Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Am Morgen des zweiten Experimentiertages erwachte Frau Burton mit einem ungewöhnlich regen Gefühl für die Verantwortlichkeit und Schwere des Daseins. Ihres Mannes Beschreibung einer reizenden Sammlung von Nipp- und Porzellansachen, die demnächst versteigert werden sollte, erweckte nicht die Teilnahme, welche derartige Mitteilungen sonst zu erwecken pflegen, und Frau Burtons Köchin wartete vergeblich auf den üblichen Morgenbesuch ihrer umsichtigen Herrin. Frau Burton war ganz von ihren Erwägungen in Anspruch genommen welche der mannigfachen Pflichten, welche sie gegen ihre Neffen hatte, zuerst von ihr erfüllt werden müssen. Als sie nun länger überlegt hatte, ohne sich darüber schlüssig zu werden, kam eine von jeher gütige Vorsehung ihr zu Hilfe: die Kinder erwachten und vollführten gerade über ihrem Kopfe einen solchen Lärm, daß ihr sofort klar war, daß ein scharfer Verweis zunächst das Nötigste sei. Sie kleidete sich rasch an, eilte die Treppe hinauf in das Zimmer der unschuldigen Seelen und fand, daß der Spektakel dadurch verursacht wurde, daß zwei Paar stämmiger kleiner Arme einen schweren, altertümlichen Rolltisch im Zimmer hin- und herrollen ließen.

»Halloh, Tante Alice!« rief Willi. »Ich bin schrecklich froh, daß du kommst. Der Tisch is 'ne Lockmotive, weißt du, un' meine Ecke is New-York un' Toddi seine is Hillcrest. Un' Toddi is Billetmann an einem Ende un' ich am andern. Aber die Lockmotive hat keinen Führer, un' wir müssen sie schieben; un' es is doch nich' in der Ordnung, daß Billetmänner so viel Arbeit nebenbei haben. Sieh, jetzt kannst du Zugführer sein – steig geschwind auf!«

Er schob die improvisierte Lokomotive bei den letzten Worten mit solcher Gewalt gegen Frau Burton, daß sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Aber sie erholte sich rasch und fragte:

»Macht ihr es denn mit den Möbeln in Mamas bester Stube auch so?«

»Nee,« antwortete Toddi. »Weil – weißt du – weil – gute Stube is immer zugeschlossen. Un' weil – Papa nehmte mal alle Räder von unseren Tischen ab – sagte, Tische sind zu unruhig.«

»Kleine Jungen,« ermahnte Frau Burton, indem sie den Tisch mit einer Energie an seinen Platz zurückschob, die ihren Eindruck nicht verfehlte, »kleine Jungen dürfen anderer Leute Sachen nie benutzen, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Auch dürfen sie keinen Gegenstand, wem er auch gehören mag, zu einem andern Zwecke benutzen, als für den er bestimmt ist. Nun sagt mal, hat wohl einer von euch beiden je einen Tisch auf einem Bahngeleise gesehen?«

»Natürlich, Tante, das haben wir,« antwortete Toddi prompt. »Da is 'n Drehtisch in Hillcrest un' einer in Jersey City – wie könnten denn die Lockmotiven sonst umkehren, wenn da keine wären?«

»Es ist Zeit, daß ich mich zum Frühstück ankleide,« sagte Frau Burton etwas verwirrt und ging wieder hinunter.

Als die Glocke rief, erschienen die Kinder pünktlich am Frühstückstisch und brachten einen gewaltigen Appetit mit. Frau Burton klopfte ernsten Blickes mit dem Griff des Vorlegemessers auf den Tisch, alle Köpfe beugten sich, und der Herr des Hauses und seine Gemahlin verrichteten ein stilles Tischgebet. Als sie aufblickten, sahen sie, daß die Gesichter ihrer Neffen noch andächtig in ihren kleinen Händen verborgen blieben. Frau Burton winkte stumm zu ihnen hinüber, um ihren Gemahl auf sie aufmerksam zu machen; gleichzeitig drängte sich ihr die Ueberzeugung auf, daß die Seelen dieser Kinder, welche so andächtig beten konnten, ein empfänglicher Boden für bessere religiöse Samenkörner seien, als Tom und Helene Lawrence sie bisher ausgestreut hatten. Jedoch allmählich trennten sich zweimal zehn kleine Finger so weit, daß große neugierige Augen fragend dazwischen durchlugen konnten; dann ließ Willi plötzlich die Hände sinken, richtete sich auf seinem Stuhl in die Höhe und fragte:

»Ei, Onkel Harry, hast du schon wieder vergessen, wie du beten mußt?«

Toddi dagegen blickte vorwurfsvoll nach dem Onkel und sehr hungrig auf den Braten und erklärte dann.

»Hab' mein Gebet beinah' fünfzigmal gesagt.«

»Einmal wäre genug gewesen, Toddi«, sagte Frau Burton.

»Weshalb hast du denn deins nich' mal einmal gesagt?« fragte Toddi.

»Ich habe gebetet. Wir brauchen nicht laut zu beten; der liebe Gott hört uns doch,« belehrte ihn Frau Burton.

