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Eine Wohnung, deren Fenster die Aussicht auf einen schönen Garten haben, um die das saftige Rebenlaub mit seinen Ranken natürliche Jalousien bildet, die keinem neugierigen Auge in die stille Klause zu dringen gestatten, dagegen so viel runde und eckige Oeffnungen haben, daß man im Geheim die ganze Nachbarschaft dadurch belauschen kann, ist eine schöne Sache im Sommer. Ich hatte eine solche Stube, und es war mein größtes Vergnügen, zuzulauschen, wie die Natur aus ihrem Schlummer erwachte, wenn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf Gras und Blätter Tausende von Diamanten warfen, die Vögel ihre Morgenlieder sangen, und die Goldkäfer und Ameisen über die weißen Sandwege emsig ihren Geschäften nachliefen. Und dann erst am Abend, wenn es allmählig stiller ward in den Büschen und Gräsern, wenn die schöne Nacht empor stieg und der müde Tag an ihrem Herzen entschlummerte! Wie gut und sanft war die Nacht, wie ruhig und still, bis er wirklich fest eingeschlafen war! Dann warf sie einen Blick auf den ruhenden Geliebten, bewegte geräuschlos ihren Zauberstab, rief ihre Genien und Fantome hervor, ermunterte sie zu Tänzen und Gesängen, und hieß sie die Seele des entschlafenen Tages mit bunten Träumen umgeben. O sie war schön die Nacht und freundlich! Wie oft bin ich an ihrer Brust entschlummert, und auch um mich flatterten die bunten Gestalten, welche aus den Blumen empor stiegen, und die kleinen zierlichen Elfen, die hervorkamen aus dem silberhellen Bach. Wie oft legte sich eine kleine Nixe an mein Herz, und ließ das ihre leise gegen das meine schlagen, und preßte mir einen glühenden Kuß auf die Lippen, daß ich oft im Traume geglaubt habe, es sei die schöne Emma, deren Herz aber nie an dem meinigen schlug und die mich nie geküßt hat.
So schaute mein Geist in das dunkle Laubgewölbe des Gartens, welcher vor meinem Fenster lag. Gewöhnlich aber spähte auch mein leibliches Auge hinein, ob sich nicht irgend eine liebenswürdige Nachbarin sehen lasse, die da in den schattigen Gängen herumspazierte; denn eine solche Erscheinung gehört zu der Wohnung, die an einem Garten liegt. Ich wußte, daß der vor meinem Fenster einem reichen Kaufmann gehörte, welcher eine einzige, allerliebste Tochter hatte, die ungefähr sechzehn Jahre alt sein mochte. Ich hätte mich sehr gefreut, das liebliche Kind zuweilen zu sehen; doch waren die Anlagen groß, und meine Wohnung lag ganz am Ende derselben, deßhalb wurde mir dieses Glück nie zu Theil. Ich hatte nicht im Sinn, irgend ein Verhältniß anzuknüpfen oder auch nur den Versuch zu machen; es hätte mich nur aufgeheitert und meine Phantasie erfrischt, so ein niedliches Wesen unter den Rosen umherflattern zu sehen.
Endlich, nachdem ich schon alle Hoffnung aufgegeben, ward mein Wunsch erfüllt. Eines Abends lag ich im Fenster; da sprang über eine der Grasflächen, deren es viele im Garten gab, ein niedliches Reh, das ich schon oft bemerkt hatte, gerade auf meine Wohnung zu, blieb zuweilen stehen, und wandte den Kopf zurück, als necke es Jemand, der ihm nachkäme. So war es auch; fast athemlos, doch laut lachend lief hinter ihm die Tochter des Kaufmanns, dem Thiere: Fritz! Fritz! nachrufend. Nahe vor meinem Fenster warf sich das Mädchen auf eine Rasenbank, und lockte das Reh so lange, bis es kam, und sich zu seinen Füßen lagerte. Es war eine allerliebste Gruppe. Seit der Zeit kamen Beide oft in diese Gegend der Anlagen. Wenn meine Eitelkeit auch noch größer gewesen wäre, als sie wirklich war, so hätte ich doch unmöglich auf den Gedanken kommen können, als sei ich ein Magnet geworden, welcher das liebliche Kind anzöge, weil mich Niemand sehen konnte, da, wie schon gesagt, dichtes Rebenlaub meine Fenster umrankte.
Eines Tages hatte sich das Mädchen aus die Bank gelagert und las emsig in einem Buch, da ward ein kleines Thor, welches neben meiner Wohnung von der Straße in den Garten führte, hastig eröffnet, und ein bildhübscher junger Mensch trat herein. Derselbe war phantastisch gekleidet, und da es gerade in der Meßzeit war, so muthmaßte ich, er gehöre zu irgend einer der Gaukler- oder Künstler-Gesellschaften, die gerade ihr Wesen in der Stadt trieben. Er war im höchsten Grade aufgeregt. Rasch um sich blickend, strahlte sein Auge vor Vergnügen, alle seine Bewegungen waren wild und heftig, er kam mir in diesem Augenblicke wie ein junges Pferd vor, das, dem dunklen Stalle entlaufen, die frische Luft einathmet und sich der gewonnenen Freiheit freut. So sah er mit erhobenem Haupte um sich, holte aus tiefer Brust Athem und sprang mit wilden Sätzen über Bouskets, Grasplätze und Wege. Jede Blume, bei der er vorbei kam, betrachtete er neugierig und freudig, legte sein Gesicht darauf oder drückte sie an die Brust. Plötzlich blieb er erstaunt stehen, denn er war durch eine Wendung des Weges gerade vor das Mädchen getreten, welches, das Geräusch des Kommenden hörend, aufgesprungen war, und die seltsame Erscheinung überrascht ansah. Das Reh ging in weitem Kreise um Beide herum, eine dunkle Röthe überzog die Züge des jungen Mannes, er ließ sich auf ein Knie nieder und sprach zu dem Mädchen: »O sage mir, wer bist du?« Sie trat einen Schritt zurück und entgegnete mit nicht geringer Verlegenheit: »Ich heiße Louise und mir gehört dieser Garten.«
»Alles, das Alles gehört Dein?« sagte der Unbekannte. »Alle diese lebenden Bäume, diese wirklichen Blumen und der blaue Himmel, der tausendmal schöner ist, als ein gemalter? O laß mich deine Hand küssen, du bist so freundlich, laß mich etwas bei dir in diesem schönen Garten bleiben.«
Dem Mädchen schien das sonderbare Benehmen des jungen hübschen Mannes zu gefallen. »Aber,« antwortete sie, während er ihre Hände ergriff und sie mit heißen Küssen bedeckte, »aber wer sind – wer bist Du denn?« – das Du sprach sie ganz leise.
