Max Halbe
Jo
Max Halbe

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3

Rudolf Bartholdy hatte auf der Probe seiner »Jo« plötzlich ein Ekel vor Welt und Menschen, am meisten aber vor sich selbst und vor dem Werk seiner Kunst ergriffen. Eine ganze Woche lang war es Szene für Szene, Wort für Wort wiedergekaut worden, so daß es ihm nur noch als ein knochenloser Brei erschien. Und diese widerliche, verächtliche Masse, die ohne die entfernteste Spur menschlicher Umrisse, seelischen Odems form- und gestaltlos hin und her wogte, war einmal – und es war noch gar nicht so lange her – das Schoßkind seiner heimlichsten Träume, seiner zärtlichsten Verliebtheit gewesen. Ein namenloser Abscheu wie vor einem verwesenden Leichnam schüttelte ihn. Er kam sich wie der Auswurf der Menschheit vor und hatte um den einen Gedanken, zwischen sich und das Zeugnis seiner Schmach einen möglichst großen Zwischenraum zu bringen. Er rief seinem Freunde Tobias Benvoglio, dem Direktor und Spielleiter der Naturbühne, ein paar aufgeregte Worte zu, die dieser als den endlichen Ausbruch des längst erwarteten Dichterwahnsinns ergebungsvoll quittierte, und sprang in stürmischen Sätzen, stolpernd und kollernd wie ein bergab schnellender Kieselstein, die dreißig oder vierzig Felsstufen hinunter, die von dem burgartig aufsteigenden Bühnenplateau zum Waldgrund führten.

Hier war es feucht und kühl. Bärtige Fichten standen zu beiden Seiten des Rinnsals und berührten sich beinahe mit ihren Wipfeln, so daß es aussah, als hätten sie die Köpfe zusammengesteckt, um sich irgend etwas zuzutuscheln. Ihr Raunen und Flüstern begleitete als dunkle Weise das hellere Rischeln des sickernden Wässerchens.

Rudolf ließ seine Blicke an der stachligen Borke der schwarzen Stämme hinaufklettern, bis sie oben gegen den schmalen zackigen Ausschnitt der tiefblauen Himmelsdecke stießen. Wie oft hatte er in diesen Tagen, seit sie dort auf der Waldbühne seine »Jo« einstudierten, den Ausguck nach Himmel und Wetter getan und vor jedem Wölkchen gebangt, das vielleicht Regen brächte und so die Proben seines Werkes, womöglich die nahe bevorstehende Aufführung gefährdete. In diesem Augenblick hätte er sich das Firmament am liebsten in eine ausgiebige Gießkanne verwandelt gewünscht, die Stück und Darsteller, allen voran den hoffnungsseligen Direktor Benvoglio, ohne Gnade in den See geschwemmt hätte. Aber kein Hauch eines Wölkchens flog an dem lächerlich blauen Gewölbe dahin, und er hatte das Gefühl, als ob sie beide ihn äffen wollten, die kühle Dämmerung des Waldgrundes hier unten und das warme Himmelslicht in seliger Höhe.

Als er aus dem Fichtendunkel in den flutenden Glanz über den Parkwiesen hinaustrat, fror ihn plötzlich. Der Pfad, der solange neben dem dünnen, hüpfenden Waldwässerchen entlang geführt hatte, verließ hier seinen bisherigen Gefährten und lief geradeswegs auf den tiefer eingebetteten Bach zu, während jenes in großem Bogen weiter unterhalb den Bach erreichte, kurz ehe dieser selbst sich in das Seebecken ergoß. Rudolf hielt die Hand über die Augen. Himmel und See funkelten und blauten um die Wette. Das lichte Grün der Wiesen floß als ein weicher Teppich hinab bis zum Seegestade. Gelbe, weiße, blaue Blüten waren als bunte Farbenspritzer wie mit einem Malerpinsel darüber hingesprengt. Buchen, Ulmen und Eichen, in kleineren und größeren Gruppen, standen als dunklere Flecke in der klingenden Helligkeit des Bildes.