»Wenn auch«, sagte Toddi; »ich glaube, das is gar nich' hübsch, daß du zu dem lieben Gott was flüsterst. Wenn ich mal flüstere, sagt Mama: »Toddi weshalb flüsterst du? Schämst du dich über etwas?« Sieh, ich glaube, du und Onkel Harry, ihr habt euch alle beide zusammen geschämt.«

Herr Burton fühlte den dringenden Wunsch, seiner Frau einen guten Rat zu erteilen, wagte es aber nicht, weil zwei Paar wachsame Ohren ihn genierten. Da kam ihm ein glücklicher Gedanke, und er sagte in sehr schlechtem Deutsch:

»Es ist die höchste Zeit, daß den Jungen bessere Manieren beigebracht werden.«

Und mit tadelloser Grammatik und Aussprache antwortete Frau Burton:

»Nur Geduld! Ich werde das schon besorgen.«

»Das hört sich mal spaßig an,« sagte Willi. »Ich wollte, ich könnte auch so 'n Kauderwelsch. Gerade so sprechen manchmal schmutzige, zerlumpte Männer mit meinem Papa, un' dann schenkt er ihnen 'ne ganze Masse Pfennige. Bist du und Tante Alice denn auch mal lumpig un' schmutzig gewesen, daß ihr so sprechen gelernt habt?«

»Willi, Willi!« rief Frau Burton. »Tausende von reichen und anständigen Leuten – alle Deutschen sprechen so.«

»Sprechen sie denn mit dem lieben Gott auch so?« fragte Willi.

»Gewiß,« antwortete Frau Burton.

»Wirklich?« rief Willi. »Der muß aber furchtbar klug sein, daß er sie verstehen kann?«

Herr Burton wiederholte seinen bereits vorhin geäußerten Wunsch auf Deutsch; seine Frau schwieg aber dazu, machte ein sehr ernstes Gesicht und sah etwas verdrießlich aus.

»Jungens,« fragte Herr Burton, »was wollt ihr heute anfangen, wenn ihr mit Tante allein seid?«

»Ich glaube,« antwortete Willi, indem er nach dem Wetter ausschaute, »es wird heute regnen. Da wird es wohl das Beste sein, daß Tante uns den ganzen Tag Geschichten erzählt. Geschichten können wir nie genug hören.«

»Ein guter Vorschlag!« rief Frau Burton und ihr Gesicht erheiterte sich wieder.

»Weißt du denn viele Geschichten auswendig?« fragte Toddi, indem er seine Gabel mit einem aufgespießten Stückchen Braten in die Höhe hielt, ohne sich darum zu kümmern, daß ihm dabei Sauce auf die Hand tröpfelte.

»Ich weiß ein Paar Dutzend auswendig,« antwortete Frau Burton. »Denk nur mal, ich habe zehn Jahre lang Geschichten in der Sonntagsschule gehört und niemals Gelegenheit gehabt, sie wieder zu erzählen.«

»Ich mag die Geschichten aus der Sonntagsschule nich' gern,« sagte Willi, in dem unliebsame Erinnerungen aufzusteigen schienen. »Da kommt immer was am Ende, was den ganzen Geschmack davon verdirbt – so was von artige kleine Jungens sein.«

»Tante Alices Geschichten enden nicht so,« sagte Herr Burton, mit dem hinterlistigen Wunsche, daß seine Gemahlin, ihrer großartigen Erziehungspläne uneingedenk, eine fidele Sitzung mit den beiden Neffen abhalten werde. »Sie weiß, daß kleine Jungen gern artig sind, und will euch mit ihren Geschichten nur Vergnügen machen.«

»Ich will euch nur solche Geschichten erzählen, die ihr gern hört, das verspreche ich euch,« sagte Frau Burton heiter, da sie ihres Erfolges sicher war. »Wir wollen Onkel Harry gleich nach dem Frühstück fortschicken, und dann giebt's so viel Geschichten, wie ihr hören wollt.«

»Un' Kuchen auch?« fragte Toddi. »Mama giebt uns immer Kuchen, wenn sie Geschichten erzählt. Dann sitzen wir still un' treiben keine Alloterja.«

»Nein! Kuchen giebt's nicht,« sagte Frau Burton freundlich aber fest. »Das Essen zwischen den Mahlzeiten verdirbt kleinen Jungen den Magen und macht sie ganz verdrießlich.«

»Nu' weiß ich erst, was Terry gestern gefehlt hat,« rief Willi. »Er aß draußen im Garten 'n Knochen zwischen den Mahlzeiten, un' als ich ihn bei den Hinterbeinen faßte un' Schiebkarre mit ihm spielen wollte, da biß er mich.«

Herr Burton streichelte Terry aus Mitgefühl und gab ihm einen Bissen Fleisch. Dann ließ er ihn auf den Hinterbeinen sitzen und »hübsch« machen, worüber die Kinder ganz entzückt waren. Darauf wünschte er seiner Frau mit einem Kuß und einem Blick besorgnisvoller Teilnahme einen glücklichen Tag und eilte in die Stadt. Frau Burton aber ging mit den Kindern ins Lesezimmer und nahm eine kleine Bibel zur Hand.

»Was für eine Geschichte möchtet ihr denn gern zuerst hören?« fragte sie und blätterte bedächtig in der Bibel.

»Die von Abraham, wie er seinen Sohn beinah' totgemacht hat,« rief Toddi eifrig.

»O nein,« sagte Willi, »eine von Jesus, weil der immer so gut gegen alle Leute war.«

»Du Herzensjunge!« rief Frau Burton. »Gute Menschen, die hat man lieb, nicht wahr?«

»O ja,« antwortete Willi. »Man bloß, sie müssen kleinen Jungens nich' immer von artig sein vorreden. Sag mal, Tante Alice, warum sterben denn gute Menschen immer so früh?«

»Weil der liebe Gott sie nötig hat, Willi,« erwiderte Frau Burton.

»Hat er mich denn nich' nötig?« fragte Willi mit einem Blick voll rührender Wißbegier.

»Gewiß, lieber Willi,« antwortete Frau Burton. »Aber er will, daß du vorher andere Leute glücklich machst. Sehr viele gute Menschen bleiben zu diesem Zwecke bei uns auf Erden.«

»Weshalb is denn Jesus nich' bei uns geblieben?« fragte Willi. »Der konnte doch die Menschen glücklicher machen als alle anderen zusammen es können.«

»Das wirst du noch alles verstehen, wenn du heranwächst und älter wirst,« antwortete Frau Burton.

