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Siebentes Kapitel

Das zweite Frühstück kam und für Bob die Zeit seines Mittagsschläfchens. Der arme Willy war nun ganz ohne Spielgenossen denn des Doktors kleines Mädchen, das sonst verfügbar, war krank. So folgte er mir mit einem so traurig-ernsten, tiefsinnigen Gesicht, daß ich mich fast bewogen gefühlt hätte, ihn auf meiner, unserer Spazierfahrt mitzunehmen. Hätte er gemurrt, so würde ich weniger Mitleid mit ihm gehabt haben; nichts ist aber so rührend und herzerweichend wie der Anblick stummer Entsagung. Endlich that er zu meiner Erleichterung den Mund auf:

»Onkel Heinrich,« sagte er, »sind denn die Menschen im Himmel manchmal auch einsam?«

»Ich glaube nicht, Willy.«

»Verreisen denn die Papas und Mamas von kleinen Engeljungs auch und bleiben so schrecklich lange fort?«

»Das weiß ich nicht genau; wenn sie es aber auch thun, dann haben die kleinen Engeljungen so viele andere kleine Engel zum Spielen, daß sie sich nicht einsam fühlen.«

»Na, ich glaube nicht, daß ich mich bei ihnen wohl fühlen würde, wenn ich mich so sehr sehne, meinen Papa und meine Mama wieder zu sehen. Wenn ich niemand zum Spielen habe, dann bekomme ich immer solche Sehnsucht nach Mama und Papa, so furchtbare Sehnsucht – daß ich lieber gleich sterben möchte.« Ich war gerade beim Rasieren, einer Arbeit, die nicht gut Unterbrechung verträgt; als ich nun das verlassene Kind so sprechen hörte, wischte ich rasch den Seifenschaum ab und zog es zärtlich an meine Brust. Liebreich streichelte ich den armen Jungen, küßte ihn und widmete mich ganz der frohen Aufgabe, seinen Kummer zu verscheuchen. Sein ernstes, kleines Gesicht nahm allmählich ein glücklicheres Aussehen an; die leichtgeöffneten Lippen zeigten so weiche, schöne Linien, wie kein alter Meister je Engelslippen dargestellt hat. Seine Augen, die erst traurig und hoffnungslos blickten, wurden warm, leuchtend und schmelzend.

»Onkel Heinrich,« sagte er endlich, »ich bin jetzt wieder so froh. Und kann Michel nicht mit mir und der Ziege irgend wo hingehen, so lange du fort bist? Und bringe uns Bonbons mit – ja – und einen neuen Hund.«

Ziemlich enttäuscht durch den krassen Realismus dieses Jungen nahm ich ihn vom Schoß und kehrte wieder zu meinem Rasiermesser zurück. So lange er sich einsam fühlte, und ich eine einzige Hoffnung war, ging er ganz auf in liebevoller Hingabe. In dem Augenblick jedoch, wo durch meine Anstrengungen seine Lebensgeister wieder geweckt waren, wußte er sie zu nichts Besserem zu benutzen, als um neue Gunstbezeugungen zu erzwingen. Und dennoch, wenn ich mir die Sache recht überlegte, war die Schuld des kleinen Koboldes nicht so bedeutend. Macht es denn die Menschheit im allgemeinen anders?

Als ich bei Klarksons vorfuhr, schien es mir, als seien Wochen verflossen, seit ich mein Liebchen nicht gesehen. Nur auf diese vermeintliche Schnelligkeit des Zeitverlaufs war es zurückzuführen, daß ich die wundersame Veränderung, die in diesen zwei Tagen in Fräulein Maytons Zügen vor sich gegangen war, nicht geheimen Wunderkräften zuschrieb. Geistesgegenwart, die Fähigkeit sich zu beherrschen, freundliche Gelassenheit sind Charaktervorzüge, die das Auftreten eines jungen Mädchens im gesellschaftlichen Verkehr besonders gut kleiden. Wird nun dies alles noch geadelt durch den mild strahlenden Glanz echter, heiliger Liebe, so ist die Wirkung geradezu wunderbar – besonders für den Mann, der sich schmeicheln darf, der Urheber zu sein.

