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Einige Tage später erschien in H. in der That die Tochter des Justizchefs Wingolf.
Es ging ihrem Auftreten kein unbedeutender Ruf voran.
Deshalb wollten Alle die persönlich gewordene weibliche Selbständigkeit kennen lernen, wollten die Liebe und den Heroismus der Hingebung, die hier dem jungen Ulrichs gezeigt wurde, entweder in Person bewundern oder hintennach auf Grund von Thatsachen kritisiren....
Doch wurde man Hertha's sobald nicht ansichtig.
Sie kehrte zwar erst in einem Hotel, dann aber im Stiftshofe bei Aurelie von Landschütz ein, an die sogleich nach ihrer Abreise von der Residenz Julie von Reisig und Eugenie geschrieben und sie dringend um eine Art Einfangen des wilden, entlaufenen Füllens gebeten hatten...
Aurelie von Landschütz war nicht wenig gespannt, ein junges Mädchen zu begrüßen, das von seinem Charakter und seiner Weltauffassung eine so altbekannte Kunde verbreitet hatte.
Die Räumlichkeiten des kleinen Schlosses reichten aus, diesen Besuch bequem zu beherbergen und so erging denn an Hertha eine Einladung, deren Motive freilich etwas peinlich waren.
Von ihrem Bruder hatte Aurelie trotz aller Beherrschung seiner Unarten Kenntniß seiner rücksichtslosen Bequemlichkeitstriebe genug, um nicht manchen Conflict zu fürchten, der durch die Aufnahme Hertha's möglich werden konnte.
Indeß ließ sich Alles nach Wunsch an. In drei Tagen hatte die rasche Fürsorge Juliens und Eugeniens Hertha aus der auffallenden Stellung eines im Hotel einer Universitätsstadt wohnenden, ihrem Geliebten nachreisenden jungen Mädchens entfernt. Hertha fügte sich mit Bereitwilligkeit dem ihr vom Stiftshof gemachten Antrage, nicht jedoch ohne erst ein förmliches Abkommen getroffen zu haben. Sie wollte wissen, wie man es mit etwaiger gegenseitiger Belästigung zu halten gedächte. Sie sagte, die Entfernung von der Stadt wäre nur gering. In der Stadt, die sie täglich zu besuchen vorhätte, stünde ihr das Ulrichs'sche Haus für den ganzen Tag offen. Sie wollte Niemanden unbequem sein.
Man gab jede tröstende Versicherung.
Und in der That, wenn auch Hertha anfangs mit der ihr eigenen Lebendigkeit die Vorstellung eines Aufenthalts in einer berühmten Universitätsstadt ergriff, dachte sie sich auch mit Begeisterung die mannichfache Anregung und Belehrung, die sie würde in diesen Mauern sich aneignen können, so lernte sie doch bald den stillen Frieden schätzen, den sie im Stiftshofe antraf.
Aurelie, hoch in den Dreißigen, etwas förmlich und gemessen, gab sich ihr milde und gütig und Hertha erschreckte jeden sogleich bis zur Unterordnung. Einige Zimmer nach dem entlaubten Park in einem Seitenflügel des zweistöckigen, mit Schiefer gedeckten, altmodischen Schlosses gefielen Hertha ausnehmend und zuletzt besser als sogar die Stadt.
Selbst das Ulrichs'sche Haus entsprach, wie Constantin ihr sogleich gesagt hatte, bald ihren Erwartungen nicht.
Jedoch stand sie sich über solche Keime eines Zwiespalts nicht Rede. Noch hob sie zu mächtig das Gefühl der Freiheit. Noch erfüllte sie ganz das Glück, in Constantin's Nähe leben zu dürfen. Noch hatte sie die überfliegendsten Bildungspläne und scherzte oft, und mit halbem Ernst, darüber, ob sie nicht in Männertracht auch an den Vorlesungen Theil nehmen dürfte.
Der Tochter eines hochgestellten Staatsmanns kam man allgemein mit der größten Zuvorkommenheit entgegen.
Hertha empfing Besuche und machte Besuche. Sie überraschte jeden Namen, der einen Rang in der gelehrten Welt behauptete und suchte sich mit seinen Studien in irgend eine Beziehung zu setzen. Sie las, sie schrieb, sie machte Auszüge. Sie hatte einen Bildungseifer, der sich von Dem, was nicht allzuschwere Vorstudien erforderte, nichts entgehen ließ.
Aurelie von Landschütz durfte die Furcht, die sie anfangs vor Hertha gehabt hatte, bald beschwichtigen.
Verletzendes, Unweibliches kam bei ihr nicht vor. Wenn sie nicht an den kleinen Theeabenden, die Aurelie liebte, allzuheftig mit den anwesenden Herren und Damen zu streiten begann, machte sich das Verhältniß ohne alle Störung der herrschenden Begriffe von Maß und Schicklichkeit.