»Ach, dann wollte ich, ich wachsste ganz geschwind,« sagte Willi. »Weshalb wachsen denn die kleinen Jungens nich' ebenso rasch wie die kleinen Blumen? Ach, könnte man sie doch auch in die Erde stecken un' begießen un' harken. Unser Spargel wächst beinah' n' halben Fuß in einem Tage.«

»Du bist 'n alter, schmutziger Junge, Willi, weil du dich in die Erde stecken lassen willst,« rief Toddi, »un' ich will gar nich' mehr mit dir spielen. Mama sagt, ich soll nich' mit schmutzigen Jungens spielen.«

»Du bist selbst 'n schmutziger Junge,« gab Willi zurück. »Gerade du spielst gern im Dreck; gerade du bist es, der immer schreit, wenn er gewaschen werden soll. Sag mal, Tante Alice – wie lange muß man nach dem Tode in der Erde bleiben, ehe man in den Himmel kommt?«

»Ich glaube drei Tage, Willi,« antwortete Frau Burton.

»Glaubst du das, weil es mit Jesus auch so lange dauerte?«

»Jawohl, lieber Willi.«

»Un' dann kommen alle Leute, die der liebe Gott gern hat, in den Himmel?«

»Jawohl, mein Junge.«

»Aber hör' mal', Papa sagt, welche Leute glauben da nich' an, daß tote Menschen in den Himmel kommen.«

»Kehre dich nicht an das, was die glauben, Willi, sondern glaube, was dich gelehrt wird.«

»Aber ich möchte gern genau wissen, wie es is.«

»Das wirst du auch eines Tages.«

»Ach! Dann wollte ich aber, es dauerte das nich' mehr gar so lange,« sagte Willi. »Nu' erzähl uns 'ne Geschichte.«

Frau Burton zog die Kinder näher zu sich heran und schlug die Bibel wieder auf, plötzlich sah sie zu ihrer Ueberraschung, daß Toddi weinte.

»Ich hab' all die ganze Zeit noch kein bißchen erzählen können,« schluchzte er mit thränenerstickter Stimme.

»Was möchtest du denn gern erzählen, lieber Toddi?« fragte Frau Burton. »Daß ich weiß, wie Leute begraben werden,« sagte Toddi, »Mama hat mir mal alles erzählt. Un' gestern haben ich un' Willi ganz allein ein Begräbnis gehabt. Wir fanden einen lieben, kleinen, toten Vogel, un' wir wickelten ihn in Papier, weil wir keinen ordentlichen Sarg hatten. Un' wir grabten ein kleines Grab, un' wir knieten nieder un' sagten ein schönes Gebet. Un' wir bitteten den lieben Gott, er möchte den lieben Vogel in den Himmel nehmen, un' dann deckten wir Erde auf das Grab un' pflanzten kleine Blumen darauf – sieh, das wollt' ich gern erzählen.«

»Ja, un' wir legten einen kleinen Stein oben auf das Grab, wie man es bei großen Menschen auch macht,« sagte Willi. »Wir konnten keinen Stein finden, wo was drauf geschrieben stand; aber ich ging nach Haus un' nahm 'n Bilderbuch un' schnitt ein kleines Vogelbild heraus un' klebte es auf den Stein mit 'n bißchen Theer von dem Kaufmann seinen Wagen. Wenn nun der Engel vorbeikommt, der die Seelen in den Himmel bringt, so kann er gleich sehen, daß ein kleiner, toter Vogel auf ihn wartet.«

»Ja, un' der kleine Vogel is nich' wie wir,« sagte Toddi. »Der braucht sich nich' zu wundern, daß er Flügel hat, wenn er erst 'n Engel is; der hatte ja schon Flügel, ehe er starb.«

»Vögel kommen nich –,« fing Frau Burton an, in der Absicht, die Ansichten der Kinder über ein künftiges Leben der Tiere im Himmel zu berichtigen – da erinnerte sie sich auf einmal an die Fragen, die sie selbst als Kind gestellt – Fragen, welche sie mit ihren reiferen Erfahrungen auch jetzt noch nicht beantworten konnte, und so schob sie denn die ihr auf einmal immens schwierig vorkommende Aufgabe, die Ansichten ihrer Neffen über himmlische Dinge zu berichtigen, wieder hinaus. Auch bat jetzt die Köchin um eine Unterredung und beklagte sich, daß ihr zwei silberne Suppenlöffel abhanden gekommen seien. Frau Burton überkam jene aus Argwohn, Aerger und Ungewißheit zusammengesetzte Stimmung, in welcher sich alle amerikanischen Frauen, die in der unglücklichen Lage sind, Dienstboten halten zu müssen, häufig befinden.

»Wo ist das Hausmädchen?« fragte sie.

»O, auf die brauchen Sie keinen Verdacht zu haben,« fagte die Köchin. »Ne! Die gehören eher zu Ihrer eigenen Familie, glaub ich, die sie fortgenommen haben.« Und die Köchin warf dabei einen nicht mißzuverstehenden Blick auf die Jungen. Frau Burton nahm den Wink an.

»Jungen,« fragte sie, »hat einer von euch beiden Tante Alices Löffel fortgenommen?«

»Nee,« antwortete Toddi, während Willi ein so unschuldiges und dabei scheues Gesicht machte, als wüßte er etwas, was er weniger aus Furcht als aus Zartgefühl nicht sagen mochte.

»Nun, bekenne mal, Willi?« sagte Frau Burton.

»Ja, siehst du,« sagte Willi mit der süßesten Stimme. »Wir suchten gestern was, um damit das Grab für den Vogel zu graben, un' da konnten wir nichts ausdenken, was da schöner zu taugte als Löffel. Da lagen ja alte, häßliche, eiserne Löffel genug umher, aber Vögel sind so süß un' nett, daß ich da keinen von nehmen wollte. Un' das Eßgeschirr lag da mit den großen silbernen Löffeln obendrauf; da nahm ich geschwind zwei davon. Sie waren noch nich' gewaschen, aber wir wuschten sie ganz rein. Es sollte ja doch alles ganz sauber sein, daß der Geist des kleinen Vogels sich nich' ekelte, wenn er auf uns runter sah.«

»Und wo sind die Löffel geblieben?« fragte Frau Burton, die für das Bezaubernde in Willis Wesen und Aussehen kein Auge hatte.