»Ja,« entgegnete der junge Mann, »das ist eine traurige Geschichte. Wenn ich das nur selbst wüßte. Der alte Mann, der mich mit sich herum führt, der mich immer in die hölzerne Bude oder in den Wagen sperrt, ruft mich nur mit dem Namen Pique!«
»Aber was thust Du denn in der hölzernen Bude?« fragte das Mädchen.
»Ich mache Kunststücke, und darnach werde ich jedesmal eingeschlossen; denn der alte Mann sagt, draußen laure etwas auf mich, und wenn mich das träfe, sei ich verloren. Heute bin ich entsprungen und hieher gelaufen, wo es so schön ist. O laß' mich einige Augenblicke hier diese lebendigen Bäume ansehen, die so frisch sind, und die natürlichen Blumen, die so süß duften. Laß' mich etwas bei Dir bleiben, die Du noch schöner bist, als das Alles.« Er legte sich in's Gras und zog das Mädchen neben sich, das sich von seinem Erstaunen nicht erholen konnte und willenlos zu ihm hinabsank, erst auf die Knie, dann neben ihn auf den weichen Rasen.
Es war für mich ein seltsamer, ein holder Anblick! – sie mit dem reichen Gewand, mit dem blühenden Gesicht, in welchem Erstaunen, Scham und Wohlgefallen an dem schönen Jüngling wechselten; er in dem sonderbaren phantastischen Aufputze, mit dem schönen, freudestrahlenden Blick, tausenderlei Fragen, tausenderlei Bemerkungen machend, mit einer ewigen Verwunderung; dazwischen das Reh, welches bald dem Einen, bald dem Andern zutraulich über die Schulter sah. Ich muß gestehen, ich ward mit den Unschuldigen zum Kinde, ich habe eine Thräne geweint, eine Sehnsuchtsthräne nach einem Glück, wie das der Beiden, nach einem Herzen, das mich liebevoll anhöre, wenn ich ihm von den wirklichen lebendigen Blumen und Bäumen erzählen wollte, von den Gesprächen der Rosen und den Poesien der Goldkäfer – aber kein Herz, kein Herz für mich, das mich verstünde!
Eine gute Stunde brachten die Beiden unter Lachen und Plaudern hin; dann erhob sich das Mädchen, reichte dem jungen Manne ihre beiden Hände hin und sprang blitzschnell dem Hause zu. Er sah ihr nur einige Minuten nach, und lief dann mit derselben Hast, mit welcher er gekommen, durch das Gartenthor, wahrscheinlich nach seiner Bude zurück. Mich interessirte es übrigens sehr, zu wissen, wer er sei. Ich hatte eine dunkle Ahnung, in ihm auf einen Gegenstand zu stoßen, mit dem ich früher in näherer Beziehung gestanden und den ich gekannt hatte; er war mir zu unerwartet schnell entschwunden, als daß ich ihm hätte folgen können, um zu sehen, wo er geblieben. Darum mußte ich mich, wollte ich meinen Zweck erreichen, zu einer Wanderung durch die sämmtlichen Buden und Merkwürdigkeiten der Messe entschließen. Eine Zimmerreise durch Amerika, Asien und Afrika war bald abgemacht, ohne daß ich etwas gefunden; das große Skelett eines Wallfisches, welches ich besehen, hatte mich meinem Zwecke nicht näher gebracht; ich durchstöberte zwei Menagerien und wohnte den Vorstellungen einer Kunstreiter-Gesellschaft bei, besah hier außer dem sich heute Abend producirenden Personale in den Ställen und Garderoben die sämmtlichen andern Mitglieder, ohne eine Spur von meinem Unbekannten zu finden.
