ein frohes, glückliches Lächeln, und als sie ihm erzählt hatte, wie ihr Bruder dazu gekommen, wurde aus seinem Lächeln ein leises, kurzes, aber herzliches Lachen.

Der Abgrund des Übels war ja so tief, daß nur das Lachen eine Brücke darüberschlagen konnte. Gewiß ein Lachen unter Tränen, das wußten sie beide.

»Seelchen« war verreist. Die Reichsduma, diese Duma der besten Köpfe, der Girondisten, wie man sie genannt hat, mit Muramzoff an der Spitze, und Herzenstein, Roditscheff, Petrunkjewitsch als Leader, diese Duma wurde vom Zaren aufgelöst. Die Besten daraus gingen nach Wyborg in Finnland und ließen von da aus ihren Aufruf ans russische Volk ertönen, wohlwissend, daß das Gefängnis ihrer harre. Und sie wanderten denn auch alle hin.

»Seelchen« war bange um Vater und Onkel, die mit in Wyborg gewesen, und begehrte nach Hause. So war Sophie Wladimirowna mit den Kindern allein. Stille, beinahe ohne Unterbrechung, liefen nun die Tage hin. In den Briefen an den Marschall konnte sie ihm mitteilen, alles sei ruhig, und Jakob noch nicht da. Sie selbst traf schon Anstalten zur Abreise nach dem Süden; man packte, und so wie sich die Kinder auf den Sommer gefreut, freuten sie sich jetzt auf den Winter in der Krim. Der Herbst machte sich auch bemerkbar im leise fallenden Laub und im großen bösen Sturm, der in den letzten Tagen um das Haus getobt. Es gab auch schon recht kühle Tage, wo man Shawls und Mäntel aus dem Schranke holte und sich fest einwickelte. Auch saß man nicht mehr an den Fenstern, sondern im Winkel im großen Armsessel und nistete sich recht tief darin ein. Und: »So schließt doch auch die Tür!« hallte es ein paar Mal des Tages durch alle Räume. – Noch einige Tage und das Gut wurde verschlossen, die Fenster vernagelt, und nur der Hüter mit seiner Familie blieb im »Flügel« zurück.

Da traf unerwartet der Marschall aus Moskau ein, statt, laut Verabredung, in Moskau seine Schwester zu erwarten, kam er selbst, um zu allem zu sehen; denn er behauptete, seine Schwester sei auch in der Beziehung sorglos. Außerdem war Jakob noch nicht da. Der Marschall sah wohl und ruhig aus, hatte den Kindern ganze Berge Geschenke mitgebracht, erzählte allerlei und behauptete bloß, er fühle deutlich, etwas mit seinem Herzen sei nicht in Ordnung; er werde sich in der Krim untersuchen und behandeln lassen.

Am Morgen der Abreise sammelten sich alle Dienstleute des Gutes vor der Balkontreppe. Es ging ein eiskalter Wind; das konnte schlimm werden in den offenen Wagen, Sergey war so leicht erkältet. Tanja hatte sich bis an die Nase in ein warmes Tuch gewickelt und schleppte einen Korb Äpfel zum Privatgebrauch. Vera drückte ihre »Mamka« zärtlich und warm in die Wagenecke. Der Marschall stülpte den Mantelkragen so hoch als es ging. Man setzte sich zurecht. Im Chor grüßten die Dienstleute und neigten sich tief. Waßja kletterte auf den Bock, und die Wagen trugen Sommer und kindlichen Frohmut die Tannenallee hinunter.

Da unten im Dorf standen die Leute herum und grüßten. Der alte Pope zwängte wieder sein greises Haupt zum Fensterchen hinaus. Genia schwenkte traurig seine Seminaristenmütze. Nun fuhr man am Ufer des Baches entlang, wo der Wind über das Wasser strich und kleine Wirbelchen aufwarf. Dann fuhr man ein Stück durchs offene Land, wo die kalte Luft von allen Seiten blies. Waßja auf dem Bock drehte öfters den Kopf nach hinten, weil ihm der Atem ausging. Der Staub unter den Rädern stob in breiten Schwaden auseinander. Das Laub fiel und fiel; die Äste schüttelten sich, rüttelten sich; der Winter schien schon oben zu sitzen. Der Marschall mußte den Klemmer herunternehmen, der wollte nicht halten. – Nun die bekannte alte Polterbrücke. Dort weit unten sah man das Gut, auf dem »Seelchen« wohnte. Aller Augen strengten sich an, die junge Frau zu entdecken; denn sie hatte versprochen zu winken. Da richtig! Oben im Giebelfenster schwenkte jemand ein großes, weißes Tuch. Alle Hände, Taschentücher, Mützen kamen in Bewegung. Das flatterte wie kleine Segel und bauschte sich auf. Natascha verlor ihr Tüchlein, und der Wagen mußte halten. – Dann fuhr man in den Wald hinein. Große, breitästige Kiefern, weißrindige Birken und eine mächtige Eiche, die die Wurzeln bis tief in den Weg gehen ließ, so daß die Wagen darüber holperten. Immer schmaler der Weg, dann eine Lichtung, auf der ein einziger Tannenbaum steht.

