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Prooemion »Im Namen dessen, der Sich selbst erschuf,
So weit das Ohr, so weit das Auge reicht,
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Goethe. |
Religion und Philosophie
Die beiden großen Gebiete unseres menschlichen Geisteslebens, welche gewöhnlich als Religion und Philosophie gegenübergestellt werden, hängen ursprünglich untrennbar zusammen. Äußerlich zwar erscheinen beide jetzt scharf getrennt; auf unseren modernen Universitäten steht noch heute in der Rangordnung der Fakultäten die Theologie als »Religionswissenschaft« an erster Stelle, während die Philosophie als »Weltweisheit« die letzte Stelle einnimmt. Die Theologie soll als » Gottesgelehrtheit« jenen tiefsten und wichtigsten Urgrund alles Daseins lehren, welcher unter dem vieldeutigen Begriff » Gott« als »höchstes Wesen« verehrt wird. Die Philosophie hingegen soll als umfassende » Weltweisheit« die Fülle aller von den einzelnen Wissenszweigen gewonnenen Erkenntnisse in einem gemeinsamen Mittelpunkt sammeln und als »Fürstin der Wissenschaften« ein einheitliches Gesamtbild der Welt herstellen.
Vielfach wird auch der Gegensatz beider Geistesgebiete so verstanden, daß die Religion als Glaubenslehre das höhere Gebiet der Anschauungen umfassen soll, welches der wissenschaftlichen Behandlung verschlossen und nur der übersinnlichen Offenbarung zugänglich sei. Die Philosophie dagegen soll sich als universale Wissenslehre auf sicheres, durch sinnliche Erfahrung gestütztes Wissen beschränken und von dem schwankenden Glauben absehen. Tatsächlich ist aber dieser Gegensatz unhaltbar, denn beide Gebiete des Denkens sind gleicherweise unvollkommen und genötigt, die vielfachen Lücken des erfahrungsmäßigen Erkennens durch Glaubens-Vorstellungen auszufüllen. Im Gebiete der Religion beanspruchen dieselben als unentbehrliche » Glaubenssätze« oder »Dogmen« eine unbedingte und absolute Geltung, während sie im Gebiete der Philosophie als wissenschaftliche Hypothesen zwar zugelassen werden müssen, aber immerhin nur provisorischen Wert besitzen und jederzeit in Folge fortgeschrittener Erkenntnis durch bessere ersetzt werden können. Der oft betonte scharfe Gegensatz zwischen »Glauben und Wissen« besitzt also nicht die ihm zugeschriebene Wichtigkeit. (Vgl. Kap. 16 der »Welträtsel«.)
Monistische (physiologische) und dualistische (metaphysische) Erkenntnis-Theorie
Auf dem schwierigen und dornenvollen Wege zur Erkenntnis der Wahrheit müssen wir zunächst uns über dessen Ziele und die Mittel zu ihrer Erreichung verständigen. Wir können zu einer klaren Anschauung vom wirklichen Wesen der Welt und zum Verständnis ihrer Ursachen nur dann gelangen, wenn wir nicht bloß unser Objekt, die Welt, bestimmt vor Augen haben, sondern auch unsere Fähigkeit zu ihrer Erkenntnis, unser Subjekt, kritisch geprüft haben. Daher fordert die moderne Philosophie mit Recht im Beginne ihrer Arbeit eine kritische, auf Wissenschaft gegründete »Erkenntnis-Theorie«, während die ältere Religion sich mit einem unkritischen, angeblich auf Offenbarung gestützten, tatsächlich der dichtenden Phantasie entsprungenen Glauben begnügt.
Bei der Erledigung dieser ersten Frage scheiden sich bereits die beiden großen Richtungen, welche die »Weltweisheit« von altersher in zwei entgegengesetzte Lager führen, die monistische oder naturalistische und die dualistische oder metaphysische Erkenntnislehre. (»Lebenswunder« Kap. 1.)
Unsere monistische oder »naturwissenschaftliche« Erkenntnistheorie betrachtet die Erkenntnis als einen physiologischen Natur-Prozeß, dessen anatomisches Organ unser menschliches Gehirn ist.
Die herrschende dualistische oder »geisteswissenschaftliche« Erkenntnislehre hingegen erblickt in der wahren Erkenntnis einen übernatürlichen Vorgang, ein transzendentes »Wunder«. Die monistische Seelenlehre, als ein Teil der Physiologie, fordert daher zunächst eine empirische Kenntnis und eine kritische Beurteilung unseres menschlichen Organismus und seiner Organe, insbesondere des Gehirns, mithin eine anthropologische Basis. Die dualistische Psychologie hingegen, welche die »Seele« als ein unsterbliches und übernatürliches »Wesen« betrachtet, verschmäht diese anatomisch-physiologische Kenntnis des Menschen; sie glaubt allein durch introspektive Analyse, durch metaphysische Spekulation über die Erkenntnis-Tätigkeit, und durch dialektisches Spiel mit ihren Begriffen, zur »Analysis der Wirklichkeit« zu gelangen.
Monistische Erkenntnistheorie
Unsere monistische und realistische Erkenntnistheorie betrachtet als sichere Grundlage aller Wissenschaft ausschließlich die Erfahrung (Empirie). Die anatomischen Organe dieser physiologischen Tätigkeit sind zwei verschiedene Bezirke unserer Großhirnrinde: das Sensorium (Sinneszentrum) und das Phronema (Denkorgan). Die mikroskopischen Elementarorgane des ersteren sind die Ästhetalzellen oder inneren Sinneszellen, diejenigen des letzteren die Phronetalzellen oder Denkzellen. Die Urquellen aller Erkenntnis sind die äußeren Sinnesorgane; sie vermitteln direkt den Verkehr des Organismus mit der Außenwelt und übertragen die hier empfangenen Eindrücke durch die Sinnesnerven auf das innere Sinneszentrum; durch deren Verknüpfung im Phronema (Assozion oder Assoziation) entstehen dann die Gedanken. Ursprünglich sind alle Gedanken und Vorstellungen a posteriori (durch Empirie) erworben. Durch Assozion der Begriffe entstehen aber neue Erkenntnisse, die dann scheinbar a priori (ohne vorhergehende empirische Grundlagen) auftreten. Die unbefangene physiologische Kritik dieser natürlichen Vorgänge führt zum Pantheismus.
Exakte Erkenntniswege. Die erste Anforderung, welche die Kritik an die Erkenntnis der Wahrheit stellt, ist möglichst genaue oder exakte Beobachtung und Beurteilung der Tatsachen. Im strengsten Sinne ist eine wirklich vollkommene Erkenntnis nur in der Mathematik möglich, und in denjenigen Gebieten der Anorgik (der anorganischen Naturwissenschaft), welche Größenverhältnisse und quantitative Beziehungen behandeln (theoretische Physik im engeren Sinne, Astronomie, Chemie usw.); hier ist es meistens möglich, durch Zahl und Maß eine hohe (wenn auch nicht immer absolute) formale Genauigkeit in der Beschreibung zu erreichen. Die Objekte der Beurteilung sind hier meistens verhältnismäßig einfach und in ihren charakteristischen Eigenschaften relativ gut bekannt.
Ganz anders verhält es sich in der Biologie (der organischen Naturwissenschaft). Hier sind die Verhältnisse der Erscheinungen meistens sehr vielseitig und verwickelt, und bieten wegen ihrer mannigfachen qualitativen Differenzen der Untersuchung viel größere Schwierigkeiten. Zwar ist es auch hier vielfach möglich, die einzelnen Seiten der Erscheinungen mit Hilfe von Zahl und Maß exakt darzustellen, das gilt aber nicht für das Ganze und Allgemeine. Vor allem liegt aber der exakten Erkenntnis der Organismen der Umstand im Wege, daß wir das Plasma oder die »lebendige Substanz« (die materielle Basis alles Lebens, »den Lebensstoff« im eigentlichsten Sinne!) noch heute nur sehr wenig kennen; selbst die chemische Natur der Eiweißkörper oder Albuminate, zu denen die millionenfach verschiedenen Plasmakörper gehören, ist uns noch sehr ungenügend bekannt. Es ist daher eine gefährliche Selbsttäuschung, wenn viele Biologen ihr engeres Forschungsgebiet noch als exakte Naturwissenschaft bezeichnen. Noch weniger ist es zulässig, die gesamten Naturwissenschaften (zu denen doch auch viele historische Fächer gehören) als exakte zu bezeichnen und ihnen alle übrigen als »Geisteswissenschaften« gegenüberzustellen.
Grenzen der Beobachtung. Der sicheren Genauigkeit der Erfahrung sind enge Grenzen gesetzt schon durch die Beschaffenheit unserer menschlichen Sinnesorgane (Sensilla) und des Gehirns, in welchem die äußeren Sinneseindrücke durch das Sensorium (die inneren »Sinnesherde«) übersetzt und dem benachbarten Denkorgan (Phronema) zugeführt werden. Im allgemeinen besitzen unsere Sinneswerkzeuge dieselbe morphologische Zusammensetzung und die gleiche physiologische Arbeitsweise wie die Sensillen der übrigen Säugetiere und besonders der nächstverwandten Tierarten (speziell der Menschenaffen). Auch entwickeln sie sich im Keime auf dieselbe eigentümliche Weise; aus dieser ontogenetischen Tatsache ziehen wir einen sicheren Schluß auf ihre phylogenetische Entstehung und stufenweise Entwicklung. Allein im besonderen stehen die menschlichen Sinneswerkzeuge vielfach in bezug auf quantitative und qualitative Ausbildung auf einer tieferen Stufe als bei vielen anderen Wirbeltieren. Außerdem aber ist ihr Leistungsvermögen individuell sehr verschieden, was teils die Folge der Anpassung (Übung, Gewohnheit, Erziehung), teils der Vererbung (innerhalb der Rasse, des Volkes, der Familie) ist. Eine sehr gefährliche Grenze der Beobachtung und eine Quelle vieler Irrtümer ist ferner durch die folgenschweren Sinnestäuschungen gegeben. Die normalen Sinnestäuschungen (z. B. in bezug auf Licht und Farbe, Bewegung und lokalisierte Empfindung) verführen zu vielen falschen Schlüssen; noch vielmehr die pathologischen Sinnestäuschungen, welche in Illusionen, Halluzinationen, Wahnvorstellungen und andere Geisteskrankheiten ausarten. Deshalb ist bei allen Beobachtungen, die möglichst exakt sein wollen, schärfste Vorsicht und Selbstkritik geboten. Aus Mangel an solcher, wie an Erziehung des Phronema, begehen namentlich viele Naturforscher, die auf ihre »Exaktheit« stolz sind, die größten Fehler (vgl. Welträtsel, Kap. 16 und Lebenswunder, Kap. 13).
Grenzen des Experimentes. Da der wissenschaftliche Erforschungsversuch, das künstliche »Experiment«, auch auf Beobachtung beruht, und nur eine Frage ist, unter welchen Bedingungen irgendeine Erscheinung eintritt, so gilt dafür alles, was wir soeben für die einfache direkte Beobachtung der Naturerscheinungen angeführt haben. Nur ist hier in noch höherem Grade nüchterne Selbstkritik, Vorsicht bei der Ausführung und Umsicht bei der Beurteilung der Beobachtung zu fordern. Die Philosophie des klassischen Altertums, welche schon vor 2000 Jahren in bezug auf Denktätigkeit eine so hohe Stufe erlangt hatte und selbst heute noch vielfach nicht übertroffen ist, kannte die hohe Bedeutung des Experiments nicht. Erst in den letzten drei Jahrhunderten, besonders seit Bacon und Galilei, ist sein Wert voll erkannt und gewürdigt worden. Die Entwicklung der neueren » Experimental-Wissenschaften« (Physik, Chemie, Physiologie usw.) im letzten Jahrhundert und ihre erstaunlich fruchtbare Verwertung für die Technik und die verschiedensten Kulturzwecke haben dem Experiment eine früher nicht geahnte Bedeutung verliehen.
Vielfach ist jedoch damit eine gefährliche Überschätzung seines Wertes eingetreten, besonders durch seine Einführung in solche Wissensgebiete, in denen es nur teilweise oder gar nicht anwendbar ist, z. B. historische Forschungen und Entwicklungslehre. Der jetzt vielgebrauchte und hochgeschätzte Begriff der »Experimentellen Entwicklungs- Geschichte« führt vielfach irre. Denn man kann die historischen Vorgänge bei der Entwicklung des Embryo, die nach dem biogenetischen Grundgesetz nur durch ihren Kausalnexus mit der phyletischen Entwicklung der Ahnenreihe verständlich werden, niemals durch Experimente allein erkennen lernen; diese können nur den Einfluß veränderter Bedingungen auf bestimmte einzelne Vorgänge feststellen, und also die Physiologie und Pathologie des Embryos fördern. Die moderne experimentelle Entwicklungsmechanik erfreut sich aber gegenwärtig, ebenso wie die Experimental-Psychologie, oft deshalb großer Beliebtheit, weil man auch ohne genügende allgemeine biologische Vorbildung »interessante Versuche« anstellen und durch eine »merkwürdige Entdeckung einer unerklärten Tatsache« sich Ansehen verschaffen kann. Man kann dabei der umfassenden empirischen Kenntnisse entbehren, welche nur durch ein mehrjähriges gründliches Studium in vergleichender Anatomie und Ontogenie, und namentlich auch in Palaeontologie erworben werden können.