Auch die Beziehung zu Constantin hatte nichts Auffallendes. Der junge Ulrichs war durch seinen Skepticismus ein Weltmann geworden; darin lag die Bürgschaft seines Takts. Noch mehr, die Liebe zwischen ihm und Hertha beruhte auf ganz eigenen formellen Gesetzen. Hertha's Natur war eine unannahbare und spröde, sie war die Jungfräulichkeit selbst. Wie sie Alles nur nach seinem geistigen Werthe zu erfassen suchte, so auch die Liebe. Ihr Benehmen gegen Constantin hatte etwas entschieden Weihevolles. Aurelie hatte dafür den Frauenblick, der die bloße Maske der Sprödigkeit sehr bald von der wahren Unnahbarkeit der Unschuld zu unterscheiden weiß. Hertha gehörte zu jenem Frauengeschlechte, aus dem die Nordlandstöchter einst und die Brunhilden aufwuchsen. Abgewandt allem Gewöhnlichen verschmähte sie selbst die üblichen Formen des zärtlichen Einverständnisses. Und Constantin selbst war entweder blasirt oder kalt genug, diesen Ton der Rücksicht und Entsagung fortdauernd einzuhalten. Es war dies derselbe Ton, mit dem er Hertha einst sich gewonnen hatte.
Constantin wurde natürlich bald wieder der Mittelpunkt der Universität.
Die ältern Gelehrten gaben sich wol nicht die Mühe, seine Principien zu bekämpfen, die mittlern und jüngern aber kamen ihm entweder an Gewandtheit der Formen, Witz, Scharfsinn nicht gleich oder sie räumten ihm gern ein Feld ein, auf dem sie meistentheils alle selber standen. Constantin war auch hier wieder der allzeit Sieghafte. Merkte er, daß einmal in seiner Geltung eine gefährliche Stagnation eintrat, ein Stillstand in dem allgemeinen sich um ihn bewegenden Strome, so rührte er die Gewässer künstlich auf. Es mußte dann irgend ein Plan ausgeführt werden, zu dem es ihm an den einleitenden Organen nicht fehlte, ob nun die Initiative Eberhard ergriff oder wol gar Jean Reps, dem man Lectionen verschaffte, damit er ihnen Allen nicht allzulästig wurde. An Verdrießlichkeiten fehlte es unter solchen Umständen nicht. Eine umfassende Schilderung der Universität, die Constantin vom modernen Standpunkte aus an eine im Geiste Ruge's und Bruno Bauer's geschriebene Zeitschrift sandte, erregte ein so lärmendes Aufsehen, daß neue, mahnende und verweisende Einschreitungen der Regierung die Folge waren.
Immer seltner aber und seltner wurden die Besuche, die Hertha im Ulrichs'schen Hause machte.
Anfangs hatte sie dies Familienleben wahrhaft entzückt. Der Vater, ein harmloser, kindlicher Mann mit langem, grauem Haar, war die Natürlichkeit selbst. Die Mutter, Frau Riekele genannt, eine in ihrer Jugend bildschöne Frau, war jetzt noch trotz ihrer vielen Kinder blühend und dem Auge erfreulich. Ihre Beweglichkeit war die eines Irrwisches. Küche, Keller, Waschhaus, Gemüsgarten, Nähtisch, Nachbarschaft, Alles war bei ihr Eins. Die Kinder, so zu sagen, gingen wie sie standen und standen wie sie gingen. Nur in Masse wurden die Kleinen gereinigt, Knaben und Mädchen unter einen einzigen Apparat von Blechröhren und Brausen gestellt und unter Zetergeschrei Morgens und Abends trotz der zunehmenden Kälte mit kaltem Wasser übergossen. Von Nichts wurde ein »Umstand« gemacht. Die Kleidung mußte ohne Löcher sein, das genügte, Alles Uebrige war gleichgültig. Essen und Trinken gab es zum Sattwerden. Ein großer hölzerner Aufsatz mit einem beweglichen Brett, dessen Centrum eine in der Mitte des Tisches eingefügte Axe war, stand jeden Mittag und Abend auf dem Tische. Auf dies Brett stellte man die Speisen; jeder hatte seinen Teller. Das Brett wurde herumgedreht, so daß es bald zum Vater, bald zu Teutomar, bald zu Hedwig, bald zu Frieda kam. Jeder nahm was ihm beliebte und der Vorrath war groß genug. Die Tischordnung mußte unter solchen Umständen sehr unterhaltend sein. Für Anklagen fand man kein Gehör. Kind Gottes! rief Frau Riekele; laßt mich in Ruhe! Wer dich schlägt, schlag' ihn wieder! Frau Riekele hatte genug zu thun, diesen Wirrwarr des Hauses in leidlicher Ordnung zu erhalten und es ging ganz prächtig. Jeden Abend konnte man hier im Sommer im Garten, im Winter am Ofen zusammensitzen und sich ohne Vorurtheile über Gott und die Welt unterhalten. Und wenn es nur Bier und Kartoffeln