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Ninas Geburtstag stand bevor. Das Naturtheater auf der Waldbühne sollte an diesem Tage mit Rudolfs »Jo« eröffnet werden. Aber Neubauer hatte plötzlich Bedenken erhoben. Die Vorstellung dürfe nicht unfertig heraus. Für die »Funkenturm«-Gesellschaft hänge zu viel davon ab. Die Vorbereitung sei zu kurz gewesen. Vielleicht kämen auch Umbesetzungen in Frage. Nur wirkliche Individualitäten dürften sich an eine solche Aufgabe heranwagen, mit deren Erfolg die neue dramatische Kunst stehe oder falle. Individualitäten! Individualitäten! hatte er in der entscheidenden Regiesitzung gerufen, und falls sie nicht da seien, so müßten sie eben gesucht werden, und wenn es hundert Jahre dauerte. Was liege auch schließlich an einem kleinen Aufschub, angesichts der Tatsache, daß Jahrtausende vergangen seien, ehe eine »Jo« hätte konzipiert und geschrieben werden können.
Tobias Benvoglio, der Direktor der Waldbühne, hatte zwar blutige Tränen geweint, denn wo wolle man bedeutendere Individualitäten auftreiben als die Mitglieder seiner Künstlertruppe (»Wächst euch ein Kornfeld auf der flachen Hand?« hatte er seine tiefbewegte Rede geschlossen), aber der Finanzminister gab eben doch wieder den Ausschlag, und auch Rudolf trat schließlich auf Neubauers Seite. So war die »Jo«-Premiere vorläufig um vierzehn Tage verschoben worden. In der Zwischenzeit sollten noch weitere Proben stattfinden. Die Besetzungsfrage werde sich dann von selbst klären. Zur Eröffnungsvorstellung um die Monatsmitte wurde »Tasso« bestimmt.
In dem kleinen Künstlerkreise hatte der Beschluß der Festspielleitung Aufregung hervorgerufen. Man fragte sich, welches denn die eigentlichen Absichten Neubauers seien? War es nur ein Manöver, um sich der Aufführung der »Jo« überhaupt zu entziehen? Schon manches Stück hatte sich auf den Proben als Niete erwiesen, das man nach der Buchlektüre für eine Offenbarung gehalten hatte. Es war besonders Felix von Keßler, der diesen Standpunkt mit viel Humor und Witz vertrat. Keßler, Herausgeber der Zeitschrift »Orkus«, Organs für Kunst und Menschlichkeit, hatte sich mit seinem Freunde und Mitherausgeber Friedemann Schilling der Truppe Benvoglios als freiwilliger literarischer Beirat angeschlossen und teilte, obwohl er sonst über die Maßen verwöhnt war, ohne Murren das primitive Biwak des Theatervölkchens in der Waldschenke.
Ganz anders als Keßler urteilte Friedemann Schilling. Nach ihm steckte Bartholdy selbst hinter der Geschichte und Neubauer war nur dessen vorgeschobener Strohmann. Warum und zu welchem Zweck, darüber wolle er sich jetzt nicht weiter auslassen. Es werde sich bald genug herausstellen. Interessante Dinge gingen hinter den Kulissen vor.
»Wenn mir die ›Jo‹ fortgenommen wird,« erklärte Barbara Frantzius, »so streike ich. Mögen sie sich dann auch eine Leonore nach ihrem Herzen suchen.«
Sie war eine große stattliche Blondine, die an einem angesehenen Hoftheater engagiert war und die Waldbühne als Ferienunterhaltung betrachtete. Auch die gute Gage war nicht zu verachten, und das Erscheinen erster Kritiker zur »Jo«-Premiere konnte den Ehrgeiz reizen. Aber eben dies machte auch den Besitz der Jo-Rolle zur Kabinettsfrage, denn man vergrub sich nicht hierher in den Urwald, um dann bei dem entscheidenden Ereignis übergangen zu werden.
Ethelried Maria von Borsdorff, der artistische Sekretär der Waldbühne, ein früherer Offizier, der auf verschiedenen Kriegsschauplätzen Afrikas und Asiens sich tapfer geschlagen hatte, verstieg sich sogar zu der Drohung, er werde den, der Fräulein Frantzius die Rolle abnehme, ein bißchen am Zwerchfell kitzeln. Dabei zog er den handlichen Revolver, den er stets bei sich führte, aus der Tasche und sagte, indem er den blanken Lauf blitzen ließ:
»Mit dem Ding da habe ich fünf Hereros und dreizehn Boxer hinüberspediert. Wer Lust hat, seine Bekanntschaft zu machen, braucht sich nur zu melden. Man sieht es dem kleinen Mund gar nicht an, was er für entscheidende Sachen zu sagen hat.«
Und er setzte den bewußten Mund an die Schläfe, dicht neben dem rechten Ohr, als ob es da etwas ganz Besonderes zu besprechen gäbe, und knackte verdächtig mit dem Hahn, so daß Barbara Frantzius, die gerade vor ihm stand, einen lauten Schrei tat und seinen Arm zur Seite riß.
Felix von Keßler behauptete nachher im engeren Kreise, daß alles nur Komödie sei, um Effekt auf Barbara Frantzius zu machen.
»Er hat ja nicht den Mut. Sonst hätte er ja längst Schluß mit sich machen müssen.«
Aber Friedemann Schilling, der stets die entgegengesetzte Meinung vertrat wie sein Freund, bewies mit der ihm eigenen haarscharfen Dialektik, daß man bei Ethelried Maria auf alles gefaßt sein müsse.
»Sollte eine Kraftnatur wie Borsdorff, dessen große Lebensglanznummer der Abschuß von Hottentotten und Boxern war, jetzt zu Hause vor den einheimischen Kaffern so besonderen Respekt haben? Und sollte ein solcher Herrenmensch nicht auch die logische Konsequenz ziehen und kaltblütig den Revolver auf sich selbst abdrücken, wenn ihm aus dem Unterbewußtsein einmal die tragische Erkenntnis des eigenen Kafferntums aufdämmert?«
Das waren Sätze, die wie Geschosse von Wurfmaschinen trafen. Selbst Keßlers berühmtes Lächeln der Ironie versagte dagegen.
Einstweilen war das alles nur wie Wellengekräusel auf dem See, wenn sich das erste Lüftchen aufmacht. Am nächsten Tag war die Oberfläche wieder glatt, und die verschiedenen Nervenbündel, wie man die anderthalb Dutzend Individualitäten des Kreises wohl nennen konnte, klangen in Molltönen zusammen wie ein Konzert von Äolsharfen.
