Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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49 3.

Piter Kattendyk hatte sich mit seiner vor vier Monaten nach Witoborn unternommenen Reise – keineswegs mercantilische Lorbern erobert. Zwar war er in lebendigster Erregung, wenn auch etwas durchfröstelt und an der Abfassung von »Reise«- oder»Heidebildern« durch einen Schlaf verhindert, der »die seiner Constitution nothwendigen zehn Stunden« fast auf die ganze Dauer der Schnellpostfahrt ausdehnte, in Witoborn angekommen und »bei Tangermanns«, im besten Gasthof der Stadt, abgestiegen; aber der gegenseitige große Eifer hatte sich durchkreuzt. Rittmeister von Enckefuß hatte voll Ungeduld bereits die Reise zu seinem Sohne angetreten und Nück, der helfen zu wollen versprochen, setzte gar nicht bei seinem Schwager eine so präcise Erfüllung seiner Aufträge, soviel Reiselust und Gefallen an einer raschen Benutzung einer neu angeschafften Reisetoilette voraus. Nun waren wol die Besuche, die Piter am Sonnabend bei einigen witoborner Advocaten machte, ganz nützlich zur Beweisführung für seinen Verstand und seine sociale Stellung, aber eine geschäftliche Erörterung und die Uebernahme der Forderungen sämmtlicher Enckefuß'scher Creditoren konnte erst stattfinden, wenn der Hauptbetheiligte selbst zurückkehrte. Piter hatte den Zweck seiner Reise vorläufig verfehlt. Er gerieth in Studien zur »Länder«- und »Völkerkunde« – d. h. er »bummelte« in und bei Witoborn herum.

50 Wir werden diese heilige Stadt Witoborn, deren Thürme wir bei unsern frühern Schilderungen nur erst fernher aufragen sahen, noch genauer kennen lernen. So viel dürfen wir schon jetzt berichten, daß Piter hier die vollkommenste Gelegenheit gehabt hätte, durch Devotion seiner guten Mutter der Frau Commerzienräthin Ehre zu machen. Hier lagen so viel Heilige in ganzer Gestalt oder in Partikeln begraben, hier läuteten so viel Glocken zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, hier brannten an allen Ecken und Durchgängen der kleinen unansehnlichen Straßen so viel Lichtchen und standen an und in den Häusern, Kirchen, Klöstern so viel schöngeputzte Muttergottesbildchen, daß er seiner Sünden wohl hätte eingedenk werden und geloben können, sich die maßloseste Selbstliebe und besonders seine sträfliche Neigung für fünfzigprocentigen Arakpunsch abzugewöhnen.

Inzwischen beleidigten zu sehr sein Schönheitsgefühl die Kühe und die Schafe, die jeden Morgen vom Hirten durch die witoborner Straßen geführt wurden und nebenbei die Mängel der Straßenreinigung und der Beleuchtung. Gleich in der ersten Nacht war er auf topographische Studien ausgegangen und dabei beinahe in einen offenen, völlig gitterlosen Strom gefallen. der zwar nur höchst schmal, aber mit reißender Schnelligkeit und ziemlicher Tiefe durch die unerleuchteten Straßen schoß. Was half es ihm, daß es beim Wirth seines Hotels »bei Tangermanns«, wo er der einzige Fremde war, später herauskam, daß dies die berühmte Witobach gewesen, deren Quellen schon Karl der Große mit einem Münster überbaute? Was half es ihm, alle die kleinen Bäche, in die er, sich von dem großen retirirend, bis zum Knie hinein gerieth, als Nebenarme der Witobach bezeichnet zu hören? Er erzählte, daß ihm an einem großen Thurme, um den herum eine Anzahl ungeheurer Wasserräder auf die berühmten 51 witoborner Mühlenwerke schließen ließ, nicht nur Hören, sondern auch Sehen vergangen wäre. Alles das schmeichelte wol dem Lokalpatriotismus, trocknete aber seine Stiefel und Beinkleider nicht. Im Unmuth über die hier in Aussicht gestellte geringe Bereicherung seiner »Welt- und Menschenkenntniß« beschloß er, lieber so lange bis der »gottverdammte« Rittmeister zurückgekommen sein würde, die Umgegend zu recognosciren. Selbst das einzige Weinhaus, das er am folgenden Morgen, am Sonntag, zum zweiten Frühstück seines Besuchs für würdig erklären konnte, mußte ihn, wie er versicherte, »rein melancholisch« stimmen. Allerdings lag es dicht an den alten Münsterthürmen Karl's des Großen, aber in ihren durchbrochenen byzantinischen kleinen Fenstern beherbergten sie ein Gewimmel von Raben und Dohlen, die in Schwärmen aus- und einzogen und oft wie von weiten Reisen herkamen, von den Bergen hernieder, wo ihn besonders ein fernhin leuchtender Punkt anzog, das den Wittekind's gehörende Schloß Neuhof – Dies Rabengewimmel machte ihm »bei seiner lebhaften Phantasie« aus dem Münster den Rabenstein.

Piter beschloß, sich genauer die Gegenden anzusehen, wo Hermann den Varus geschlagen hat, und auch einige der vielen daselbst zerstreuten Mineralbäder, die noch einen letzten Rest von »Saison« hatten. Einige dieser Heilquellen kündigten sich ihm, als er in der That mit Extrapost abreiste, bereits durch Leichenwägen an; sie waren berühmt »gegen« die Schwindsucht. Andere hatten eine harmlosere Bestimmung. Aber die einzigen noch anwesenden Patienten schienen nur noch die Brunnenärzte zu sein, die an jedem Morgen an den Quellen erschienen, um sich zu erkundigen, wer etwa die Nacht angekommen war. Piter, geschmeichelt, daß man ihn für keinen Leber- oder Nierenkranken halten konnte, und zugleich besorgt, darum doch auch noch nicht für einen Musterreiter gehalten 52 zu werden, bestellte in einem dieser »Curhäuser« Champagner und bewunderte, von selbst voraussetzend, daß es keinen echten gab, die treuherzige Etikette: »Product vaterländischer Betriebsamkeit.« Weiterreisend bekam er die Stimmung und Muße, sich so mit sich selbst zu beschäftigen, daß er sich die Abschiedsscene von Trendchen, von dem neuen Mädchen seiner Schwester Hendrika, in allen möglichen Variationen ausmalte; denn daß diese Abschiedsscene allerdings nur noch in dämmernden Umrissen vor ihm stand, war bei dem umflorten Zustande, in dem er sich nach seinem Souper befunden hatte, kaum anders möglich. Gerade aber diese Nebelhaftigkeit des empfangenen Eindrucks gestattete ihm die schönste Ausschmückung. Wie er das freiherrlich Wittekind'sche Vorwerk Eggena, das Städtchen Lüdicke und andere hervorragende Punkte hinter sich hatte und in den Schluchten des Teutoburger Waldes sich ganz nach Belieben, bald an diesem Buchengrunde, bald an jener Tannenhöhe, die Niederlage der Römer ausmalen konnte und ihm das Krächzen der Raben, die ihm aus den Münsterthürmen gefolgt zu sein schienen, immerfort das aus der Schule in der That ihm noch erinnerlich gebliebene: »Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!« zu sprechen schien (dem darob sehr verwunderten Postillon hatte er beim Bergan diese Erzählung als Probe seiner mittheilsamen Gelehrsamkeit nicht vorenthalten mögen), da trat ihm der Gedanke: Wenn du jetzt diese allerliebste Blondine hier neben dir hättest aus dieser geschäftlichen Irrfahrt! mit mächtiger Gewalt entgegen.