»Ich weiß nich',« antwortete Willi, aus dem alsbald wieder ein gewöhnlicher Junge wurde.

»Aber ich weiß es,« rief Toddi. »Ich habe sie hübsch weggelegt. Un' wenn wir mal wieder Haus spielen, brauchen wir nich' zu thun, als wenn kleine Stöcke Löffel sind.«

»Zeige mir sofort, wo du sie hingelegt hast!« befahl Frau Burton und erhob sich von ihrem Stuhle.

»Willst du sie uns auch leihen, wenn wir nächstes Mal Haus spielen?« fragte Toddi.

»Nein!« sagte Frau Burton mit grausamer Entschiedenheit.

Toddi schmollte, rieb sich die Augen und führte die Tante in den hinteren Teil des Gartens, wo sich die vermißten Löffel in dem hohlen Stamme eines alten Apfelbaumes fanden. Um zu sehen, ob nicht noch andere wertvolle Gegenstände darin verborgen seien, untersuchte Frau Burton die Höhlung mit Hilfe eines Stockes und förderte alsbald eine ihrer Damastservietten ans Tageslicht.

»Das soll unser Tischtuch sein,« erklärte Toddi, »un' das hier (als ein ungeöffneter Topf mit französischem Senf zum Vorschein kam) is Eingemachtes.«

Frau Burton brachte ihr Eigentum in ihrer Schürzentasche unter, führte ihre beiden Neffen ins Haus, setzte sie mit unnötiger Heftigkeit auf ein Sofa, schlug die Thür heftig hinter sich zu, schloß sie ab, setzte sich dann dicht vor ihre Gefangenen und sagte:

»Jetzt kriegt ihr eure Strafe, Jungen, weil ihr Tantes Sachen ohne Erlaubnis aus dem Hause geholt habt.«

»Will keine Haue haben,« schrie Toddi in Tönen, die wie ein Duett zwischen einer Sägenfeile und einem ungeschmierten Wagenrad klangen.

»Ihr sollt keine Prügel haben,« beruhigte ihn Frau Burton; »aber ihr müßt lernen, daß ihr ohne Erlaubnis nichts anrühren dürft. Ich glaube, wenn ihr euer Mittagessen nicht kriegt, so werdet ihr schon besser begreifen, wie unartig ihr gewesen seid.«

»Ich bin beinah' totgehungert,« rief Toddi und brach in Thränen aus – seit dem Frühstück war, wohlgemerkt, kaum eine Stunde verflossen.

»Dann will ich euch so lange in ein leeres Zimmer sperren, bis ihr euer Unrecht einseht.«

Toddi schrie, als ob er tausend Martern erdulde, und Willi sah so unglücklich drein, wie ein verliebter Jüngling, der vergeblich nach poetischem Ausdruck für seine Gefühle ringt; aber Frau Burton führte sie beide in eine leere Dachkammer, stellte zwei Stühle in zwei Ecken, setzte auf jeden Stuhl einen Jungen und sagte:

»So, daß jetzt keiner von euch vom Stuhl runter klettert! Ganz still sollt ihr sitzen und darüber nachdenken, wie unartig ihr gewesen seid. In einer Stunde komme ich wieder und sehe mal nach, ob ihr meint, daß ihr wieder artige Jungen sein wollt.«

Als Frau Burton das Zimmer verließ, folgte ihr ein Schrei, daß sie meinte, er müsse die starken Mauern durchdringen und über die halbe Erde hinschallen. Sie wandte sich um und sah zu ihrer Beruhigung, daß Toddi, welcher den Schrei ausgestoßen, weder in Krämpfen dalag, noch vom Stuhl gefallen oder von einem giftigen Insekt gestochen war; so machte sie denn die Thür zu, schloß dieselbe ab, stellte leise einen Stuhl davor, setzte sich sachte auf den Stuhl und horchte; Toddi ward nach einigen Minuten des Schreiens überdrüssig, und tiefe Stille trat ein; bald aber hörte Frau Burton folgende Unterredung:

»Toddi!«

»Was denn?«

»Was sollen wir nu' machen?«

»Tante Alice in lauter kleine Stücke hauen – das möcht' ich am liebsten.«

»Das wär' aber schrecklich unartig, nachdem wir sie so geärgert haben,« sagte Willi. »Nein, wir wollen mal recht was Gutes thun, wie große Leute, wenn sie was Böses gethan haben.«

»Was thun denn die großen Leute da?« fragte Toddi.

»O, die lesen in der Bibel un' gehen in die Kirche,« antwortete Willi. »Aber du un' ich, wir können nich' in die Kirche gehen, weil es nich' Sonntag is. Un' wir haben auch keine Bibel, un' wenn wir eine hätten, könnten wir sie doch nich' lesen.«

»Dann laß uns man weiter nichts thun als furchtbar eklig sein,« sagte der unbußfertige Toddi. »Ich will dir sagen, was wir thun können, wir wollen's so machen wie die Magdalene, die auf Mama ihrem Bilde is. Die hatte auch was Böses gethan, un' das that ihr leid. Wir wollen mal schrecklich traurig un' verdrießlich aussehen. Sieh so!«

Allem Anschein nach gab Toddi in Haltung und Miene ein lebendes Bild seines Ideals eines bußfertigen Sünders, denn Willi rief plötzlich:

»O Toddi, was siehst du gräßlich aus! Gerade wie ein toter – kleiner Hund, mit dem Kopf so ganz auf einer Seite. Ich will dir was sagen: wir können nich' wie große Leute Bibeln lesen, aber wir können Geschichten aus der Bibel erzählen, un' dann sind wir ebenso brav, als ob wir sie lesen.«

»O ja,« sagte Toddi, auf einmal reumütig, »man zu! Ich möchte furchtbar gern brav sein.«

»Aber wovon sollen wir denn erzählen?« fragte Willi.