Vergleichende Methoden. Unter allen biologischen Wissenschaften ist für unsere monistische Philosophie und Theologie von höchster Bedeutung derjenige Zweig der Morphologie, welcher als »Vergleichende Anatomie« den genetischen Zusammenhang der vielen tausend organischen Formen kennen lehrt und ihre endlose Mannigfaltigkeit auf eine gemeinsame einfache Quelle zurückführt. Schon vor 130 Jahren hatte Goethe dazu den ersten Anfang gemacht, als er auf der Anatomie in Jena den Schädel des Menschen und der übrigen Säugetiere sorgfältig vergleichend studierte. Zu einer selbständigen Wissenschaft wurde die vergleichende Anatomie im Beginn des 19. Jahrhunderts durch die beiden großen Pariser Zoologen George Cuvier und Jean Lamarck erhoben. Ihnen ebenbürtig erweiterte dann in Deutschland Johannes Müller ihren Wirkungskreis, indem er die vergleichende Morphologie und Physiologie mit der von Baer begründeten Entwicklungsgeschichte verknüpfte.
Ihre volle Bedeutung als »Philosophie Zoologique« im Sinne unseres heutigen Monismus erhielt sie aber erst, nachdem Charles Darwin (1859) die Abstammungslehre reformiert und sein Freund Thomas Huxley (1863) sie auf den Menschen angewandt hatte. Ihre umfassendste und wirkungsvollste Ausführung erhielt sie durch die klassische »Vergleichende Anatomie« von Carl Gegenbaur, dessen zahlreiche treffliche Schüler noch heute für ihren Ausbau erfolgreich tätig sind.
Meine eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen haben seit einem halben Jahrhundert das Ziel verfolgt, im Sinne dieser großen Meister (die zum Teil noch meine persönlichen Lehrer waren) das wundervolle Gebiet der vergleichenden Morphologie weiter auszubauen und mit Hilfe der modernen Entwicklungslehre zu einer festen Grundlage für die gesamte monistische Philosophie und Religion zu gestalten. Das Programm dieser zielbewußten Lebensarbeit habe ich 1866 in meiner » Generellen Morphologie« festgelegt und sie in den vier Monographien der Radiolarien, Spongien, Medusen und Siphonophoren weiter ausgeführt. Allein das höchste mir stets vorschwebende Ziel, darauf ein zusammenhängendes System der monistischen Philosophie aufzubauen, habe ich zu meinem Bedauern niemals ausführen können. Ich hoffe jedoch, daß bald befähigtere und vom Glück begünstigtere Nachfolger dieses herrliche Ziel erreichen werden. Der sicherste Weg dazu bleibt stets die genetische und vergleichende Methode, die kritische Verbindung von »Beobachtung und Reflexion«, von Empirie und Spekulation.
Historische Methoden. Im Gegensatz zu den sogenannten »exakten« Naturwissenschaften befinden sich die Geschichtswissenschaften im engeren Sinne; sie behandeln Erscheinungen, welche nicht unmittelbar der Beobachtung und dem Experiment der Gegenwart zugänglich sind, sondern der Vergangenheit angehören. Ihre Quellen beruhen daher größtenteils auf Überlieferung oder Tradition; sie sind mithin dem Zweifel, der Skepsis, ausgesetzt. Soweit sich die Geschichte auf menschliche Verhältnisse bezieht (Urgeschichte, Völkergeschichte, Staatengeschichte usw.), ist diese Überlieferung um so unsicherer, je weiter sie in der Zeit zurückgeht; ihre Urkunden werden um so spärlicher und unvollständiger, je weiter sie sich im Dunkel der Urzeit verlieren. Hier existiert keine scharfe Grenze zwischen Tradition, Sage, Mythus und Dichtung.
Anders verhält sich diejenige Geschichte, welche außermenschliche Verhältnisse betrifft, die Stammesgeschichte der Organismen (Phylogenie), die Geschichte der Erde (Geologie), die Geschichte der anorganischen Gebilde, des Himmels (Astronomie usw.). Hier erlangen die Zeugnisse, welche sich auf reale Beobachtungen einzelner Zustände stützen, durch kritische Vergleichung und Synthese einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß die wissenschaftliche Hypothese für den kritisch denkenden Naturphilosophen den Wert einer historischen Tatsache gewinnt. Das gilt ganz besonders für die Palaeontologie und die darauf gestützte Stammesgeschichte, namentlich diejenige des Menschen.
Introspektive Methoden. Für die Erkenntnistheorie der meisten Philosophen ist in erster Linie die Selbstbeobachtung die wichtigste Quelle, die Spekulation über die verwickelten Vorgänge des Seelenlebens, welche in unserem Innern stattfinden. Soweit es sich dabei um Erscheinungen des Bewußtseins handelt, ist dieser Weg der Erkenntnis durchaus berechtigt; denn die subjektive »innere Anschauung« unseres Selbst, welche die Physiologie mit einer Spiegelung vergleicht, ist hier überhaupt der einzig mögliche Weg. Ich habe meine monistischen Ansichten über dieses »Psychologische Zentral-Mysterium« im 10. Kapitel der »Welträtsel« und im 14. Kapitel der »Lebenswunder« eingehend dargelegt; dort ist gezeigt, daß dieses schwierigste Problem der Seelenkunde, ebenso wie alle anderen psychischen Phänomene, auf physikalische und chemische Prozesse im Phronema, in den Phronetalzellen der Großhirnrinde zurückzuführen sind. Auch hier liefert uns die vergleichende und genetische Betrachtung den Schlüssel zur objektiven Lösung des Welträtsels, die auf bloß subjektivem Wege ungenügend bleibt. Das ist um so mehr zu bedenken, als gerade auf diesem dunkeln Gebiete die Irrwege des Aberglaubens, die spiritistischen und okkultistischen Verirrungen, sich mit großem Erfolg geltend machen und die dualistische Erkenntnistheorie fördern, zu ungunsten unserer monistischen Philosophie und vernunftgemäßen Religion.
Dualistische Erkenntnistheorie
Die herrschende Erkenntnistheorie der Schulphilosophie ist noch heute, ebenso wie seit zweitausend Jahren, dualistisch und metaphysisch; im Einklang mit der Theologie behauptet sie, daß nur ein Teil der Wissenschaft auf Erfahrung (durch die Tätigkeit der Sinnesorgane und des Gehirns) beruhe, der andere, höhere Teil hingegen auf Offenbarung (»Revelation oder Apocalypsis«). Dieser übernatürliche (supranaturalistische oder transzendente) Prozeß übersteigt unsere Vernunftfähigkeit und ist nur direkt durch »göttliche Inspiration« oder durch »Intuition des Geistes« möglich; sie wird auch oft als »Inneres Erleben Gottes« gepriesen. Die Annahme einer solchen Inspiration nötigt uns zu der Vorstellung, daß die höheren Gedanken a priori entstanden und unmittelbar auf göttliche übernatürliche Eingebung zurückzuführen sind. Somit führte die dualistische Erkenntnistheorie zum Glauben an einen »persönlichen Gott«, zum Ontheismus.
Der prinzipielle Gegensatz der beiden Erkenntniswege, der monistischen Erfahrung und der dualistischen Offenbarung, gipfelt in der Wertschätzung der Vernunft. Unsere empirische und monistische Erkenntnislehre, wie sie heute im ganzen Gebiete der Naturwissenschaften allein gilt, erkennt als Richtschnur ausschließlich die » reine Vernunft« an. Hingegen behauptet die dualistische Weltanschauung, wie sie noch heute in den sogenannten »Geisteswissenschaften« maßgebend ist, in der Theologie und Schulphilosophie, daß daneben noch die Forderungen des Gemütes, die Ansprüche der » praktischen Vernunft« gelten müssen. Beide stehen in unlösbarem Widerspruch, wie die berühmten »Antinomien von Immanuel Kant« zeigen (vgl. die fünfte Tabelle unten im Anhang, S. 68, und Kapitel 1 der »Welträtsel«).
Das Gemüt hat mit der Erkenntnis der Wahrheit gar nichts zu tun. Die Vorstellungen vom Übernatürlichen und Transzendenten, die Erzählungen von Wundern und Geisterspuk, welche hier die Erkenntnis der Wahrheit verdecken, gehören dem Gebiete der Dichtung an, nicht der Wissenschaft. Letztere legt überall den kritischen Maßstab der reinen Vernunft in der Realwelt an, während die Dichtung sich mit den Phantasiebildern der Idealwelt begnügt. Die unklaren Vorstellungen über diese zwei Welten, wie sie z. B. in der neuesten Modephilosophie Bergson – (mit schönen Reden, aber sehr geringer Sachkenntnis! –) erfolgreich vertritt, der Glaube an eine höhere ideale Welt über der realen Natur führen direkt hinüber zu dem Geisterspuk der niederen Naturvölker und dem Wunderglauben der ontheistischen Religionen.
Die reine Vernunft, deren Begriff durch Kants Kritik (1781) in den Vordergrund der Erkenntnistheorie gestellt worden ist, gilt in unserer monistischen Naturphilosophie nur noch in dem Sinne, daß wir darunter die »voraussetzungslose Erkenntnis«, frei von allem Dogma, unbefangen von allen Glaubenssätzen verstehen. Kant selbst hat später betont, daß » die Wahrheit nur in der Erfahrung zu finden ist« (vgl. Kap. 14 und 19 der »Lebenswunder«).
(Anthropologische Fundamente des Monismus)
Die Frage vom Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Natur wird von Vielen mit Recht als die nächstliegende und wichtigste Aufgabe der Wissenschaft betrachtet; sie ist seit fünfzig Jahren endgültig gelöst. Seiner ganzen Organisation nach gehört der Mensch zum Stamm der Wirbeltiere (Vertebrata), und zwar zu dessen höchststehender Klasse, zu den Säugetieren (Mammalia). In dieser Klasse wird wieder als höchst entwickelte Gruppe die Ordnung der Herrentiere (Primates) betrachtet, zu welcher die Halbaffen (Prosimiae), die Affen (Simiae) und die Menschen (Homines) gehören. Die unbefangene vergleichende Anatomie lehrt unzweideutig, daß der Mensch in allen Beziehungen des gröberen und feineren Körperbaues den Affen näher steht als allen übrigen Tieren. Dasselbe zeigt uns die vergleichende Physiologie in bezug auf alle Lebenserscheinungen und die vergleichende Ontogenie hinsichtlich der embryonalen Entwicklung.
Die monistische Anthropologie, gestützt auf das biogenetische Grundgesetz, erblickt in der wunderbaren Formenreihe, welche der Mensch während seiner individuellen Entwicklung aus der Eizelle durchläuft, eine gedrängte und gekürzte Wiederholung der Formenreihe, welche seine tierischen Ahnen während ihrer phyletischen Umbildung im Laufe vieler Jahrmillionen durchlaufen haben. Die handgreiflichen Beweise für diese historische Transformation liefern uns die versteinerten Überreste der ausgestorbenen Wirbeltiere, welche in Sedimentgebirgen der Erde begraben liegen. Die festgestellte historische Reihenfolge, in welcher die einzelnen Klassen und Ordnungen der Wirbeltiere nacheinander in denselben auftreten, entspricht vollkommen der Stufenleiter der historischen Entwicklung, welche wir aus den Ergebnissen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie erschließen. Da eine andere Deutung derselben als eine phylogenetische nicht möglich, auch gar nicht ernstlich versucht worden ist, so erblicken wir darin den sichersten direkten Beweis für die Abstammung des Menschen von einer langen Reihe ausgestorbener Wirbeltiere, zunächst Herrentiere. Die viel umstrittene Primaten-Abstammung des Menschen ist demnach heute keine unsichere Hypothese mehr, sondern eine unumstößliche historische Tatsache (vgl. Tabelle 8).
Die dualistische Anthropologie, welche auch heute noch in weitesten Kreisen herrschend ist, hat gegenüber diesen handgreiflichen »Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur« einen schweren Stand; sie sucht deren Beweiskraft mit allen Mitteln zu leugnen oder durch falsche Deutung zu entwerten. Die spezifisch christliche Menschenkunde erblickt im Menschen das »Ebenbild Gottes«; sie muß daher die verhaßte »Affen-Abstammung« entweder direkt bestreiten oder durch das Mysterium des »Sündenfalles« erklären. Die verzweifelten Anstrengungen, welche in dieser Richtung sowohl die rechtgläubige Theologie als auch die dualistische, mit ihr verbündete Metaphysik seit einem halben Jahrhundert gemacht hat, sind gänzlich erfolglos geblieben; sie haben nur dazu geführt, unsere Gegenstellung zu befestigen. Wir dürfen daher jetzt das große Menschenproblem für definitiv gelöst erklären. Bei der fundamentalen Bedeutung dieser wissenschaftlichen Erkenntnis ist es zweckmäßig, deren wichtigste Fundamente hier nochmals auf ihre empirische Sicherheit zu prüfen.
Anatomische Fundamente (Wl. Kap. 2). Die erste und unmittelbarste Grundlage der monistischen Menschenkunde bildet die vergleichende Anatomie oder Morphologie. Im Anfange des 19. Jahrhunderts begründet, hat sich diese philosophische Wissenschaft in dessen Verlaufe zu bewunderungswürdiger Höhe entwickelt. Kein sachkundiger Zoologe zweifelt mehr daran, daß der ganze Organismus des Menschen in den allgemeinen Grundzügen mit demjenigen aller übrigen Wirbeltiere (Vertebrata) übereinstimmt, und in allen besonderen Eigentümlichkeiten mit demjenigen der höchst entwickelten Klasse, der Säugetiere (Mammalia). Unter diesen letzteren zeichnet sich wieder die vornehmste Ordnung, die der Herrentiere (Primates) vor den übrigen Säugetieren durch viele und wichtige Merkmale des Körperbaues aus; die Halbaffen (Prosimiae) stellen die ältere und niedere, die Affen (Simiae) die jüngere und höhere Stufe der Primatengruppe dar. Unter den echten Affen führt wieder eine zusammenhängende Kette von den niederen Westaffen zu den höheren Ostaffen hinauf, und unter diesen bilden die schwanzlosen Menschenaffen den direkten morphologischen Übergang zum Menschen. Diese nahe »Morphologische Verwandtschaft« gilt ebenso für die gröberen anatomischen Verhältnisse aller einzelnen Organe, wie für die feineren histologischen Verhältnisse ihrer Gewebe und der mikroskopischen Zellen, welche diese zusammensetzen. Das sind sichere Tatsachen von höchster Bedeutung.