In der alten Postkalesche, einer ausrangirten Beichaise, maß er sogar den Sitz, den Trendchen neben ihm einnehmen konnte. Er deckte auf das weich einladende Leder der Polsterung seinen Plaid und baute der kleinen Huldgöttin im Geiste einen Thron und Altar. Selbst die zierlichen Füßchen, deren weiße Strümpfe er im Geist als selbstgestrickte bewunderte, legte er eigenhändig auf 53 einen Nachtsack, den seine Schwester Johanna in der That behauptete selbst gestickt zu haben. Und weilte dann auch sein reizbarer Sinn, den die »etwas ängstliche« classische grüne Waldeinsamkeit ringsum nur noch erhöhte, bei dem außerordentlichen Professor, Dr. Guido Goldfinger, an dem ihm nichts außerordentlich erschien, als die Selbstverständlichkeit, wie er, der Sohn des Medicinalraths Goldfinger, so ohne weiteres (weil die drei Hausfreunde eben im Hause alles waren) sein Schwager wurde, und schossen dann auch seine Gedanken über drei Schwäger zu gleicher Zeit, wie der »Silberbogner Apollo«, »fernhintreffende« Pfeile hin, so kehrte sein an sich liebebedürftiges Gemüth doch immer wieder auf die Vorstellung zurück: Wenn sich die Romantik dieser hier eben genossenen geschichtlichen Eindrücke, mit denen du deine Freunde in begeisterter Mittheilung überraschen wirst, doch auch durch die Füllung dieses bequemen Eckplatzes mit dem reizenden, anspruchslosen und so »gehorsamen Kinde« vervollständigen möchte! Die leisen Umrisse, die er vom »neulich Vorgefallenen« behalten, zeichnete er kräftiger und kräftiger aus, drappirte neben sich das Bild der Phantasie mit Vielem, »worauf es ihm gar nicht ankommen sollte«, mit einem wunderschönen Hut von lyoner Bandbesatz, mit einem Shawl von damals modischem Krepp de Chine und mit den elegantesten Handschuhen, die Gertrud Ley besonders auch deshalb tragen sollte, um durch das Schonen ihrer vom Arbeiten mitgenommenen Finger sich zu einer Dame auszubilden, die man nach Piter's Theorie der Geringschätzung des weiblichen Geschlechts »aus jeder Katze« machen konnte. Piter sah in einem »anständigen Frauenzimmer« nichts als die Wiederholung seiner »ihm hinlänglich bekannten« Schwestern.

Mit solchen theils gemischten, theils sich stark widersprechenden Empfindungen hatte Piter die Walstätten der alten 54 Römerschlachten, auch die berühmten Extersteine hinter sich, welche ihm unwiderstehlich die schauerliche Idee von Menschenopfern weckten – der anliegende See konnte als Abzugskanal des rinnenden Blutes dienen – und ihm in den kunstgeschichtlich berühmten Basreliefs späterer christlicher Entsühnung dieser riesigen Metzgeraltäre auch nur eine »sehr mäßige« Vorstellung von plastischer Kunst des Mittelalters gaben, lauter Thatsachen, bei welchen er die Genugthuung schon vorweggenoß, wenn er davon zu Joseph Moppes sprechen würde, der nur die Musik leben ließ, oder zu Alois Effingh, der allerdings Sinn für zeichnende Künste, wenn auch zunächst nur für heimliche Caricaturen hatte, oder zu Weigenand Maus, der, seinerseits sehr kriegslustig und zur Carnevalszeit roß- und marschalluniformsfreudig, für solche Hünenthaten interessirt sein mußte. Vorzugsweise sollte aber Thiebold de Jonge, der das Conversations-Lexikon nie mehr citirte, als wenn Benno nicht zugegen war, an ihn glauben lernen, wenn Piter versicherte, daß man über »solche Gegenstände« (er meinte etwa die Ergänzung der fehlenden Bücher des Tacitus) gar nicht mitsprechen könnte, falls man sie nicht »gründlich studirt hätte« – er meinte hier die Dauer eines Schnapses, den er dem Postillon in dem Wirthshause an den Extersteinen geben ließ und sein eigenes, mehrfach wiederholtes: »Ungeheuer merkwürdig!« beim Besichtigen der Riesensteine und der »Blutlache« und der alten Basrelieffiguren ohne Nasen – ein Mangel übrigens, der für diese Figuren gut war, da sie auf die Art die rein menschliche moderne Bestimmung einer hinter ihnen liegenden kleinen alten Krypte nicht am Geruche merkten. Wie gesagt, nur der Postillon frühstückte hier; Piter aber frühstückte in Detmold. Dort, wo einst Jérôme von Wittekind im Certiren stets, und nicht blos beim Fragen nach Calefaciebas, der erste gewesen, erwärmte, ja erhitzte sich auch Piter in einer Weise, die 55 es erklärlich erscheinen ließ, daß er, kaum angekommen in Pyrmont, wohin er eigentlich wollte, gleich spornstreichs an den Grünen Tisch rannte und sich noch an demselben Abend, im mildesten Sturm und vom »schnödesten Pech« heimgesucht, seine ganze Reisekasse sprengen ließ.

Als dann hier Piter am folgenden Morgen in den Brunnenanlagen hinter einem welkenden Busche den letzten Rest seiner Baarschaft und auch den der Curgäste musterte, etwas tiefsinnig über die Wirkung der hiesigen Gewässer gegen chronische Anfälle von Hypochondrie nachgedacht und vielleicht dabei einen etwas confiscirten Eindruck gemacht haben mochte, jedenfalls mit einer stark gerötheten Nase »bei schon so kühler Morgenluft« beide Hände hinten in den Rocktaschen steckend, somit einem Abenteurer und Marodeur der Badesaison nicht unähnlich, machte er die Bekanntschaft eines Barons von Binnenthal, der erst vor wenig Stunden angekommen war und, wie er selbst vom Westen her. Oskar Binder'n hatte ein glücklicher Instinct beseelt, statt nach Belgien zu gehen, ostwärts zu »machen« – Grützmacher hatte nur vorgestern, Sonntag Abend, mit dem Staate, dann mit dem Assessor von Enckefuß in Betreff des in den Sieben Bergen seine geliebte Mutter besuchenden Hammaker zu viel zu thun, sonst würde er dem ihm sofort auf dem Fuld'schen Balcon aufgefallenen Herrn von Binnenthal die Fährte nach Westen von einigen schnell avertirten guten Freunden in grüner Uniform haben abschneiden lassen – ganz ebenso wie er die ihm sehr wohlbekannten Herrn und Frau von Guthmann beim Besteigen des Dampfboots vorgestern Abend scharf fixirt und ihnen halblaut »glückliche Reise nach Pyrmont!« gewünscht hatte, wohin sie in der That gingen, um unter den letzten Stoppeln der Saison noch einige Körnchen für ihr den Sicherheitsbehörden schon bekanntes Spielermetier aufzusuchen. Unterwegs machten sich 56 alle drei, nach dem ersten Erstaunen über das erneute Zusammentreffen, gegeneinander Geständnisse und alle drei vergaben sich die Vergangenheit und das Arbeitshaus, in Hoffnung auf eine schönere gemeinschaftliche Zukunft. Sie blieben zusammen. Binnenthal's erste Recherche auf der Morgenpromenade brachte ihn gleich mit Piter zusammen; diesen führte er dann zu der charmanten Frau von Guthmann, welche Piter'n so fesselte, so für den Verlust am Grünen Tisch tröstete, daß er ein einfaches »Einundzwanzig« ein quatre einging, gewann, wieder an den Grünen Tisch schlüpfte und hüpfte und mit schon leichterm Herzen das Gewonnene nicht nur wieder verlor, sondern auch durch eine Anleihe bei Herrn von Guthmann, der in der Nähe stand, das Verhältniß desto fester knüpfte. Pyrmont endete für Piter nach drei Tagen, alles in allem gerechnet, mit einer Spielschuld von 5000 Thalern, die er in einem sich immer mehr vergrößernden Kreise von Freunden der Göttin Fortuna und der liebenswürdigen Frau von Guthmann zurücklassen mußte. Herr von Binnenthal war bei diesem schnell geknüpften Bande der Freundschaft der sogenannte »Schlepper« gewesen. Seine stereotypen Redensarten und die Devise: »Bange machen gilt nicht!« halfen ihm bisjetzt noch weiter, als andern Menschen ihr originellster Originalwitz. Piter reiste von Pyrmont mit den »famosesten Erfolgen bei einer Baronin« ab – »Stoff doch immer« zum Renommiren für die kleinen Soupers – und mit Hinterlassung einer »zwei Monate de dato« fälligen Anweisung auf sein Haus und wandte sich dann wieder auf Witoborn zurück, wo ihn inzwischen der Rittmeister, in mancher Hinsicht sein Geistesverwandter, schon sehnsüchtigst erwartete.