»O, von Jesus, wie er ein kleiner Junge war,« antwortete Toddi, »denn der war schrecklich brav.«

»Nein,« sagte Willi, »wir sind unartig gewesen un' müssen von jemand erzählen, der furchtbar schlecht war. Ich glaube, die Geschichte vom alten Pharao paßt am besten.«

»Gut,« sagte Toddi, »erzähle mal von dem.«

»Also – es lebte einmal ein böser, alter König da hinten in Egypten. Der hatte alle Isruliten in seinem Lande un' ließ sie arbeiten, un' wenn sie nich' arbeiten wollten, kriegten sie Prügel. Aber der liebe, kleine Mosesknabe, der in einem Korb im Flusse lebte, wuchs heran un' wurde ein starker Mann. Der schlug mal einen von Pharao seinen bösen Prügelknechten tot, un' dann riß er aus un' versteckte sich. Da sah der liebe Gott, daß Moses der Mann war, wo er recht was mit anfangen konnte. Deshalb sagte er zu Moses: »Geh hin zu Pharao un' sag ihm, er soll alle Isruliten ziehen lassen, wohin sie wollen.« Da ging Moses hin zu Pharao und bestellte das. Aber Pharao rief: »Da wird nichts draus.« Da ging Moses zum lieben Gott und erzählte ihm das. Un' der liebe Gott wurde furchtbar ärgerlich un' machte alles Wasser im Flusse zu Blut.«

»O je,« rief Toddi. »Wenn da einer gern blutig aussehen wollte, da brauchte er nur hinzugehen un' zu baden, nich'?«

»Aber Pharao wollte die Isruliten doch nich' ziehen lassen,« fuhr Willi fort. »Da machte der liebe Gott, daß aus allen Flüssen un' allen Sümpfen Frösche gehuppt kamen. Un' die huppten in alle Häuser un' die Leute konnten sie nich' wieder los werden.«

»O, ich wollte, Mama un' ich wären damals in Egypten gewesen,« sagte Toddi. »Dann brauchte ich meine Hoppfrösche doch nich' draußen zu lassen, wenn der liebe Gott selbst will, daß sie im Hause sein sollen. Ich mag' Hoppfrösche gern; ich hab' mal einen übergeschluckt, un' der rutschte in mein' Magen runter.«

»That er denn in deinem Leib nich' rumhuppen?« fragte Willi mit erklärlichem Interesse.

»Nee!« sagte Toddi. »Ich hab' ihn erst mittendurch gebeißt. Aber er wachste wieder zusammen un' – hopps! sprang er auf einmal oben aus mein' Kopp raus.«

»Laß mich das Loch mal sehen, wo er rausgehuppt is,« sagte Willi und eilte zu Toddi hin.

»Das is schon ganz wieder zugewaxt,« sagte Toddi geschwind. »Aber du bist ein schlechter Junge, weil du von dein' Stuhl runter kommst, un' Tante Alice hat doch gesagt, du darfst nich'. Nu' mußt du zur Strafe noch 'ne andere Geschichte voll bösen Menschen erzählen – aber gleich.«

Willi kehrte zu seinem Stuhl zurück und fuhr fort:

»Un der alte Pharao kam zu Moses un' sagte: »Bitte doch mal den lieben Gott, daß er die Frösche wieder weghuppen läßt, dann kannst du deine alten Isruliten wegbringen; ich bin froh, wenn ich sie los werde.« Das hörte der liebe Gott, un' da' ließ er die Frösche wieder weghuppen; un' der alte Pharao war gräßlich froh darüber, aber die Isruliten ließ er doch nich' fort. Da dachte der liebe Gott: »Na warte, dich will ich aber!« un' da verwandelte er allen Schmutz in Ungeziefer.«

»Was fingen denn da die kleinen Jungens an, wenn sie Sandtorte backen wollten?« fragte Toddi.

»Ja, sieh!« erwiderte Willi. »Das Ungeziefer war bloß aus trockenem Schmutz gemacht – aus dem Staub, weißt du, der in den Straßen liegt.«

»Du, Willi, ich möchte wohl wissen, ob da auch Stinkwanzen mit bei waren,« sagte Toddi.

»Das weiß ich nich',« antwortete Willi. »Aber die Sorte war mit dabei, die Mamas mit engen Kämmen fangen, wenn ihre kleinen Jungens mit schmutzigen Kindern gespielt haben. Aber Pharao seine klugen Männer, die immer dachten, sie könnten alles, na – die probierten mal, ob sie auch Ungeziefer machen könnten, aber das konnten sie lange nich'.«

»Weshalb thaten sie denn das?« fragte Toddi. »Wollte denn Pharao noch mehr Ungeziefer haben?«

»Nee,« erwiderte Willi, »das glaube ich nich', aber höre nur weiter. Also Pharao besserte sich immer noch nich', un' dafür mußte er wieder seine Strafe kriegen. Deshalb schickte Gott furchtbar große Schwärme Fliegen nach Egypten, un' dabei gab's noch kein einziges Fliegennetz im ganzen Lande – un' nu' die vielen Fliegen! Da besserte sich Pharao auf einmal, un' der liebe Gott nahm die Fliegen wieder weg. Na, un' was meinst du woll? – gleich war Pharao wieder böse. Da ließ der liebe Gott alle Pferde un' Kühe im Lande krank werden un' sterben.«

»Da konnte woll Pharao gar nich mehr ausreiten?« fragte Toddi.