Physiologische Fundamente (W1. Kap. 3). Die Lebenstätigkeiten des menschlichen Organismus, die physiologischen Funktionen seiner Organe, sind beim Menschen wie bei allen anderen Tieren, an die anatomische und histologische Beschaffenheit seiner Organe gebunden und durch deren physikalische und chemische Eigenschaften bedingt. Da deren charakteristische Grundzüge bei allen Wirbeltieren im wesentlichen übereinstimmen und von denjenigen aller übrigen Tiere verschieden sind, so ergibt sich ohne weiteres, daß auch in dieser Hinsicht der Mensch keine Ausnahme von den Wirbeltieren bildet. Ebenso sind es wieder die Säugetiere, deren besondere physiologische Eigentümlichkeiten er teilt, und unter diesen wiederum die Affen. Namentlich gilt das von der eigentümlichen Form des Blutkreislaufs und der Atmung, sowie von der Ernährung des Jungen durch die Milch der Mutter. Da diese höhere Form der »Brutpflege« nicht nur andere Organe beeinflußt, sondern auch für die höhere Seelentätigkeit der Säugetiere von hoher Bedeutung ist (Mutterliebe, Familienleben, soziale und moralische Verhältnisse), so ist besonderes Gewicht auf diese nahe »Physiologische Verwandtschaft« zu legen. Das sind sichere Tatsachen.
Ontogenetische Fundamente (W1. Kap. 4,8). Die Existenz jeder einzelnen menschlichen Person, ebenso wie diejenige jedes anderen, geschlechtlich erzeugten Wirbeltieres, beginnt mit dem Momente der Befruchtung, mit dem Augenblicke, in welchem die Eizelle der Mutter mit der Spermazelle des Vaters zusammentrifft. Beide Geschlechtszellen, gegenseitig angezogen durch eine chemische Sinnestätigkeit (– » Erotischer Chemotropismus« –), verschmelzen dann zur Bildung einer neuen kugeligen Zelle, der Stammzelle (Cytula). Aus dieser entstehen weiterhin durch wiederholte Teilung oder »Furchung« zahlreiche Zellen, die »Furchungszellen« (Blastomeren). Diese ordnen sich in zwei Zellenschichten, die beiden »Primären Keimblätter«, aus welchen sechs »Primitivorgane« hervorgehen. Die Art und Weise, auf welche alle späteren Organe aus letzteren in höchst eigentümlicher Weise sich entwickeln, ist für alle Wirbeltiere charakteristisch; sie erfolgt beim Menschen genau so wie bei den Menschenaffen. Insbesondere ist auch die Bildung der Eihüllen und der Plazenta (des Mutterkuchens) in beiden ganz übereinstimmend. Somit liefert die Keimesgeschichte (Ontogenie) vollgültige Beweise für die nahe »Embryologische Verwandtschaft« des Menschen und der Säugetiere; und diese werden zu den schwerwiegendsten Argumenten der monistischen Philosophie, wenn wir sie nach dem biogenetischen Grundgesetze deuten. Wenn unsere Anthropogenie dieselbe für die vielbestrittene »Abstammung des Menschen vom Affen« benutzt, so stützt sie sich dabei auf unbestreitbare sichere Tatsachen.
Palaeontologische Fundamente. Unter allen realen und beweiskräftigen Urkunden unserer Stammesgeschichte können die Tatsachen der Palaeontologie in gewisser Beziehung als die wichtigsten angesehen werden. Denn die Versteinerungen, die wir millionenfach in den sedimentären Gestein-Schichten unserer Erde angehäuft finden, sind die handgreiflichen Überreste der ausgestorbenen Vorfahren der jetzt lebenden Organismen, also auch des Menschen. Aber diese Erkenntnis ist erst sehr spät, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gewonnen worden, nachdem Darwin durch seine Reform der Deszendenztheorie uns den Schlüssel zum Verständnis der Phylogenie geschenkt hatte. Vorher bekümmerten sich um die »Petrefakten« fast nur die Geologen, die in den »Leitfossilien« wertvolle Anhaltspunkte für die Altersbestimmung und historische Ordnung der übereinanderliegenden Sedimentgesteine erblickten. Die Natur und die Beziehungen der ausgestorbenen Tiere und Pflanzen, von deren Organisation uns die unvollständigen fossilen Überreste nur unvollkommene Kunde geben, war ihnen höchst gleichgültig und erweckte nur das Interesse der Kuriosität. So wurde die »Petrefaktologie« als »anorganische Naturkunde« mit der Geologie verknüpft. Hingegen gehört die eigentliche moderne »Palaeontologie«, d. h. die wissenschaftliche Erkenntnis der Organisation der ausgestorbenen Lebewesen, sowie ihrer Verwandtschafts-Beziehungen zur gegenwärtigen Fauna und Flora, in das Bereich der Biologie. Leider haben die meisten Zoologen und Botaniker auch heute noch, wie früher, an diesen höchst wichtigen Tatsachen ein sehr geringes Interesse; das gilt namentlich von jenen einseitigen »Empirischen Embryologen« und Vertretern der »Experimentellen Entwicklungsmechanik«, welche lediglich in der genauesten Erforschung der Keimesgeschichte, ohne kausale Beziehung zur Stammesgeschichte, ihre einzige Aufgabe erblicken. Sie bestreiten den »Fundamentalen Kausalnexus zwischen Ontogenie und Phylogenie«, der in unserm »Biogenetischen Grundgesetz« seinen einfachsten Ausdruck findet. Viele Irrtümer dieser modernen (sich exakt nennenden) Embryographie und Entwicklungs-Physiologie würden vermieden werden, wenn sie die historische Reihenfolge der ausgestorbenen Formen und ihre phyletischen Beziehungen zu den lebenden Nachkommen berücksichtigten; sichere Tatsachen von höchster Bedeutung.
Unsere Ahnenreihe. Progonotaxis hominis
Unter diesem Titel veröffentlichte ich 1908 »Kritische Studien über Phyletische Anthropologie« (Festschrift zur 350jährigen Jubelfeier der Thüringer Universität Jena und der damit verbundenen Übergabe des Phyletischen Museums, am 30. Juli 1908; mit 6 Tafeln). Diese kurze Studie (60 Seiten) enthält eine zusammengedrängte kritische Übersicht und Revision der phylogenetischen Untersuchungen, welche ich 1866 in der Generellen Morphologie (Kap. 27, 28) begonnen hatte. Die erfreulichen Fortschritte, welche diese historischen Forschungen über die Abstammung des Menschen in den 48 seitdem verflossenen Jahren gemacht haben, sind ersichtlich aus einer Vergleichung der zahlreichen inzwischen erschienenen Arbeiten, und besonders der ersten Auflage der Anthropogenie (1874) und der sechsten Auflage (1910). Die Zahl der wichtigsten Stufen in unserer tierischen Ahnenreihe hatte ich schon 1898 in meinem Cambridge-Vortrage »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen« auf 30 fixiert; sie sind in der Festschrift (1908) auf sechs Strecken verteilt und in Tabellen übersichtlich zusammengestellt. (Vgl. Tabelle 7 und 8, Seite 66, 67.)
Die tatsächlichen Grundlagen, auf denen sich unser phyletisches Hypothesen-Gebäude erhebt, sind wegen der großen Lückenhaftigkeit des palaeontologischen Materials natürlich unvollständig und werden immer so bleiben im Einzelnen. Das hindert aber nicht, daß wir im Ganzen daraus gewisse Schlüsse ziehen, die für unsere Stammesgeschichte sichere Grundlagen liefern. Darunter steht in erster Linie die historische Reihenfolge, in der die Klassen und Ordnungen der Wirbeltiere nacheinander auftreten. In der zweiten Hälfte unserer Progonotaxis (S. 71), die im Silur beginnt und sich unmittelbar auf Tausende von wohlerhaltenen Petrefakten ( – handgreifliche Urkunden! –) stützt, erscheinen zuerst (Millionen von Jahren hindurch!) nur Fische, im silurischen und devonischen Schichtensystem. Erst in der Steinkohlenzeit, im karbonischen System, treten die ältesten landbewohnten und vierfüßigen Vertebraten auf, salamanderähnliche Amphibien (Stegocephalen). Auf sie folgen später im permischen System die ältesten Reptilien, eidechsenähnliche Tokosaurier. Erst in der darüber abgelagerten Trias, der ältesten mesozoischen Formation, treten die Stammformen der Säugetiere auf, die niedersten Implazentalien (Monotremen). In der ganzen Sekundärzeit, in Trias-, Jura- und Kreide-Formation, besteht die überwiegende Herrschaft der Reptilien, und erst in der nachfolgenden Tertiärzeit geht dieselbe auf die höheren plazentalen Säugetiere über. Auch hier entspricht die historische Sukzession der größeren und kleineren Gruppen durchaus den phyletischen Entwicklungsgesetzen; das sind sichere Tatsachen, deren Wert nicht überschätzt werden kann.
(Psychologische Fundamente des Monismus)
Die Frage vom Wesen der Seele des Menschen, von ihrem Verhältnis zum Körper und andererseits zu Gott, von ihrer Fortdauer nach dem Tode, gehört zu den strittigsten Problemen der Wissenschaft. Das zeigt sich schon darin, daß die Seelenkunde oder Psychologie von der größeren Hälfte der Fachgelehrten (den Theologen und den sogenannten »eigentlichen Psychologen«) als eine übernatürliche » Geisteswissenschaft« in Anspruch genommen wird, hingegen der kleineren Hälfte (den meisten Medizinern und empirischen Naturforschern) als ein besonderer Zweig der Naturwissenschaft gilt. Nach meiner festen Überzeugung ist dieser große »Kampf um die Seele« seit fünfzig Jahren endgültig zugunsten dieser letzteren entschieden. Die bewunderungswürdigen Fortschritte der Biologie in diesem Zeitraume haben uns gelehrt, daß die »Seele« oder der »Geist« des Menschen kein besonderes, vom Körper unabhängiges »Wesen« ist, sondern eine Summe von Gehirntätigkeiten. Die vergleichende Anatomie des Gehirns hat uns überzeugt, daß der gröbere und feinere Bau, ebenso wie die chemische Zusammensetzung des Gehirns, im allgemeinen beim Menschen dieselben sind, wie bei allen anderen Säugetieren, im besonderen aber gleich denjenigen der Menschenaffen. Die vergleichende Physiologie und Psychiatrie haben nachgewiesen, daß die Funktionen dieses »Seelenorgans« beim Menschen durch dieselben Gesetze der » Psychophysik« bedingt sind, wie bei allen anderen Wirbeltieren. Auch seine embryonale Entwicklung erfolgt in derselben Weise; die einfache birnenförmige Anschwellung der primitiven Hirnblase gliedert sich überall auf dieselbe Weise in drei hintereinandergelegene Hirnblasen: Vorderhirn, Mittelhirn und Hinterhirn. Die wichtigste von diesen ist das Vorderhirn oder Großhirn; ein Teil seiner grauen Rinde entwickelt sich bei den höheren Säugetieren zum Denkorgan (Phronema). In diesem eigentlichen »Geisteswerkzeuge« sind die höheren Seelentätigkeiten dergestalt lokalisiert, daß die Zerstörung einzelner Zentralteile (durch Erkrankung oder durch physiologisches Experiment) den Verlust der einzelnen, daran gebundenen Seelentätigkeiten bedingt (z. B. Sehvermögen, Gehör, Sprache, Raumsinn, Willen). Daraus ergibt sich klar und unzweideutig, daß es keinen »freien Willen« gibt und ebenso keine persönliche Unsterblichkeit der Seele.
Unsere monistische Psychologie befindet sich freilich noch in den Kinderjahren; sie vermag viele einzelne »Seelenrätsel« nicht zu erklären. Namentlich gilt dies vom Bewußtsein, das von vielen Philosophen und Naturforschern immer noch als ein »unlösbares Welträtsel« betrachtet wird. Ich habe indessen gezeigt, daß dieses »psychologische Zentralmysterium« nicht mehr und nicht weniger wunderbar ist als alle übrigen Seelentätigkeiten, und daß es gleich allen anderen Naturerscheinungen dem Substanzgesetze unterworfen ist. Vergleichende Betrachtung unserer eigenen persönlichen Seelentätigkeit überzeugt uns bei unbefangener Selbstkritik, daß der weitaus größte Teil derselben tatsächlich unbewußt verläuft; die »innere Spiegelung« im Phronema, welche das eigentliche Wesen des Bewußtseins ausmacht, ist ein vorübergehender Zustand der Großhirnrinde (Kap. 10 der Wl.).
Die dualistische Psychologie, die »übernatürliche Seelenkunde«, welche immer noch in den Kreisen der Theologie und der mit ihr verbündeten Schulphilosophie herrschend ist, betrachtet die Seele als ein immaterielles, selbständiges Wesen, welches den materiellen Körper nur zeitweise bewohnt und ihn beim Tode verläßt. Zu welchen Irrungen der Vernunft diese »Unsterblichkeitslehre« führt, zeigen die absurden Spuklehren des Spiritismus und Okkultismus. Sie würden längst überwunden sein, wenn nicht das » Gespenst« der unsterblichen Seele eine so große Rolle in der praktischen Sittenlehre und in der staatlich konzessionierten Religion spielte.