Im stillen wurmte es freilich bei Barbara Frantzius weiter und trieb sie, der Sache auf den Grund zu kommen. Das große stattliche Mädchen mit den rötlichblonden Haarflechten, den rehbraunen Augen und der scharfgeschnittenen assyrischen Nase war bei allem äußerlichen Sichgehenlassen und trotz einer gewissen weichlich preziösen Blasiertheit doch von brennendem Rollenhunger. Sie war einst mit Nina Wagner zusammen an den »Dionysien« engagiert gewesen. Beider Laufbahn hatte ungefähr gleichzeitig begonnen. Aus den gemeinsamen Anfängen und Erinnerungen schrieb sich eine Art von Freundschaft her, soweit Frauen und nun gar Schauspielerinnen deren fähig sind. Man wußte so dies und jenes voneinander, was hübsch und lustig war und Dritte nichts anging. Auch die Verschiedenheit der Rollenfächer hatte verbunden. Barbara Frantzius hatte als jugendliche Salondame angefangen, war nach und nach ins Heroinenhafte hineingewachsen. Nina Wagner hatte nach dem ersten Umhertasten das von Brandstädter so getaufte neue Fach der »Ersten jugendlichen Perversen« mitschaffen helfen. Ihre große Glanzrolle war die Galathea in Brandstädters berühmter Tragikkomödie geworden.
Auch nach dem Ende der »Dionysien«, da die Pfade sich trennten, Barbara Frantzius an das mitteldeutsche Hoftheater übersiedelte und Nina Wagner nach Dietramsried ging, war man in lockerer Verbindung geblieben. Als Benvoglio unter Ewalds und Neubauers Auspizien seine Truppe zusammenstellte, hatte Nina für die einstige Freundin gesprochen. Barbara Frantzius wußte das und dankte es Nina in ihrer Art, und doch kam sie jetzt nicht über das Gefühl hinweg, als ob diese merkwürdige Verschiebung der »Jo«-Premiere und das auffallende Gerede von Umbuchungen irgendwie auf Nina zurückzuführen sei, die vielleicht die Jo selbst spielen wolle.
»Wäre es denn ein Wunder?« sagte sie eines Abends vor der Waldschenke zu Borsdorff. »Wer einmal mit Leib und Seele dabei war, den läßt es doch nicht los. Könntest du dir denken, Liebling, daß ich nicht mehr auf der Bühne stehen sollte, nachdem wir verheiratet sind?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich dich dann noch einen Schritt auf die Bühne tun lasse!« erwiderte Borsdorff, der von jähzorniger Gemütsart war. »Sowie mein alter Herr tot ist – auch Obersten a. D. müssen ja mal dran glauben! – und du meine ehrliche Frau bist, wird das Komödiespielen an den Nagel gehängt, und wer dir etwas anderes in den Kopf setzen will, fliegt achtkantig die Treppe hinunter! Der Name Borsdorff gehört nicht auf den Theaterzettel. Der Name Borsdorff verpflichtet. Merke dir das, mein Schatz!«
»Äffchen!« gab Barbara Frantzius zurück und streichelte zärtlich seinen rauhen Handrücken. »Gleich wieder die Zornfalte!«
»Dann reize man mich nicht!« knurrte Borsdorff und seine stahlblanken Augen funkelten wie der Lauf seines Revolvers, der ihm aus der Rocktasche guckte. »Es gibt Dinge, in denen ich keinen Spaß verstehe. Ich bin kein Herr von Ewald. Ich bin Ethelried von Borsdorff und trete für meine Sache ein, mit der Waffe in der Hand.«
»Bin ich deine Sache?« fragte Barbara mit halb geschlossenen Augen.
»Das bist du!« schrie Borsdorff und quetschte ihr Handgelenk, daß sie leise wimmerte. »Meine Frau ist meine Sache! Meine Sklavin! Ich töte dich, wenn du nur einen Gedanken für einen andern hast!«
»Und dich? Was machst du?«
»Ich schieße erst ihn, dann dich, dann mich über den Haufen!« »Wird deine Hand auch nicht zittern?«
»Sei ohne Sorge! Ich treffe das Pik-As auf hundert Schritt. Ich habe mit dem Ding hier ein Dutzend Boxer erledigt.«
»Was für ein wunderschöner Film!« dachte Barbara. »Der Liebhaber und die Geliebte schwach bekleidet nebeneinander. Der Gatte als Rächer seiner Ehre über ihnen beiden zusammengebrochen.« Sie schloß entzückt die Augen. »Wenn wir zu Hause sind, dann wird sich alles, alles finden!« wollte sie plötzlich trällern, aber sie unterdrückte die Anwandlung und nahm den früheren Faden wieder auf.
»Zwischen uns ist das ja auch was anderes. Aber denke dir die Ewald. Ihre ganze Ehe ist doch nur eine Attrappe. Ist es da ein Wunder, daß das Theaterblut wieder spukt? Und dann noch eins: Sie ist doch die Jo. Auf der Bühne würde ihr die Rolle ja nach meiner Ansicht nicht liegen. Aber im Leben ist sie die Jo. Bartholdy hat sie unbedingt als Modell gehabt.«
Nach dieser Unterhaltung im Schein der Windlichter vor der Waldschenke beschloß Barbara Frantzius, bei ihrer Freundin Nina einmal selbst auf den Busch zu klopfen. Während eines Spazierganges, zu dem sie sie abholen kam – es war übrigens der gleiche, wo sie dann an der Hertahöhe Brandstädtern begegnet waren –, begann sie mit ihrem unbefangenen, ein wenig müden Plauderton, der nur manchmal aufzuwachen, Farbe anzunehmen schien, ein Gespräch von alten Zeiten. Was waren das für Tage gewesen! Da war man jung und leichtsinnig. Und man durfte es sein. Man war ja niemandem Rechenschaft schuldig. Es war schön, so vogelfrei in der Welt zu sein, sich von jedem, der einem gefiel, nehmen zu lassen. Ob Nina noch an den spanischen Stierkämpfer dachte, den mit der schwarzen Stirnlocke und der entzückenden Narbe über dem linken Auge, um den sie beide sich beinahe gerauft hätten? Wie dumm man doch war! Als ob das das Glück bedeutete! Ein Toreador! Nun, sie hatte es ja kennengelernt, dieses Glück! Sie wußte, was dahinter steckte. Und doch bedauerte sie nichts. Unpraktisch aber schön! Das war ihr Leben damals. Nina war ja immer die Klügere. Nina hatte stets gewußt, was sie wollte, Sorgius, Brandstädter, Neubauer... Ja, ja! So kam man zu was. Wer von ihnen allen hatte eine solche Karriere gemacht! Sie saß in der Fremdenloge und ließ andere Komödie spielen. Ob sie es denn gar nicht mehr reizte? Wenn sie sich selbst in Ninas Lage versetzte... Bei Gott! Sie wüßte nicht, was sie täte. Ob sie nicht mit beiden Füßen auf die Bühne spränge und die andere, die ihr ihre Rolle wegspielte, an den Haaren herunterzöge.