Meine Geschicklichkeit, alle nur erdenkbaren Umwege nach der Klippe aufzufinden, um die Fahrt möglichst zu verlängern, verdiente wirklich alle Anerkennung. Natürlich entging meinem Liebchen diese unerhörte Fälschung nicht, aber kein Wort darüber kam über ihre glückselig lächelnden Lippen. Erst nach längerem, sorglosem, munterem Geplauder zog eine Wolke über ihre heitere Stirn. Bald sollte ich die Ursache erfahren.

»Heinrich,« sagte sie, sich inniger an mich anschmiegend, »liebst du mich heiß genug, um meinetwegen etwas Widerwärtiges, Unangenehmes über dich ergehen zu lasten?«

Meine Antwort, zwar mündlich aber nicht in Worten ausgedrückt, mußte überzeugend gewesen sein, denn Alice fuhr fort:

»Ich möchte nicht das Geringste von dem, was sich ereignet hat, ungeschehen machen, denn ich bin das glücklichste, stolzeste Mädchen unter der Sonne. Aber wenn man bedenkt, daß wir bisher doch nur oberflächlich miteinander bekannt waren, so haben wir doch etwas – etwas übereilt gehandelt. Und Mutter ist nun in solchen Sachen furchtbar peinlich, du weißt ja, sie hat noch etwas altmodische Begriffe.«

»Es war ja allein meine Schuld, lieber Schatz,« entgegnete ich. »All die Zeit, die ich mir dir gegenüber sparen durfte, um dein Herz zu erobern, will ich vor: nun an darauf verwenden deiner Mutter Liebe zu gewinnen und vor ihren Augen Gnade zu finden.«

Der Blick, den ich als Erwiderung auf meine Antwort empfing, hätte mich reichlich entschädigt, selbst wenn ich das Unglück gehabt hätte, so viel Schwiegermütter zu besitzen, wie der Mormonen – Prophet Brigham Young. Aber ihr Lächeln schwand, als sie sagte:

»Du glaubst nicht, was für eine schwere Aufgabe du vor dir hast. Mutter hat ein sehr weiches Herz, aber es ist durch allerlei Schicklichkeitsregeln und äußere Rücksichten eingeengt. Zu ihrer Zeit war es eine langwierige, feierliche Staatsangelegenheit, wenn jemand auf die Brautschau ging, und Mutter hält dies allein für das Richtige; das thue ich ja auch, aber ich lasse Ausnahmen gelten, Mutter aber gewiß nicht. Ich fürchte, sie wird nicht gerade erbaut sein, sie wird sehr heftig werden, wenn sie die Wahrheit erfährt, und ich kann es einmal nicht ertragen, sie länger vor ihr zu verheimlichen. Ich bin, wie du weißt, ihr einziges Kind.«

»Das brauchst du auch nicht,« erwiderte ich. »Lege nur die ganze Sache vertrauensvoll in meine Hände. Ich werde die ganze Verantwortung übernehmen und all die furchtbaren Strafen, so über mich verhängt werden, mit Würde tragen. Im Prinzip hat ja deine Mutter recht, und wenn wir beide auch eine süße Ausnahme bilden, so ist ihre Ansicht deshalb immer noch nicht falsch.«

»Ich fürchte nur für dich,« sagte mein Liebling und rückte noch näher an mich heran. »Mutter ist so heftig, das ist ein Familienfehler, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du darunter leiden sollst.«

»Für meine Liebe zu dir ist mir kein Opfer zu groß, mein herziges Lieb,« erwiderte ich. »Ich möchte auch in meinem eigenen Interesse niemand täuschen, besonders nicht die Mutter einer solchen Tochter. Du bist überdies ihr teuerster Schatz, und sie hat das Recht, alles zu wissen, was dich angeht, sei es auch das Geringste.«

»Du bist wirklich ein edler, braver Mensch, du Lieber, Guter« und – und was das angebetete Mädchen nicht in Worten auszudrücken vermochte, sagte sie sehr beredt durch ihre lieben Augen.