Empirische Grundlagen der monistischen Psychologie
Da die Erkenntnis ein Teil unserer Seelentätigkeit ist, so bildet auch die vielumstrittene Erkenntnistheorie einen Teil der Seelenlehre oder Psychologie. Da ferner die vorgeschrittene Psychologie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als ein besonderes Kapitel der Physiologie erwiesen ist, so gelten auch deren Gesetze, auf sicherer physikalischer und chemischer Basis ruhend, für die gesamte Seelenkunde. Nun wissen wir auch sicher, daß das Gehirn beim Menschen wie bei allen anderen Wirbeltieren das wirkliche Organ des Seelenlebens ist. Mit seiner Zerstörung hört die Seelentätigkeit auf. Wir wissen ferner, daß die höchststehende Klasse der Säugetiere sich vor den anderen Wirbeltieren durch eine höhere Entwicklung des Großhirns auszeichnet und daß dessen graue Rinde das eigentliche »Geistesorgan« darstellt. Die vergleichende Gehirnkunde der Wirbeltiere (Anatomie und Histologie) enthüllt uns die lange Stufenleiter, in der sich seit vielen Jahrmillionen langsam und stufenweise die verwickelten Gehirnstrukturen, entsprechend der Höhe ihrer Leistungen, historisch entwickelt haben. Die vergleichende Keimesgeschichte dieser verschiedenartigen Vertebratengehirne zeigt uns ferner, daß sie sich sämtlich aus denselben einfachen Grundlagen, aus dem blasenförmigen Kopfteil des Markrohrs oder Medularrohrs noch heute entwickeln; überall teilt sich dieses Urhirn in gleicher Weise in drei primäre Hirnblasen: Vorderhirn (Großhirn), Mittelhirn (Zwischenhirn) und Hinterhirn (Kleinhirn). Nur die erste von diesen drei Hirnblasen, das Großhirn, ist das Werkzeug der höheren Geistestätigkeit; mit seiner Zerstörung (z. B. durch Gehirnschlag, durch Erkrankung der Seelenzellen, durch experimentelle Vernichtung) verschwindet der sogenannte »Geist«, während die vegetativen Funktionen der Ernährung ungestört fortgehen können. Mit diesen sicheren Ergebnissen der anatomischen und genetischen Hirnforschung stehen in völliger Übereinstimmung die bedeutungsvollen Resultate der vergleichenden und der experimentellen Physiologie, sowie der Pathologie (Psychiatrie).
Unsere monistische, objektiv auf diese Erfahrungen gegründete Seelenlehre steht in völligem Widerspruch zu der dualistischen, subjektiv erdichteten Psychologie, wie sie noch heute durch die herrschende metaphysische Philosophie und die mit ihr verbündete mystische Theologie gelehrt wird. Diese ignoriert jene grundlegenden biologischen Tatsachen vollständig; sie will die Tätigkeit der Seele und das Wesen des Geistes allein durch ihre innere Selbstbeobachtung, die introspektive Methode ergründen. Der unversöhnliche Gegensatz, in welchem diese transzendente Seelenlehre der Metaphysiker und Theologen zu der empirisch begründeten Psychologie der Biologen und Psychiater steht, ist deshalb von so fundamentaler Bedeutung, weil die erstere sich mit dem Dogma von der Unsterblichkeit der Seele verknüpft, während die letztere dasselbe ablehnen muß.
Unsterblichkeit der Seele (Athanismus)
Die erstaunlichen Fortschritte, welche die monistische Psychologie in dem letzten halben Jahrhundert gemacht hat, die gesicherten Ergebnisse der objektiv urteilenden Anatomie und Physiologie des Gehirns, insbesondere die »Keimesgeschichte und Stammesgeschichte der Seele«, haben uns zu der klaren Erkenntnis geführt, daß der weitverbreitete »Glaube an die Unsterblichkeit der Seele« jeder wissenschaftlichen Begründung entbehrt. Ich habe bereits im elften Kapitel der »Welträtsel« die schwerwiegenden Gründe zusammengestellt, welche dieses »höchste Gebiet des Aberglaubens« vernichten. Allein die enge Anknüpfung desselben mit den wichtigsten Glaubenslehren des Christentums, der zähe Widerstand, welchen diese »unzerstörbare Zitadelle aller mystischen und dualistischen Vorstellungskreise« allen Angriffen der kritischen und reinen Vernunft entgegensetzt, besonders aber seine hohe Bedeutung sowohl für die theoretische Weltanschauung, wie für die praktische Lebensführung, zwingen uns, seine völlige Unhaltbarkeit ganz ausdrücklich zu betonen. Das ist namentlich deshalb notwendig, weil der Athanismus (das herrschende »Unsterblichkeitsdogma«) die metaphysische und dualistische Erkenntnistheorie von vornherein in ganz falsche Bahnen führt; die Voraussetzung eines selbständigen, vom Körper unabhängigen Geistes schließt alles Verständnis der wahren Seelentätigkeit aus.
Tatsächlich ist für die allermeisten Menschen, ebenso die höheren »Gebildeten« der Gegenwart, wie die niederen Klassen des ungebildeten Volkes, seit mehr als zwei Jahrtausenden ihre persönliche Unsterblichkeit die wichtigste von allen Fragen der »Welträtsel«; sie ist ihnen wertvoller selbst als die Frage nach dem »lieben Gott« und nach der Freiheit des Willens. Unzufrieden mit den vielen Mängeln dieses irdischen Daseins, unbefriedigt von den Ergebnissen seiner mühseligen Arbeit, gequält von Hindernissen im Kampfe ums Dasein, verlangt der arme Mensch nach einem höheren besseren Leben in einem idealen »Jenseits«, nach einem »ewigen Leben« im Paradiese. Diese »frommen Wünsche« sind im Gebiete der Dichtung vollberechtigt und finden im schönen Reiche der Kunst ihre vielseitige Befriedigung; sie können auch praktisch für viele Aufgaben der Lebensführung, insbesondere für die Schule und Erziehung, von großem Nutzen sein. Die reine Vernunft, auf den unwiderleglichen Tatsachen der Biologie fußend, überzeugt jedoch den unbefangenen und ehrlichen Denker mit voller Sicherheit, daß der Athanismus mit der klar erkannten Wahrheit völlig unvereinbar ist; die Wissenschaft kennt keine »persönliche Unsterblichkeit der Seele«. Diese schwerwiegende Überzeugung ergibt sich für uns aus den unerschütterlichen empirischen Grundlagen unserer phyletischen Psychologie.
(Kosmologische Fundamente des Monismus)
Die Frage vom Wesen der Welt, in der wir leben, von der Wirklichkeit der Dinge, die uns umgeben, ist die umfassendste und allgemeinste Aufgabe der eigentlichen »Naturphilosophie«,« sie hat seit mehr als 2000 Jahren die bedeutendsten Philosophen und Theologen beschäftigt und ist in der verschiedensten Weise beantwortet worden. Soweit nun auch deren Anschauungen im einzelnen auseinandergehen, so lassen sich schließlich doch alle in zwei große Gruppen gegenüberstellen, die monistische und die dualistische Kosmologie.
Die monistische Kosmologie betrachtet als ihr wichtigstes Fundament die allgemeine Geltung des universalen Substanzgesetzes. Ein einziges, allumfassendes, oberstes Naturgesetz beherrscht das ganze Weltall (Universum oder Kosmos), und Alles ist zugleich Natur (oder Physis). In dem universalen Begriffe der Substanz – als des » wirklichen Weltwesens« – vereinigt unser naturalistischer Monismus drei untrennbare Attribute oder Grundeigenschaften: die raumerfüllende Materie (= Stoff), die wirkende Energie (= Kraft) und die empfindende Weltseele (= Psychom). Indessen gehen die Ansichten der namhaftesten Naturphilosophen über die Beziehungen dieser drei Attribute noch sehr auseinander. Dagegen stimmen fast alle darin überein, daß die Gesetze von der »Erhaltung des Stoffes« (= Konstanz der Materie) und von der »Erhaltung der Kraft« (= Konstanz der Energie) ganz allgemein gültig sind. Viele verknüpfen damit auch das Gesetz von der »Erhaltung der Empfindung« (= Konstanz des Psychoms). Der wesentliche Grundgedanke, in dem alle drei Konstanzgesetze sich vereinigen, ist die Beständigkeit und Unzerstörbarkeit des Universums. Bei allem Wechsel des beständigen » Werdens und Vergehens« (im Einzelnen!) bleibt die Quantität der Substanz (im Ganzen!) beständig und unzerstörbar,- es gibt keinen »Anfang der Welt« und gibt auch kein »Ende der Welt«.
Die dualistische Kosmologie unterscheidet zwei verschiedene Welten, die nebeneinander bestehen und verschiedenen Gesetzen gehorchen. Die Natur als » Körperweit« unterliegt den festen und unabänderlichen Naturgesetzen und besitzt keine Freiheit. Die übernatürliche » Geisteswelt« hingegen soll von den festen Naturgesetzen unabhängig sein und in ihrer Freiheit die Grenzen der ersteren überschreiten können. Dieser kosmologische Dualismus herrscht zurzeit noch im größten Teile der Schulphilosophie und ist meistens eng verknüpft mit ontheistischen und metaphysischen Vorstellungen. monistische Kosmologie verweist ihn in das Gebiet der spiritualistischen Phantasiegebilde und der uferlosen religiösen Dichtung; aber seine wissenschaftliche Geltung müssen wir auf das Entschiedenste bestreiten.
Konstanz des Universum
(Universum perpetuum mobile – »Welträtsel« Kap. 13)
Die Frage nach dem Begriffe und dem Wesen der Substanz (= Hypokeimenon) gehört zu den allgemeinsten, schwierigsten und wichtigsten Problemen der Philosophie; sie hat demgemäß seit mehr als 2000 Jahren die verschiedenste Beantwortung erfahren. Ich habe im 12. Kapitel der »Welträtsel« (1899) das monistische » Substanz-Gesetz« an die Spitze aller Naturgesetze gestellt und dasselbe geradezu als »das wahre und einzige« kosmologische Grundgesetz bezeichnet. Ich vereinigte unter diesem Begriffe zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs und Alters, das ältere chemische Gesetz von der Erhaltung des Stoffes (= »Konstanz der Materie«, Lavoisier 1789) und das jüngere physikalische Gesetz von der Erhaltung der Kraft (= »Konstanz der Energie«, Robert Mayer, 1842). Das erstere, das »Konstanzprinzip der Materie«, besagt: »Die Summe des Stoffes, welche den unendlichen Weltraum erfüllt, ist unveränderlich«; das zweite, 53 Jahre jüngere Gesetz, das »Konstanzprinzip der Energie«, behauptet: »Die Summe der Kraft, welche in dem unendlichen Weltraum tätig ist und alle Erscheinungen bewirkt, ist unveränderlich.«
Die Vereinigung dieser beiden fundamentalen »Konstanzprinzipien« in einem einzigen, einheitlichen »Substanzgesetze« ist von höchster prinzipieller Bedeutung für unsere monistische Weltanschauung. Gewiß sind schon lange viele denkende Naturforscher, welche nach einer harmonischen einheitlichen Weltanschauung suchten, gleich mir zu der Überzeugung von der universalen Bedeutung dieser Einheit geführt worden. Vielen wird unser » monistisches Substanzgesetz« selbstverständlich erscheinen. Allein diese Auffassung ist noch heute weit entfernt, sich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen; sie wird energisch bekämpft von der ganzen dualistischen Philosophie, von der vitalistischen Biologie, ja sogar von manchen angesehenen Physikern. Diese seltsame Tatsache erklärt sich daraus, daß die beiden Konstanz-Prinzipien unmittelbar die große Grundfrage vom Zusammenhang ihrer beiden Objekte: »Materie und Energie« berühren, und somit den alten Streit der materialistischen und spiritualistischen Ansichten über das Wesen von »Stoff und Kraft« und über das Verhältnis dieser beiden Attribute der Substanz. Das Axiom von der Konstanz des Universums ist nicht allein mit dem allgemeinen »Prinzip der Kausalität« verknüpft, sondern berührt auch viele andere wichtige Probleme der Naturphilosophie und der Religion.
Unser » Naturalistischer Monismus« – oder »Hylozoismus« – gründet sich auf die Überzeugung, daß die Substanz als »Urgrund aller Erscheinungen« in der untrennbaren Verbindung von Stoff und Kraft beruht, daß Materie ohne Energie ebensowenig gedacht werden kann, als umgekehrt Energie ohne Materie. Dieser Grundgedanke der monistischen »Identitäts-Philosophie«, der schon vor mehr als 2000 Jahren den großen Denkern der Jonischen Naturphilosophie vorschwebte, fand seinen ersten systematischen Ausdruck im System von Baruch Spinoza (1670). Aber schon 90 Jahre früher hatte als sein Vorläufer der gewaltige Dominikanermönch Giordano Bruno, gestützt auf das neue heliozentrische Weltsystem des Kopernikus, demselben naturalistischen Pantheismus einen hochpoetischen Ausdruck gegeben (1584); zur Strafe für diese Ketzerei wurde er vom römischen Papste (dem von Menschenliebe beseelten »Statthalter Christi«!) 7 Jahre lang im Kerker gequält und dann am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen in Rom lebendig verbrannt. Bruno vertrat im Sinne unserer monistischen Religion ebenso klar und entschieden den Grundgedanken der »Gott-Natur«, wie Spinoza, dessen System seinen lapidaren Ausdruck in den drei Worten fand: »Deus sive natura« – Gott ist die Natur selbst.