»Ich wäre imstande auf ihr herumzutrampeln!« schloß sie.
Nina war wortkarg und nicht sehr gelaunt. Doch schien es, daß sie solche Stimmungen kannte. Es steckte wohl in jedem Menschen. Sie hätte auch schon mal den oder jenen ermorden können. Was lag auch dran! Man tat es ja doch nicht. Niemand hatte, was er wollte. Was sie selbst betraf... Es sah aus, als ob sie wunder was für ein Glück gemacht habe. Aber wenn man es hatte... Sie sei gern bereit zu tauschen...
»Also möchtest du zur Bühne zurück?« forschte die andere. »Warum immer das Theater?« meinte Nina. Man könne es ja auch mal auf andere Weise probieren. Manchmal habe sie einen Drang in die Welt hinaus! Statt dessen sitze man hier unter den schrecklichen Bäumen. Und das Leben verrinne. Es sei wie bei diesen fürchterlichen Uhren, wo man ein ganzes Pendelwerk, eine Art von Spindel oder dergleichen, sich erst nach rechts, dann nach links bewegen sehe. Jede solche Bewegung sei ein Stückchen Leben. Mit jeder Drehung komme der Tod einen Schritt näher. Es werde einem alles so anschaulich dadurch und dann überfalle sie oft eine Angst...! Auf solche Gedanken bringe einen die Einsamkeit.
»Was soll man daraus machen?« grübelte Barbara. »Spekuliert sie nun auf die Jo oder spekuliert sie nicht?«
Einen klaren Beweis für ihren Verdacht ergaben Ninas Reden ja nicht. Aber widerlegten sie ihn denn? So blieb die Stimmung im Bereich der Waldbühne unsicher und wetterdrohend.
Es war nur natürlich, daß Rudolf Bartholdy von diesen Strömungen Kenntnis bekam. Friedemann Schilling gehörte nicht zu den Leuten, die den Mund zu halten pflegten, und Felix von Keßler hatte eine zu große Freude an der »Revolutionierung der Geister«, wie sein Schlagwort lautete, als daß er seinen Freund Bartholdy nicht sofort auf die bestehende Gärung und auf kommende Explosionen hingewiesen hätte. Auch Benvoglio, dessen sonorer Herzenston und joviales Wohlwollen in der ganzen Bühnenwelt sprichwörtlich waren, machte der Bewegung seines Gemüts Luft und verhehlte dem jungen Dichter nicht, daß die »Atmosphäre schwanger sei von keimenden Konflikten« und daß er für nichts einstehen könne, wenn wirklich die Rolle der Jo in andere Hände gelegt werden sollte.
Rudolf hatte nur ein zerstreutes oder amüsiertes Lächeln für alle diese Aufregung. Sie kam ihm vor wie der Steinwurf im Ententeich. Sein ganzes Werk, diese »Jo«, die ihm vor kurzem noch der Inbegriff des Lebens gewesen war, erschien ihm wie eine entkernte Nuß, nachdem die Schauspieler sich darüber gestürzt und den letzten Rest von Geist daraus vertrieben hatten.
Andere Sorgen bedrückten ihn. Seine Mutter, die er über alles liebte, in der er so etwas wie die Frau an sich, das Ideal der Heiligen, der Madonna verehrte, hatte in letzter Zeit ihr Benehmen gegen ihn sehr verändert. An Stelle des herzlichen, kameradschaftlichen Tons, den er von ihr gewohnt, war eine merkliche Kühle getreten. Bisher hatten sie alle Vorkommnisse und Fragen des täglichen Lebens miteinander besprochen und, so kräftig oft die Meinungen zusammenprallten, schließlich doch immer mit einem Scherz oder einem Kosewort sich geeinigt. Jetzt ätzte aus den mütterlichen Worten eine früher nicht gekannte Schärfe und Gereiztheit. Geheime Stacheln und Spitzen steckten in ihren Reden, an denen man sich unversehens ritzte. Ein leiser Unterton von... wie sollte man es nennen? Ja, es war schon so, man mußte es sich eingestehen: ein Unterton fast von Verachtung streifte ihn manchmal in ihrem Blick, ihrem Benehmen, in der Art, wie sie zu ihm sprach. Das Vertrauen zwischen ihnen beiden war fort, das gegenseitige Verstehen, das selbstverständliche Aufeinandereingehen, das nicht viele Worte braucht, mit kurzen Andeutungen, oft nur mit einer Miene, einem bedeutsamen Schweigen ganze Gedankenreihen zusammengießen und ablaufen läßt wie gut geölte Treibriemen und Räderketten.
Rudolf war nicht die Natur, einen solchen Zustand des Mißmuts, der Spannung, der Schwüle lange zu ertragen. Er brauchte Aussprache, Entladung, Donner und Blitz, damit nur wieder blauer Himmel komme. Aber da zeigte sich die Veränderung im Wesen der Mutter am deutlichsten: sie wich ihm aus, sooft er versuchte wieder Fühlung zu gewinnen, machte Umschweife, die ihrer geraden Natur nun schon gar nicht anstanden, verlor sich in gequälten Kleinigkeiten. Und wenn er seinen Arm um sie legen, seinen Kopf in ihre Hände drücken wollte, um sich das störrische Haar von ihr streicheln zu lassen wie sonst, so stieß sie ihn nicht zurück, wehrte nicht ab, aber in der Art, wie sie seine Berührung duldete, war so etwas wie ein ganz leiser Widerwille, wie die geheime Scheu jemandes, der sich zu beschmutzen fürchtet, es dem andern aber nicht zeigen möchte und stumm seinen physischen Ekel verbirgt.