Nunmehr gibt es mancherlei Arten, ein Unglück, das man sich selbst zugezogen hat, zu ertragen. Manche Menschen werden von empfindlichster Reue befallen; einige unter ihnen, nicht viele, 57 nehmen sich vor, sich künftig zu bessern. Andere sind gleichfalls, besonders wenn die einsame Natur ringsumher so feierlich stimmt, fest entschlossen, nun und nimmer wieder z. B. bei solchen »Baroninnen« »an den Leim« zu gehen und zu spielen und 5000 Thaler Badesaisonschulden auf ein Haus abzugeben, dessen Solidität sie selbst repräsentiren; aber die Reue verwandelt sich ihnen in Trotz, Trotz nicht etwa gegen sich selbst, sondern sonderbarerweise gegen ganz unschuldige andere. Allerdings kein behagliches Gefühl, ein großer Reformator sein zu wollen und sich als der Reformation selbst höchst bedürftig darzustellen! Ein Wechsel auf die Ordre eines notorischen Spielers, acceptirt von einem handelsberühmten Namen wie Piter Kattendyk, kommt vor viele Dutzend kritischer und verblüffter Augen und gelangt zuletzt im Comptoir seines Hauses wie eine Wundermär an, die alle alten Buchhalter betrachten mit Hälsen so lang – »wie die Gänse oder Kameele!« wird allerdings Piter sagen. Aber alle Federn im Comptoir halten dennoch inne, alle Prisen stocken, alle Drehsessel knacken und die Miene, die vollends Procuraführer Ernst Delring »vorstecken« wird, die ist nicht die seiner gewöhnlichen Reserve, sondern einer still lächelnden Genugthuung, die sogleich zwei Treppen höher hinaufschleicht und für die liebende Gattin, vor welcher es etwa nicht, wie überhaupt vor keiner Gattin, Geheimnisse gibt, zur amusantesten Unterhaltung wird! Piter hat 5000 Thaler Spielschulden gemacht! Piter, von der Baronin (bei den spätern »kleinen Soupers« blieb dies »famose Weib«, geradezu eine Göttin, natürlich diesseit der Dreißiger) ernüchtert, phantasieumgaukelt jetzt von Trendchen's Unschuld, die im Geiste, von seinem Plaid bedeckt, wieder in seiner Beichaise neben ihm saß, sah alle diese Wirkungen der drei Tage in Pyrmont »als Nachcur« voraus, entsetzte sich, wie tief beschämt er in sein niedliches Comptoircabinetchen, wo »seine Wenigkeit« wie 58 ein dirigirender Minister thronte, zurückschleichen mußte, und sagte sich: Naturen, wie die meinige, können alles, nur keine Demüthigung ertragen! Auf demselben, inzwischen durch Regengüsse etwas veränderten Wege kam er zwar wieder auf Anklänge an die Legionen des Varus, indem auch er mit dem Kopf gegen die Lederwand der Beichaise stoßen und die denkwürdigen Klagen des Cäsar Augustus in Bezug auf seine verlorenen 5000 Thaler wiederholen konnte, aber jener freie Geist der Forschung, der ihn auf der Herfahrt so beseelt hatte, verließ ihn und nach langem grimmigen Grübeln und Sinnen, als er schon dicht bei Witoborn war, wo die Jesuiten oft genug den Satz: Si fecisti, nega! in ihren Moralvorlesungen früher erörterten, kam ihm zuletzt ein ähnliches System als bestes Mittel zur Aushülfe: Hast du irgendetwas auf dem Kerbholz, dann sei gerade erst recht impertinent! Diese Theorie gab ihm Muth. Sie gab ihm Muth um so mehr, als gestern Abend noch, bei einem kleinen von Frau von Guthmann arrangirten Abschiedssouper, ein alter dänischer Offizier en retraite gesagt hatte: »Respect kriegt der Mensch immer nur erst dann, wenn er auf alles, was er behaupten hört, Au contraire! sagt.«

Schon lange suchte Piter eine Formel, die, wie die Philosophie einen Satz, z. B.: »Ich gleich Ich!« allen ihren Beweisen vorausschickt, so auch ihm das Räthsel des Daseins und besonders die Methode erschloß, wie z. B. Kaufleute existiren können, die so außerordentlich bedeutend werden, daß ihnen nicht viel an einem großen Namen, sogar an einem Ministerportefeuille fehlt. An seinem Schwager Delring hatte Piter eine solche vornehme Natur in nächster Nähe; Delring war der Mann, der mit seiner weißen Halsbinde zu jeder Stunde einem Regierungspräsidenten aufwarten und mit ihm über die Wünsche und Bedürfnisse des Lederhandels, auch über 59 Binnenzölle, Wasserstraßen u. dgl. beneidenswerth unterrichtet sprechen konnte. Dies Air, das auch einigen andern Chefs großer Häuser, selbst dem alten Herrn de Jonge, der ein großer Arbeiter in den Sectionen der Provinziallandtage war, nicht im mindesten fehlte, vermißte Piter äußerlich allerdings an sich – keineswegs. Aeußerlich – dies englische, respectable, staatsmännische Benehmen, z. B. in den Zähnen zu stochern, die Finger in den Ausschnitt der Weste zu stecken, als Parlamentsmitglied mit dem Hut auf dem Kopf und die Beine lang ausgestreckt einen Minister wie ein Heupferd zu behandeln, das hätte er sich vollkommen zugetraut. Nur fehlten – die thatsächlichen Unterlagen. Ueber eine gewisse lächelnde Niaiserie, von den Engländern Snobbismus genannt, kam er bei Fragen über statistische Gegenstände nicht hinaus. Immer fühlte er da mehr eine lebhafte Wißbegierde als eine große Vertrautheit mit den betreffenden Gegenständen, ausgenommen bei Debatten über Kunst, Stadttheater, Glanzwichse, einige Feinheiten im Liniiren der Comptoirbücher, die er einem alten, verstorbenen Buchhalter verdankte. Nun elektrisirte ihn jenes pyrmonter Wort. Er fand dies Wort »merkwürdig« gleich auf der Stelle. Niederfahrend von den Höhen des im Regen gebadeten Teutoburger Waldes in die witoborner Ebene, beschloß er, zur Probe einmal dies System des Au contraire zu versuchen. Ein nicht undiabolisches Lächeln begleitete die Vorstellung: Du kommst nun nach Hause zurück, bekennst nicht nur nicht deine Unbesonnenheit, sondern bist au contraire maliciöser denn je! Du erklärst Nück die gänzliche Verfehltheit seiner Speculation mit dieser Uebernahme der Enckefuß'schen Schuldenmasse und unterbrichst jedes Staunen, das man etwa über den pyrmonter Wechsel von 5000 Thalern zu erkennen geben sollte, mit einem noch viel größern Erstaunen über die unvernünftigen 60 Handlungen anderer Menschen! An Stoff dazu wird es nicht fehlen, wenn du nur eben einreißest, was andere aufbauen!

Nach diesem System, zu dem ihm von etwas Bosheit und viel Desperation die Ermuthigung gegeben wurde, verfuhr er sogleich mit dem Rittmeister von Enckefuß, den er jetzt antraf. Dieser Unglückliche hatte einen jungen Mann voll »Großartigkeit« erwartet und fand einen abscheulichen Krakehler, der die Lorgnette einkniff und ihn fast ausfallend behandelte. Enckefuß war ihm in seiner gewohnten rosenrothen Laune entgegengehüpft, elastisch, frisch geschminkt wie ein Jüngling. Sein Humor ging ihm aber bald aus, als er einen Taxator fand, der auf jede Versicherung das Gegentheil anzugeben wußte und den armen Mann binnen einer Stunde vollends zur Verzweiflung brachte. Piter zuckte nur immer die Achseln und studirte sich im stillen seine Portion Donnerwetters ein, mit der er seine Angehörigen regaliren wollte, eine gehörige Anzahl von Ausrufungen über verlorene Zeit und Mühe, und es »sollte ihm mal einer wiederkommen und ihn so ins Bockshorn jagen« – da war denn zur Rettung des Rittmeisters keine Verständigung möglich. Piter schnurrte auf jede Proposition auf wie ein Stacheligel und reiste ab. Der Rittmeister begleitete ihn artig an den Postwagen, blieb aber mit einer traurigen Miene zurück. Er sah dem Scheidenden, dem Retter in der Noth, lange nach und begab sich besinnungslos in seine Wohnung. Wir wollen gleich hinzufügen, daß er sich nicht todtschoß, sondern einen Brief an seinen Sohn schrieb, zwar mit soldatischem Lakonismus seine Flüche aufs Papier werfend, aber doch so voll Verdruß (und besonders über die Nothwendigkeit, nun doch wol noch an den Präsidenten von Wittekind-Neuhof gehen zu müssen – der alte Kronsyndikus stand noch dazu unter Curatel –), daß der arme, schon lange vereinsamte, einst so stolze Mann seine schwarze Tusche, seine Pinsel, 61 seine rothen Schminknäpfchen vergaß und – nur das Klagen und Kratzen seines alten treuen Pudels hörte und leise zu ihm sprach: Beißen sie dich auch so, Caro? und dann die Thüren zuschloß und halb die Fensterladen zuzog und ein altes Kamisol anzog und die Brille auf die Nase, sich selbst auf die Erde setzte und eine Schere nahm und, nun ein Greis geworden, seinem ihm allein noch treu gebliebenen Thiere vor dem Hereinbrechen des Winters die Haare schor, in wehmüthiger Betrachtung über Flöhe und über Flohstiche. So wenigstens fand man ihn da, als er zum ersten mal anfing, wunderlich närrische Reden zu sprechen.