Die Begründung des monistischen Substanzgesetzes, welche ich 1892 in dem Altenburger »Glaubensbekenntnis eines Naturforschers« versucht und 1899 im 12. Kapitel der »Welträtsel« eingehender ausgeführt hatte, wurde 1904 im 19. Kapitel der »Lebenswunder« wesentlich dadurch verbessert, daß ich den Begriff der Energie in zwei gleichgeordnete Begriffe spaltete und die Empfindung (Psychoma) von der Kraft (oder »Arbeit« im weitesten Sinne = »Wille« von Schopenhauer) ablöste. Die Überzeugung, daß die Empfindung (als unbewußte Fühlung oder Ästhese) ein ganz allgemeiner Vorgang in der Natur ist, wurde schon vor mehr als 2000 Jahren von Empedokles und den älteren »Panpsychisten« ausgesprochen, neuerdings namentlich von Carl Naegeli und Albrecht Rau (vgl. Kap. 19 der »Lebenswunder«). Wenn diese Anschauung, wie ich glaube, richtig ist, dann muß man auch den beiden »Konstanz-Prinzipien« der Materie und Energie als drittes, koordiniertes »Erhaltungsgesetz« das psychologische Gesetz von der » Erhaltung der Empfindung« (= Konstanz des Psychoms) an die Seite stellen. Bei der eingreifenden Bedeutung, welche die daraus folgende » Trinität der Substanz« besitzt, ist es zweckmäßig, hier noch einen Blick auf die drei fundamentalen Attribute der Substanz gesondert zu werfen (vgl. Tabelle 3 und 4, S. 62, 63).
Trinität der Substanz
Wenn wir die Gleichberechtigung der oben angeführten drei Konstanzgesetze anerkennen und die drei Attribute der Substanz: 1. Materie, 2. Energie, 3. Psychom als untrennbar überall verbunden betrachten, so gelangen wir zu einer einfachen Auffassung des universalen Substanzbegriffes, welche die alten und immer noch fortdauernden Streitigkeiten zwischen Materialismus, Energetik und Panpsychismus in Harmonie versöhnt. Der Hauptfehler dieser drei sich bekämpfenden Richtungen der Naturphilosophie liegt darin, daß jede von ihnen einseitig das eine Grundprinzip betont und die beiden anderen als untergeordnet von diesem ersten ableitet. So will der alte Materialismus oder die neuere Mechanistik den Stoff als einziges Urwesen geltend machen und sowohl die Kraft als die Empfindung ihm unterordnen. Die neuere Energetik will alle Erscheinungen aus der Kraft ableiten; sie läßt sowohl die Materie als die Psyche nur als besondere Fälle der Energie gelten (» Karma« im Buddhismus). Die Psychomatik oder der Panpsychismus (auch Psychomonismus in gewissem Sinne) läßt nur die Psyche oder den »Geist« als alleiniges Weltwesen gelten und will sowohl die Materie als die Energie diesem ersten und obersten Prinzip unterordnen (gleich dem » Atman« im Veda). Aus dieser exklusiven Einseitigkeit der drei Substanz-Auffassungen entspringt der immerwährende Streit um die ausschließliche Geltung eines jener drei Grundprinzipien.
Unser naturalistischer Monismus – oder »kosmischer Hylozoismus« vermeidet diese Einseitigkeit, indem er die Grundeigenschaften aller Substanz als untrennbar verbunden ansieht, als allgemeingültig (im ganzen Räume) und als unzerstörbar (in aller Zeit). Er ist also weder reiner Materialismus, noch absolute Energetik, noch unbedingte Psychomatik; vielmehr vereinigt er diese drei Hauptrichtungen zu einer vollkommenen Einheit. Wir gewinnen dadurch eine anschauliche Auffassung aller Erscheinungen, die von höchstem Werte für das Verständnis ihrer Natur ist. Der Urgrund alles Seins, alles Werdens und Vergehens läßt uns dann in der Universal-Substanz zugleich das »höchste Wesen« unserer monistischen Religion erblicken, Allgott oder Pantheos. Dieser »Universalgott« ist ewig und unvergänglich, unendlich in Raum und Zeit; er ist unpersönlich und unbewußt; er regiert die Welt durch seine »ewigen, ehernen, großen Gesetze«. Das gläubige Gemüt findet in der Anbetung und Verehrung dieses Allgottes ebenso volle Befriedigung, wie die reine Vernunft im klaren Verständnis seines Wesens und Wirkens.
Theologische Fundamente des Monismus
Die Frage vom Wesen Gottes und vom Verhältnis des Menschen zu diesem »höchsten Wesen« wird allgemein als eines der vornehmsten und wichtigsten Probleme im menschlichen Geistesleben betrachtet. Der metaphysische »Glaube an Gott« gilt noch heute der Mehrzahl der Menschen sowohl in theoretischer Hinsicht als die befriedigendste Lösung des »Welträtsels«, als auch in praktischer Beziehung als das wichtigste Fundament einer geordneten sittlichen »Lebensführung«. Da ich in der zweiten Hälfte der »Welträtsel« (Kap. 15–19) meine Ansichten darüber eingehend behandelt habe, kann ich mich hier darauf beschränken, meine Überzeugung von der Sicherheit meiner monistischen Religion zu begründen und die Unnahbarkeit der ihnen entgegenstehenden dualistischen Gottes-Vorstellungen nachzuweisen. In der am Schluß gegebenen Tabelle I (S. 60) habe ich die wichtigsten Unterschiede der beiden theologischen Theorien, des monistischen Pantheismus und des dualistischen Ontheismus, in knappster Form gegenübergestellt.
Pantheismus (Monistische Theologie)
Der Allgott oder Universalgott (= »Deus intramundanus«)
(= »Atheismus« im negativen vulgären Sinne)
Gott und Welt sind überall untrennbar verknüpft; als die letzte unerkennbare Ursache aller Dinge ist »Gott« der hypothetische »Urgrund der Substanz«. Die drei fundamentalen Attribute, welche wir als unveräußerliche, untrennbare Grundeigenschaften der universalen Substanz oder dem ganzen »Kosmos« zugeschrieben haben, sind also zugleich die drei wesentlichsten allgemeinen Charakterzüge unseres Pantheos, des Allgottes. Ob wir diesen unpersönlichen »Allmächtigen« als ›Gott-Natur« (Theophysis) oder als »Allgott« (Pantheos) bezeichnen, ist im Grunde gleichgültig. Sicher ist nur, daß derselbe nicht die anthropistischen Eigenschaften besitzt, welche der Ontheismus oder der dualistische vulgäre »Theismus« seinem persönlichen »Lieben Gotte« zuschreibt. Im klaren Lichte der »reinen Vernunft« beweist uns die moderne Wissenschaft, daß der Kosmos als Ganzes nur dem unbewußten Naturgesetze gehorcht. Alles geschieht mit absoluter Notwendigkeit nach dem mechanischen »Kausalgesetz«. Dabei spielt aber der blinde Zufall die größte Rolle, indem mehrere Ereignisse, die in keiner kausalen Beziehung zueinander stehen, zusammentreffen. Trotzdem ist immer jedes einzelne von ihnen die notwendige Folge von bewirkenden Ursachen. (Vgl. den Schluß von Kap. 14 der »Wl.«: »Ziel, Zweck und Zufall«).
Ontheismus. (Dualistische Theologie)
Der Schulgott oder Personalgott (= »Deus extramundanus«)
(= »Theismus« im engeren vulgären Sinne)
Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen. Der »Persönliche Gott« (= Schulgott) ist ein individueller Geist, der als unsichtbarer »immaterieller Spiritus« die Naturgesetze schafft und beliebig ändert. Gewöhnlich werden diesem »Allmächtigen Gott« folgende Eigenschaffen und Taten zugeschrieben: 1. Als » Schöpfer« hat Gott »die Welt erschaffen« (aus Nichts?). 2. Als weiser » Weltherrscher« regiert er den Weltlauf höchst zweckmäßig. (Ewiges »Werden und Vergehen« in der Entwicklung der Weltkörper und der Organismen?) 3. Als moralischer Gesetzgeber hat Gott seine »Gebote« gegeben, als bleibende Norm für eine »Sittliche Weltordnung.« (Krieg? Krankheiten? soziales Elend?) 4. Als »liebender Vater« hat er alle Verhältnisse zum Besten seiner »Geschöpfe« zweckmäßig geordnet. (Kampf ums Dasein? Parasitismus?) 5. Als gerechter Richter belohnt er die Guten und bestraft die Bösen; am »Tage des jüngsten Gerichts« (Wann?) werden alle »wiederauferstandenen« Menschen in zwei große Haufen geschieden: die Guten (schuldlos erkannten) kommen zu »ewiger Seligkeit« in den überirdischen Himmel (Wo?); die Bösen (schuldig verurteilten) werden in die unterirdische »Hölle geworfen und ewig verbrannt.« (Wo?)
Wir brauchen hier nicht nochmals daran zu erinnern, wie alle diese Glaubenssätze des Ontheismus für die reine Vernunft unhaltbar erscheinen müssen; sie erscheinen als gröbere oder feinere » Anthropismen«. Die Vermenschlichung Gottes ist dabei in den mannigfaltigsten Formen ausgebildet. Den meisten monotheistischen Religionen liegt dabei die Vorstellung eines orientalischen Monarchen zugrunde (Jehovah im Mosaismus, Gott-Vater im Christentum, Allah im Islam). Wenn aber vielfach dieser immaterielle Gott als » unsichtbarer Geist« vorgestellt wird, und ihm trotzdem die menschlichen Eigenschaften des Sehens, Hörens, Sprechens, Denkens usw. beigelegt werden, so gelangt man notwendig zu dem absurden Bild eines » gasförmigen Wirbeltieres«. Denn der Mensch, der sich Gott nach seinem Ebenbilde formt, bleibt unzweifelhaft ein echtes Wirbeltier; und der » Geist«, der seinen Organismus belebt, wird tatsächlich schon seit alter Zeit gasförmig oder als unsichtbarer Spiritus (»Odem Gottes«) vorgestellt, ebenso wie die »unsterbliche Seele« des Menschen selbst. Ich hebe das Ungenügende dieses groben Anthropomorphismus hier deshalb besonders hervor, weil viele Gläubige daran Anstoß genommen und mir »abscheuliche Blasphemie« vorgeworfen haben. Aber diese widersinnige Bezeichnung ist weder ein »schlechter Witz« von mir, noch eine »böswillige Verhöhnung heiliger Gefühle«, sondern vielmehr eine streng wissenschaftliche Charakteristik einer weitverbreiteten Vorstellung, welche ich selbst als Pantheist bekämpfe, während viele gläubige Theisten daran zähe festhalten und sie sogar für höchst wesentlich erklären. (Wl. Kap. 15).
Gott in der Anorgik
Die vielumstrittene Lösung des »Gottes-Rätsels« wird dadurch sehr erleichtert, daß wir die Geltung des üblichen Gottesbegriffes in den beiden großen Naturreichen kritisch vergleichen. Wenn wir die Gesamtheit der sogenannten toten oder anorganischen Natur unter dem Begriffe des Anorgon zusammenfassen und die Wissenschaft davon als Anorgik, so finden wir, daß seit einem Jahrhundert von »Gott« darin nur selten, meistens aber gar nicht die Rede ist. Das gilt von der ganzen modernen Kosmologie und Astronomie, von der ganzen anorganischen Physik und Chemie, von der ganzen Geologie und Meteorologie. Hier gilt jetzt allgemein die Überzeugung, daß ausschließlich feste, »ewige und eherne Gesetze« das ganze Weltgetriebe beherrschen. » Gott« ist selbst das allmächtige Naturgesetz. Diesem Allgott oder Pantheos werden nirgends jene anthropistischen Eigenschaften zugeschrieben, welche der Mensch, als »Ebenbild Gottes« in der Biologie dem persönlichen »Schöpfer« beilegt. Die genannten, streng »physikalischen« Wissenschaften sind also im Gesamtgebiete der Anorgik rein »pantheistisch«, oder was dasselbe heißt: »atheistisch«. Kein Physiker oder Chemiker, kein Astronom oder Geologe spricht in seinen Arbeiten und Vorträgen jemals mehr von »Gott«, von einem persönlichen Schöpfer und Regenten der anorganischen Natur. Nach Schopenhauer ist der »Pantheismus« nur ein höflicher »Atheismus« (»Schluß« des 15. Kap. der Wl.).
Der Pantheos der Anorgik, der »Allgott« in der gesamten anorganischen Naturkunde, ist ein theistischer Ausdruck für unseren atheistischen Substanzbegriff. Als einheitliche »Urkraft des Weltalls« wirkt er unbewußt in ewiger Bewegung und Energiebetätigung. Die ganze anorganische Natur wird durch blinde Werkursachen (Causae efficientes) beherrscht,- es gibt keine zielstrebigen Zweckursachen (Causae finales). Demnach ist auch der ganze Entwicklungsprozeß der Welt ohne Anfang und ohne Ende, ein kosmischer Kreislauf, der seinen präzisen Ausdruck in dem Satze findet: » Universum perpetuum mobile« (Kap. 13 der »Welträtsel«). Es gibt keine »Vorsehung«, keine »Sittliche Weltordnung«.
Dieser streng monistischen Auffassung wird jedoch auch heute noch von namhaften Naturphilosophen, darunter sehr bedeutenden Physikern, widersprochen. Besonders wird dagegen das berühmte Entropie-Gesetz geltend gemacht, der sogenannte »zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie«. Nach diesem » Prinzip der Dissipation« hat unsere Welt (– wenigstens unser Sonnensystem –) einmal einen Anfang seiner Bewegung gehabt (durch eine »Schöpfung Gottes«?) und geht einem endlichen Tode entgegen (durch »Wärmetod?«). Indessen ist schon vielfach darauf hingewiesen worden, daß dieser »zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie« dem ersten (dem Konstanz-Prinzip der Energie) in gewissem Sinne widerspricht. Neuerdings hat namentlich Svante Arrhenius, der »das Werden der Welten« in großzügiger Weise beleuchtet, betont, wie der kosmische »Strahlungsdruck« der Dissipation entgegenwirkt, und wie auch andere Verhältnisse in der Entwicklung der Weltkörper die Wirkung des Entropiegesetzes wieder aufheben. (Vgl. Kap. 13 der Wl.).