Dem jungen Manne ging mit einem Male das Herz auf vor den Jubelakkorden der Schöpfung, die ihn umrauschten. Er reckte die Arme steil empor, so weit er nur konnte, und fühlte ein wohliges Knacken in den Gelenken. War das nicht Jugend, Hoffnung, Glück, was seine Brust in tiefen Atemzügen einsog? War er nicht sechsundzwanzig Jahre alt und lachte nicht das Leben ihn an wie dieser wolkenlose verliebte Frühsommertag? Er ließ seine Blicke über den Kristallspiegel des Sees, dessen blaues Blinkfeuer an tausend Punkten zugleich aufleuchtete, und hinüber zu den jenseitigen Uferhöhen schweifen. In langen weichen Wellenkämmen schwangen sich dort dunkle Wälder auf und verblaßten am Horizont im silbernen Dunst der Ferne. Hier und da zeichneten sich blanke Kirchtürme hochliegender Dörfer mit ihren geschweiften Zwiebelkuppeln von dem Waldhintergrund ab. Es waren ihrer aber nicht gar viele, und der alte Wald schien wie das Dunkel der Vorzeit noch Nähe und Weite zuzudecken. Schläge gegenüber, dicht am jenseitigen Strandsaum, strebten die beiden Kuppeltürme eines weißen Barockschlosses über ihre Umgebung alter hochragender Parkbäume empor. Ein Häufchen Landhäuser und Bauernhöfe, im Ufergrün halb versteckt, reihte sich dem Herrschaftssitz an. Erinnerungen früher Jugendtage verknüpften Rudolf Bartholdy mit Schloß und Dorf Seehausen dort drüben. Sein verstorbener Vater hatte, vielleicht noch aus seiner Studentenzeit her, eine treue Anhänglichkeit für die Gegend gehabt. Sommer um Sommer hatten seine Eltern die weite Reise aus dem Norden gemacht, um ihre Ferienwochen an dem damals noch sehr ländlichen Gestade zu verleben. Rudolf kannte jeden Weg und Steg in den dichten Buchen- und Fichtenwäldern, die gleich hinter dem Dorf anstiegen und in ihren dunklen Moosgründen eine Fülle duftigster Erdbeeren, tauiger Blaubeeren, wuchernder Edelschwämme bargen. Lange Sommernachmittage, manchmal ganze Tage hatte man in der tiefen Schattenkühle dieser endlosen Wälder zugebracht und oft keinen Laut als das Hacken des Spechts oder das ferne Rufen des Kuckucks gehört. Zu anderer Zeit waren Radpartien auf dem schmalen Sträßchen, das von Seehausen nord- und südwärts hart am Seestrande entlang führte, oder Bootfahrten quer über die flimmernde Wasserfläche bis nach dem gegenüberliegenden Ufer unternommen worden. So war er damals auch nach Dietramsried gekommen, ohne zu ahnen, daß einmal in einer noch versiegelten Zukunft entzückungs- und schmerzensvolle Jahre ihm hier vorbestimmt seien. »Wie weit das zurückliegt! Die Seehausener Tage!« murmelte der junge Mann und strich sich nachdenklich über die Stirn. In der Tat! Das war lange, bevor sein Onkel Hans Lebrecht von Ewald den Einfall gehabt hatte, Dietramsried zu erwerben. Aber vielleicht reichte die Anregung dazu doch bis in jene Zeit zurück. War Ewald nicht öfter zu Besuch erschienen und wochenlang geblieben, wenn seine Eltern in Seehausen weilten? Land und Wasser hier und die Berge am Horizont schienen es ihm angetan zu haben, so sehr er auch über den dörflichen Zuschnitt von Unterkunft und Verpflegung zu spotten wußte. Zwischen Rudolfs Vater, dem Geheimrat Bartholdy, und Ewald war es darüber zu manchen Redegefechten gekommen, die aber nie die Grenzen eines gewissen heiteren Ernstes überschritten und meist mit einem gegenseitigen Degensenken ritterlich endeten.

Rudolf erinnerte sich an das alles mit bildhafter Deutlichkeit. An die untersetzte, etwas korpulente Gestalt seines immer gedankenvollen und immer zerstreuten Vaters, der so kurzsichtig war, daß er hinter seinen großen Zwickergläsern die nächsten Angehörigen nicht zu erkennen schien und manchmal wie zu Fremden mit ihnen sprach. Dann hatten Mutter und Sohn nicht ganz heimlich über ihn gelächelt und der Vater, immer noch ein wenig abwesend und ohne recht zu wissen, warum, hatte gutmütig mit eingestimmt.