Das war kränkend und mußte nun wieder ihn verbittern. Als ob er nicht gemerkt hätte, worauf das hinausging. Es war um Ninas willen, um seiner und Ninas Beziehungen willen. Was er vermutete, bestätigte sich auch bald durch Andeutungen, die denn doch nicht unterlassen werden konnten: seine Mutter wußte von dieser Liebschaft, dieser Leidenschaft, Passion... Wie sollte er es nennen? Sie ahnte sie nicht nur, wie bisher. Nein, sie wußte ganz bestimmt darum, ganz Bestimmtes da, von. Es mußte ein Augenblick gekommen, mußte eine Tatsache eingetreten sein, von dem an und durch die sie alles erfahren hatte. Eine böse Geschichte! Hatte Nina selbst am Ende ...? Er hatte sie schon mehrmals darum fragen wollen, aber wenn er ihr gegenüberstand, war ihm der Mund wie zugewachsen. Wie kam das nur? Es schien, als habe sich etwas Fremdes, Feindliches zwischen sie eingeschlichen. Wo war der glückliche, heitere, verliebte Ton ihrer ersten Zeit? Es lag wie eine trennende Luftschicht zwischen ihnen. Man redete wie am Fernsprecher miteinander. Man hielt sich im Arm und ein drittes war mit dabei, das sich nicht benennen, nicht fassen ließ. War es Brandstädters dunkles Fluidum, was so beengend, so verdüsternd wirkte? Auf sie alle! Auf Nina. Auf seine Mutter. Auf Ewald. Ja, auch er war verwandelt. Wußte er vielleicht auch schon mehr als gut war? Da waren Bemerkungen Ewalds, neulich am Frühstückstisch ... Sehr anzüglich! Sehr verdächtig! Sehr wissend! Sonderbar nur, daß Nina so unberührt davon schien! Aber war sie es denn in Wirklichkeit? Stammte nicht vielleicht gerade dieses fremde Wesen an ihr aus dem Schuldgefühl gegen Ewald? Aus dem Bewußtsein, daß er sie erkannte, durchschaute? Und daß er seine Anstalten danach träfe? Daß irgendein Verhängnis sich vorbereite? War es dies, was sie quälte und ihre Seele mit Bangen erfüllte? Oder bei Gott und allen Teufeln, was sonst? Sie ging umher, sprach, handelte, aß und trank, wie irgendein anderer Mensch, aber wenn man näher hinsah, so merkte man, daß dies alles wie schlafwandelnd geschah, mit starrer Pupille, mit den Bewegungen einer Automate, die von unsichtbaren Drähten gelenkt wird. Durfte man sie aus diesem Zustand wecken? Brachte man sie dadurch nicht erst recht in Gefahr?
Sie entzog sich ihm seit Tagen, seit einer Woche vielleicht. Man mußte rechnen: ja, das war seit jener schwülen Stunde im Pavillon, nach der des nächsten Morgens Ewald die vieldeutige und verfängliche Bemerkung fallen ließ von den »Stimmen der Nacht«. Kein Zweifel! Das stand im Zusammenhang miteinander, Ewalds Anspielung und Ninas Ausweichen und Fernbleiben. Sie hatte sich ihm seit einer Woche mit allerlei Vorwänden und Scheingründen entzogen. Bedurfte es noch eines Beweises, daß der eigentliche Grund in jener Andeutung Ewalds lag, die so viel Wissen um den wirklichen Stand der Dinge verriet?
Also sie alle hier wußten etwas und jeder wußte womöglich um das Wissen des andern. Er allein ging herum und wußte nichts. Nicht Nina schlafwandelte. Er selbst tat es. Er war der Träumer, der Ahnungslose, der Herr mit dem Tintenklecks im Gesicht, auf den alle sehen, über den alle lachen, sich zutuscheln, und er selbst wandelt gespreizt und feierlich mit Hohepriestermiene dahin. Unfreiwillige Komik! Er hatte ein starkes Gefühl dafür bei andern. Aber bei sich selbst? Die ganze Eitelkeit seiner sechsundzwanzig Jahre bäumte sich dagegen auf. Er beanspruchte ernst genommen zu werden. Aber nicht einmal der, der am meisten Ursache dazu gehabt hätte, schien es zu tun. Warum handelte Ewald nicht, wie es sich gehörte, wie es Sitte und Brauch war, wie der Kodex es vorschrieb? War er so gering, ein solches Nichts, daß man ihm als Dummenjungenstreich nachsah, wofür man jeden andern niedergeknallt hätte? Nein! Er verlangte sein Recht. Hier war sein Leben. Dort war seine Schuld. Die Gewichte wogen gleich. Er wollte vor Ewald hintreten und Auge in Auge ihm sagen, wie die Dinge stünden. Mochte dann geschehen, was wollte!
Aber durfte er das? Wohin hatte er sich wieder verstiegen? Wer bürgte dafür, daß sich auch alles so verhielt, wie er sich's zusammengereimt hatte? Mußte er nicht vor allem an Nina denken? Die Rücksicht auf ihr Schicksal ging über jede andere Rücksicht. Warum befragte er sie nicht? Der einzige Weg, der offen war, führte zu ihr.
»Nina! Warum sehe ich dich nicht mehr?« redete er sie eines Morgens mit raschem Entschluß an, als sie vom Frühstückstisch aufgestanden und die andern, Frau Bartholdy, Brandstädter, Ewald ihnen voraus in den Garten gegangen waren. »Unser Pavillon wartet. Der alte Sebastian steht Posten. Aber Frau Nina erscheint nicht.«
Nina, die wieder sehr bleich war, nur einen merkwürdigen Glanz in den meergrünen Augen hatte, erwiderte nichts, schien vielmehr ihren Schritt zu beschleunigen, als ob sie ihm entschlüpfen wolle.
Er faßte verstohlen ihre weiche Hand und flüsterte:
»Ninerl! Was ist das? Warum kommst du nicht? Ich verzehre mich nach dir!«
Sie wandte ihm hastig ihr Gesicht zu, in dem ein unruhiges Flackern lichterte.
»Ich komme nie mehr zu dir ... Bilde dir nicht ein, daß ich dich liebe ... Ich liebe meinen Mann. Ja! Es ist so. Ich liebe meinen Mann.«
»Nina ...?!«
»Das glaubst du wohl nicht? Das verletzt deine Eitelkeit? Glaube es nur, mein Freund. Es muß aus sein zwischen uns. Ich komme nie mehr zu dir.«
Er achtete kaum auf die Bedeutung dessen, was sie sprach. Er hörte nur den Klang ihrer Worte, diesen sinnlichen, aufpeitschenden Klang, der ihn an so viele heiße berauschte Stunden erinnerte, trank das irre Flackern ihres bleichen Gesichts, den sündigen Glanz ihrer meergrünen Augen?