Gott in der Biologie
Während somit in allen angeführten Gebieten der Anorgik (im großen Ganzen des anorgischen »Kosmos«) der » allmächtige Gott« seine Rolle ausgespielt und seinen Thronsitz dem unbewußten Naturgesetz hat einräumen müssen, hat er seinen Einfluß in einem großen Teile der Biologie noch behalten. Vor allem scheinen die zweckmäßigen Einrichtungen der Organisation im Tier- und Pflanzenreich nur durch die Annahme eines vorbedachten »Zweckes« erklärbar zu sein. Die alte dualistische und theologische Vorstellung, daß der Schöpfer »mit Weisheit und Verstand« alle Dinge geordnet habe, scheint hier notwendig auf den Glauben an einen »persönlichen Gott« hinzudrängen, einen »Maschinen-Ingenieur«, der nach vorbedachtem Plane alle Einrichtungen zweckmäßig geordnet hat. Von der modernen wie von der alten Theologie, und ebenso von der mit ihr verbündeten dualistischen Schulphilosophie, wird diese anthropomorphe Vorstellung noch jetzt hartnäckig festgehalten, trotzdem ihr Darwin seit 55 Jahren durch seine geniale Selektionstheorie den Boden völlig entzogen hat.
Einer der wesentlichsten Irrtümer dieses biologischen Ontheismus ist darin begründet, daß die zweckmäßige Organisation der Lebewesen (– eine rein biologische Tatsache –) auf die kosmische Entwicklung des Weltganzen und aller seiner Teile übertragen wird. Allein die unleugbare Zweckmäßigkeit (– oder besser Nützlichkeit –) in der Organisation der Tiere und Pflanzen ist nicht die Folge eines bewußten methaphysischen Schöpfungsplanes (eine teleologische »Entelechie«), sondern die Folge der Anpassung, die auf der physikalischen Wechselwirkung der Organismen und ihrer Umwelt beruht; sie ist das notwendige Ergebnis des blinden »Kampfes ums Dasein«, der seit mehr als hundert Jahrmillionen die Stammesgeschichte der organischen Welt geregelt hat. Bei den höheren sozialen Tieren hat dieser unaufhörliche Kampf zur Ausbildung der Vernunft und zur geordneten Einrichtung der Sittengesetze in der Gesellschaft geführt. Dagegen kann von einer solchen moralischen Organisation im Weltganzen, im Gesamtgebiet der Anorgik, nicht die Rede sein; es gibt keine allgemeine Weltvernunft, keine überall gültige »sittliche Weltordnung«.
Wenn auch gegenwärtig die dualistischen Philosophen immer noch vergeblich nach einem »Sinn des Lebens«, nach einer höheren »Bestimmung des Daseins« suchen, so ist dagegen an die Kristalle zu erinnern. Wenn in einer Salzlösung beim Verdampfen sich feste Kristalle von ganz bestimmter geometrischer Form ausscheiden, so fragt kein Mineraloge oder Chemiker nach einem bestimmten »Sinn oder Zweck« dieser Strukturen; er betrachtet sie vielmehr als notwendige und selbstverständliche Folgen ihrer chemischen Konstitution. Ganz ebenso sind aber auch die ältesten und primitivsten Formen der Moneren (– wahrscheinlich einfache Plasmakügelchen gleich den heute noch lebenden Chrookokken und Nitrobakterien –) als individualisierte Körner aus flüssigem Plasma ausgeschieden. Ihre weitere Entwicklung zu kernhaltigen Zellen und deren Umbildung zu Geweben, ist nicht das teleologische Produkt eines bestimmten »Lebenszweckes«, sondern die mechanische Folge ihrer chemischen Konstitution und beständigen Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung.
Mechanistik und Vitalismus
Die naive Naturanschauung des Naturmenschen unterschied früher allgemein zwischen toten und lebendigen Naturkörpern: die besonderen Lebens-Erscheinungen, die nur an den Organismen wahrzunehmen sind, vor allen spontane Bewegung, Empfindung, Ernährung und Fortpflanzung wurden den Anorganen, den sogenannten »toten Körpern« abgesprochen. Auch in der Naturwissenschaft blieb dieser organische Dualismus in Geltung und veranlaßte ihre Spaltung in zwei prinzipiell verschiedene Zweige: Anorgik und Biologie. Das organische Leben sollte durch eine besondere Lebenskraft (Vis vitalis) veranlaßt sein, welche die »rohen Naturkräfte« in ihren Dienst nähme und beim Tode den Körper verlasse. Die großen Fortschritte, welche die Physik und Chemie der Anorgane einerseits, die Physiologie und Biogenie der Organismen anderseits, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten, führten zur Aufhebung dieses Vitalismus und verwiesen die »übernatürliche« Lebenskraft (ebenso wie die transzendente »Seele«, mit der sie oft identifiziert wurde –) als metaphysische » Gespenster« in das Reich der Dichtung. Sie verlor vollends alles Ansehen, nachdem Darwin 1859 das schwierigste »Lebensrätsel« gelöst und den Glauben an eine übernatürliche »Schöpfung« der Arten durch die mechanistische Erklärung ihrer Entwicklung aus der Wissenschaft entfernt hatte.
Neovitalismus. In befremdendem Gegensatze zu diesen mechanistischen Forschritten der modernen Biologie hat sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre eine mystische Richtung anspruchsvoll geltend gemacht, welche als » Neovitalismus«, den längst begrabenen Aberglauben der alten Irrlehre von der übernatürlichen Lebenskraft, den » Palavitalismus«, neuerdings zur Geltung zu bringen sucht. Ohne irgend welche neuen Tatsachen zu seinen Gunsten vorzubringen, suchte dieser konfuse Neovitalismus die angebliche »Autonomie des Lebens«, die rätselhafte »Eigengesetzlichkeit« der organischen Prozesse, durch eine sophistische Dialektik zur Geltung zu bringen. Daß er trotzdem ein gewisses Ansehen erlangte, erklärt sich aus der bedauerlichen Zunahme der Verwirrung, in welche einerseits kurzsichtiger Spezialismus, andrerseits Unfähigkeit zu philosophischer Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse, viele moderne Naturforscher führt. Ich habe die Gründe, welche diesen biologischen Dualismus widerlegen und dagegen die prinzipielle Einheit der organischen und der anorganischen Natur beweisen, bereits im 14. Kap. der Wl. erörtert. Im 15. Kap. der Lr. ist namentlich die damit eng verbundene Frage vom Lebensursprung besprochen. Dieses dunkle »Lebensrätsel«, die Entstehung der ältesten und einfachsten Organismen aus anorganischer Substanz ist durch die Hypothese der Urzeugung (Archigonie) in dem dort bestimmten Sinne befriedigend gelöst.
Urzeugung (Archigonie)
Die Frage von der Urzeugung, von der natürlichen Entstehung des ersten organischen Lebens auf unserer Erde, gehört noch heute zu den unklarsten verworrensten Problemen der ganzen »Naturgeschichte«. Viele denkende Leser, sogar angesehene Naturforscher, halten sie noch heute für ein höchst schwieriges, manche sogar für ein unlösbares Problem. In diesem Sinne führte sie 1880 E. du Bois-Reymond als das dritte seiner »Sieben Welträtsel« auf. Nach meiner festen Überzeugung ist dieses große biologische Problem nur ein besonderer Teil des oben behandelten »Substanz-Rätsels« und ist somit seit fünfzig Jahren im Prinzip gelöst; ich stimme darin vollkommen mit den Anschauungen des ebenso klar denkenden als tatsachenkundigen Botanikers Carl Naegeli überein, welcher vor 30 Jahren in seinem gedankenreichen Werke »Mechanisch-Physiologische Begründung der Abstammungslehre« (1884) die betreffende Betrachtung mit dem Satze schloß: »Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden«.
Meine eigenen Untersuchungen über Urzeugung erstrecken sich über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts; sie wurden frühzeitig dadurch hervorgerufen, daß ich (schon seit dem Jahre 1859) mit besonderer Vorliebe mich dem Studium der einfachsten Urtiere, insbesondere der Radiolarien zuwandte. Die bedeutungsvolle Reform der Zellentheorie, welche damals Max Schultze durch Aufstellung seiner Protoplasma-Theorie herbeiführte, und unsere gemeinsamen Studien über die »Sarcode der Rhizopoden«, waren dabei für mich von bestimmendem Einfluß; später ganz besonders meine Beobachtungen über Moneren (Chromaceen, Bakterien, Protamoeben, Protogenes etc.). Ich wies schon in der Generellen Morphologie (1866, Kap. V) auf die hohe prinzipielle Bedeutung dieser einfachsten » Organismen ohne Organe« hin, deren ganzer lebendiger Körper weiter nichts ist, als ein Stückchen von strukturlosem Plasma und also noch nicht einmal den Formwert einer einfachen kernhaltigen Zelle besitzt.
Das zweite Buch meiner Generellen Morphologie (1866) enthält sehr eingehende, kritische »Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung der Organismen; ihr Verhältnis zu den Anorganen, und ihre Einteilung in Tiere und Pflanzen« (Bd. II, S. 109-238). Die hier entwickelten Gesichtspunkte der vergleichenden Biologie, besonders die objektive Vergleichung der Zellenbildung und Kristallbildung, haben die fundamentale Einheit der organischen und anorganischen Natur genügend dargelegt. Der ganze Bios (d. h. die gesamte Welt der Organismen) ist sowohl in der Zeit, als im Raume verglichen, nur ein ganz geringer Bruchteil des Universum, nur eine kleine Episode in der unermeßlichen Geschichte des Anorgon, der fälschlich sogenannten toten Natur.
Nun haben freilich bis jetzt die vielen Versuche, die Archigonie experimentell zu beweisen, d. h. lebendiges Plasma aus anorgischen Kohlenstoff-Verbindungen künstlich herzustellen, keine positiven Erfolge gehabt. Allein das negative Ergebnis dieser Experimente, namentlich die berühmten Versuche von Pasteur über Generatio spontanea, haben für die Lösung dieses Rätsels nicht die geringste Bedeutung. Die meisten Biologen, die sich damit beschäftigen, gehen von der irrtümlichen Vorstellung einer ursprünglichen Organisation der einfachsten Lebewesen aus und berücksichtigen nicht, daß diese dem strukturlosen Körper der genannten Moneren noch ganz fehlt, ebenso wie dem zähflüssigen Plasmaleibe vieler einfachsten Rhizopoden (Myzetozoen) und dem strömenden homogenen Plasma innerhalb vieler Pflanzenzellen. Das Problem der Archigonie ist also ein rein chemisches; es kommt nur darauf an, durch Katalyse kolloidaler Substanz die einfachste Form von Plasma zu erzeugen; wenn diese fest-flüssige homogene Substanz sich individualisiert und in kleine Kügelchen zerfällt (– gleich den Regentropfen in der Wolke –) haben wir Moneren; ihre weitere Umbildung zu kernhaltigen Zellen einfachster Art ist eine Frage der physiologischen Chemie. (Näheres im 15. Kap. der »Lebenswunder«).
(Grundlinien der Ethik oder Sittenlehre)
Die wichtigste praktische Aufgabe der Religion ebenso wie der Philosophie ist die Begründung einer vernünftigen Sittenlehre; diese »Ethik« soll das Gute oder die Tugend fördern und das möglichste Glück der Menschen erzielen. Ich habe die Grundzüge unserer monistischen Ethik bereits in den »Welträtseln« (Kap. 18, 19) und in den »Lebenswundern« (Kap. 18, 19) erörtert, und ihren Gegensatz zu der traditionellen Sittenlehre der dualistischen Religion und Metaphysik scharf beleuchtet; ich kann mich daher hier darauf beschränken, die Sicherheit ihrer Grundlagen zu prüfen und kurz ihre Beziehungen zur Anthropologie und zur Theophysik zu erläutern. Im übrigen verweise ich auf die 18. Tabelle, welche am Schlusse des 18. Kapitels der »Lebenswunder« den »Gegensatz der monistischen und der dualistischen Sittenlehre« zeigt. Unsere monistische oder theophysische Ethik behauptet einen natürlichen Ursprung unserer Moral, hingegen die dualistische oder metaphysische Ethik einen übernatürlichen Ursprung. Aus der umfangreichen ethischen Literatur sind namentlich die Schriften von Ludwig Feuerbach, Herbert Spencer, Bartholomaeus Carneri und Friedrich Jodl hervorzuheben. In dem vortrefflichen kleinen »Katechismus der monistischen Weltanschauung« (Brackwede 1914) hat Dr. L. Frei die wichtigsten Grundsätze der naturgemäßen Ethik, die sich auf der Grundlage unserer einheitlichen Weltanschauung aufbauen, kurz und gemeinverständlich zusammengefaßt.
Natürlich gibt uns eine klare theoretische Weltanschauung die sicherste Grundlage für eine gute praktische Lebensführung. Allein in Wirklichkeit ist der Einfluß der ersteren auf die letztere viel geringer als man gewöhnlich annimmt. Denn die Richtschnur des Handelns, welches uns die Vernunft vorschreibt, wird überall gekreuzt durch die Wünsche des Gemütes und beeinträchtigt durch die altehrwürdigen Überlieferungen der mystischen Glaubenslehren, sowie durch die Macht der Leidenschaften, welche die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse erzielen. Während die Vernunft mit Hilfe der Wissenschaft die Erkenntnis des Wahren erstrebt, sucht das Gemüt den Weg zum Guten und Schönen zu finden.