Ja, so schwebte ihm das Bild aus seiner Knaben- und Schülerzeit vor, ehe noch jene zunehmende Verdüsterung gekommen war, die die späteren Jahre des Vaters überwölkt hatte. Aber damals in Seehausen war der Himmel noch rein und ungetrübt oder spiegelte sich wenigstens in der Erinnerung so: der versonnene, im Grunde doch heitere und herzensgute Mann mit dem Äußeren eines Pfahlbürgers und der Seele eines Gelehrten, die schöne, klarblickende, tapfere, erquickend natürliche Mutter, und neben Vater und Mutter, wie eine Art von Ergänzung beider, die schlanke, weltmännische Erscheinung des Schwagers und Bruders mit seinem ironisierenden Ton, seinen etwas verzärtelten, manchmal bizarren Gewohnheiten und der unantastbaren inneren Vornehmheit.

Den jungen Mann durchzuckte ein beinahe körperlicher Schmerz, wie von einem blitzschnellen Messerstich. Mit welcher Bewunderung hatte er in jener Zeit, ja noch viel später, zu diesem Oheim aufgesehen, sich mit seinem überlegenen, vorurteilslosen Geist erfüllt, sein buntes, genießerisches, durch alle Zonen getragenes Herrendasein sich als Vorbild der eigenen Zukunft erkoren, mit welcher gläubigen Verehrung den untadligen Ritter, nicht nur von Geburt, sondern auch von Charakter, der er war, anerkannt! Und betrog nun diesen selben Mann, den er so sehr geliebt und verehrt hatte, dem er obendrein höchsten Dank schuldig war, bestahl ihn, Tag für Tag!

Wie brutal das Leben! Wie häßlich! Wie gemein! Hinter jedem Schritt, den man tat, tun mußte, spritzten Schmutz und Schlamm hoch auf! Warum konnte das Natürlichste, was es gab, das Holdeste, das Heiligste – und die Leidenschaft war das doch –, warum konnte das nicht in Unschuld, in gegenseitigem Verstehen und Verzeihen sich erfüllen? Mußte wirklich einer den anderen zerfleischen, begeifern, vergiften, belügen? Warum durfte man nicht hintreten vor den anderen, den man verehrte, der einem doch teuer war, und ihm die Hand hinstrecken: Ja, ich nahm von dem, was dein ist, aber gehört es dir darum weniger? Ich genoß den Duft deiner Fliederbüsche, deiner Rosenhecken, lag im Schatten deiner Gartenbäume, aber atmest du darum geringere Kühlung, duften dein Flieder, deine Rosen nicht noch ebenso für dich? Und wenn das Sonnenlicht dir lacht, der du es so viele Tage länger sahst, so viele Tage länger es besitzen, genießen durftest, warum soll das gleiche Sonnenlicht nicht auch mich glücklich machen, der ich jung bin, der die Kraft der Zukunft in seinen Armen fühlt und den Strom der Jugend in seinem Blut?

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihn aus seinem Sinnen erweckte und zugleich über sich selbst lächeln ließ. Was für törichte, weltfremde Einfälle! Stand nicht in dieser Welt des blutigen Unsinns, der unlösbaren Widersprüche und Rätsel, der erbarmungslosen Vernichtung, jeder zum Kampf gegen jeden da? Hieß es nicht, Glück, Stellung, Ruhm, Liebe um jeden Preis behaupten, ganz gleich, ob sie eigentlich einem anderen gehörten, dem man sie gestohlen hatte?