»Du bringst mich um den Verstand, Nina! Ich kenne mich selbst nicht mehr! Was hast du in deinen Augen? Was hast du für einen Gifttrank genommen, daß deine Augen solch einen nichtswürdigen Glanz haben?«
Er preßte ihre kühle, weiche Hand wie einen Gummiball. Sie standen hinter den mannshohen Rosenbüschen des vorderen Gartens. Silbertropfen blinkten im Morgenlicht auf den blaßrosa Knospenbündeln. Die Stimmen der andern tönten fernher vom entgegengesetzten Ende des Gartens.
»Gefallen dir meine Augen nicht mehr?« spottete sie. »Andern gefallen sie. Mein Mann wäre glücklich, wenn er sie einmal so sehen könnte.«
»Ich denke, du liebst ihn, du ... du ... Verderberin!«
»Laß meine Hand los. Die Dienerschaft sieht uns von den Fenstern zu.«
»Ich lasse deine Hand nicht los. Oder du versprichst mir, daß du kommst, Nina. Ich schwöre dir, es geschieht etwas Verrücktes, wenn du mich noch länger warten läßt!«
»Schau mich nicht so an! Ich kann das nicht haben. Ich liebe dich nicht. Es hilft dir alles nichts. Ich liebe dich nicht.«
Er hatte sich über sie gebeugt. Ihr Kopf war ein wenig zurückgeneigt. Er versenkte sich in die Züge ihres feinen schmalen Gesichts. Ihm war, als müsse er sich noch einmal von all dem überzeugen, was ihn berauscht, was ihn um den Verstand gebracht hatte. Vielleicht war es ganz anders. Vielleicht lebte es nur in seiner Einbildung so. Er hätte etwas darum gegeben, wenn die Wirklichkeit ihn Lügen gestraft, wenn er sich einen Dummkopf und Narren hätte nennen können, wie schon so oft. Aber diesmal erwies ihm die Wirklichkeit den Gefallen nicht. So wie es ihm vorgeschwebt hatte, so war es in der Tat. Ja, es war mehr in diesem Augenblick. Die dunkeln schön geschwungenen Brauen, das aschblonde mattschimmernde Haar, der griechische Schnitt der Nase, der an die Medizeerin erinnerte, die leicht geöffneten weichen Lippen, die auf Küsse zu warten schienen, der schwimmende Glanz der jetzt beinahe schwärzlichen Augen, der geschmeidige liebeatmende Körper so dicht an dem seinen, dieser geheime sinnliche Hauch, in dem man untertauchen konnte wie in Nelkenblütenduft ...
»Wann kommst du?« stammelte er. »Wann kommst du?«
Er hatte ihre beiden Oberarme gepackt und preßte ihren zurückgebogenen schnell atmenden Leib an sich. Sie lachte leise und widerstrebte nur schwach.
»Wann kommst du?« wiederholte er.
»Ich komme nie mehr,« flüsterte sie und biß die Zähne aufeinander. »Laß mich los! Du bist verrückt!«
»Ja! Ich bin verrückt! Durch deine Schuld! Wann kommst du?«
Sie lachte kurz auf, während ihr Leib dichter zu dem seinen drängte.
»Du bist ein Kindskopf. Ich bleibe bei meinem Wort. Du sollst mich nicht wieder um den Finger wickeln. Meine Entschlüsse stehen fest.«
Sie sah den heißen Jünglingskopf über sich gebeugt und schloß die Augen unter seinen Küssen.
»Wann kommst du? ... Heute? Morgen? Nur noch ein einzigesmal!«
»Also morgen,« sagte sie und entwand sich ihm wie ein Aal aus den Händen. »Weil du mir leid tust. Deshalb komme ich. Aber es ist zum letztenmal. Erwarte mich.«
Ehe er sich noch recht besinnen konnte, war sie fort. Erst jetzt merkte er, daß die Stimmen der andern sich auf dem Rundgang durch den Garten wieder genähert hatten. Er hörte Brandstädter und Ewald miteinander sprechen, ohne daß er sie sehen konnte, da die fast mannshohen Rosenbüsche ihm den Blick verdeckten. Ob seine Mutter noch dabei war? Er vernahm ihre Stimme nicht mit den andern. Was sie wohl sprachen? Ihm war, als ob er eine Maske vor Augen und Ohren trüge. Es klang wie fernes Rauschen in ihm. Wohl das Blut, das durch seine Schläfe brauste? Es übertönte jeden andern Ton. Sie dürfen dich hier nicht finden, dachte er. Die Stimmen waren schon ziemlich nahe. Mit einemmal entfernten sie sich wieder. Jetzt hast du das Wichtigste vergessen, fiel ihm plötzlich ein. Du wolltest ja Nina wegen des Benehmens der Mutter fragen. Man vergißt immer das Wichtigste, philosophierte er. Das ist wie im Märchen. Man hat einen Wunsch frei. Es braucht nur ein Wort und man kann der reichste oder der glücklichste oder der mächtigste Mensch der Welt sein. Aber gerade dieses eine Wort fällt einem nicht ein, der große einmalige Augenblick geht vorüber, und statt sich zu wünschen, daß man sich immer wieder etwas wünschen dürfe, wünscht man sich einen Klumpen Gold oder ein schönes Weib oder eine gutbesetzte Tafel, als ob nach jedem so erfüllten Wunsch nicht die Reue käme, daß man sich nicht das andere gewünscht.
Er sah auf und um sich. Wohin bist du da wieder geraten? fragte er sich. Was hat das alles mit Nina und mit deinem Leben zu tun? Morgen! Morgen! klang es in das Brausen seines Blutes, das er noch immer fernher vernahm. Erwarte mich! hatte eine holde Stimme gesagt. Aber morgen! Erst morgen! Es war noch ein Tag und eine Nacht und wieder ein Tag bis dahin. Drei Meilen hinter Weihnachten, hieß es in einem andern Märchen. Nun gut! Also warten, sich gedulden bis dahin!