Als wertvollstes Mittel zur Förderung des menschlichen Lebensglückes ist vor allem die Pflege der Kunst zu betonen. Eine unerschöpfliche Quelle des edelsten Lebensgenusses ist dem modernen Menschen in den herrlichen Gefilden der Dichtkunst und Tonkunst, in der bildenden Kunst und im Naturgenuß, in der Betrachtung der wunderbaren »Kunstformen der Natur« gegeben. Wie der Kulturmensch durch diese realen Genüsse des irdischen Lebens für den Verlust der eingebildeten Seligkeit in einem überirdischen Leben entschädigt wird, das hat namentlich David Strauß in seinem berühmten Bekenntnis: »Der alte und neue Glaube« (1872) gezeigt. Wir erinnern nur nochmals an das unsterbliche Wort von Goethe: »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion.«
Anthropologische Grundlagen der Ethik. Die moderne Menschenkunde hat uns zu der sicheren Erkenntnis geführt, daß der Mensch sich aus dem Stamm der Wirbeltiere entwickelt hat und daß alle seine morphologischen, physiologischen und psychologischen Eigenschaften aus denjenigen der Säugetier-Klasse abzuleiten sind. Die » sozialen Instinkte« der letzteren sind durch Anpassung an ihre Lebensgewohnheiten entstanden und durch Vererbung auf alle Glieder der Klasse übertragen; sie sind die Quelle, aus welcher die » Sitten« der Menschen entstanden sind. Eine lange Stufenleiter der aufsteigenden Entwicklung führt uns von den niederen Instinkten der älteren Säugetiere zu den höheren »Sitten« der jüngeren Mammalien hinauf, an deren Spitze die sozialen Raubtiere (Hunde) und Herrentiere (Menschenaffen) stehen. An diese letztern schließen sich dann unmittelbar die Instinkte der niedersten Menschenrassen (Wilde) an, und aus diesen sind die höheren moralischen Gewohnheiten der Barbaren und später die feineren Sitten der Kulturvölker hervorgegangen.
Sittengesetze. Die moralischen »Gesetze«, welche unsere sittliche Lebensführung bestimmen, sind demnach keine »Gebote« eines übernatürlichen Schulgottes, sondern nützliche Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft, welche sich als zweckmäßig erwiesen und im Laufe natürlicher Entwicklung durch Anpassung an das geordnete Staatsleben allmählich befestigt haben. Gleich allen anderen Institutionen sind sie beständigen Umbildungen und Verbesserungen unterworfen. Das gilt auch von dem berühmten » kategorischen Imperativ«, den Immanuel Kant an die Spitze seiner Moralphilosophie gestellt hatte. Ich habe seine Unhaltbarkeit bereits im 19. Kapitel der »Welträtsel« dargetan. Wilhelm Ostwald hat an dessen Stelle seinen » energetischen Imperativ« gesetzt, welcher in dem Satze gipfelt: »Vergeude keine Energie, sondern verwerte sie«. Dieser wichtige Satz ist in der Gegenwart um so mehr zu beherzigen, als unsere verfeinerte moderne Kultur die Vergeudung wertvoller Energie in stetig zunehmenden Maße fördert. Welche Kraftvergeudung wird nicht im modernen Staatsleben durch den wahnsinnigen Militarismus geübt, der in den stetig wachsenden Kriegsrüstungen den weitaus größten Teil des National-Vermögens verschlingt! Welche Energievergeudung fordert der übertriebene Luxus und der raffinierte Hedonismus der höheren Gesellschaftsklassen, der Prunk des Protzentums, der stets sich überbietende Hang nach sinnlichen Genüssen aller Art!
Seitdem der verdienstvolle Naturphilosoph Wilhelm Ostwald vor drei Jahren das Präsidium des deutschen Monistenbundes übernommen, hat derselbe in seinen gedankenreichen monistischen Sonntagspredigten sowie in zahlreichen Aufsätzen der von ihm herausgegebenen Wochenschrift: »Das monistische Jahrhundert« viele wichtige Probleme des praktischen Monismus zeitgemäß behandelt. Andere vortreffliche Aufsätze über monistische Ethik finden sich in der von Wilhelm Breitenbach herausgegebenen Monatsschrift: »Neue Weltanschauung«, in der Halbmonatsschrift: »Das freie Wort« (Frankfurt a. M.); ferner in den von Dr. Paul Carus (Chicago) redigierten englischen Zeitschriften: »Monist« und »Open Court«. Auch in den amerikanischen Zeitschriften »Der Freidenker«, (Milwaukee) und der Truthseeker (New York); ferner in den deutschen Zeitschriften »Der Freidenker«, »Die Tat« von Diederichs usw. erscheinen gegenwärtig zahlreiche Abhandlungen, welche die Prinzipien unserer monistischen Weltanschauung auf die verschiedensten Probleme des menschlichen Lebens, in Soziologie und Politik, in Pädagogik und Schulbildung, fruchtbar anwenden. Ich kann mich daher auf diese monistische Propaganda und die dort angeführte Literatur um so mehr beziehen, als ich selbst nicht geeignet bin, diese wichtigen Aufgaben der praktischen Philosophie wesentlich zu fördern. Einige Hinweise auf deren wesentlichste Sätze habe ich in den 30 »Thesen zur Organisation des Monismus« gegeben, welche 1904 bei Gelegenheit des zehnten internationalen Freidenker-Kongresses in Rom formuliert und zunächst im ersten Oktoberheft des »Freien Wort« (Frankfurt a. M.) veröffentlicht wurden. Sie sind abgedruckt im ersten Heft meiner kürzlich von Wilhelm Breitenbach gesammelten und herausgegebenen »Monistischen Bausteine« (Brackwede 1914).
Wenn wir hier von allen einzelnen Sittengesetzen und speziellen Regulativen ganz absehen, so bleibt uns an der Spitze aller Moralphilosophie jenes höchste Pflichtgebot übrig, das man gewöhnlich als das » goldene Sittengesetz« (auch als die »goldene Regel« oder den »goldenen Imperativ«) bezeichnet. Es wurde schon vor mehr als zweitausend Jahren von den berühmten »Weisen« Griechenlands und von den Religionsstiftern Asiens (in China und Indien) mit großem Erfolge gelehrt. Ich habe dieses ethische Grundgesetz bereits im 19. Kapitel der »Welträtsel« eingehend besprochen und gezeigt, daß sein höchstes Ziel die Herstellung des naturgemäßen Gleichgewichts zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen »Eigenliebe und Nächstenliebe« ist. »Was du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch.« Christus sprach dasselbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.
Dieses vornehmste Gebot des Christentums, das auch unser Monismus anerkennt, war aber keine neue Erfindung von Christus, sondern schon 500 Jahre vor ihm von verschiedenen Weisen des Altertums gelehrt worden. Andererseits beging das Christentum in seiner weiteren paulinischen Entwicklung den großen Fehler, daß es das höchste Gebot der Menschenliebe allzu einseitig übertrieb und vielfach die natürlichen Rechte des Individuums zugunsten der Gesellschaft herabsetzte. Die beiden natürlichen Triebe des Egoismus und des Altruismus sind aber gleichberechtigt. Wie die Selbstliebe die Erhaltung des Individuums anstrebt, so gilt die Nächstenliebe der Erhaltung der Gesellschaft, die der Einzelmensch nicht entbehren kann. Indem der Mensch das soziale Wohl des Staates fördert, dessen geordnete Gesetzgebung die erste Bedingung für höhere Kultur ist, arbeitet er zugleich für sein eigenes persönliches Glück.
Diesseits und Jenseits
Von größter Bedeutung für die naturgemäße Lebensführung ist natürlich der Verzicht auf den Unsterblichkeitsglauben. In den »Monistischen Studien« über Thanatismus und Athanismus (im 11. Kapitel der Wl.) habe ich gezeigt, daß der herrschende Glaube an die Unsterblichkeit der persönlichen Menschenseele jeden Anhalt in der Wissenschaft verloren hat. Die Priester der meisten dualistischen Religionen (namentlich der christlichen) fahren freilich trotzdem fort, den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit und an ein ewiges Leben im »Paradiese« (oder auch in der »Hölle«) als eine der wichtigsten Offenbarungs-Wahrheiten zu preisen. Das unbekannte »Jenseits« im Himmel, mit den ewigen Freuden des Paradieses, soll den armen Menschen für all die Mängel und Leiden entschädigen, welche er in dem mangelhaften »Diesseits« auf unserer Erde zeitlebens zu ertragen hat. Unzweifelhaft ist für die naiven Gläubigen jener verheißungsvolle »Wechsel auf die Zukunft« ein großer Trost und für die leidenden Armen und Elenden ein Palliativmittel zur Beruhigung. Aber leider ist jenes schöne Versprechen nur ein reines Phantasiegebilde der Dichtung, und die beglückende Hoffnung darauf entbehrt jeder realen Unterlage.
Unsere monistische, auf die klarste Erfahrung gegründete Anthropologie hat uns fest überzeugt, daß die persönliche Existenz jedes Menschen – mit Leib und Seele – ebenso sicher mit seinem Tode aufhört, wie sie mit der Entstehung der Stammzelle (mit der Befruchtung der mütterlichen Eizelle durch die väterliche Spermazelle) begonnen hat. Demzufolge hat unsere monistische Ethik allein die Aufgabe, dieses unser irdisches Leben so gut und schön, so glücklich und zufriedenstellend als möglich zu gestalten; unsere Erziehung kann keine weitere Aufgabe haben, als unsere Jugend, von frühester Kindheit an, allein für dieses »Diesseits« gut zu erziehen. Der einfachste, beste und wirksamste Leitfaden dazu bleibt immer das »Goldene Sittengesesetz«.
Monistische und christliche Religion
Der natürliche und notwendige Gegensatz, welcher zwischen unserer auf Wissenschaft begründeten monistischen Religion und den herrschenden, auf angebliche Offenbarung gestützten dualistischen Religionen – in erster Linie des traditionellen Christentums – besteht, ist in meinen früheren naturphilosophischen Schriften, besonders aber im 17. Kapitel der »Welträtsel« hinreichend beleuchtet worden. Hier wollen wir nur noch besonders auf den ganz verschiedenen Wert hinweisen, welchen in unserem modernen Kulturleben einerseits die theoretische christliche Glaubenslehre als Weltanschauung besitzt; andererseits die praktische christliche Sittenlehre als Norm und Richtschnur für unsere Lebensführung. Beide Aufgaben werden zwar, der alten geheiligten Tradition entsprechend, im christlichen Katechismus dogmatisch zusammengefaßt und in den Kirchen zusammenhängend gelehrt; tatsächlich aber ist in unserem heutigen Kulturleben die abergläubische christliche Weltanschauung völlig überwunden und durch die vernunftmäßigen Erkenntnisse der Wissenschaft ersetzt. Hingegen sind die ethischen Gebote der christlichen Lebensführung, soweit sie den naturgemäßen Forderungen der Humanität entsprechen, wertvolle Bausteine auch für unsere gereinigte monistische Sittenlehre geblieben.
Das Christentum als Weltanschauung, als theoretische Grundlage des allgemeinen Weltbildes, wird zwar auch heute noch von den orthodoxen Anhängern der christlichen Religion mit Fanatismus verteidigt. In vielen Kulturländern, in denen Thron und Altar zum Schutz des »alten Glaubens« sich verbünden, wird die christliche Offenbarungslehre, von der Schöpfungsgeschichte des Moses im Alten Testament bis zur Auferstehung und Himmelfahrt des Christus im Neuen Testament, als wichtigste Grundlage der Volksbildung festgehalten. Die dualistische Kirchenlehre, ebenso die rechtgläubige evangelische, wie die alleinseligmachende katholische, bemühen sich, einen Weg der Versöhnung ihres überlebten Aberglaubens mit den entgegenstehenden Ergebnissen der modernen Naturerkenntnis zu finden. Besonders wirksam erweist sich dabei die Sophistik der Jesuiten, sowohl in dem älteren Thomasbunde als in dem neueren Keplerbunde. Daß der dualistische Jesuitenbund hierbei keine Mittel der Täuschung für zu schlecht hält, habe ich 1910 in meiner Broschüre »Sandalion« gezeigt (»Offene Antwort auf die Fälschungsanklagen der Jesuiten«). Obgleich nun leider diese Irrlehren des jüdisch-christlichen Religionsgebäudes durch die Macht der konservativen Bildungskreise erfolgreich unterstützt werden, haben sie doch tatsächlich in der modernen Wissenschaft allen Boden verloren. Schon vor 400 Jahren hatte Kopernikus das alte geozentrische Weltbild zerstört, unsere Erde aus dem Mittelpunkt der Welt entfernt und ihr ein bescheideneres Planeten-Plätzchen im Sonnensystem angewiesen. Durch Darwin wurde uns vor 50 Jahren der Weg zur modernen Anthropogenie geöffnet, welche die anthropozentrische Weltanschauung aufhebt, den Menschen seiner angemaßten Gottähnlichkeit entkleidet und ihm seine wahre Stellung an der Spitze der Herrentiere anweist.
Die moderne Christologie hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß Christus ein reines Idealbild der religiösen Dichtung ist und daß er als persönlicher Mensch, als »Gottessohn« Jesus niemals gelebt hat. Aber auch wenn er wirklich existiert hat, kann seine Ansicht von Gott und Welt, von Seele und Mensch, keinen Anspruch auf wissenschaftliche Geltung erheben. Jesus behauptete freilich in gutem Glauben: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«! Aber er war ein idealistischer Schwärmer, der sich seine übernatürliche Weltanschauung auf Grund der orientalischen Mythologie aufbaute, nicht auf der unbefangenen Anschauung der Wirklichkeit und der klaren Naturerkenntnis. Jesus hatte keine Ahnung von der bewunderungswürdigen Höhe des klaren monistischen Weltbildes, welche die griechische Naturphilosophie schon 500 Jahre vor ihm erklommen hatte. Niemals aus den engen Grenzen von Palästina herausgekommen, hatte er keine Kenntnis von dem hohen Wert der feineren Geisteskultur, von den kostbaren Schätzen der Kunst und Wissenschaft, welche schon vor seiner Zeit in Griechenland und Ägypten, in Sizilien und Rom aufgespeichert waren. Da Christus unser unvollkommenes irdisches Leben verachtete und seinen Wert nur in der Vorbereitung für ein besseres unbekanntes »Jenseits« suchte, blieb ihm der Weg zur Wahrheit verschlossen. (Vgl. Kap. 17 der »Welträtsel«).