»Nein,« antwortete Willi. »Er mußte immer zu Fuß laufen, un' wenn er auch noch so schnell zur Bahn wollte. Un' das machte ihn so dollköppig, daß er sagte, nu' sollten die Isruliten erst recht nich' fort. Da nahm Moses eine Hand voll Asche un' warf sie vor Pharao in die Luft, un' da wurden alle Leute in Aegypten krank un' kriegten Beulen.«

»Au weh!« rief Toddi. »Ich hatte auch mal eklige Beulen, aber ich wußte nich', daß die von Asche kommen; annermal will ich aber an denken.«

»Das half aber auch noch nichts,« fuhr Willi fort, »denn Pharao war sehr eigensinnig un' sagte wieder »nein.« Da mußte denn Gott noch andere Plagen schicken, un' er machte, daß große Eisklumpen vom Himmel runter fielen, un' er ließ die Donner rollen, un' die Blitze fahrten über die Erde hin wie unsere Zischraketen am vierten Juli, un' alle Pflanzen wurden versäuft.«

»Die Erdbeeren auch?« fragte Toddi.

»Ja.«

»Un' all die lieben, schönen Blumen auch?«

»Die auch.«

»Das war aber schlimm,« seufzte Toddi.

»Da kamen aber Pharao seine Freunde an,« fuhr Willi fort, »un' sagten ihm, er wäre noch dümmer als 'ne Gans, daß er meinte, er wäre noch stärker als der liebe Gott. Un' Pharao dachte, das könnte am Ende doch woll so sein. Deshalb sagte er zu Moses, alle Isruliten-Männer könnten wegziehen, wenn sie wollten, aber ihre Frauen un' Kinder nich'.«

»Der dumme Kerl!« rief Toddi. »Wer sollte denn da das Kochen besorgen un in die Schule gehen?«

»Ich weiß nich',« antwortete Willi. »Aber Pharao hatte bald Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn Gott ließ große Schwärme Heuschrecken kommen – Grashopper, weißt du, un' die fraßen alles auf, was in den Gärten war, un' die Leute wurden halb verrückt darüber.«

»Na, da hat's gewiß keiner gemacht, wie Mama, un' zu den kleinen Jungens gesagt, sie sollen keine Grashopper tot machen. O, ich wollte, ich wäre dagewesen! Was machte denn Pharao aber nu'?«

»O, der war noch ebenso brummig un' schlecht, wie vorher,« erwiderte Willi. »Deshalb sagte Gott zu Moses: ›Hebe mal deine Hand auf zum Himmel – nur eine Minute.‹ Un' Moses hebte die Hand auf. Da wurde es noch dunkler in Aegypten als in unserm Kohlenstall. Die Leute konnten nirgendwo was sehen un' mußten drei Tage un' drei Nächte auf derselben Stelle bleiben, wo sie gerade standen, als es dunkel wurde.«

»O, Himmel!« rief Toddi. »Wär' das nich' gräßlich, wenn Moses jetzt auf einmal seine Hand aufhebte, un' wir müßten drei Tage un' Nächte auf den Stühlen sitzen? Vielleicht thut er's schon. Laß uns Tante Alice rufen, so laut wir können.«

»O, du brauchst nich' bange zu sein,« sagte Willi, »Moses is ja tot. Un' wir thun ja auch keinem Isruliten was zu leide. Nun hör' weiter. Der alte Pharao wurde jetzt furchtbar bange un' sagte zu Moses, er sollte die Isruliten nur alle zusammen fortbringen, aber ihre Sachen dürften sie nich' mitnehmen – sieh! so schlecht war der Kerl! Aber Moses wußte, daß die Isruliten sich ihr bißchen Kram hatten sauer verdienen müssen, deshalb sagte er, sie wollten nich' anders fort, als wenn sie alle ihre Sachen mitnehmen könnten. Da wurde Pharao aber wieder grob un' rief: »Mach, daß du rauskommst! Wenn ich dich hier noch mal sehe, so laß ich dir den Kopf abhauen.« Aber Moses sagte: »Das sollst du woll bleiben lassen. Ich lasse mich nich' eher wieder bei dir sehen, als bis du mich nötig hast.«

»Kann ich ihm nich' verdenken,« sagte Toddi. »Das thut keiner un' besucht 'n König man bloß, um sich sein' Kopp abhauen zu lassen. So klug sind unsere Küken schon, daß sie nich' zu Michel kommen, wenn er ihnen den Kopp abhacken will. Erzähl' weiter!«

»Un' da erzählte Gott was zu Moses, daß dem alle Haare zu Berge standen. Er sagte: »Hör' mal, Moses, in nächster Nacht schicke ich 'n Engel, der soll alle ältesten Jungens un' Mädchens in allen Familien totmachen.« Ach, was bin ich froh, daß ich da nich mit drunter war! Ich möchte ja gern mal 'n Engel sehen, aber so einen doch nich'. Was thätest du woll, Toddi, wenn 'n Engel käme un' machte mich tot?«

»Dann nehmte ich deine Marmeln,« antwortete Toddi prompt, »un der Ziegenwagen gehörte mir dann ganz allein. Erzähl' weiter!«

»Als Gott Moses das gesagt hatte, da ging Moses hin zu den Israliten un' sagte ihnen, sie sollten ein kleines Lamm töten un' ihre Finger in das Blut tauchen un' ein Kreuz an ihre Thüren machen. Un' wenn der Engel käme un' die Kreuze sähe, dann würde der an ihren Häusern vorübergehn, un' die ältesten Jungens un' Mädchens leben lassen. Un' mitten in der Nacht kam der Engel nieder zur Erde, un' alle Leute wachten auf un' weinten schrecklich – noch ärger als du, als du mal die Treppe runter fielest – weil alle ihre ältesten Jungens un' Mädchens starben. Un' wo man auch hinging, hörte man die Papas un' Mamas weinen.«

»Hatten die denn alle 'n Begräbnis?« fragte Toddi.