Unterdessen war es spät geworden, und ich mußte die Untersuchung der noch übrigen Buden auf den andern Tag verschieben. Ich schlenderte nach Hause und kam ganz am Ende des Marktplatzes noch an einem Bretterhause vorüber, das ein alter kleiner Mann, wahrscheinlich nach eben beendigter Vorstellung, verschloß. Sonderbar nahm sich das Costüm und die grell geschminkten Wangen im Halbdunkel des Abends aus; der bleiche Kopf mit den zirkelrunden rothen Flecken, auf dem ein goldbordirter, dreieckiger Hut saß, dazu ein rother Frack, gelbe Hosen und weiße Strümpfe; und welch ein Gesicht! hart, wie aus Stein geformt, veränderte sich kein Zug darin. Die tiefen Furchen konnte kein Lächeln mehr ausgleichen, sie schienen mit dem Meißel hineingearbeitet; sicher waren Zeit und Lebensstürme die Bildhauer gewesen. Dabei liefen die Augen unheimlich von einer Seite zur andern, während der kleine Mann das Schließen der Bude mit der größten Schnelligkeit betrieb. Entweder hatte er dringende Geschäfte, oder es mußte ihm auf der Straße nicht behaglich sein, denn kaum hatte er Läden und Thüren verschlossen, so schlüpfte er rasch zu einem Nebenthürchen hinein, und auch das hörte ich ihn von Innen mit zwei Riegeln verschließen. Ich stand lange nachdenkend und sah der Erscheinung nach; dies Gesicht? die ganze Figur – es stiegen dunkle Erinnerungen in mir auf; ich hatte ihn früher gesehen, doch wo? ich konnte mich nicht im Augenblick darauf besinnen; je mehr ich indeß über die seltsamen Züge nachsann, um so mehr stiegen üppige, sonderbare Gedanken in mir auf. Er erinnerte mich an eine Nacht, in der ich viel geträumt und viel gesehen hatte, der alte gebeugte Mann mit der tiefen Melancholie, der rothe Rock – richtig, es war das Gespenst jener Nacht auf dem Rathhausplatze in Cöln, ja, ja, er war es! Und der junge Mensch, der mir so plötzlich wieder ins Gedächtniß kam! Sollte ich hier zugleich bei meinem Alten auch einen neuen räthselhaften Bekannten finden, den Gegenstand meiner Forschungen von heute? Pique, dieser Name, und jener kleine Mann, und die Nacht mit den wüsten Träumen, wo er die vier Könige verfluchte, sie sollten wandeln auf der Erde! Damals, bei ruhiger Ueberlegung, hatte ich die ganze Geschichte belächelt, sie niedergeschrieben und mich gezwungen, dieselbe, ungeachtet ich Alles so deutlich gesehen und gehört hatte, ihrer Unmöglichkeit halber für Traum zu halten, und hatte sie allmählig vergessen. Aber nun, da ich in der Person des alten Mannes, den ich zu deutlich erkannte, den Kreis jener Zaubergestalten wieder tangirte, erstanden sie zu lebendig in meiner Brust. Ich wußte wieder jedes Wort, das die todten Soldaten gesprochen, mir kam der ganze Eindruck jenes Augenblicks wieder, wo der unglückliche Spieler Alles verlor und den Fluch über die Karten aussprach. Aber konnte dieser Fluch gewirkt haben? Hatte eine böse, unergründliche Macht dem Alten die Kraft eines Zauberers gegeben, daß er lebende Wesen erschaffen konnte? Tausende von Zweifeln, Vermuthungen und Hoffnungen zogen um mein Gehirn ein Gewebe von dunkeln und glänzenden Farben, das mich sehr ängstigte: ich mußte es durchbrechen. Rasch klopft' ich an die Thür der Bude. Nachdem ich lange vergeblich gewartet hatte, hörte ich endlich die Riegel klirren, und der alte Mann streckte seinen Kopf heraus. »Was wünschen Sie?« sprach er, »meine Vorstellungen sind für heute beendigt; doch stehe ich morgen um sechs Uhr wieder zu Diensten.« Es war dieselbe heisere Stimme; er mußte es sein. »Lassen Sie mich einen Augenblick eintreten,« bat ich ihn, »ich bin einer Ihrer Bekannten.« Ueber seine Züge flog ein eigenes Lächeln. »Sie, einer meiner Bekannten!« sagte er leise: »Das muß ein Irrthum sein. Die können mich selten besuchen und nie so früh; zuweilen zwischen Zwölf und Eins in der Nacht; sind auch nicht so jung und sauber anzusehen, wie Sie mein Herr.« Er wollte die Thür schließen. »So sieh mich genau an, alter Soldat,« entgegnete ich halb lachend. »Denke an Cöln, denke an die vier Könige.« Er trat einen Schritt zurück und sein Gesicht nahm einen ängstlichen, aber unheimlichen Ausdruck an, so daß ich trotz der nun ganz geöffneten Thür nicht einzutreten wagte. »Wer bist du denn, daß du auch bei Tage umgehst. Was hat dir dein Grab verschlossen?«
»Ich habe Gottlob noch keins besessen,« sagte ich, »erinnere dich des Menschen an jenem Morgen, der dir seinen Mantel umwarf, als du vor Frost zitternd allein zurückgeblieben warst?«
»So, du bist's?« sprach der Alte freundlicher. »Das ist etwas Anderes. Du hast mir Gutes gethan, darum tritt ein.«
Ich ließ mich nun nicht nöthigen, und er verschloß hinter uns die Thür sorgfältig. Im Anfang wollte mich ein kleiner Schauer beschleichen, als ich mit dem Alten in dem halbdunkeln Hause ganz allein stand, so schien es wenigstens, denn man hörte kein Geräusch, als das unserer Bewegungen, oder das Picken eines Holzwurms in den Bretterwänden. Dazu kam noch der Anblick allerlei seltsamer Mobilien, die umher standen, unter Andern ein Sarg, der ihm wohl zum Bette diente. Jetzt setzte er sich darauf, und ich nahm ihm gegenüber in einem alten Stuhle Platz.
Eine Zeit lang saßen wir stumm einander gegenüber; ein Jeder hing seinen Betrachtungen nach. Seit jener Nacht waren einige Jahre vergangen; ich hatte den Militärdienst und die alte Stadt Cöln längst verlassen, und wie ich nun diesen Alten wieder sah, fiel nur, wie schon gesagt, jene Nacht ein, und mit ihr all' die wilden, vergnügten Nächte, die ich bald allein, bald mit gleichgesinnten Freunden auf den stillen Straßen genossen hatte, in denen ich mit dem Geisterreich Bekanntschaft anknüpfen wollte. Aber jene Zeit lag weit hinter mir. Ich wandelte in einer Sandwüste, lebte so ruhig bürgerlich, Schritt für Schritt dahin; da stieß ich plötzlich auf diesen Alten, meinem fast verschmachteten Geiste eine frische Oase.