»Siehst du, Mischa, den mächtigen Raben dort oben?« wendet sich Sophie Wladimirowna an ihren Bruder. »Er spannt die Flügel aus und sieht beinah so groß aus wie ein Geier.«

Der Marschall setzt den Klemmer auf und sieht in die kalte Luft. Dann gleitet sein Blick abwärts, den Ästen der Tanne entlang, dem Stamm; er gelangt auf den Weg. Da steht jemand. Nein, er geht. Nein, er steht: Ein Mann im roten Hemd, blond, struppig das Haar.

Ist das nicht? … fährt es ihm blitzschnell durchs Hirn; sein Atem droht stille zu stehen.

»Jakob!« ruft Waßja vom Bock herunter. Ja, er ist es. Der Marschall fühlt es am Hämmern in seiner Brust, an den Händen, die eiskalt werden, am Zittern, das ihm über den ganzen Körper geht.

Jakob ist nicht allein. Neben ihm schreitet, im Mantel des Toten am Wege, Wassily. Er war ihm entgegengegangen und kam sich wie ein ehrenvoller Deputierter des Dorfes vor.

Jakob blickte mit gesenkter Stirn zu den Wagen hinüber. Jetzt nähert man sich ihm. Kreidebleich ist der Marschall. Und Jakob flucht nicht, droht nicht; er bleibt stehen und grüßt beinah demütig zu Sophie Wladimirowna hinüber. Diese erwidert seinen Gruß.

*

Drei Wochen waren verstrichen. In der Krim, wo man die Villa wieder bezogen hatte, blühten die Rosen, und der Himmel spannte sich blau über die milde, duftende Luft. Von einem Sommer in den andern war man gekommen. Der Winter, der lag oben im Norden und brauste wohl mächtig schon ums verlassene Gut. – Und im Norden da war es auch kalt. Winterliche Rauchschwaden stiegen in die fröstelnde Luft, und die ersten Flocken schienen hoch oben in ernster Beratung: Fällt man? Fällt man nicht?

Jakob, für den das Dorf, wie üblich, Bürgschaft vor der Behörde übernommen, eine Art Vormundschaft über sein künftiges Verhalten, war also wieder da. Frohlockend hatte ihn der dumme Wassily zurückgebracht. Jakob hatte Stephan die Hand gereicht und ihm versprochen, recht sein zu wollen. Er hielt sich denn auch gut, zwei Wochen lang; er arbeitete und blieb nüchtern. Aber da war es kalt geworden; ihn fror, und mit dem Frieren kam der Schnaps-Durst. Mit einem Schlage stand wieder Jakob der Lästerer, Jakob der Mörder in der Hütte. Er prügelte seine Kinder; er schlug sein Weib Maria, bis ihr eines Tages das Blut aus dem Munde rann.

Da gedachte sie des Versprechens, das sie sich und dem Richter gegeben. Und es wuchs und ward mächtig in ihren Gedanken, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Wenn niemand da war, sie zu schützen, ihr zu helfen, so half sie sich selbst. Die Worte, die sie damals dem Richter gesagt, waren zugleich Bitte und Drohung gewesen. Man hatte nicht auf sie gehört. Sie wartete nur noch ab, bis der Augenblick da war. Im Schlaf würde sie ihn erschlagen; denn nur im Schlaf konnte man sich einem solchen Ungeheuer nahen. Es mußte gelingen, die Axt war schwer, und Gott würde helfen. –

Eiskalt zog es um die Hütte. Der Hunger lauerte in allen Ecken; groß, angstvoll saß er in den Augen der Kinder. Maria machte sich draußen unter dem lottrigen Schuppendach zu schaffen. Jakob war nicht da. Sie nahm Birkenreiser; es dunkelte. Da nahm sie auch die Axt mit sich in die Stube. Sie legte sie ins Bett unter die dünne Decke. Gegen die Wand gedrückt, schlief da bereits ihr Jüngstes. Mit dem Rücken legte sie das Beil gegen das schlafende Kind. Dann heizte sie ein, sandte den ältesten Jungen nach Brot und verteilte es in regelmäßige Stücke.

»Nun zur Ruhe, ihr Kinder!«

Der Ofen wurde warm. Der neunjährige Junge kroch hinauf auf sein Lager; er schlief ganz oben auf dem breiten Ofen und schlug oft den schlaftrunkenen Kopf an die Decke. Der Vater, der hatte sein Nachtlager unten auf dem breiten Ofenvorsprung, da wo der braune Schafspelz lag.