Er seufzte abermals und machte eine Bewegung mit der Hand in die Luft, als müsse er ein lästiges Insekt verscheuchen. Er stand noch immer auf der Anhöhe, dort wo er aus dem Waldesdunkel ins Licht hinausgetreten war, und sah hinab auf die sanft geneigte Wiesenfläche des Parks, auf das funkelnde Blau des langgestreckten Sees und hinüber zu den dunstigen Höhenzügen des jenseitigen Ufers, in deren Vordergrund sich die weißen Barocktürme von Schloß Seehausen mit einer Art von heiterer Festlichkeit abzeichneten. Aber es war, wie wenn plötzlich eine dunkle Wand vor die eben noch strahlende Sonne getreten wäre, der hinreißende Glanz des Bildes schien erloschen, und seine Seele erfüllte sich von neuem mit unerklärlicher Trauer.

Es war die Schwermut seiner sechsundzwanzig Jahre, die immer wieder von Rudolf Bartholoy Besitz ergriff. Im tiefsten Grunde war er von fröhlicher und zuversichtlicher Lebensstimmung. Seine Jugend und Entwicklung waren außergewöhnlich glücklich verlaufen. Die Ehe seiner Eltern war mustergültig gewesen. Der Sohn erinnerte sich keines ernsthaften Zwistes unter ihnen. Rein und harmonisch wie das Zusammenspiel zweier gleichgestimmten Geigen war ihm die Melodie dieser beiden eins gewordenen Seelen in den Dämmerungen seiner Kindheit erklungen. Glückliche, sieghafte Töne waren von früh an in die Tiefe seines Wesens gesenkt und gaben dem sich vorbereitenden Stimmengewebe seiner Lebenspartitur die hoffnungsvolle Grundfarbe, die helle, einschmeichelnde Untermalung.

Er war ein liebenswürdiges, gewinnendes Kind gewesen, dem die Herzen von selbst zuflogen. Jetzt an der Grenze seiner Mannesjahre nannten die Frauen ihn schön, während Männer mehr den Charakterkopf an ihm sahen. Seine Gesichtsfarbe war dunkel, von einer südländischen Bronzetönung, dabei ganz weich und pfirsichzart, als habe die rauhe Hand des Lebens noch nicht den Flaum der Jugend, ja nicht einmal die lachenden Grübchen der Kindheit ganz verwischen können. Über den blauen Augen schwangen sich dunkle und starke Brauen in schönem Bogen. Sie vor allem und ebenso die kühne römische Nase verliehen seinem Gesicht den festen, entschlossenen, zuweilen fast düsteren Ausdruck, ohne den es vielleicht weichlich erschienen wäre. Sein etwas störrisches, dunkelbraunes Haar ließ auf Eigensinn schließen. Der Anflug eines Schnurrbarts wirkte nur wie ein leichter Schatten in der tiefen Tönung seines Gesichts, das im übrigen bartlos war, aber doch nichts vom Schauspieler hatte, eher an einen jungen römischen Prälatenkopf erinnerte. Seine Gestalt war schlank und nervig, nur wenig über Mittelgröße, Hände und Füße im Verhältnis dazu nicht klein, als habe die Natur eigentlich ein größeres Format des ganzen Menschen vorgehabt, sich aber auf halbem Wege besonnen und es bei der Skizze der äußeren Gliedmaßen belassen. Eine gewisse nicht seltene Versonnenheit und Zerstreutheit mochte auf den Vater zurückgehen, mit dem im übrigen keine Ähnlichkeit bestand, während Mutter und Sohn zwar mit dem natürlichen Unterschied der Geschlechter, aber doch sonst auf eine überraschende Weise sich glichen.

Der junge Mann schrak aus seinen Grübeleien auf. Der Pfiff einer Dampfschiffssirene prustete breitmäulig vom See herauf. Es war der Mittagsdampfer, der sich von Seehausen her der Landestelle näherte. Ewald, der gestern abend nach der Stadt gefahren war und heute zurückkommen wollte, befand sich wahrscheinlich auf dem Schiff. Vielleicht hatten sich auch Gäste angeschlossen. Rudolf beschloß zum Anlegeplatz hinunterzugehen. Als er ein paar Schritte gemacht hatte, sah er jenseits des Baches Brandstädter und Nina langsam den Weg vom Herrenhause heraufkommen. Einen Augenblick durchzuckte es ihn, als ob er ihnen ausweichen müsse. Aber es schien, daß sie ihn schon bemerkt hatten. In Gottes Namen denn! dachte er und setzte seinen Weg ihnen entgegen fort.


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