Mein Gegenüber seufzte tief auf. »Ich wandle noch immer,« sprach er, »einsam, allein unter den fühlenden, fröhlichen Geschöpfen, den Menschen, und werde wohl noch lange wandeln müssen.«
»Darf ich Sie,« sagte ich, »auf die Vorfälle jener unglücklichen Nacht zurückführen? Mich hat doch nun einmal das Schicksal in Ihre Begebnisse eingeweiht. Darum bitte ich, lassen Sie mich erfahren, wie es Ihnen später ergangen ist, wie Ihr jetziges Leben mit jenen Vorfällen zusammenhängt, und was aus den vier Königen geworden? Mein Glaube schwankt hin und her, in wie fern Ihr ausgesprochener Fluch auf die leblosen Blätter gewirkt hat.«
»Es erleichtert meine gepreßte Brust,« antwortete das Gespenst, »wenn ich nach Jahren einem Wesen, das mich versteht, mein Herz ausschütten kann.« Darauf erzählte er mir Folgendes: »Nachdem ich die Ruhe meines Grabes verspielt hatte, sprach ich in der Verzweiflung, die sich meiner bemächtigte, den schrecklichen Fluch über jene vier Könige aus. Es ward Morgen, der erste, den ich nach ungefähr hundert Jahren wieder erlebte. Ich stand unter den Menschen, sah ihr Getreibe, das mir gänzlich fremd geworden war und mich unheimlich umtoste. Ich schritt durch die Stadt, fand kaum die Straßen und Gäßchen wieder, welche mir früher so bekannt waren, sah freie Plätze, wo sonst stattliche Gebäude standen, und neue Häuser auf Stellen, wo zu meiner Zeit Gras gewachsen war. Ich ging auch dahin, wo vordem meine Hütte gestanden; sie war nicht mehr. Mein wildes, sinnloses Leben hatte der Boden nicht tragen können, er war eingesunken, und wo ich früher gewohnt, stand jetzt ein grüner trüber Wasserpfuhl. Ich bin über mein Grab hinweggegangen, über mein stilles enges Grab; ich hätte den Boden aufgewühlt, aber es war kein ruhiger Friedhof mehr wie ehedem. Lustige Menschen liefen hier auf und ab und muntere Spiele wurden auf dem Platz gehalten, der doch eigentlich uns gehörte. Ich aber ward erstaunt betrachtet und verspottet. Darum verließ ich die Stadt und wandelte den Rhein hinauf, bis es Abend wurde. Da legte ich mich nieder unter einer einsamen Weide; zu meinen Füßen floß der gewaltige Strom; es war derselbe, an welchem ich als Kind gespielt, er hatte sich nicht geändert, war nicht alt geworden. Mein Kopf ruhte auf einem Stein; ich schlief nicht, doch versank ich in einen Zustand, den man waches Träumen nennt. Da schwebten rechts und links Gestalten auf mich zu, die ich zu gut kannte – die vier Könige, und der Eine fing an zu sprechen: ›Dein Fluch hat uns gebannt: wir werden wandeln und des Menschenlebens Jammer genießen, doch zu deiner Strafe werden wir fünf verschiedene Wesen bilden und doch eins sein. Jeder von uns belebt sich aus dir, indem er dir eine süße Erinnerung oder eine Tugend nimmt, welche du besessen und deren Andenken bisher noch einiges Licht in das schwarze schaurige Labyrinth deines Lebens brachte. Wir werden umher schweben, bis unsere Zeit kommt, doch auch du. Fortan wirst du deine Verzweiflung vergebens dadurch zu lindern suchen, daß du dich erinnerst, du seist einst gut gewesen, und schöne frohe Stunden deines verflossenen Lebens heraufrufst; du hast keine mehr, in deiner Brust bleibt nur das Andenken der Sünden, die du begangen.‹ Ich fuhr empor, und o Jammer! es ward plötzlich in meinem Herzen so, wie sie gesagt, Nacht, nur Nacht! Sie hatten mein Herz geplündert, und mit sich geführt das Gold, was noch darin lag, was in jeder, auch der schlechtesten Brust ruht, die süßen Erinnerungsstrahlen, welche das Böse dämpfen und den Menschen vor der gräßlichsten Verzweiflung und dem Selbstmorde bewahren! Und in mir ward es nun öde und leer, und ich kann mir nicht einmal das Leben nehmen. Was sie mir geraubt, waren freilich nur Andenken an eine glückliche Jugendzeit gewesen; aber aus diesem frischen Brunnen schöpfte ich ja stündlich, wenn mich der Staub meines spätern schwarz versengten Lebensweges ersticken wollte. Der Eine der Viere hatte meine frohen Träume mitgenommen, bunte Gestalten, die mich umschwebten, wenn ich mich in das hohe Gras legte, und mir durch Zuflüsterungen einer frohen Zukunft Hoffnungen, wenn auch falsche, vorspiegelten, über die ich meine traurige Gegenwart vergaß.
»Ein Anderer hatte mir die Ruhe der Ermattung genommen, welche uns befällt, wenn man stundenlang gegen finstere Gedanken gekämpft hat; ein phlegmatisches Hinsinken, worin uns, weil wir nicht mehr denken und fühlen, jene unerquickliche Ruhe dennoch angenehm ist.