Er breitete die Rosensträuche auseinander, die ihn wie aus Übermut mit einem Regen von Silberperlen überschütteten, und überzeugte sich, daß niemand mehr in der Nähe war. Dann durchquerte er rasch eine offene Durchfahrt im nördlichen Schloßflügel, wo es nach Leder und Lack roch, und schlug den Weg um die Stallungen, den Gemüsegarten, den Tennisplatz zur Waldschlucht ein.
An demselben Vormittag, nur wenig später, saßen Ewald und Brandstädter in dem Laboratorium für drahtlose Telegraphie, das sich Ewald im südlichen Flügel des Dachgeschosses eingerichtet hatte. Es war das erstemal, daß Brandstädter seinen Fuß hier hinaufsetzte. Der Raum war ziemlich groß, eine Mansarde mit weißgetünchten Wänden, die über den beiden breiten Erkerfenstern schräge zusammenliefen. Das einzige Mobiliar waren ein paar einfache weiße Holzstühle und ein mächtiger Werktisch, mit Papieren, Flaschen und Instrumenten bedeckt. Als Wandschmuck dienten einige Radierungen und farbige Zeichnungen aus der Welt der Technik.
An der äußern Längswand befanden sich die notwendigen Apparate, Antenne, Umschalter, Sender, Empfänger, Leidener Flasche Drahtgewinde, die wie mit Spinnenfingern um sich griffen und ein Stück weit in den Raum hinausgespannt waren, gleich einem Netz geheimnisvoller und todbringender Kräfte.
Brandstädter hatte mit etwas benommenem Kopf den Belehrungen Ewalds über das Wesen der jungen Wissenschaft und ihre praktische Anwendung zugehört. Antenne, primärer Kreis, variable Selbstinduktion, Abstimmspule, Funkeninduktor: alle diese Begriffe hatten etwas Abstraktes, etwas Unwirkliches für ihn und bereiteten ihm, so greifbar sie für den Fachkenner sein mochten, ein unbehagliches Gefühl des Schwindels, als sei er mit einemmal in zu dünne Luft geraten. Er hatte immer nur schwache Anlage für Dinge der Technik und der Naturwissenschaft gehabt, und die etwas künstlichen Versuche seiner Studentenzeit, sich auch auf diesem Gebiet umzutun und fruchtbringende Kenntnisse für später zu sammeln, waren taube Knospen geblieben.
Unter den Vorrichtungen, deren Gebrauch Ewald ihm erklärte, befand sich auch eine zur Erzeugung von hochgespannten Strömen. Zwei Metallstäbchen, zu deren jedem von den Wandapparaten Drähte hinführten, waren in doppelter Handbreite voneinander am Fußboden aufgerichtet. Zwischen diesen beiden Polen sprangen, wenn man den Strom einschaltete, Ströme von fünfundsiebzigtausend Volt auf mit einer Wellenlänge von zwölf Metern. Wer dann den Stäbchen zu nahe kam, durch eine unvorsichtige Bewegung etwa, war desselben Augenblicks tot. Brandstädter, der bisher etwas schläfrig zugehört hatte, fühlte sich plötzlich angezogen. Ewald schaltete jetzt den Strom ein, und sofort begann das Knistern und Knattern der Funken, die trotz des hellen Sonnenscheins einen deutlich erkennbaren Lichtbogen zwischen den beiden Polen bildeten.
»Also wer nur seine Finger da in die Nähe bringt, stirbt?« fragte Brandstädter, indes seine Augen auf die kleine knatternde Funkenbrücke gebannt waren, über die der schnellste Weg in die Unendlichkeit führte.
»Der stirbt!« bestätigte Ewald. »Und zwar so schnell, daß es ihm schwerlich überhaupt zum Bewußtsein kommt. Ich darf da wohl mitreden, denn ich habe selbst einmal beinahe die Reise angetreten.«
Und während er lebhaft weiterhantierte und dabei dem tödlichen Lichtbogen mehrmals bedenklich nahekam, erzählte er, wie er eines Abends, in der Zeit seiner ersten Versuche, leichtsinnig mit seinem Fuß das eine der beiden Funkenstäbchen gestreift habe. Er habe nur noch ein augenblickliches dunkles Brausen im Kopf gefühlt, das ober nicht einmal unangenehm wirkte, dann sei es aus gewesen. Nina, die ihn vermißt und gesucht habe, sei schließlich heraufgekommen und habe ihn bewußtlos am Boden ausgestreckt gefunden. Wie lange er so gelegen, wisse er nicht. Vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Der Wiederbelebungsversuch sei ja noch einmal gelungen, wie Figura zeige. Aber wäre nicht Nina so bald erschienen oder hätte er bei seinem blitzschnellen Hinstürzen den Stromkreis noch einmal berührt, so wäre die Geschichte zu Ende gewesen. Was ja dann weiter kein Schade gewesen wäre, wie der Erzähler mit seinem gewohnten dünnen Lächeln hinzusetzte. Jedenfalls hätte es ihn so mancher späteren Umständlichkeit überhoben, die das Leben nun einmal mit sich bringe.
»Wie kam es, daß nicht schon die erste Berührung mit den fünfundsiebzigtausend Volt tödlich wirkte?« fragte Brandstädter, der bei der Erzählung des andern ein eigentümliches Prickeln in den Nerven gespürt hatte.
Ewald lächelte wie vorher.
»Nach dem Grund dieser bedauerlichen Tatsache habe ich mich natürlich auch gefragt. Vermutlich war die Berührung nur eine äußerst flüchtige, und dann hat wohl auch der Schuh als Isolierschicht gewirkt.«
Brandstädter war in Nachdenken versunken. Die Atmosphäre des Raums, in dessen hellgetünchter Nüchternheit der Tod auf jeder Drahtspitze zu lauern schien und die glitzernden Kupferfäden mit ihrer unsichtbaren Fracht dahingewirbelter Atomenstäubchen gleichsam zum Urgrund der Dinge hinführten, diese brustbeklemmende Verbindung von wissenschaftlicher Präzision und mystischem Grauen versetzte ihn in eine Art von leichtem Taumel. So nahe war man der Lösung des Problems, nur seine Hand brauchte man vorzustrecken, einen Finger nur, kürzer als ein Augenblinzeln, und man befand sich tief auf dem Grunde des Brunnens der Verjüngung, im dunkelsten Schoße der Wiedergeburt. Weshalb vollbrachte man es nicht?
Er erhob den Kopf und verfolgte die hantierenden Bewegungen des andern wie mit einem leichten Schleier vor den Augen.