Piter kam im Vaterhause an und überhäufte Nück mit dem ganzen Vorrath gründlich einstudirter Vorwürfe. Er schilderte das Geschäft, das er ihm aufgetragen, als einen neuen Beweis, wie man noch soviel Latein und Griechisch und nichts von praktischen Dingen verstehen könne. Nück, erschreckt durch die Gefangennehmung Hammaker's, replicirte wenig; dagegen wurde Piter von Benno und Thiebold mit Unwillen bestürmt. Ihnen antwortete er auf jedes, was sie vorbrachten, mit Au contraire. Fast kam es zum Bruch zwischen ihm und Thiebold. Piter war in einem Grade unumgänglich geworden, daß er nahe daran war, einen Schrecken vor sich selbst zu bekommen. Nur in seinem Verhältniß zu Gertrud Ley eröffnete sich seinem Gemüth ein letztes Asyl. Diese Liebe wird sich zur Schwärmerei steigern, seitdem seine Schwester Hendrika ein für allemal, um Trendchen vor ihm sicher zu stellen, die auf seine Wendeltreppe führende Thür verschloß und sogar den Vorhang des Zimmerchens, das Trendchen bewohnte und das dem seinigen gegenüberlag, Tag und Nacht herabzulassen befahl. Wäre nicht die neue Beherrscherin des Hauses gewesen, Lucinde Schwarz (sie gewann diese Herrschaft ganz wider Willen und einfach nur dadurch, daß jeder 62 Hausbewohner, die Delrings ausgenommen, die »sanfte, stille, ruhige Seele« zur Vertrauten machte), Piter hätte Sitte und Anstand über den Haufen geworfen. Lucinde wollte aber alles Ernstes, daß Piter Trendchen in optima forma heirathen sollte. Sie beförderte diese Wendung der Dinge mit einer Entschiedenheit, die durchzuführen deshalb nicht leicht war, weil Trendchen, schon um »den jungen Herrn« möglicherweise zu »bessern«, seine, wie er selbst sagte, »wahnsinnige« Liebe mit jener mädchenhaften Kraftlosigkeit erwiderte, die sich die Möglichkeit so herzbestrickender Vorgänge innerhalb der ihr bisher gänzlich unbekannt gewesenen und nun erst neu aufgehenden Region der Liebe nicht geträumt hätte.

Piter entzog sich auch dem durch die Gefangennehmung des Kirchenfürsten geweckten Geiste nicht. War doch nach so gewaltiger Wendung selbst Thiebold wieder nahe daran, zu Feuer und Schwert zu greifen. Auch Benno, der sogar alles so erwartet hatte und an sich die Kraft der Ghibellinen bewunderte und von Dante's Welfenhaß sprach, stutzte über solche Geltendmachung der materiellen Gewalt. War doch auch die Gefangennehmung wunderlich genug motivirt von der Regierung –! »Zwei revolutionäre Richtungen«, hieß es in den Proclamationen der Regierung, sollten sich in den Handlungen des Kirchenfürsten durchkreuzt haben, die jakobinische und die jesuitische. Es war etwas Wahres daran in Rücksicht auf Nück und – Benno's eigene politische Grundsätze. Unvermittelt wogten noch in ihm die Gegensätze auf und nieder. Nur eine abstracte Freiheit athmen zu wollen, nur eine ideale Herrschaft der Gedanken zu begehren, dafür sah er das Leben zu praktisch an. Ob aber das sich als praktisch Gebende, das Thatsächlichseinsollende wirklich ein Recht beanspruchen durfte, den Rechten der Ideen eine Grenze zu stecken, das hatte sich für seine wenigen zwanzig Jahre noch nicht feststellen wollen. Vollends 63 verwirrend und betäubend wirkten diese aufgeregten Leidenschaften, diese Parteinahme nur zu Gunsten der »Kirche«, der theuern Mutter, der Religion, die allen geheiligt war durch Erziehung, Jugend, Familienleben. Kam doch selbst Bonaventura über seinen innern, allmählich beginnenden Zwiespalt durch diesen viel größern Bruch wieder hinweg. Piter sah nun vollends die Thränen seiner Mutter, hörte die Klagen seiner Schwestern; die drei Hausfreunde hatten keinen Appetit mehr; Nück vergab ihm sogar die witoborner Reise und trank mit ihm auf eine glücklichere Zukunft; ja die geängstigte Hendrika, die nur noch kaum zwei Monate hin hatte zum frühern heroischen Entschluß, ihr Kind im Glaubensbekenntniß ihres Mannes taufen zu lassen, war am Morgen nach der Gefangennahme des Kirchenfürsten in Trendchen's Kammer gewesen und hatte, zwar nicht mit Empfindungen wie damals Windhack in der Dechanei (»Fiat lux in perpetuis!«), doch jedenfalls nicht minder wie vor einem Ersticken der Seele sich Rettung suchend, den Vorhang bald in die Höhe gezogen, bald wieder niedergelassen – Eines aber war Piter'n am Kirchenstreit und an den Allocutionen und dem Kampf der Broschüren, vorzugsweise an den allabendlichen Zusammenrottirungen das Verdrießlichste. Familienfestlichkeiten mußten abbestellt werden –! Wozu hatte er nun das väterliche Haus so radical umgestaltet, soviel Zerstörungen und Neubauten verursacht, als um in der Eigenschaft des jetzt mündigen Chefs von »Kattendyk und Söhne« die Saison in einer Weise zu eröffnen, gegen welche niemand, selbst nicht die Cirkel der aus Verlegenheit über den illoyalen Geist der Stadt für den Winter ganz nach Paris übersiedelten Gebrüder Fuld aufkommen konnten! Piter fand nun ein freies Feld und durfte es doch leider nicht zu seinen längst vorbereiteten Zwecken benutzen.

Endlich aber schwieg jede Rücksicht. Ende Januar konnte für 64 seine Schwester Hendrika die Stunde der Entscheidung geschlagen haben. Eine Gesellschaft mußte jetzt oder konnte vielleicht den ganzen Winter über nicht mehr gegeben werden; wer verbürgte den glücklichen Ausgang dieser Entscheidung? Hendrika fuhr in keine Messe mehr, in keine Beichte, selbst dem Strom der ganzen Stadt zu dem neuen jungen Domherrn folgte sie nicht. Piter mußte endlich einen Anfang in der Entwickelung seiner Größe, seiner gesellschaftlichen Repräsentation, seiner Laufbahn zum Mitglied irgendeines Comité oder ähnlicher Befriedigungen seines Ehrgeizes machen. Er benutzte die nahe bevorstehende Abreise einiger hohen Herrschaften, von denen allerdings nur Monika speciell an sein Haus empfohlen war, um trotz der allgemeinen Landestrauer mit derjenigen Art, »wie Er Gesellschaften geben würde«, hervorzutreten.