»Ein Dritter entwand mir das Vergnügen, das jedes Geschöpf empfindet beim Anblick der großen herrlichen Natur. Mich freute nicht mehr der Glanz der Sonne, nicht das sanfte Licht des Mondes, nicht das frische Grün der Bäume und die schönen Blumen, nichts mehr, nichts mehr! die ganze Schöpfung schien mir grau bezogen und ekelte mich an.
»Der Vierte endlich leerte mein Herz ganz aus und nahm mir die letzte süße Erinnerung, ein kleines Bild, welches ich zuweilen ansah, das mir Trost und Beruhigung, sogar Hoffnung gab; das Andenken an eine Jugendliebe, an ein reines Geschöpf, welches dort oben ist, und für mich am Thron des Höchsten beten sollte. So fühlte ich, als die Gestalten verschwunden waren und ich wieder empor sprang, mich namenlos elend. Ich irrte ohne Ruhe umher, habe mich in das Leben des ersten dieser Könige geworfen, hab' es vergiftet, indem ich hoffte, meine frohen Träume wieder zu erhalten; umsonst! ich bekam sie nicht. Dem zweiten folgte ich; ich sah sein armseliges Dasein verlöschen; aber er gab mir meine Ruhe nicht wieder. Da stand ich schaudernd still, und begann zu ahnen, daß Alles für mich auf ewig verloren sei. So hatte mein Fluch gewirkt, auf mich gewirkt; aus meinem Blut hatte ich die edelsten Theile in die Welt gejagt, mir blieb der faulende Grund, ich war wieder als Mensch mit menschlichen Bedürfnissen in den ganzen Jammer des Lebens getreten. Sterben kann ich nicht und muß so betteln, um mir mein Dasein zu erhalten. Nur die Karten, das unglückselige Spiel liebe ich noch immer.« Er schwieg still und schaute lange nachdenkend vor sich hin. Dann erzählte er mir auf meine Bitte die Geschichte der beiden Könige, wie ich sie im zweiten und dritten Capitel wieder gegeben habe. Doch befriedigte mich das noch Alles nicht. »Und von den beiden Andere haben Sie nichts mehr gehört? Sie wissen nicht, ob sie noch wandeln, oder wo sie geendet?« fragte ich. »Nein, nein!« entgegnete er hastig. »Ich weiß nichts Genaueres von ihnen, als daß sie noch in der Welt herumschweben.« Bei diesen Worten sah er mich forschend an. »Aber ich weiß, wo der Eine ist,« sprach ich mit erhöheter Stimme; »und auch Sie wissen es. Er ist hier, hier in dieser Bude.« Ich war nämlich überzeugt, daß meine Erscheinung von heute Nachmittag mit dem sonderbaren Benehmen und dem Namen Pique, mir seinen Erzählungen von der Bude und dem alten Manne, nur hier zu finden sei. »Warum mir das verheimlichen?« fuhr ich fort. »Ich weiß es: der Pique-König ist hier bei Ihnen. Wo ist er? Sie halten ihn gefangen.« Der Alte war aufgesprungen und sah mich entsetzt an. »Woher wissen Sie das?« schrie er laut, und setzte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Und doch wissen Sie nichts. Er ist nicht da.« – »Und doch ist er hier,« sprach ich ganz gelassen und erzählte ihm von dem jungen Manne, den ich heute gesehen, von seiner Freude über die Natur, seinen Ausrufungen und seinem Namen, den er genannt, sagte ihm, daß ich gleich eine Ahnung gehabt habe, diese Erscheinung müsse mit jener Nacht in Verbindung stehen, daß ich hauptsächlich deßhalb hieher gekommen sei, um mir über diese unerklärliche Sache, in die ich seltsamer Weise verwickelt worden, eine genügende Aufklärung zu verschaffen.
Er hörte mich ruhig an, setzte sich wieder auf seinen Sarg, und sprach dann mit leiser Stimme: »Sie hat das Schicksal in einen Kreis geworfen, von dem gewöhnlich die Menschen wegtreten und ihn scheu umgehen. Doch weichen Sie zurück, fürchten Sie die unsichtbaren Fäden zu berühren, denen Sie vielleicht nicht zu Ihrem Glücke nahe gekommen sind. Vergessen Sie das Geschehene und meine Mittheilungen, verbannen Sie es aus Ihrem Kopfe, damit es sich dort nicht festsetze, und denken Sie, es seien verworrene Träume gewesen, die Ihnen etwas von den vier Königen erzählten. Glauben Sie mir, die Gewißheit, Sachen erlebt, gesehen zu haben, denen Ihr Verstand und die natürliche Ordnung der Dinge geradezu widerspricht, könnte Ihnen auf die Länge der Zeit sehr traurig werden.«
»Und doch«, entgegnete ich ihm, »ist es gerade das Umhüllen des Geheimnißvollen, was uns lüstern macht, immer tiefer hineinzudringen, und was unsern Verstand zu tausend Vermuthungen abmartert. Darum bitt' ich nochmals, geben Sie mir einen Zusammenhang, eine einfache Kette an die Hand, durch die ich die heutige Erscheinung des jungen Mannes an jenen Pique-König reihen kann, und ich will Ihnen danken. Rufen Sie ihn, daß sein Mund zu mir spricht.«
Es flog wieder ein düsterer Schatten über die Züge des Alten. »Und wenn ich ihn auch hervorrufen könnte und wollte, so würde er doch nicht sprechen,« sagte er. »Verlangen Sie nicht, ihn zu sehen. Es würde Ihnen sicher kein Licht in das Dunkel bringen, was wohlweislich für Sie um mich und jenen liegt, und was sich Ihnen in Diesem Leben nie aufklären wird. Glauben Sie, was Sie gesehen, seinetwegen, aber lassen Sie Ihre Forschungen; die Gräber sind stumm. Was ich Ihnen aus Dankbarkeit für Ihre Wohlthat damals zur Befriedigung Ihrer Neugierde über das Wesentliche jener vier Könige sagen konnte, habe ich gethan. Ich bin getheilt und wandle in fünf Gestalten, das ist meine Strafe. Darum denken Sie bei jedem unnöthigen Worte, das Sie aussprechen, an eine unsichtbar waltende Macht, welche es zu Ihrem Schaden zu wenden sucht.« Er öffnete die Thür und sah in die Nacht hinaus. »Es ist Mitternacht; darum verlassen Sie mich. Zu meiner Vorstellung morgen bitte ich um die Ehre Ihres Besuchs.« Wie ich ihm antworten und ihn nochmals befragen wollte um den jungen Mann, der mich so sehr interessirte, stand ich vor der Bude und hörte von Innen die Riegel vorschieben.