Maria goß Öl in das rote Lämpchen vor dem Heiligenbild. Das Flämmchen knisterte und warf einen schwachen, warmroten Schein auf all das Elend in der Hütte.

»Heilige Mutter Gottes, hilf mir, verlaß eine Unglückliche nicht«, betete Maria auf den Knien. Dann legte sie sich, im dunkelblauen Kattunrock, so wie sie war, auf ihr Lager. Kalt fühlte sich die Axt an ihrer Seite; das Kind regte sich im Schlaf; da zog die Mutter die Mordwaffe dicht an sich heran, die Hiebfläche unter ihre Schulter.

Lange lag sie so und durfte sich nicht bewegen.

»Hilf mir, Jesus Christus!« flüsterten immer wieder ihre Lippen. Die Fenster klirrten; die Tür krachte im Luftzug; immer tiefer sank die Nacht.

Maria war eingeschlafen, fest eingeschlafen. Da – hatte sie nicht Jakobs Schritte deutlich an der Schwelle gehört? – Nein, es war bloß die Nacht, die stürmende, kalte Nacht.

Wieder entschlief sie. Immer noch kein Jakob da. Wo blieb er denn? Es mußte ja längst über Mitternacht sein. Sie stand auf, sah durchs Fensterchen. Dämmerte es nicht bereits? Sie schob, in einen Knäuel zusammengeballt, das zerrissene Röckchen ihres zweitältesten Mädchens in ein großes Loch in der Scheibe, da, wo die scharfe Luft auf den Kopf der Kleinen zielte, so daß ihr kurzes Kraushaar aufwirbelte. Dann legte sie sich hin. Und schlief nochmals fest ein. Es dämmerte schon. Fahle Morgenschatten schlichen tastend in die Stube. Da endlich kam Jakob dröhnenden Schrittes. Die Tür knarrte.

»Weib!« rief er trunken in das rötliche Dunkel hinein.

Sie harrte atemlos, mit geschlossenen Augen, die Axt unter dem Arm.

»Maria, Mutter Gottes, hilf«, betete lautlos ihre unglückliche Seele.

»Weib!« rief er nochmals. Wieder keine Antwort. Da taumelte er nach dem Ofen, rollte den Schafspelz zusammen, schob den Ballen an den Rand des Ofentrittes und legte sich drauf. – Nun schlief er, der betrunkene Mörder. Er schlief schwer und schnaufte.

Noch wartete mit weitoffenen Augen sein Weib. Dann faßte sie mit festem Griffe die Axt. Einen Augenblick noch stand sie vor dem Schlafenden. Er regte sich nicht. Da hob sie mit beiden Armen das Mordbeil und schlug auf ihn los, ohne Reu und Zittern, mit vollem, ruhigem Bewußtsein. – Der Schädel krachte, und ohne zu mucksen, wie der Erschlagene neben der Birke, endete sein Mörder.

Nun wandte Maria die Axt um und schlug den gewesenen Menschen da in Stücke. Das Blut rieselte in kleinen Bächen über den Ofenrand hinunter auf den Boden; ihre nackten Füße standen in warmem Naß.

Oben auf dem Ofen regte sich etwas. In starrem Entsetzen hatte sich der Junge aufgerichtet und »Mutter!« sagte er, »was tust du?«

»Ich töte deinen Vater!« entgegnete hart Maria und hob das blutbesudelte Antlitz zu dem Kinde empor.

Und mit weitoffenen Augen, wortlos, sah der Knabe zu, wie die Mutter den Vater mordete.

Und als das Werk getan, wusch Maria die Hände nicht vom Blute rein; sie wischte nur leichthin über das Kattunkleid. Dann nahm sie die blutige Axt und schritt wie sie war, halbgekleidet, auf nackten, festen Füßen zur Tür hinaus.

Der Morgen war bereits da, und siehe, die ersten Flocken waren gefallen. Sie stellte sich neben die Hüttentür in den Schnee mit ihren nackten Füßen und wartete. Bald mußte das Dorf erwachen; dann würde sie es dem ersten sagen, der des Weges kam. Früher wollte sie nicht wieder in die Hütte hinein.

Da öffnete sich leise die Tür. Ihr kleiner Junge war vom Ofen heruntergeglitten, über den toten Vater hinweg, und trat mit blutigen, dünnen Höschen zu ihr hinaus. So standen die beiden im frischgefallenen Schnee, die Axt zwischen ihnen und warteten. –

Und da kam wieder Wassily, der Armseligste, gegangen, den grauen Mantel bis oben fest zugeknüpft.

»Ich habe einen Menschen erschlagen«, sagte ruhig Maria.

*

So hatte die Unglückliche sich selbst Recht und Gerechtigkeit verschafft. Man begriff ihre grausame Tat; das ganze Dorf übernahm einstimmig Bürgschaft für sie. Maria wurde nicht bestraft …

Der Marschall aber starb im Frühjahr unerwartet am Herzschlag.

*


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