»Ja natürlich,« sagte Willi.

»O wie hübsch,« rief Toddi. »Da konnten ja all die kleinen Aegypterjungens, die nich' totgemacht waren, den ganzen Tag Leichenzüge sehen! Was machte denn Pharao aber nu'?«

»Der ließ ganz geschwind Moses holen un' sagte zu ihm: »Ich bin ein schlechter König gewesen« – als ob der das nich' schon längst gewußt hätte. Un' dann sagte er, er sollte man alle Israliten mit fortnehmen un' alle ihre Sachen auch, un' man gleich damit abziehen. Er hatte es so eilig, daß er Moses nich' mal zum Begräbnis einladete, un' er hatte doch selbst einen Jungen zu begraben. Un' alle Aegypter kamen an un' baten die Israliten, sie möchten doch ganz, ganz geschwind fortziehen un' man ja nich' länger warten. Un' sie waren so froh, daß sie die Israliten los wurden, daß sie ihnen alles liehen, was sie haben wollten.«

»Kuchen un' Torte auch?« fragte Toddi.

»Nein,« antwortete Willi verächtlich. »Meinst du denn, daß Leute zuerst an Essen un' Trinken denken, wenn sie 'ne Reise von vierzig Jahren machen wollen? Nee, die borgten sich Kleider un' Geld un' alles, was sie kriegen konnten; un' als sie abzogen, da hatten die armen Aegypter beinahe gar nichts mehr.«

»Reisten sie denn in'm Extrazug?« fragte Toddi.

»Nein,« sagte Willi. »Die vielen Israliten hätten in allen Extrazügen auf der ganzen Welt keinen Platz gehabt. Welche ritten auf Kamelen un' welche auf Eseln, aber die allermeisten mußten zu Fuß laufen.«

»Na, das war aber wahrhaftig kein Vergnügen,« rief Toddi.

»Du hättest dich gräßlich gefreut, wenn du dabei gewesen wärst,« sagte Willi, »wenn du vorher hättest so furchtbar arbeiten müssen. Weißt du woll noch, als Mama dich mal arbeiten ließ un' du all die Steine wieder fortragen solltest, die du von dem neuen Haus nach unserem Garten geschleppt hattest? Da liefst du ganz weit weg, weil du keine Lust dazu hattest.«

»O ja,« sagte Toddi nachdenklich. »Aber ich konnte doch nach Hause fahren, als sie mich wieder holten, un' das hatt' ich mir gleich gedacht. Aber was machten die Israliten dann weiter?«

»Sie machten sich auf den Weg nach einem schönen Lande, von dem der liebe Gott Moses erzählt hatte, un' sie wanderten so lange, bis sie an einen großen See kamen, auf dem kein einziges Fährboot war. Ich weiß augenblicklich nich', weshalb Moses sie da eigentlich hinbrachte, ich glaube aber, Gott wollte den Israliten mal zeigen, daß er ihnen aus der Patsche helfen könnte, wenn sie da kein Fährboot fänden. Da auf einmal sahen die Israliten 'ne Masse Staub hinter sich aufwirbeln, un' einer rief: »Na, nu' hört aber alles auf, der Pharao kommt!«

»Ich dachte, der hätte die Israliten doch längst satt gehabt,« sagte Toddi. »Der kam gewiß zum Boot, um ihnen adieu zu sagen un' sein Taschentuch zu schwenken?«

»Nein,« sagte Willi, »deshalb nich'. Der wußte woll, daß da keine Boote waren; er kam, um sie wiederzuholen, weil sie wieder für ihn arbeiten sollten.«

»Hatte er denn gar keine Angst vor dem lieben Gott?« fragte Toddi.

»Angst mocht' er woll haben,« sagte Willi, »aber, weißt du, er war gräßlich faul un' mochte nich' arbeiten. Papa sagt, es giebt 'ne Menge Leute, die lieber sterben, als daß sie arbeiten.«

»Aber was fangen denn die an?« fragte Toddi. »Die können sich doch keine Israliten fangen, die für sie arbeiten.«

»Nee,« sagte Willi. »Die machen's so, wie's die Israliten auch machen, die borgen Geld von andern Leuten. Als nu' die Israliten sahen, daß Pharao angezogen kam, da fingen sie an zu murren un' Moses zu schelten. Un' sie sagten ihm, er müßte sich schämen, daß er sie so weit fortgebracht hätte, damit sie totgeschlagen würden. Da wären sie doch viel lieber in Aegypten gestorben un' hätten sich nich' so müde gelaufen. Aber Moses sagte: »Seid nur nich' bange, der liebe Gott wird uns schon aus der Not helfen.« Un' richtig – der liebe Gott sagte zu Moses: »Heb mal deinen Stab auf un' zeige damit über's Wasser.« Un' in demselben Augenblick, als Moses das that, da stieg das Wasser auf der einen Seite in die Höhe un' auf der andern Seite auch – gerade wie in unserer Badewanne, wenn wir plantschen, – un' da ging auf einmal ein Weg grad' über den Meeresboden hin. Un' da machte das ganze Israliten-Volk geschwind, daß es hinüber kam.«

»Zogen sie denn erst Gummischuhe an?« fragte Toddi. »Wenn sie keine anhatten, da müssen ja ganz viele kleine Israliten-Jungens Prügel gekriegt haben, weil ihre Schuhe so schmutzig wurden.«

»Das weiß ich nich' mal,« sagte Willi nach kurzem Besinnen. »Ich will mal dran denken un' Papa darnach fragen. Aber als sie alle drüben waren, fingen sie wieder an zu murren, denn Pharao kam mit seinem Heere ganz dicht hinterher.«

»Na, die hatten aber auch gar keine Kourage,« sagte Toddi.