Und doch – wie feige war im nächsten Augenblick das Herz, an das du deine Wange schmiegtest, teure Alice! Nicht zum erstenmale bebte ich zusammen und zitterte vor der Verwirklichung dessen, was die Pflicht kategorisch forderte; nicht zum ersten Male ging ich durch eine heißere Schlacht, als je mit Schwert und Kanonen geschlagen wurde, durch eine Schlacht, die größere Gefahren darbot, als der Krieg sie je haben kann. Ich gewann sie, wie ein Mann in solchen Kämpfen gewinnen muß; aber ich fühlte mich doch recht beklommen, als wir uns dem Hause näherten.

»Laß mich jetzt gleich sprechen, Alice. Jeder Aufschub ist Feigheit.«

Ein leichtes Zittern an meiner Seite – ein Augenblick des Stillschweigens, der mir Stunden zu dauern schien, obwohl es nur einige Sekunden waren, dann sagte Alice:

»Ja; wenn das Besuchszimmer leer ist, will ich sie fragen, ob sie nicht einen Augenblick mit dir sprechen will.« Dann traf mich ein Blick voll Zärtlichkeit, Spannung und angstvoller Sorge, und zwei liebe Augen füllten sich mit Thränen.

Wir sind gleich dort,« sagte ich mit einem ermutigenden Druck meiner Hand.

»Ja, und du sollst dich nicht allein als Held zeigen,« erwiderte sie und richtete sich stolz auf, jeder Zoll ein Juno.

Als wir um das Gebüsch bogen, das die Aussicht auf das Haus versperrte, bot sich mir ein so überraschender Anblick, daß mir bald ein »Himmel, was soll das!« entschlüpft wäre. Auf der Veranda stand nämlich Frau Mayton und neben ihr – meine beiden Neffen, und zwar so schmutzig im Gesicht und Anzug, wie ich sie bisher noch nicht gesehen hatte – und das will viel sagen. Doch ich verzieh ihnen im nächsten Augenblick, denn ich erhoffte durch ihre Gegenwart eine kleine Gnadenfrist. »Wir haben mit dir zu'ückfahlen dewollt, da sind wir hie'her delommt!« erklärte schmunzelnd Bob, während Frau Mayton uns mit einem seltsamen Gemisch von Höflichkeit, Neugier und Laune begrüßte. Alice eilte in das Empfangszimmer voraus, flüsterte ihrer Mutter etwas zu und wollte dann schleunigst sich zurückziehen, aber Frau Mayton befahl ihr dazubleiben und deutete stumm auf einen Stuhl. Alice und ich wechselten einen bestürzten, inhaltsschweren Blick.

»Alice sagte, Sie wünschten mit mir zu sprechen, Herr Burton,« begann sie. »Ich bin neugierig, ob es denselben Gegenstand betrifft, über welchen mir heute nachmittag Herr Lawrence der Ältere einen speciellen, mündlichen Bericht erstattet hat.«

Alice erbleichte – und auch mir sank der Mut. Doch die einzige Rettung war hier schnelles, entschlossenes Handeln und so stammelte ich hastig:

»Wenn Sie auf ein scheinbar unverantwortliches Eindringen in Ihren Familienkreis anspielen, gnädige Frau –«

»Allerdings, das thue ich,« erwiderte die alte Dame, »wenn ich das, was mir jenes Kind mitteilte, mit der bisher unbegreiflichen Veränderung in dem ganzen Wesen meiner Tochter in Zusammenhang bringe, scheint mir der wahre Sachverhalt nicht mehr zweifelhaft. Nun, wäre der Eindringling irgend ein anderer, als Sie, dann müßte ich wahrscheinlich die äußerste Strenge walten lassen; aber Mütter, die nur eine einzige Tochter besitzen, haben gewöhnlich ein gutes Auge für die innere Tüchtigkeit eines jungen Mannes – und so –« mit diesen Worten senkte sie lächelnd das Haupt.