Bei einigen Besuchen, die Piter hier schon im Hotel gemacht, war er auch der Gräfin vorgestellt worden. Von dieser hatte er ein Zeugniß erhalten, das ihm nicht wenig geschmeichelt haben würde, hätte er es gehört. Da er von dem, was die Damen sprachen, unausgesetzt nur das Gegentheil behauptete, so bekam wenigstens die Gräfin von ihm den Eindruck eines geistvollen und unterrichteten jungen Mannes – die Frauen sind viel bescheidener, als man gewöhnlich denkt; sie unterrichten sich gern und dünken sich in ihrem Wissen nicht so fest, daß sie nicht noch mit der größten Aufmerksamkeit und Geneigtheit, sich zu vervollkommnen, zuhörten, wenn ihnen jemand sagt: Bitte um Entschuldigung, die Ueberfahrt über den Kanal ist im Januar viel sicherer als im December! oder: Erlauben Sie, ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, die Cultur um Witoborn ist auffallend vernachlässigt! Frauen lieben in der Regel die Schmeichler viel weniger als wir glauben und vollends die vornehmen Frauen, die es ja wissen, daß man ihnen die Wahrheit gern verschweigt – 65 und dann gar erst, wenn mit ihnen Menschen sprechen, die sich auf Geld und Gut verstehen! Piter blieb zu seinem Glück nur zehn Minuten und hinterließ einen Eindruck, den die Gräfin beinahe einen »bedeutenden« genannt hätte.

Auch heute genoß Piter für eine höhere Würdigung drei große Vortheile. Einmal war er zu seinem Glück nur fünf Minuten mit den Damen allein; es erfolgte eine fernere Meldung. Sodann war Monika in eine tiefe Abwesenheit ihres Ohrs und Herzens und Urtheils versunken. Drittens endlich erhob sich sogar Monika und entfernte sich ganz – sie sagte, auf einen Augenblick; es war, als Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge gemeldet wurden, die sich ihr und der Gräfin zu empfehlen kamen, in der Voraussetzung, beide reisten ab. Und als die beiden jungen Männer dann eintraten, blieb wiederum die Gräfin mindestens zehn Minuten über alle drei Anwesenden die alleinige Richterin, bis Monika, nach einem kurzen Kampf zur Beruhigung ihres aufgeregten Herzens, zurückkehrte.

Piter war vollkommen so eingerichtet, daß er die Tasse Thee, die ihn die Gräfin mitzutrinken aufforderte, mit Anstand hätte annehmen können. Seine strohgelb gantirte Hand brauchte sich nur auszustrecken, um ihm beim Zulangen ganz schön zu stehen. Eine weiße Weste, inwendig mit einem dunkelrothen Phantasiefutter, dunkelbrauner Frack mit Metallknöpfen, schwarze Beinkleider, eine Halsbinde, weiß mit allerlei braunen Sprenkelchen – später flüsterte ihm Thiebold zu: »Sonderbare kleine Maikäfer das, Kattendyk, ich meine in Ihrer Cravatte!« – der kleine Kopf wohlfrisirt, das blonde Bärtchen leise gefärbt und das stumpfe Näschen nicht erfroren – er war in Equipage gekommen – kurz er hatte alles voraus, um Effect zu machen. Aber sein System des Au contraire bestimmte ihn sofort, die Tasse abzulehnen und zu erwidern: Bitte recht sehr, gnädigste 66 Frau Gräfin! Ich trinke keinen Thee – Es war dies, Kamillenthee ausgenommen, allerdings die Wahrheit.

Die Gräfin fand den jungen Kaufherrn wieder von imponirender »Eigenheit«. Wer sich einbildet, die Großen verletze dergleichen Selbständigkeit, irrt sich. Nur die »kleinen Großen«, die Empor- und Herunterkömmlinge sind anspruchsvoll; wahre Größen sind sogar leicht eingeschüchtert und gerathen viel öfter in Verlegenheit, als man glaubt.

Piter rückte mit seinem Anliegen heraus. Im Wagen hatte er sich stilistisch und rhetorisch eine förmliche Rede zurecht gelegt. In gewandtem, der Vornehmheit wegen etwas näselnden Vortrage bat er, seinem Hause die Ehre zu gönnen, daß bei seiner am nächsten Freitag stattfindenden ersten Soirée auch die gnädigste Frau Gräfin und Frau Baronin von Hülleshoven erwartet werden dürften.

Da die Gräfin von ihrer auf morgen angesetzten Abreise sprechen durfte, so kam sie rasch über die Ablehnung hinweg. Seit lange hatte Monika die Gräfin nicht lächeln sehen. In diesem Augenblick des Bedauerns that sie es ganz graziös. Monika sagte sich: Die seltsame Frau! Wie wohlwollend und fein steht ihr zu lächeln! Warum verscheucht sie den schönen Eindruck nur durch ihre stete Furcht vor dem Weltlichen, dem sie mehr angehört, als sie weiß! Sie selbst aber, die sich bei dieser Veranlassung mit der erst jetzt in Staunen ausbrechenden, allmählich aber beipflichtenden Gräfin über ihren Entschluß, lieber noch zu bleiben, verständigte, nahm die Einladung an. Gegenbesuche von und bei Piter's Mutter hatten stattgefunden. Die Verständigung über Monika's Zurückbleiben gab Piter'n Muße, sich bereits in die Erfolge zu versetzen, die am nächsten Freitag seine Arrangements krönen würden.

Auch über Porzia's Onkel und alles das, was ihr nunmehr zu einer Beruhigung dienen durfte, nicht zu einsam zu reisen, 67 orientirte sich jetzt erst die Gräfin vollständig und minder zerstreut als vorhin.

Piter sprach sein Bedauern aus, die Gräfin entbehren zu müssen, ermangelte jedoch nicht, sie durch seine praktischen Winke über die Comforts von London zu bezaubern. Es fehlte nichts, daß er ihr nicht auch die Adressen gegeben hätte, wo sie die besten Cravatten, Zahnbürsten und Rasirmesser kaufen würde. Er hatte sein Portefeuille gezogen, darin ein Blatt ausgerissen und eine Menge Namen aufgeschrieben, die für die Gräfin bei ihrer Ankunft von Wichtigkeit sein durften, sogar diejenigen Beamten auf dem Zollhause, welche sich am leichtesten bestechen ließen, »trotzdem auf Bestechung bekanntlich die Deportation stünde«. In solchen Dingen konnte Piter höchst charmant und bis zur Herzlichkeit naiv sein. Hier schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrungen. Die Gräfin, die zwar bei Lady Elliot sowol auf dem Lande wie in der Stadt wohnen sollte, hörte beglückt zu und ließ sich die Beschreibung gefallen, wie das Hotel beschaffen war und wo es lag, in welchem sie wohnen könnte, wenn sie wollte oder wenn sie müßte – Piter's Au contraire war auf einige Zeit sehr instructiv.

Benno und Thiebold kamen etwas feierlich. Brauchten sie auch jetzt nur von Gräfin Erdmuthe allein Abschied zu nehmen, so blieben sie doch selbst nicht mehr allzu lange in der Stadt, sondern reisten auf Witoborn zu, Benno in Aufträgen Nück's, Thiebold, um die Wälder anzukaufen, die Terschka frischweg sämmtlich wollte abschlagen lassen, um zu respectablen Summen zu gelangen.

Piter behielt merkwürdigerweise noch die Oberhand. Die Gräfin zeichnete denjenigen aus, der ihr vorläufig der Nützlichste war. Sie ließ sich das weiße Blättchen ganz voll Namen und Adressen schreiben. Nebenbei warf auch Piter noch Erläuterungen 68 für die beiden Freunde dazwischen, denen zufolge sie sich noch am Freitag in seinen Salons der Baronin empfehlen könnten. Man war angenehm überrascht; alles das gab ihm Suprematie.

Den neuen Ankömmlingen servirte der Bediente gleichfalls den Thee. Diese nahmen ihn. Piter hatte sonst bei seinen Freunden unter der Herrschaft ansteckender Beispiele gestanden. Er bekämpfte sich dauernd, nichts dergleichen mehr zuzulassen. Während jene tranken, konnte er sprechen. Jene waren gedrückt, bewegt; sie waren der Mutter eines Wesens nahe, das ihnen so theuer war und ihren Herzen einen so edeln Wettstreit kostete. Zwar hinderte ihn die Schwärmerei, die in Thiebold's zuweilen leuchtend von der Theetasse zur Nebenthür aufblickenden Augen sich äußerte, bei alledem nicht, Piter'n in seiner selbstgefälligen londoner Topographie zuweilen zu unterbrechen und sich z. B. in Betreff guter Handschuhe seinerseits gleichfalls auf den Standpunkt des Au contraire zu stellen; Benno sah dem darüber sich entspinnenden Wortgefecht mit Schweigen und wie ein Neuling zu. Erst da, als sich jene denn doch im Zanken etwas zu mäßigen anfangen mußten und sich nun in eine halblaut geführte Conversation verbissen, ging er, als der Festere und Gebildetere, auf ein Alleingespräch mit der Gräfin über, die das Bedürfniß hatte, von Nück, Terschka und ihrem Sohne zu reden.