»So?« sagte Willi höhnisch. »Du hättest mal schön geheult, wenn du den ganzen weiten Weg durch den Dreck gemacht hättest, un' es wären dann Soldaten mit Degen un' Speeren un' Bogen un' Pfeilen gekommen, um dich zu töten. Aber Gott wußte schon, wie er helfen konnte – un' das weiß er immer. Papa sagt, er hilft immer, wenn die Not am größten ist. Er sagte zu Moses: »Hebe mal deinen Stab auf un' zeige damit übers Meer. Un' Moses that das, un' da stürzten die hohen Wassermauern von beiden Seiten zusammen un' versauften Pharao un' sein ganzes Heer mit Mann un' Maus.«

»Fingen denn da die Israliten auch wieder an zu weinen?« fragte Toddi.

»Wird woll nich' so schlimm gewesen sein,« antwortete Willi. »Sie sammelten sich aber alle im Kreise un' sangen ein großes Loblied.«

»Ich weiß, was sie sangen,« sagte Toddi. »Sie sangen: »Pharaos Heer ertränkte der Herr, halleluja.«

»Nein, das sangen sie nich',« antwortete Willi. Sie sangen das schöne Lied, das Mama manchmal singt: »Laßt die Zimbeln ertönen ü–ber Aegyptens – ...«

Willi konnte diese Worte der herrlichen alten Hymne nur mit Anstrengung hervorbringen; auf einmal versagte ihm die Stimme, un' er brach in Thränen aus.

»Weshalb weinst du denn?« fragte Toddi. »Thust du so, als ob du 'n Isralit bist?«

»Nein,« antwortete Willi. »Aber jedesmal, wenn ich an das Lied denke, steigt mir etwas im Halse auf, un' dann muß ich weinen.«

Die Thür des Zimmers flog auf; Frau Burton eilte herein, umarmte Willi mit thränenüberströmtem Gesicht und küßte ihn wiederholt. Toddi aber erklärte trocken:

»Wenn ich was im Halse habe, da schluck' ich's runter.«

Frau Burton erlöste ihre Neffen aus der Gefangenschaft und sagte versöhnt:

»Es ist gleich Frühstückszeit, und ich will euch sauber waschen und anziehen lassen. Wenn dann Besuch kommt, seht ihr aus wie kleine Gentlemen.«

»Sollen wir auch noch Strafe haben, weil wir unartig gewesen sind?« fragte Willi.

»Nein,« antwortete Frau Burton freundlich. »Ich habe das Vertrauen zu euch, daß ihr künftig artig sein werdet.«

»Deshalb mein' ich das nich',« sagte Willi. »Ich habe Toddi oben eine lange, lange Geschichte aus der Bibel erzählt un' wieder gut gemacht, daß ich so unartig war; aber Toddi hat noch keine Geschichte erzählt un' seine Strafe noch nich' gekriegt.«

»Er kann seine Geschichte heute Abend erzählen, wenn Onkel Harry zu Haus ist,« sagte Frau Burton.

»Soll er dabei wieder in der Ecke auf dem Stuhl sitzen, oben im Zimmer?« fragte Willi.

»Ich glaube nicht, daß das diesmal nötig ist,« erwiderte seine Tante.

»Das is aber keine gerechte Strafe,« sagte Willi, und sah ganz beleidigt aus; »da bin ich nich' mit zufrieden.«

»Ich will es so viel bedauern, wie ich nur kann, Willi,« sagte Toddi mit brüderlichem Kuß.

Das Hausmädchen holte die beiden Jungen ab, um sie anzukleiden, und Frau Burton verlor sich in ernste Betrachtungen. Wie eilte die Zeit dahin! Vor dem Frühstück hatte sich ihr Gemahl verzweifelt pessimistisch über ihre Erziehungsgrundsätze geäußert, und trotz ihrer wunderbaren Beredsamkeit hatte sie ihn nicht zu überzeugen vermocht. Sie fühlte, daß sie bis jetzt in der Praxis eine Niederlage nach der anderen erlitten habe. Aber ihr Gemahl selbst hatte ihr einst erzählt, daß auch die besten Feldherren die ersten Schlachten zu verlieren pflegen, und sie schöpfte daraus die Hoffnung, daß sie trotz der erlittenen Niederlagen doch schließlich den Sieg davontragen würde. Sie wollte und mußte siegen! Der schreckliche Gedanke, ein lebenslängliches »Hab's dir doch gleich gesagt« von ihrem Gemahl hören zu müssen, härtete ihren Entschluß, sich durch keinen Mißerfolg in ihren Bestrebungen beirren zu lassen. Die erlittenen Niederlagen ließen sie freilich, wie schon manchen General, erkennen, daß der gute Wille allein den Erfolg nicht verbürgt, und daß die Fähigkeit, sich eine klare Vorstellung von dem zu machen, was eigentlich erreicht werden müßte, sehr verschieden ist von der Fähigkeit, die zur Erreichung dieses Zieles richtigen Mittel und Wege zu finden.

Die Frühstücksglocke schreckte sie aus ihren Betrachtungen auf, mit denen sie bereits im Thale der Demütigung angelangt war. Sie fand ihre Neffen bereits am Frühstückstisch – Willi in gefälligem Matrosenanzug und Toddi in einem reinen Röckchen und tadellos weißer Schürze. Eine früher gemachte Erfahrung veranlaßte sie, den Untersuchungen Toddis, ob unter Tantes Tafelgeschirr auch »Schildtötenteller« seien, ein jähes Ende zu bereiten, und ein Versuch Willis, Terry Austern in das Maul fallen zu lassen, wie er es seinen Onkel am Morgen mit Brotrinde hatte machen sehen, wurde gewaltsam verhindert. Hiervon abgesehen machten es die Kinder bei Tisch nicht schlimmer oder nicht mal so schlimm, als man es in guter Gesellschaft häufig zu machen pflegt.


 << zurück weiter >>