»Wie kommt es, daß du diese Versuche betreibst?« fragte er nach einer Pause mit einer Stimme, die ihm selbst aus weiter Entfernung zu kommen schien. »Fühlst du irgendeine Bereicherung dadurch? Bleibt es nicht immer Spielerei, Dilettantismus?«
Ewald hatte den Funkeninduktor wieder ausgeschaltet. Das Knattern der Stäbchen schwieg. Ein Druck der Hand hatte die fünfundsiebzigtausend Volt mit ihrer Wellenlänge von zwölf Metern und der Geschwindigkeit von dreihunderttausend Sekundenkilometern in Fesseln gelegt. Brandstädter hatte ein peinliches Gefühl in sich. War es Neid? Der andere da, sein Jugendgenosse, auf den er immer ein wenig hinuntergesehen hatte, gebot mit der unumschränkten Macht eines Hexenmeisters über Elementarkräfte von unermeßlicher Gewalt. Und er? Was vermochte er? Nicht einmal so viel mit all seinem gesammelten Willen, daß er ein Wesen, welches nach allen Gesetzen der Menschheit sein Geschöpf war, herbeizurufen, unter seinen Bann zu zwingen verstand. Oder lag es vielleicht doch am Unterschied des Materials, der bewußten Menschenseele hier, der dunkeln Naturkraft da, daß jener mit seinen Experimenten triumphierte, er dagegen mit dem seinen scheiterte?
Ewald hatte geräuschvoll unter den Instrumenten und Flaschen des Werktisches gekramt. Jetzt schien er mit dem Gesuchten auch die Antwort auf Brandstädters vorige Frage gefunden zu haben.
»Du sprachst von Dilettantismus, Spielerei,« sagte er. »Dem großen Ganzen gegenüber ist eigentlich jedes Tun Spielerei. Der reine Fachmensch hat mir immer nur ein bescheidenes Maß von Respekt abgenötigt. Der größte Dilettant ist, mit Verlaub, der liebe Gott. Sein Wesen geradezu besteht in einem unermeßlichen Spieltrieb. Mit je mehr Dingen man sich beschäftigt – Dilettantismus, Spielerei nennst du es –, desto mehr nähert man sich dem Sehwinkel des Ewigen.«
Brandstädter war ein wenig schwerfällig von seinem Stuhl ausgestanden. Die beiden Schulfreunde, der Graublonde, Hagere, Weltmännische und der Dunkelhaarige, an den Schläfen Ergrauende, Zerwühlte, mit dem leisen Anflug eines vergrübelten Schullehrers oder Pastors, sahen sich über den Instrumententisch weg, der sie trennte, scharf in die Augen.
»Du hast dich wenig verändert seit deiner Jugend,« sagte Brandstädter nach einer Pause langsam.
»Ich könnte dasselbe von dir sagen,« erwiderte Ewald. »Aber das sind schließlich Gemeinplätze. Wir bleiben uns alle gleich, von der Wiege bis zum Grabe. Was sich ändert, sind immer nur Kostümfragen.«
Brandstädter strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Möchtest du mir nicht noch einmal den Lichtbogen einschalten? Es ist eine nachdenkliche Sache. Ich möchte sie noch genauer betrachten.«
Er trat einen Schritt näher zu den beiden Metallstäbchen, die sich am Fußboden so ähnlich gegenüberstanden, wie eben vorher am Tisch Ewald und er selbst. Ewald warf einen kurzen Blick auf Brandstädter. Dann legte er die Hand an den Funkeninduktor und schaltete den Strom ein. Sofort blitzten die Funken an beiden Polen auf und schlossen sich zur knisternden, knatternden Brücke zusammen. Brandstädter stand ziemlich dicht an dem vorderen Stäbchen.
»Den Anschluß zum Weltgeist könnte man das nennen,« bemerkte er und beugte sich mit einer – wie es schien – unwillkürlichen Bewegung plötzlich tief auf die beiden Funkenspender hinab. Aber in demselben Augenblick hörte das Knattern auf, und der weiße Lichtbogen erlosch. Ewald, der noch immer mit der Hand am Induktor stand, hatte den Strom ausgeschaltet.
Brandstädter taumelte einen halben Schritt zurück.
»Was ist das? Was heißt das?« stammelte er.
Ewald hatte wieder sein trockenes Lächeln um die schmalen Lippen.
»Entschuldige! Ich bin kein Freund von Überraschungen. Du warst im Begriff, eine Unvorsichtigkeit zu begehen, die irreparabel gewesen wäre. Die Elemente verstehen keinen Spaß.«
Er trat einen Schritt näher zu Brandstädter heran, der die Hand an die Stirn gelegt hatte, als müsse er da innen nach etwas Verlorengegangenem suchen.
»Vor einer Minute sprachen wir noch davon, daß der Mensch sich unabänderlich gleichbleibt, und schon lieferst du die Probe aufs Exempel. Du hattest bereits als Schüler eine Neigung zu Plötzlichkeiten, zum fait accompli. Weil ich das wußte, deshalb behielt ich die Hand am Induktor. Es geht nichts über eine glücklich argumentierte Theorie.«
Er wartete auf Brandstädters Antwort, aber dieser stand noch immer, ohne seine Haltung zu verändern.
Ewald fuhr nach einer Pause fort:
»Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, mein lieber Fridericus, daß ich dir den kleinen Gefallen nicht tun konnte. Schon aus Rücksichten der eigenen Bequemlichkeit nicht. Es war echt Brandstädterisch gedacht, mich zu deinem unfreiwilligen Henker machen zu wollen. Die etwaigen fatalen Folgen für mich hätten dir, wie ich dich kenne, dein Reisegepäck nicht weiter beschwert.«
Brandstädter ließ die Hand von der Stirn sinken. Er hatte sein Bewußtsein wieder. Die beiden alternden Jugendfreunde, der lange, hagere, blonde Weltmensch und der dunkle, kleinere, vergrübelte Pastorensohn, standen sich von neuem gegenüber, diesmal auf Atemsnähe, und sahen sich lange und scharf in die Augen.
Brandstädter brach zuerst das Schweigen.
»Du bist also mein Lebensretter geworden,« sagte er zum andern. »Sowie Nina deiner. Dafür hat man ja wohl zu danken.«
Er reichte Ewald seine Hand hin. Dieser legte nur ein paar seiner schmalen, langen Finger hinein.