Indem ich mit den vorliegenden Studien über »Gott-Natur« meine naturphilosophischen Studien abschließe, fühle ich die Verpflichtung, den zahlreichen Lesern der »Welträtsel« und »Lebenswunder« zum Abschiede nicht nur meinen aufrichtigsten Dank für ihre Teilnahme an meiner Lebensarbeit auszusprechen, sondern auch einige Worte der Entschuldigung, daß ich viele der an mich gerichteten Fragen nicht befriedigend beantworten konnte. In wenigen Tagen vollende ich mein achtzigstes Lebensjahr und überschreite somit die Schwelle des »biblischen Alters«, durch welche naturgemäß der produktiven Geistesarbeit eine normale Grenze gesetzt ist. Zurückblickend auf den Zeitraum von sechzig Jahren, in welchem ich ununterbrochen meine wissenschaftliche Lebensaufgabe zu fördern bemüht war, empfinde ich mit besonderer Stärke den drückenden Gegensatz zwischen dem Erstrebten und Erreichten, zwischen den hohen Zielen, die ich mir in frischer Jugendkraft gesteckt hatte, und den unvollständigen Ergebnissen, die ich in fleißiger und gewissenhafter Arbeit wirklich erreicht habe.
Anderseits aber will ich nicht verschweigen, daß mich heute der Triumph der monistischen Weltanschauung, für welche ich während eines halben Jahrhunderts ununterbrochen gekämpft habe, mit einem hohen inneren Glücksgefühl erfüllt. Denn ich habe in diesem denkwürdigen Zeitraum nicht nur die gewaltigsten Fortschritte der Naturerkenntnis und der mit ihr verknüpften Kulturarbeit als staunender Zuschauer passiv miterlebt, sondern auch als begeisterter Mitarbeiter aktiv an deren Ausbau mich beteiligen können.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird für alle Zeiten in der Kulturgeschichte der Menschheit eine der glänzendsten Reformperioden bleiben. Die erstaunlichen Fortschritte der Astronomie und Kosmologie, der Geologie und Palaeontologie, der Physik und Chemie, der Biologie und Anthropologie haben in diesem Zeitraum den größten Teil der trüben Wolken verscheucht, welche der dunkle Aberglaube des Mittelalters noch über der herrschenden dualistischen Weltanschauung ausgebreitet hatte. Die ersehnte » Lösung der Welträtsel« ist dadurch in erfreulichster Weise gefördert worden, wie ich in der kurzen Übersicht am Schlusse dieses Buches (im 20. Kapitel) gezeigt habe. Dadurch ist zugleich unser monistisches Substanzgesetz (Kapitel 12) als das allumfassende » kosmologische Grundgesetz«, zu dem »sicheren, unverückbaren Leitstern geworden, dessen klares Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erscheinungen den Pfad zeigt.« Der sichere Ariadnefaden, den wir dabei in fester Hand halten, ist unsere moderne Entwicklungslehre.
Daß dadurch nicht nur ein fester Boden für die monistische Philosophie, sondern auch für die naturgemäße, davon nicht zu trennende Religion gewonnen ist, habe ich bereits 1866 in der » Generellen Morphologie« gezeigt, in dem Jugendwerk, in welchem ich vor 48 Jahren alle wesentlichen Grundgedanken meiner späteren naturphilosophischen Arbeiten zu einem festen Programm gestaltet hatte. Das letzte (30.) Kapitel dieses Werkes (Band II, S. 448) ist betitelt » Gott in der Natur« und sucht zu zeigen, daß unser Monismus zugleich der vollkommenste Pantheismus ist. Wenn man nun den Gottes-Begriff – im Sinne von Giordano Bruno, von Spinoza und von Goethe – alles persönlichen Anthropismus entkleidet, und wenn man die Spur von »Gottes Geist« überall in der Natur bewundernd und andachtsvoll erkennt, so kann man wohl sagen, daß dieser Monismus auch der reinste Monotheismus ist. Der Schlußsatz jenes Werkes (– von dem 40 Jahre später der dritte Teil in unverändertem wörtlichen Abdruck unter dem Titel: »Prinzipien der generellen Morphologie«, Berlin 1906, erschienen ist –) hebt ausdrücklich hervor, daß »Gott die notwendige Ursache aller Dinge ist«. Indem der Monismus keine anderen als die göttlichen Kräfte in der Natur erkennt, indem er alle Naturgesetze als göttliche anerkennt, erhebt er sich zu der größten und erhabensten Vorstellung, welcher der Mensch fähig ist, zu der Vorstellung der Einheit Gottes und der Natur.
Wie sich auf diesem einheitlichen einfachen Grundgedanken unser »Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft« aufbaut, habe ich vor 22 Jahren in meinem Altenburger Vortrage (1892) gezeigt und sodann im 18. Kapitel der Welträtsel (1899) weiter ausgeführt. Die feste, unerschütterliche Überzeugung von der Wahrheit dieses »Glaubensbekenntnisses eines Naturforschers« hat durch meine vielen biologischen Spezial-Arbeiten, und namentlich durch die vier großen Monographien (Radiolarien, Spongien, Medusen, Siphonophoren), mit denen ich 30 Jahre hindurch beschäftigt war, eine sicherere empirische Grundlage erhalten. Denn ich behielt bei der speziellen Analyse der vielen tausend beschriebenen Lebensformen und ihrer Entwicklung beständig ihre Beziehungen zu dem großen Ganzen der Natur im Auge. Das alte Leitwort der echten Naturforschung: »Rerum cognoscere causas« (die wahren Ursachen der Dinge ergründen) führt mich dann immer sicherer zur Erkenntnis der kausalen Einheit in allen Erscheinungen, und zu jener andachtsvollen Naturreligion, welcher der große Giordano Bruno schon vor mehr als 300 Jahren den klarsten Ausdruck in den Worten gegeben hat: »Ein Geist lebt in allen Dingen und es ist kein Körper so klein, daß er nicht einen Teil der göttlichen Substanz in sich enthielte.« In demselben Sinne hat später Spinoza in seiner Identitätsphilosophie Gott und Natur für gleichbedeutend erklärt (»Deus sive natura«) und kein Geringerer als Goethe hat diesem tiefsten Grundgedanken der Theophysis in seinen unvergleichlichen Dichtungen: Faust und Prometheus, Gott und Welt usw. den schönsten poetischen Ausdruck gegeben.
Wenn ich in meiner langen Lebensarbeit zu einer festen, subjektiv vollkommen klaren Überzeugung von der Wahrheit der monistischen Naturphilosophie und Religion gelangt bin, so verdanke ich das nicht nur jener breiten Basis meiner naturwissenschaftlichen Forschungen und der damit verknüpften gründlichen medizinischen Bildung, sondern auch dem glücklichen Umstande, daß die ersteren mich auf zahlreichen Reisen in alle Teile von Europa sowie in die interessantesten Gebiete des südlichen Asiens und des nördlichen Afrikas führten. Da erwarb ich mir durch lebendige Anschauung eine umfassende Kenntnis nicht allein der unendlich formreichen Tier- und Pflanzenwelt unserer herrlichen Erde, sondern auch des Menschen in seinen mannigfaltigsten Gestalten und in seinen Beziehungen zu den verschiedensten Lebensbedingungen. Ich tat einen unbefangenen Blick auch in die verschiedenen Hauptformen der Religion und streifte dabei die Vorurteile ab, welche uns in Europa durch die frühzeitige Anpassung an die mystischen Glaubenssätze des Christentums anerzogen werden. Die viel betonten Gegensätze in den Glaubenslehren der drei großen Mediterran-Religionen – der mosaischen, der christlichen und der mohammedanischen Religion – erweisen sich sowohl hinsichtlich der theoretischen Weltanschauung als der praktischen Lebensführung bei weitem nicht so groß, als sie von unserem einseitig konfessionellen, orthodoxen, katholischen oder protestantischen Gesichtspunkte aus gewöhnlich dargestellt werden. Und dasselbe gilt von der buddhistischen und brahmanischen Religion in Indien, von den älteren Religionsformen des östlichen Asiens. Überall kehren gewisse Grundgedanken des Ontheismus in ähnlichen Formen wieder und zeigen eine lange Stufenleiter der religiösen Entwicklung; sie beginnt mit dem Fetischismus und Dämonismus der rohen Naturvölker und Barbaren; sie steigt in vielen Abstufungen zu dem Polytheismus und Monotheismus der Kulturvölker hinauf (Kapitel 15 der »Welträtsel«). Die reinsten Formen dieses Ontheismus (wie sie z. B. der evangelische Theologe Schleiermacher entwickelte) gehen dann unmerklich in unseren monistischen Pantheismus über.
»Gottes ist der Orient,
Gottes ist der Occident,
Nord und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.«
( Goethe.)
Mit Leitworten von Wolfgang Goethe habe ich jedes einzelne der 30 Kapitel meiner Generellen Morphologie eingeführt und auch in anderen Schriften habe ich oft Gelegenheit gehabt, aus seinen wunderbaren Dichtungen die schönste Form für den unvollkommenen Ausdruck meiner eigenen monistischen Gedanken zu entleihen. Es geschah dies nicht bloß aus Ehrfurcht vor unserem größten deutschen Dichter, dessen unvergleichliche Geisteserzeugnisse ich schon in früher Jugend bewundern lernte, sondern auch in dankbarer Erinnerung daran, daß es mir in Jena vergönnt war, ein halbes Jahrhundert hindurch in den unvertilgbaren Spuren des Geisteshelden von Weimar zu wandeln. In den engen Räumen der alten Anatomie, wo Goethe die Schädeltheorie aufstellte und die Morphologie begründete, hielt ich vor 50 Jahren meine ersten Vorlesungen über vergleichende Anatomie; in unserem reizenden botanischen Garten, wo er die » Metamorphose der Pflanzen« ausführte, studierte ich die von ihm gepflanzten Bäume, darunter die berühmte Conifere Gingko biloba, welcher er in dem Westöstlichen Divan (in Gedanken an Suleika) Unsterblichkeit verliehen hat. In den blumenreichen Waldungen des Forstes und auf den malerischen Felsen der Kernberge genoß ich viele hundert Male den Reiz unserer wundervollen Thüringer Landschaft, welcher wir so viele seiner schönsten Dichtungen verdanken. In den Ruinen der alten Lobedaburg (»wo hinter Türen und Toren einst lauerten Ritter und Roß«) sah ich Goethes Blicke nach dem Wahrzeichen der Leuchtenburg hinüberschweifen; und am Fenster des westlichen rosenumkränzten Schlosses von Dornburg fühlte ich, wie hier unser größter Dichter den Schlangenwindungen der Saale gefolgt war. Ja, ein besonders gütiges Geschick schenkte mir das auserlesene Glück, daß ich vor 30 Jahren mir auf demselben malerischen Erdenfleck (am rechten Leutra-Ufer, damals Kartoffelfeld) mein bescheidenes Häuschen – die Villa Medusa – erbauen durfte, auf welchem Goethe 100 Jahre früher eine Zeichnung von dem schräg gegenüberliegenden »Schillergarten« und der Leutrabrücke entworfen hatte.
Überall lebt in Jena wie in Weimar der wahrhaft »unsterbliche« Geist von Goethe lebendig fort; und überall sehen wir, wie dieser » große Heide von Weimar« (der sich selbst als »dezidierten Nichtchristen« bekannte) in seiner » Gott-Natur« den theophysischen Grundgedanken unseres heutigen Monismus vorwegnahm. So kann ich denn diese meine letzte Studie über monistische Philosophie und Religion auch nur mit seinen Worten schließen:
» Gewiß, es gibt keine schönere Gottesverehrung als diejenige, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserm Busen entspringt!«
Nachwort
Diejenigen Leser der » Welträtsel« und » Lebenswunder«, welche an den vorstehenden »Studien über monistische Religion« ein tieferes Interesse finden und eine weitere Begründung meiner bezüglichen Anschauungen in meinen früheren Schriften aufzusuchen wünschen, kann ich besonders auf folgende Werke verweisen:
I. Generelle Morphologie der Organismen, 1866 (Berlin, G. Reimer). 2 Bände. Da dieses Werk schon lange vergriffen ist, wurde 1906 sein dritter Teil in wörtlichem Abdruck unter dem Titel »Prinzipien der generellen Morphologie« herausgegeben.
II. Natürliche Schöpfungsgeschichte; Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre, 1868, Berlin, G. Reimer. (Zwölfte Auflage 1920.) Mit 30 Tafeln.
III. Systematische Phylogenie. Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte. 1894 bis 1896. Berlin, G. Reimer. 3 Bände.
IV. Anthropogenie; Entwicklungsgeschichte des Menschen. Erster Teil: Keimesgeschichte. Zweiter Teil: Stammesgeschichte. 1874. Leipzig, W. Engelmann. (Sechste Auflage, 2 Bände, 1910. Mit 30 Tafeln und 500 Holzschnitten.)
V. Gemeinverständliche Vorträge über Entwicklungslehre 1902. Bonn, Emil Strauß. 2 Bände.
VI. Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen in Altenburg 1892. – (17. Auflage, 1922.) Leipzig, Alfred Kröner.
VII. Alte und neue Naturgeschichte. Festrede zur Übergabe des Phyletischen Museums an die Universität Jena, 1908. (Mit Verzeichnis der Druckschriften.) Jena, Gustav Fischer.
VIII. Unsere Ahnenreihe ( Progonotaxis Hominis). Kritische Studien über Phyletische Anthropologie. Festschrift. Mit 6 Tafeln. Jena 1908, Gustav Fischer.