Benno's Aeußeres hatte sich seit einiger Zeit verändert. Die Dressur zum Waffendienst hatte ihn früher seiner eigenen Art zu sehr beraubt. Jetzt stand auch auf seiner Wange ein schwarzgekräuseltes Bärtchen, das die Männlichkeit seines Wesens hob und ihm einen besondern Ernst gab. Seit meiner Studentenzeit war ich nicht in meiner zweiten Heimat! sagte er. Wenn es in der That zum Abschluß über die Dorste'schen Wälder durch meinen Freund de Jonge kommen sollte, würden wir noch den Wildstand zu vermindern haben. Herr von Terschka ladet uns 69 wenigstens zu einer Jagd ein, die allerdings als ein halber Vertilgungskrieg ihresgleichen suchen würde.

Ich bitte Sie! schaltete Piter ein. Sehr wenig Wild dort! Die Rehböcke kann man zählen!

Schweigen Sie! flüsterte Thiebold und corrigirte auf dem Blättchen, das jenem noch die Gräfin gelassen hatte, die Orthographie einiger englischer Namen.

Glauben Sie nicht, fuhr die Gräfin zu Benno fort, daß man beim Verkauf sich der Möglichkeit begeben würde, Gelegenheiten zum Bergbau zu entdecken? Etwa Kohlengruben?

Die Gegend ist eine Hochfläche mit Muschelkalkrücken! sagte Benno. Torf findet sich in den Absenkungen, manche Gasquelle in den Aufdachungen. Bergbau würde indeß zu große Kapitalien erfordern –

Und Rentabilität wird entschieden bestritten! schaltete Piter ein.

St! war Thiebold's scharfes Wort, das zum Glück in seiner Theetasse verhallte.

Graf Joseph hat viel für die Schulen gethan, hör' ich, sagte die Gräfin. Sind die Leute wenigstens in der Landwirthschaft aufgeklärt und eignen sie sich die neuen Erfindungen an?

Sehr schwer, Frau Gräfin! erwiderte Benno. Indessen ersetzen sie durch Eifer und Gediegenheit in ihrer täglichen Arbeit, was ihnen an höherer Strebsamkeit fehlt. In der nächsten Nähe von Witoborn freilich ist man durch die Unzahl von Feiertagen bequem, durch die Reste der alten Priesterherrschaft etwas matt und schlaff geworden, auch beschränkt im Auffassen und Begreifen –

Erlauben Sie, brach Piter aus, ich habe dort so durchtriebene und verschmitzte Menschen gefunden, wie vielleicht nirgends!

Wenn Sie doch nur – –! unterbrach jetzt Thiebold ganz laut 70 und bestimmt. Piter hätte auch jetzt beinahe vor der Gräfin von selbst verloren, denn von diesem antihierarchischen Geständnisse Benno's war sie angezogen. Gern würde sie das Gespräch in dieser polemischen Weise fortgesetzt haben, wenn nicht aus Porzia's Zimmer Monika zurückgekehrt wäre. Monika hatte Porzia im Packen unterstützt und sich dabei gesammelt und etwas gestärkt.

Wenn nun auch die jungen Männer die Bestätigung erhielten, daß Armgart's Mutter noch nicht mit nach England ging, sondern zurückblieb, so mußten sie selbst doch schon in den allernächsten Tagen reisen und drückten darüber in herzlichen und von einem gewissen geheimnißvollen Tone begleiteten Worten ihr Bedauern aus. Piter machte dazu ein pfiffige Miene. Durch Lucinden war er über »das Pech«, wie er es nannte, unterrichtet, das Thiebold hatte, einem Mädchen zu huldigen, das auch von Benno geliebt wurde. Aber sich zu empfehlen, bezeigte er noch keine Lust. Er flüsterte sogar Thiebold ohne alle Rancune zu, daß sie sich seines Wagens bedienen könnten und es prächtig wäre, wenn sie den Abend noch in irgendeinem Lokal, z. B. auf dem Hahnenkamp, frischangekommene Austern versuchten.

Thiebold hörte nichts. Er war ohne Besinnung. Um Monika einen Stuhl zu holen für denjenigen, den er, weil er ihn am Tische leer gefunden, selbst eingenommen hatte, flog er nur so.

Grüßen Sie Armgart! sprach Monika mit Festigkeit und schnitt damit alles ab, was etwa durch Reden oder ausdrucksvolles Schweigen über ihre Beziehungen zum Reiseziel der jungen Männer angedeutet werden konnte; sie ging sogleich auf die für eine solche Reise ungünstige Jahreszeit über.

So werden Sie vielleicht Ihren Herrn Vetter, den Domherrn begleiten? fragte die Gräfin, die gern auf die 71 Verwahrlosung des Volks und des Erdbodens durch geistliche Herrschaft zurückgekommen wäre.

Ich glaube nicht, sagte Benno. Die Amtspflichten, die dem armen Neuling aufgebürdet werden, sind so schwer, daß ihm vor Ende der Woche nicht die Freiheit wird. Und ich höre auch, es ist besser, er kommt so spät als möglich. Das ganze Stift Heiligenkreuz, alle Damen der Umgegend, Comtesse Paula an der Spitze, sticken einen in 24 Theile getheilten Riesenteppich, der an dem Tage, wo Bonaventura zum ersten male in St.-Libori die Messe liest, am Hochaltar ausgebreitet liegen soll. Schon seit dem Tage, wo seine Ernennung zum dortigen Archipresbyter bestimmt war, arbeiten sie daran. Inzwischen ist der Kirchenstreit dazwischengekommen, wo alles thätig sein mußte, für den gefangenen Kirchenfürsten Weihnachtsgeschenke zu fertigen. Zu Weihnachten hat in der Festung. wo er verweilt, die Post, wie man erzählt, ein ganzes Zimmer voll Packete gehabt, die allein nur an ihn adressirt waren. Seitdem erst sind die Damen zu dem Teppich zurückgekehrt und arbeiten nun Tag und Nacht daran, um von der Ankunft meines Vetters nicht überrascht zu werden.

Piter hatte glücklicherweise so viel Geistesgegenwart, sich zu besinnen, daß die Gräfin an dieser Schilderung einigen Anstoß nehmen mußte, und beendete nicht ganz ein fast heftiges: Erlauben Sie, das ist eine Verwechselung! In unserer Stadt allein war auf der Post ein ganzes Zimmer voll von Weihnachtsgeschenken an den Kirchenfürsten – als ihn ein niederschmetternder Blick Thiebold's bedeutete, er sollte die Gräfin allein reden lassen. Diese sah erst schweigend Piter'n an und sprach dann mit einer ernsten Miene: Mögen die Damen nur den klugen Jungfrauen gleichen, die ihre Lampen in gutem Zustand hielten, als – der wahre Bräutigam kam!

72 Benno fühlte, daß es Zeit sein konnte, auf diese feierliche Aeußerung aufzubrechen und Thiebold wünschte dies um so mehr, als Piter die »horrible Dreistigkeit« oder, wie Thiebold später noch aufrichtiger sagte. »Bêtise« besaß. unbekümmert um ein biblisches Citat die etwas schlecht brennende Lampe auf dem Tische zu fixiren. Aber Armgart's Mutter hielt die jungen Männer noch fest oder setzte das Gespräch unwillkürlich fort, indem sie den Amtseifer des jungen Domherrn rühmte und diesen in Vergleichung brachte mit dem bequemern System des Dechanten, nach dessen Befinden sie sich erkundigte.

Benno schilderte die mannichfache Aufregung, in welcher sich seither die Dechanei befunden hatte. Auch bei Beda Hunnius waren sämmtliche Papiere mit Beschlag belegt und von der Regierung theilweise der Oeffentlichkeit übergeben worden. Der Gegendruck der Volksaufregung zwang diesmal auch den Dechanten, seiner Lässigkeit zu entsagen. Die Majorin Schulzendorf kam nicht mehr in die Dechanei. Alles stand auf dem Kriegsfuß. Dazu der Mord der Schwester Petronella's! Die dem Mörder abgenommenen Werthpapiere hatten ein ansehnliches Vermögen ergeben, das jedoch nicht der Frau von Gülpen, sondern dem Laienbruder Hubertus im Kloster Himmelpfort bestimmt war. Dieser war ohne alle Verwandtschaft und hatte demnach wol sein Geld dem Kloster zu überlassen. Auch darüber gab es vielerlei Aufregungen für den Frieden des Dechanten, den also nicht mehr allein der nächtliche Ruhestörer Lolo um seine behaglichen Träume brachte. Ja, unterbrach Monika die lebhafte Mittheilung, die Piter aus den Abendcirkelgesprächen seiner Mutter ergänzen und zu Thiebold's erneutem Verdruß »berichtigen« wollte; da wird es die höchste Zeit, daß der alte liebe Herr sich in Wien bei seinen Freunden und Freundinnen wieder 73 erholt! Wer ihn dort beobachtete, mußte immer beklagen, daß die Zeit der Abbés vorüber ist.