Ich sprang empor, ergriff ihre Hand und küßte sie mit inbrünstiger Ehrfurcht. Dann hob Frau Mayton, deren einziger Sohn vor fünfzehn Jahren gestorben war, ihr Haupt, sah mir ernst und freundlich ins Auge und nahm mich ohne weitere Worte in wahrhaft mütterlicher Weise als Sohn an, während Alice in einen Strom von Freudenthränen ausbrach und uns beide abwechselnd küßte.

Ein paar Minuten später versuchten wir drei glücklichen Menschen den Ausdruck conventioneller Zurückhaltung wieder anzunehmen, um etwa eintretenden Gästen keinen Anlaß zu Vermutungen irgend welcher Art zu geben. Nachdem uns das einigermaßen gelungen war, bemerkte Frau Mayton:

»Kinder, zwischen uns ist ja jetzt alles abgemacht; ich muß aber doch bitten, euer Benehmen vor anderen Leuten so einzurichten, daß die Sache nicht zu frühzeitig offenkundig wird.«

»Darin kannst Du dich auf mich vollständig verlassen,« sagte Alice hastig.

»Und auch auf mich,« fügte ich hinzu.

»Ich bin ja von eurem guten Willen und eurem Zartgefühl völlig überzeugt,« erwiderte Frau Mayton, »aber man kann nicht vorsichtig genug sein.« Hier ertönte ein lautes Lachen vom Rasenplatze unter dem Fenster herüber, so daß Frau Mayton einen Augenblick innehielt; dann fuhr sie fort: »Wie leicht kann durch Dienstboten, Kinder –« hier lächelte sie und ich senkte beschämt und errötend das Haupt – »durch zufällig hinzukommende Personen –«

Das Lachen im Garten brach von neuem los.

»Worüber in aller Welt mögen denn nur die Mädchen so lachen?« fragte Alice und ging nach dem Fenster, wohin ihre Mutter und ich folgten.

In einem Halbkreise sahen wir die meisten der Damen, die bei Klarksons wohnten, auf dem Rasen sitzen; in der Mitte stand Bob, in jenem Stadium höchster freudiger Erregung, zu welchem ihn sympathischer Applaus stets hinriß.

»Sage es doch noch einmal,« bat eine der Damen.

Bob nahm den Ausdruck tiefer Weisheit an, machte mit beiden Händen lebhafte Gesten und deklamierte dann, natürlich in seinem Kauderwelsch:

»Beßeiden wie das Veilßen b'au
Bist du un 'ein wie Himmelstau,
Du hast der holden Jose Dlanz,
Der Lilse dleißst du voll un dans,
Bist meines Lebens hößtes Dlück,'
Mein Fühlen, Denten, mein Deßick!«

Ich rang nach Atem.

Wer hat dich denn das schöne Gedicht gelehrt, Bob?« fragte schelmisch eine der Damen.

»Das hab iß dans von selbst delernt.«

»Wann hast du denn das gelernt?«

»Destern morden im Darten, Ontel Heini hat es da immerzu besagt un immer nochmal.«

Die Damen tauschten Blicke aus – nun, meine Leserinnen werden wissen, was für welche, und meinen Lesern brauche ich nur zu versichern, daß sie nicht mißzuverstehen waren. Alice sah mich fragend an und versicherte mir später, daß ich damals rot geworden wäre wie ein ertappter Backfisch und ein keineswegs geistreiches Gesicht gemacht habe. Die arme Frau Mayton wankte nach einem Stuhl und stöhnte:

»Zu spät! Zu spät!« – –

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