Am andern Tage lenkte ich in einer Gesellschaft von Freunden das Gespräch auf die kleine Bude am Ende des Marktplatzes und fragte, ob keiner dort einer Vorstellung beigewohnt? Ein Einziger, der unter uns dafür bekannt war, daß er stets alle Merkwürdigkeiten der Messe untersuchte, war dort gewesen und erzählte: der alte Mann, welcher sie hielt, mache eine Menge oft gesehener und ganz gewöhnlicher Kartenkunststücke, doch rathe er jedem, einmal hinzugehen, indem die letzte Pièce, welche er producire, für all' das andere Mittelmäßige reichlich entschädige. Er bringe nämlich am Ende jeder Vorstellung ein kleines Figürchen, einen Kartenkönig, auf die Bühne, welcher – es sei beinahe unglaublich – an ihn gemachte Fragen selbst beantworte; auch wandle er herum, öffne die Augen, bewege Hände und Füße, kurz das Figürchen sei ganz merkwürdig und sehenswerth. Einige meiner Bekannten lachten. Ein Kartenkönig, welcher spräche! – »Nun, da muß der Alte ein sehr guter Bauchredner sein,« meinte Einer. »Und er öffnet die Augen und geht herum?« sagte ein Zweiter. »Also ein schönes Automat! das müssen wir sehen.« »In der That,« fuhr der Erzähler fort, »weiß ich nicht, was ich von dem kleinen Kerl halten soll. Der alte Mann reicht ihn in einem Kästchen von Mahagoniholz herum, und dann kann ihm jeder eine Frage vorlegen, die er beantwortet. Das hab' ich auch gethan, und ich muß gestehen, als er nachläßig seine kleine Aeuglein und den Mund öffnete, und mit einem ganz eigenen Stimmchen sprach, da, weiß Gott! ich wußte nicht, wie mir geschah. Das ganze Publikum war aber auch entzückt und zugleich bestürzt, besonders die Damen, welche den Kleinen nicht aus den Händen lassen wollten. Ein Automat kann's nicht sein, ein menschliches Wesen ist es auch nicht; denn das Figürchen ist nicht größer, als gewöhnlich das Bild auf einer Karte.«
»Nun, was soll es denn sein?« riefen die Andern lachend und neugierig. – »Hexerei!« entgegnete jener ziemlich ernsthaft. »Mir wenigstens, der Alles im Leben sehr nüchtern und ruhig betrachtet und bei etwas Sonderbarem und Unerklärlichem, wenn's möglich ist, gleich hinter den Coulissen nachforscht, mir hat gestern Abend der Verstand im eigentlichen Sinne des Worts still gestanden, und mehren Andern erging es auch so.«
»Aber,« rief einer von uns, »warum kann es denn kein Automat sein?« – »Weil das Geschöpfchen lebt,« entgegnete jener. »Es reißt seinen Mund nicht auf, wie gewöhnlich diese Puppen – ruck! sondern öffnet ihn fein und zierlich, so daß man ihm im Gesichte die Muskeln spielen sieht.« – »Das ist ernsthaft«, sagte ein junger Arzt, »und wir müssen auf jeden Fall heute Abend hingehen.« – »Ja wohl, ja wohl!« riefen Alle, und wir verabredeten, in welchem Hause wir uns vor 6 Uhr, wo die Vorstellung begann, treffen wollten.
Meine Gedanken kann jeder leicht errathen. Ich war den ganzen Tag in einer seltsamen Spannung. Nachmittags legte ich mich in mein Fenster und sah in den Garten; da saß das junge Mädchen, die hübsche Louise, auf derselben Stelle, wo sie gestern jener räthselhafte junge Mensch überrascht hatte. Mehrmals glaubte ich zu bemerken, daß sie erwartungsvoll nach dem Gartenthor sah; aber es kam Niemand. Sie erhob sich nach Verlauf einer Stunde und ging sichtlich mißstimmt dem Hause zu.
Am Abend traf ich meine Freunde an dem bezeichneten Ort, und nachdem noch viel über den Kartenkönig gewitzelt und gelacht war, gingen wir, da es Zeit wurde, nach der kleinen Bude. Schon war Dieselbe ziemlich besetzt; besonders die ersten Sitze, auf denen das Automat circulirte, hatte ein Kranz von eleganten Damen eingenommen, welche die Neugierde, den unbegreiflichen König zu sehen und ihn zu befragen, hieher geführt hatte. Wir bekamen hinter ihnen noch einige Plätze, und ich hatte das Glück, gerade hinter meiner niedlichen Garten-Bekanntschaft zu sitzen. Das war mir, wie sich jeder denken kann, in doppelter Hinsicht äußerst angenehm.