Da die Gräfin diese Erörterungen zu ignoriren schien und sogar, der peinlichen Erwähnung des Mordes und der neulichen Hinrichtung ausweichend, wieder angefangen hatte die Rechnung des Wirthes zu betrachten, so war es in der Ordnung, daß sich nunmehr alles erhob und Abschied nahm. Monika reichte Benno und Thiebold die Hand – Ein magisches Band ist es, das eine Mutter mit dem Manne verbindet, der ihrem Kinde sein Herz geweiht. Selbst wird sie darüber noch einmal wieder jung, fühlt ihr Herz mächtiger schlagen und theilt fast die Empfindungen ihres Kindes. Oft sogar kann eine Mutter darunter leiden, wenn ihr Kind dem Ideal von Gegenliebe nicht entspricht, das ihr davon selbst noch im Herzen lebt –! Sie weiß es, was Liebe ist und was Liebe sein muß, Liebe sein kann und ihr Kind läßt den Mann, der sie liebt, oft launisch, oft nur kalt erwidernd, am Frauenherzen verzweifeln –? Solche Schwiegermütter treten manchmal im Geist und Herzen ganz an die Stelle ihrer Töchter –! Beiden Bewerbern gab Monika ihre Hand und wünschte ihnen schmerzlich lächelnd eine glückliche Reise!

Blicken wir einen Moment nur noch den sich Empfehlenden nach, so sehen wir, daß, unten angekommen, Thiebold Benno schon deshalb in Piter's leidenschaftlich offerirten Wagen zog, um ihn zum Zeugen zu machen des vollen Ausbruchs seiner verhaltenen Empfindungen über Piter's Benehmen. »Kattendyk! Wie Sie sich wieder benommen haben!« Dies inhaltreiche Thema wurde variirt in allen Tonarten und sogar ohne Widerspruch; denn Piter rechnete auf vollkommenste Aussöhnung und Uebereinstimmung vor den Austernbretern, auf die er seine Gefährten einladen wollte. Man nahm die Einladung an, Thiebold, indem er nach dem »Abrüffeln« Piter's in Entzückungen über die 74 Nachsicht Monika's und der Gräfin ausbrach und zuletzt mit zurückgekehrter Heiterkeit die Austern auf der Apostelstraße für besser erklärte als die auf dem Hahnenkamp. In solchen Dingen gab Piter seinen Freunden nach. So flogen sie denn alle drei auf die Apostelstraße, wo, von gleichem Instinct beseelt, bereits auch Joseph Moppes, Clemens Timpe, Gebhard Schmitz, Weigenand Maus und Alois Effingh am runden Tische saßen und, die Eintretenden erblickend, sie mit einem in der That von Herzen kommenden, stürmischen: Hurrah! empfingen.

Vortreffliche junge Männer das! sagte inzwischen wiederholt die Gräfin, verlor sich jedoch immermehr in eine jetzt ungestörte Revision ihrer Reisekasse. Sie sprach ihr Bedauern über den Entschluß der Baronin, sie nicht einmal bis zum Meeresufer begleiten zu wollen, schon nur noch mechanisch aus.

Ist es nicht auch besser, liebe Gräfin, sagte Monika, daß ich die Wohnung so lange behalte, bis ich an Terschka geschrieben und gebeten habe, Ihre Rechnung durch das Haus Fuld berichtigen zu lassen? Sie werden diese hohe Summe nicht erwartet haben und sie nicht gut entbehren können. Reisen wir beide, so müßte sie bezahlt werden; bleib' ich zurück, so hat es Zeit damit.

Diese Auskunft gefiel der Gräfin sehr. Seit vielen Jahren war sie gewohnt, mit dem »ungerechten Mammon« auf eine Weise »Freundschaft« zu schließen, die durch ihre Bibelauslegung durchaus erlaubt und durch ihre Lebenslage bedingt war. Ach – ihr seht zu stolzen Palästen auf und beneidet das Loos der Glücklichen, die sie bewohnen –? Forscht doch genauer nach –!

Die Gräfin wollte zeitig zur Ruhe gehen. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen. Anknüpfend an den Brief des »Onkel Levinus«, begann sie, als gegen neun Uhr die wie zur Schlacht lärmende Runde von zwanzig Trommlern in den Straßen vorüber war: Sie wollen an Terschka schreiben?

75 Ja! erwiderte Monika unbefangen.

Nach einer kleinen Pause fuhr die Gräfin fort: Wie beklag' ich Sie, daß Sie nun wieder so allein stehen wollen – in Ihrem feindseligen Streit der Leidenschaften! Glauben Sie denn an eine Aussöhnung mit dem Obersten?

Es gibt Dinge, die kein Gatte vergibt! erwiderte Monika mit halblauter Stimme und fast ahnend, worauf die Gräfin zielte.

Traurig aber, sagte diese, ewig dann noch einen Theil der Kette zu tragen, von welcher man sich losriß! Gewiß denke ich mit dem Apostel: »Bist du an ein Weib gebunden, so suche nicht los zu werden. Bist du aber los vom Weibe, so suche kein Weib!« Ich deute das auch auf uns Frauen in Betreff der Männer. Aber im Worte Gottes ist das Eine unerläßliche Vorschrift und das Andere nur weise Rathertheilung. Fast alles, was uns die Apostel, ohnehin Sendboten des Herrn ohne Herd, ohne Familie, über die Ehe rathen, gehört den weisen Rathschlägen an. Auch standen damals die Frauen nicht auf der Höhe, auf welche sie erst später eben, durch den Sieg des Evangeliums, gelangten. Sie waren den Sklavinnen näher, als der gleichberechtigten Bildung und Liebe. Da die Ehescheidung nicht wider den Geist Gottes, sondern nur gegen die apostolische Weisheit geht, so ist sie auch keine Sünde. Der Apostel sagt es ja selbst: »Solches sage ich euch aus Vergunst, nicht aus Gebot.« Es sind – Vorschläge à discrétion. Auch spricht Paulus über die Frauen leider wie aus eigener bitterer Erfahrung und wie aus einem beinahe weltlichen Geist. Fest aber steht des Allmächtigen Wort: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Die Ehe nenn' auch ich eine Heilsanstalt – Ihre Kirche, die sie sogar zum Sakrament machte, übertrieb sogleich. Wie wenig Neigung Sie für die Irrthümer Ihres Glaubens haben, weiß ich ja! Sie sollten sich also die Freiheit gewinnen und den 76 Schwankungen eines haltlosen Lebens entfliehen – vielleicht – durch – eine neue Wahl – . . .

Monika saß auf dem Sessel neben der Gräfin, die noch auf dem Sopha geblieben war. Sie blickte nicht auf. Vor dem Allergeheimsten erbebt die Seele und verstummt der Mund.

Die Gräfin rückte Monika näher und ergriff die kalt gewordene Hand der vielgeprüften Frau. Ihr Kind hat gegen Sie Partei ergriffen! sprach sie mit weicherer Stimme, als man sonst an ihr gewohnt war. Die Verwandte betheuern zwar freundliche Gesinnungen, das sind aber leere Worte. Das Gesetz spricht Ihre Tochter dem Vater zu. Sie haben Herrn von Hülleshoven, wie Sie immer sagten, blindlings genommen, nur um einer andern Verbindung zu entgehen, und Sie konnten sich nicht an ihn gewöhnen. Ihr Herz trug ein Ideal, dem der Oberst nicht entsprach. So hätten Sie ja im Grunde auch nie geliebt. Jetzt, gestehen Sie, Monika – Terschka ist Ihnen nicht gleichgültig?