»Bitte! Keine Umstände! Nur ein kleiner Gegendienst. Du hast mich einmal aus dem Wasser gezogen, als ich schon ziemlich viel davon geschluckt hatte. Die Schuld lag allerdings ein bißchen zurück. Vierzig Jahre. Na gut also! Wer seine Schulden bezahlt, verbessert sein Vermögen, heißt es.«
Eine neue Pause entstand. Brandstädter nagte an seinen Lippen. Dann sagte er finster:
»Warum hast du mich eingeladen, herzukommen?«
»Wenn es keine Retourkutsche wäre, könnte ich dich fragen: Warum hast du die Einladung angenommen?«
»Das will ich dir verraten, da wir schon einmal bei den letzten Dingen sind. Ich habe mir sonst Aussprachen abgewöhnt. Aber es mag wohl in der Atmosphäre hier bedingt sein.«
Ewald nickte mit seinem gewohnten Lächeln.
»Ströme von fünfundsiebzigtausend Volt! Entladungen sind hier ortsüblich.«
»Als wir uns zum letztenmal gegenüberstanden ... Du entsinnst dich, wann das war?«
»So ziemlich auf Tag und Stunde.«
»Es war, als du Nina für dich gewonnen hattest. Damals warst du der Sieger und es war mein unerschütterlicher Entschluß, daß ich euch beide niemals wiederzusehen hätte.«
»Du bist dem Vorsatz leider drei Jahre lang treu geblieben.«
»Dann kam etwas, was meinen Entschluß umwarf.«
»Meine Einladung, wie ich vermute. Der Brief über die Eröffnung unserer Waldbühne.«
»Ich ersah daraus, ich las zwischen den Zeilen, daß inzwischen auch du die Schlacht verloren hast.«
Ewald war kaum merkbar zusammengezuckt. In den scharfen Jägeraugen züngelte eine kurze Stichflamme auf, die sofort wieder erlosch.
»Davon wolltest du dich wohl überzeugen kommen?« sagte er, während er zum Tisch zurücktrat. »Deinem Stil wäre es jedenfalls gemäß.«
Brandstädters dunkle Augen brannten mit einem gleichsam nach innen gekehrten Feuer.
»Ich bin meiner Sache jetzt gewiß. Wir haben beide die Schlacht verloren, mein lieber Hans. Deshalb durfte ich dir noch einmal ins Gesicht sehen. Du hast rinnendes Wasser in deiner Hand einsaugen wollen oder tanzenden Sonnenschein oder fliegenden Wind. Aber Wasser und Sonnenschein und Wind müssen frei und fessellos durch diese Welt gehen. Darin liegt deine Niederlage jetzt.«
Ewalds Stimme nahm einen rauhen Klang an, als er nach einem Augenblick seinen Kopf zu Brandstädter wandte.
»Und worin lag die deine, wenn ich fragen darf?«
»Jedenfalls nicht darin. Dies zu wissen, war für mich das Abc. Mein Material waren eben Menschenseelen und nicht blinde Naturkräfte.«
»Sind Sonne, Wind und Wasser keine Naturkräfte? Es fehlt deiner Bildlichkeit an Konsequenz, mein lieber Fridericus. Soll ich dir in der Sprache des Milieus hier antworten?«
Er legte die Hand von neuem an den Schalthebel des Funkeninduktors und sagte, indem er auf Daumen und Zeigefinger deutete:
»Der Druck dieser zwei Finger genügt, um einen Strom von fünfundsiebzigtausend Volt mit einer Geschwindigkeit von dreihunderttausend Sekundenkilometern in Bewegung, in Tätigkeit zu setzen. Da! Du siehst, der Strom gehorcht aufs Wort. Der Lichtbogen zwischen den beiden Stäbchen, der vorhin dein Interesse erweckte, knattert, wie wenn er auf der Welt nichts weiter zu tun hätte, als mir zu Willen zu sein. Weißt du, was das für mich bedeutet?«
Er hielt einen Moment inne, Brandstädter, der wieder nahe an der weißleuchtenden Funkenbrücke stand, fest ins Auge fassend. Dann fuhr er fort:
»Es bedeutet für mich meinen Anteil an den Elementarkräften, von denen du soeben sprachst. Ich kann mich an ihnen erfreuen, erbauen, erheben, berauschen, sie meinen Wünschen dienstbar machen, so viel und so oft ich will. Ich weiß, daß sie mich töten können, wenn ich die Herrschaft über sie verliere, und vielleicht stellen sie gerade dadurch erst recht meinen Kontakt mit der Gottheit her, den ich gelegentlich brauche. Aber ich bin weise und vielleicht auch alt genug, mir nicht einzubilden, daß sie mir allein gehören. Denn wenn ich nun wieder den Hebel ausschalte, wie ich es hiermit tue, so ist meine Herrschaft über sie aus, und jeder Dummkopf, der den Mechanismus kennt, kann sie haben. Nur rate ich ihm zu wissen, daß sie tödlich sein können.«
Ewald schwieg. Seine hagere, vornübergebeugte Gestalt, die sich, während er die Hand am Funkeninduktor hielt und sprach, in die Höhe gestrafft hatte, sank wieder in sich zusammen, wie ein Scheit Holz, das heruntergebrannt ist und langsam verkohlt.
»In diesem Sinne«, setzte er nach einer kurzen Pause in verändertem Ton hinzu, »bitte ich dich meine Niederlage aufzufassen, wie du mein Verhältnis zu Nina zu nennen beliebtest.«
Der finstere, fast gehässige Ausdruck in Brandstädters Gesicht war während der Rede des andern langsam gewichen. Jetzt trat er näher zum Tisch heran und reichte Ewald die Hand.
»Du hast dich spezifischer entwickelt, als man voraussehen konnte. Ich gratuliere dir. Ich hatte dich unterschätzt.«
Ewald erwiderte den Druck des Jugendgenossen und diesmal mit der ganzen Hand.
»Ich danke dir für das Kompliment. Ich nehme es, wie es gemeint ist. Wie ich dich kenne, wird es dir nicht leicht gefallen sein.«
Brandstädter lachte auf eine kurze und grimmige Art in sich hinein und ging zur Tür der Werkstatt. Dort drehte er sich noch einmal um und sagte zu Ewald, der am Tisch stehengeblieben war:
»Hattest du keine Angst, als du den Lichtbogen von neuem einschaltetest, ich könnte mein Experiment von vorhin wiederholen?«
Ewald schüttelte den Kopf und lächelte dünn.
»Nicht im geringsten, mein lieber Fridericus. Ein originaler Geist wie du kopiert sich nicht.«