Mein alter Bekannter, angethan mit dem rothen Rock und den gelben Beinkleidern, erschien endlich auf der etwas erhöhten Bühne, war aber nicht im Stande, durch die gewöhnlichen Kunststücke, welche er zeigte, einige Aufmerksamkeit zu erregen. Er schien das auch bald zu fühlen, kürzte bedeutend ab, wie mir mein Freund sagte, und trat mit einer steifen Verbeugung zurück; durch das Auditorium lief ein Gemurmel: »Nun kommt der kleine König!« dann trat eine allgemeine Stille ein.
Der Alte erschien wieder, und trug in seiner Hand ein kleines Gebäude, ähnlich einem Schloß mit vielen Spitzthürmchen, doch da es keine Fenster hatte, konnte man es auch für ein Grabmal halten. Mir kam es wenigstens so vor; aber die meisten hielten es für die hübsche, lustige Residenz des Wunderkönigs. Der Alte setzte es auf die Mitte der Bühne und sprach mit seiner heisern Stimme in ungemein schlecht gesetzten Worten von der außerordentlichen Erscheinung, welche wir jetzt genießen würden; alsdann öffnete er ein kleines Thörchen, und sagte mit einem tiefen Bückling: »Gnädigster König, erscheinen Sie gefälligst, diese sehr anständige Versammlung zu begrüßen,« und heraustrat – ja, bei Gott! er war es! jener hübsche junge Mann, den ich in dem Garten gesehen, aber en miniature! Auch meine Nachbarin, die, wie schon gesagt, vor mir saß, mußte ähnliche Gedanken haben, denn sie zuckte fast unmerklich zusammen und unterdrückte mit Mühe einen leisen Schrei. Leicht und gewandt ging das kleine Figürchen die Treppe seines Palastes herunter, in derselben Kleidung, wie gestern, aber heute mit Krone, Reichsapfel und Scepter, ein lebendiger Kartenkönig. Er trat vor und nickte leicht mit dem Kopfe, und ein allgemeines freudiges Händeklatschen empfing ihn. Meine Freunde sahen bestürzt, und ich möchte sagen halb erschrocken, auf den kleinen, ungefähr vier Zoll hohen Menschen, der da oben auf und ab spazierte. Der Arzt sagte mir ganz leise: »Du, ich muß dir gestehen, daß mir die Sache hier ganz unheimlich vorkommt. Es ist kein Automat, das Wesen lebt, und kann doch den Gesetzen der Natur gemäß nicht leben. Was denkst du?« – »»Ich denke mancherlei,«« antwortete ich ihm, »»was ich dir jedoch hier nicht mittheilen kann. Nachher geh' mit mir, dann wollen wir unsere Gedanken austauschen.«« – »Auch der Alte,« fuhr der Arzt fort, »ist mir eine sonderbare Erscheinung. Sieh' das stiere Auge und die halb traurige, halb lächelnde Miene, womit er dem Kleinen nachsieht, das ganz regungslose Gesicht; er kommt mir beinahe wie ein Automat vor, oder wie ein Wesen, das nur halbes Leben hat, zu wenig, um den ganzen Körper auszufüllen, zu viel, um zu sterben. Er schleppt seine Beine über den Boden nach und bewegt die Arme wie ein Gängelmann.«
»Und sieht aus, wie eine große Kirche bei Nacht, in welcher statt der tausend Kerzen, welche sie erhellen, nur die ewige Lampe brennt,« meinte ein junger Dichter, der neben dem Arzte saß.
»Meine Herren und Damen,« sagte jetzt der Alte im Marktschreiertone, »Seine Majestät der König wird die Ehre haben, dem verehrungswürdigen Publikum einige an ihn gerichtete Fragen zu beantworten.« Das Geschöpfchen nickte und stieg in ein kleines Kästchen, das der Alte hingestellt hatte, und hierauf dem Nächstsitzenden mit der Bitte gab, es auf dem ersten Platze circuliren zu lassen. Nun war der große Augenblick gekommen, auf den sich Alles, besonders die Damen gefreut hatten. Da wurde gefragt, und was Alles gefragt, doch war ich zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, um etwas davon zu hören oder zu behalten. Auch meine Nachbarin schien nicht sehr auf ihre Umgebung zu achten, sondern sah vor sich hin, als ob sie die ganze Sache nicht interessire. Bei den Personen, an welchen der kleine König schon vorübergezogen, ward gelacht und gespottet, sich gewundert und das Ganze hie und da für pure Hexerei erklärt. Jetzt kam auch die Reihe an die hübsche Louise, die das Kästchen mit sichtbarem Zittern der Hände ihrer Nachbarin abnahm. Ich beugte mich hinüber, um zu sehen, was der Kleine jetzt für Mienen mache, und zu hören, was sie ihn fragte. Nun hatte ich sein feines Gesichtchen ganz in der Nähe und sah deutlich, daß ein freudiges Lächeln um seine Züge spielte, so wie er in die Hand der jungen Dame gelangte. Sie beugte sich auf ihn nieder und fragte ganz leise, so daß ich es kaum verstehen konnte: »Wer war der junge Mann, der gestern in meinem Garten war und mit mir sprach?« Der König antwortete: »Ach, das war ich ja selber; ich hatte einen schönen Traum!« Krampfhaft gab sie das Kästchen weiter, und beachtete nicht den bittenden Blick des Kleinen, welcher zu sagen schien: »O behalte mich, laß' mich nicht von dir ziehen.