Monika erhob sich. Es lag keine Bestätigung dieser Vermuthung in ihrer Bewegung. Sie mußte sich nur erheben, um die schwere Last abzuwälzen, die sich mit diesen Worten auf ihre Brust warf –

Sie wissen, auch Terschka, fuhr die Gräfin fort, würde keinen Anstand nehmen, Ihrem Beispiel zu folgen. Einer alten Familie der Hussiten gehört er ja ohnehin schon an. Haben auch viele anfangs geglaubt, er würde meinen Sohn im Glauben seiner Väter wankend machen und hörte ich sogar Warnungen über Warnungen gegen diesen so engen Umgang, so hat sich doch keine dieser Befürchtungen bestätigt. Terschka unterhält nur die loseste Verbindung mit seiner Kirche. Bliebe er der Verwalter unserer neuen Besitzthümer, wer sollte ihn hindern, seiner Liebe ein Opfer zu bringen? Denn daß Sie, Monika, sein ganzes Leben 77 erfüllen und von ihm – ich brauche dies sündhafte Wort – angebetet werden, wissen Sie ja!

Nein, nein! erwiderte Monika mit erstickter Stimme, ging auf und nieder und hielt sich, da sie nicht weiter konnte, am Fenster, wo sie in die Nacht starrte –

Unerschrocken aber fuhr die Gräfin fort: Leugnen Sie nicht, meine junge Freundin, daß es Sie mit mächtigem Reiz erfüllt, zu sehen. wie ein noch nicht bejahrter, geistvoller, liebenswürdiger Mann Ihnen huldigt und nur für Sie zu leben scheint! Anfangs glaubt' ich, als Sie in unsere Kreise traten und so schnell uns alle gewannen, daß sogar mein Sohn in Bewunderung vor Ihnen – Aber diese unselige Leidenschaft, die ihn fesselt – –! Mit einem Schmerzensausdruck, den Monika für diese Gedankenreihe noch nie an Gräfin Erdmuthe vernommen hatte, unterbrach sie sich, hielt inne und stand jetzt selbst auf, weil auch in ihren Adern das Blut mächtiger zu kreisen begann.

Monika, selbst des Beistandes bedürftig, wandte sich vom Fenster ab und trat der hohen Gestalt entgegen, deren Hände in den ihrigen zitterten. Dann aber fuhr die Gräfin gesammelter fort: Es ist gut, mein Kind. Ich habe mich an diese Schickung Gottes gewöhnt! Angiolina bewahrte meinen Sohn vielleicht vor Schlimmerem; denn wie Terschka und er begonnen hatten – das sind Erinnerungen! Aber ein milderer Geist kam über beide, und das hab' ich für unsern Frauenberuf immer gehalten, den zu fördern und zu mehren, selbst mit eigener Aufopferung! Ich weiß nicht, ob Salomo mit dem Worte: »Ein holdseliges Weib erhält die Ehre!« auch die Ehre des Mannes meinte; aber meine Erfahrung – und sie ist alt – lehrte mich, daß ein Weib das ganze irdische und ewige Glück eines Mannes in Händen haben kann. Seit Hugo und Terschka Sie kennen, Monika, hat selbst mein Wort einen ganz andern Klang für beide gewonnen! Noch 78 kürzlich schrieb mir Hugo: Mutter, wenn ich doch auch Terschka ganz, ganz glücklich haben könnte . . .! Ich weiß es, daß es für Terschka kein anderes Glück auf Erden geben könnte, als Sie sein zu nennen, Monika!

Die gefolterte junge Frau warf sich, heftig den Kopf schüttelnd, mit weinenden Augen an die Brust der heute so außergewöhnlich milden Greisin. Wir nehmen Abschied, schloß die Gräfin; bleiben Sie in dieser Stadt, bis ich zurückkehre! Wählen Sie eine kleinere Wohnung. Oft wird Terschka herüberkommen müssen. Geben Sie dem Schmerz des vielgeprüften Mannes Gehör! Wie hat ja auch ihn das Leben hin- und hergeworfen, bis er bei einem Wesen ankam, das ihm mit Recht ein köstlicher Schatz erscheint. Sie wissen, wie ich Sie liebe! Monika, entziehen Sie sich dem Gefühl nicht, das Sie haben dürfen, in manchen Dingen mit sich zufrieden zu sein. Noch fehlt freilich die letzte Hand, die an Ihre Seele gelegt werden muß, die Hand eines Gärtners und Winzers, der in Ihrem Innern spricht: der Herr ist der Weinstock, wir sind die Reben! Das wird kommen. Genießen Sie das Glück, von Menschen so geliebt zu werden! Ach, es geht uns einst ein Tag auf, meine Liebe, wo man jede Freude beweint, die man sich entgehen ließ, wo man jedes Herz zurückhaben möchte, das man von sich stieß – glauben Sie mir, Monika, auch an mir ziehen oft noch Schatten vorüber, die mich weinend ansehen und sagen: Wir hätten uns doch auch finden können, warum suchten wir uns nun nicht!

Monika umschlang stürmisch, wie ein junges Mädchen, die Greisin, in deren Augen sie seit einem Jahre, daß sie sie kannte, zum ersten mal eine Thräne glänzen sah. Sie bedeckte die magere Wange, die dürre Hand der Greisin mit Küssen. Sie schluchzte selbst, als müßte sie all die Thränen mitweinen, deren vollen Strom sich die Matrone, trotz ihrer Erregung, versagte.

79 Sanft entwand sich die Gräfin den Umarmungen Monika's, küßte die Stirn der jungen Frau, strich leise die grauen Locken aus dem jugendlich schönen, durch die höchste Anspannung und Erregung nun wie noch mädchenhaft strahlenden Antlitz und ging zur Ruhe. Auf ihr Klingeln kam Porzia, die noch lange bei ihr blieb und sich mit ihr über den Oheim verständigte – Monika schlief in einem andern Cabinet. Wie aufgeregt die Gräfin durch diese Scene war, bewies sie am folgenden Morgen. Sie kam auf das Besprochene nicht wieder zurück; sie reiste gegen elf Uhr ab. Im Wagen fand sie Blumensträuße von kostbaren Treibhauspflanzen, die ihr Benno und Thiebold hatten hineinlegen lassen.

Monika, nun allein in der großen Wohnung, die sie nur so lange behielt, bis von Terschka Geldanweisungen kommen würden, irrte – wie am einsamen, ihr so unheimlichen Meere. Sie wollte an Terschka schreiben. Sie konnte es nicht so harmlos, als sie wollte. Eine Aenderung der Confession – Scheidung – eine neue Heirath – mit Terschka?! – – Das waren Gedankenreihen, die wie eine wilde Musik auf sie einstürmten im nächtlichen Fackelschein, wie ein Chor im Zuge der Korybanten, ein Fest unter dem Schwingen des Thyrsusstabes –

In dieser Angst des Herzens trat ihr durch die Blumensträuße der jungen Bewerber um Armgart die Erinnerung an Bonaventura entgegen. Sie wußte es selbst nicht, was sie zog, den Pelz überzuwerfen, sich zu verhüllen gegen die schärfer gewordene Winterluft, die am Morgen sich durch Reif angekündigt hatte, welcher an allen Häusern, Brücken und Bäumen sichtbare Zeichen zurückgelassen, und geradezu in die Kathedrale zu gehen, dem tiefdunkeln Winkel zu, wo seit vier Monaten die Menschen zu gewissen Stunden dichtgeschart saßen, um zu einem alten Beichtstuhl zu gelangen, in welchem, im weißen Kleide, das Beichttuch über sein bleiches Antlitz gezogen, Bonaventura von Asselyn die Beichte 80 abnahm. Seit einem Jahre hatte Monika nicht gebeichtet und noch wußte sie kaum, was sie dem Ohr des Priesters vertrauen sollte. Ostermorgenglocken waren es nicht, nicht der heilige, von den Rundbögen einer unsichtbaren Kirche widerhallende Gesang: Christ' ist erstanden! der, wie im »Faust« die Seele des Zweiflers, so auch sie zum Glauben der holden Kinderjahre zurückzog. Nicht in Wehmuth und Zerknirschung, nicht in Auflösung ihres Willens, nicht in wiedererwachter Liebe und Hingebung für das Bekenntniß ihrer Jugend betrat sie die Kathedrale. Es lebte schon lange eine feste, ernste Stimmung in ihrem Herzen. Sie ging – – wie zu einer letzten Prüfung ihres katholischen Bekenntnisses.


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