« Sie sah vor sich hin und drückte ihr Sacktuch vor's Gesicht. Wohl bemerkte ich, daß mich der Alte mit besonderer Aufmerksamkeit ansah, besonders in dem Augenblick, wo ich das Kästchen mit dem König in die Hand nahm, denn er beugte sich ängstlich vorn über und schien auf meine Frage zu lauschen. Mich beschlich ein eigenes Gefühl, als ich nun denselben Menschen, welchen ich gestern in meiner Größe gesehen, heute in meiner Hand hielt, nur ein paar Zoll hoch. Ich sah rechts und links in die Bude und dachte darüber nach, ob mich nicht wieder ein neckischer Traum befangen hielt; doch hörte ich meine Freunde deutlich plaudern und lachen, sah unter der Damenwelt viele Bekannte; ich fühlte, ich dachte nach, Alles um mich war so wahr, so reell, und nur in meiner Hand hielt ich ein dunkles Traumbild. »Wer bist du?« frug ich endlich den Kleinen. »»Ich bin der Pique-König, wie du siehst,«« antwortete er. »Warst du nicht gestern,« forschte ich weiter, »in einem Garten?« – »»Ja, ich war.«« – »Aber größer, so groß wie ich, und hast da mit einem Mädchen gesprochen; denke an die Bäume, an die schönen Blumen.« Der König seufzte tief auf. »»Ach ja!«« entgegnete er, »»ich war aus der Bude gesprungen, und wie ich die frische Lebensluft einathmete, den Duft der Bäume, da wuchs ich und ward groß. Aber«« – doch weiter kam ich nicht. – »Mein Herr,« schrie mir der Alte mit ängstlicher Stimme zu, »Sie fragen zu viel; ich darf nur eine einzige Frage zulassen; sonst läuft das Uhrwerk in dem Automaten zu früh ab, und ich kann es doch während der Circulation nicht auf's Neue aufdrehen.« – – Schon hatte ihn der Arzt mir aus der Hand genommen; der frug ihn nichts, sondern legte ihm den Finger auf die linke Seite, fühlte ihm an den Puls und schüttelte heftig den Kopf, indem er ihn weiter gab. »Mich soll der Teufel holen!« sprach er dann leise zu mir, »das Wesen lebt.« – »»Ja wohl,«« entgegnete ich ihm bekümmert und sehr mißstimmt, »»komm nachher nur mit mir, ich will dir Manches erzählen.««
Unterdessen war der Pique-König wieder auf die Bühne gelangt, der Alte rückte einen Tisch in die Mitte, auf den er noch einen andern, sehr kleinen und oben hinauf den König stellte. Dann nahm er ein Spiel Karten in die Hand, trat zwischen die Reihe der Sitzenden und sprach: »Aus diesem vollständigen Kartenspiel von zweiundfünfzig Blättern bitte ich eins zu ziehen, dasselbe in diese Pistole zu laden, und damit auf Seine Majestät den König zu feuern.« Einer meiner Bekannten zog eine Karte; ich glaube, es war Eckstein Sieben, lud sie in das Gewehr und drückte ab. Ein allgemeiner Schrei der Damen, etwas Pulverdampf, der sich langsam verzog, – da stand der Kleine auf seinem Tischchen und sagte mit lächelnder Miene: »Eckstein Sieben.« Das war recht artig und wirklich wunderbar. Auch krönte ein solcher allgemeiner Beifall diese Pièce, daß der Alte sie wiederholen mußte. Von Neuem gab er das Kartenspiel aus seinen Händen und mein Freund, welcher uns hergeführt hatte, nahm es, um eine Karte zu wählen. Er sagte mir leise: »Ich habe früher und auch heute das Kartenspiel rasch durchlaufen und gefunden, daß in demselben das Pique-Aß fehlt. Deswegen habe ich hier von derselben Form wie diese Blätter eins mitgebracht und will jetzt gleich sehen, ob dieser Manco unwillkührlich oder absichtlich ist. Und im letzten Fall muß es einen Zweck haben, den wir vielleicht auf diese Art ergründen.« Ich erschrack heftig und mir schwebte, ich weiß nicht welch' unheimliche Ahnung vor. »Um Gotteswillen,« sagt ich ihm, »thu das nicht!« Doch war es zu spät. Ohne Aufsehen zu erregen, konnte ich seinen tollen Entschluß nicht mehr ändern. Schon war die Pistole mit Pique-Aß geladen. Der kleine hübsche König stand ruhig und erwartend da. – Der Schuß knallte; doch wie sich der Pulverdampf an die Decke hob und die Aussicht frei gab, sprang Alles unruhig und entsetzt von den Sitzen auf. Auf seinem Tischchen war der Kleine in die Kniee gesunken, Leichenblässe bedeckte sein vorhin so blühendes Gesicht und er sprach mit schwacher Stimme: »Es war Pique-Aß!« Er seufzte tief und sank dann nieder. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Alte über ihn, und der Arzt und ich waren mit einem Sprung auf der Bühne. Doch wo war das Figürchen, das Automat? In seiner Hand hielt uns der Alte ein halb verbranntes, zusammengewickeltes Pique-Aß entgegen, nebst einer andern vergilbten Karte, Pique-König, welche in der Mitte halb von einander gerissen war. Es ward mir unheimlich, wie er mich mit dem Gespensterauge starr ansah und leise sprach: »Er ist todt und ich muß wandeln!« Ich ergriff den Arzt beim Arm und zog ihn aus dem Gewühl in der Bude. Auf dem Heimweg erzählte ich ihm, was ich von dem Alten wußte; aber kaum hatte ich geredet, so rief ihm ein Bedienter, welcher hinter uns herlief, fast athemlos bei Namen und bat ihn, gleich zu seinem Herrn: dem Vater Louisens, zu kommen, die, in Folge der Schüsse oder des sonderbaren Vorfalls heute Abend in der kleinen Bude am Markt, einen schlimmen Zufall bekommen hätte.