in der Schale und frische Butter dazu gab, so fehlte es nie an Gästen, an Studenten, Privatdocenten und Professoren gleicher oder verwandter Richtung. Die Kinder sprachen frischweg in jede Unterhaltung hinein und ernteten für ihren gesunden Verstand Anerkennung genug, manchmal auch freilich ein: Halt den Rand! wie's eben zu paß oder unpaß kam. Der Vater nahm bei Gesprächen über religiöse und politische Vorstellungen nie Rücksicht auf die Kinder. Was für ein Kind nicht passe, glitte ihm schon von selbst ab. Wer deshalb von den Kindern übermüthig wurde, war damit noch nicht sicher, jeden Augenblick wieder »geduckt« zu werden. Die Freunde des Hauses sogar wiesen die Kinder ebenso zur Thür hinaus wie die Aeltern thaten und Frau Riekele dankte jedem, der ihr das Leben erleichterte und mit der Natur natürlich umging. Von einer aparten Neigung für die Seinigen war hier keine Rede. Wer kam, war Freund des Hauses, wurde herzlich empfangen und durfte sich geben wie er wollte; wollte er aber wegbleiben, so rief ihn auch Niemand. Es war ein frohes, buntes, angeregtes Leben. Was diese Menschen für Witz, für Poesie, für Blödsinn, für Unsinn, für eine »Affenschande« erklärten, das galt überall im ganzen Orte dafür. Sie waren die Götter der Erde, die den Geist für Phosphor, Romantik für Blödsinn, freien menschlichen Willen für Kindermärchen erklärten; und es lag ein titanischer Schwung darin, wenn es hieß: Was man wäre, das müsse man auch ganz sein und handeln müsse man seiner Natur gemäß. Sätze, die sich dann so erweitern ließen: Alle unsere Ideen sind Abdominal-Reflexe, die sich allmälig im Hirn daguerreotypiren und zuletzt in der Form von Moral, Religion, Philosophie, überlieferten Unsinn absetzen... Wer des Abends in diesem Kreise gelebt hatte, wer auf ein Wort der Frau Riekele, das sie regelmäßig um halb zehn Uhr zu ihrem Manne aussprach: Kind Gottes, ich bin schläfrig! dann aufstand, dann die Treppe hinunterstieg, dann die Thürklingel hinter sich lange verhallen hörte, dann stolz durch die Gassen der alten grauen Stadt unter den Sternen hinwandelte und in der Ferne hörte, wie man noch in allen Wirthshäusern donnernd mit Gläseraufschlag sang: Wir sind die Könige der Welt! der mußte hochbefriedigt mit einstimmen und der absoluten Kritik Recht geben, die da lehrte, es käme nur einzig darauf an, daß der Mensch »sich selber setze«.
Als Hertha zum ersten male diese aus Schön und Häßlich gemischten Formen auch einer freien Selbstbestimmung kennen gelernt hatte, mußte sie sie bewundern.
Später kamen aber Enttäuschungen.
Sie hatte ein Bedürfniß, sich in Constantin's Lebenssphäre heimisch zu fühlen, sie war von ihm vorbereitet auf die Existenz eines Professors mit mäßigem Einkommen, sie war von ihm auf die Wunderlichkeiten der Mutter, die bequeme Nachlässigkeit des Vaters, die taktlosen Ausfälle Frieda's vorbereitet und doch – da sie jetzt mitten in dem Chaos stand, erschrak sie, von Tage zu Tage weniger sich in ihm zurechtzufinden.
Wenn sie Constantin Abends über den schon fallenden Schnee oder die gefrorene Landstraße nach dem Stiftshofe heimbegleitete, foderte er sie auf, doch ihm getrost ihr Urtheil auszusprechen.
Sie mühte sich dann ab, Zustimmungen zu geben, die ihr nicht natürlich kamen.
Constantin blies seinen Cigarrendampf in die Luft und sagte: Eine Kritik des guten Tons hält diese Art nicht aus. Aber ich bin überzeugt, wenn die Kinder einmal aus diesem Boden herausgenommen und anderswohin ins praktische Leben verpflanzt werden, bewähren sie sich besser, als man glauben möchte. Frieda vollends ist wie Dornröschen, wenn auch nicht ganz nach unsers guten Uhland's Auffassung. Sie ist ein Stück Poesie; für unsere gewöhnlichen Verhältnisse ein unheimliches Elfenkind, von dem ich neugierig zu erfahren bin, was die Spindelfrauen des Schicksals ihr einst noch anthun werden.
Hertha kannte das Uhland'sche Lied und die Sage vom Dornröschen, das in alle Lagen, nur nicht in die der Stube und des Spinnrockens paßte.
Sie hatte anfangs dem schönen Mädchen ihre ganze Bewunderung gezollt, bald aber hatte sich die alte Erfahrung herausgestellt, daß wir Menschen vor Dem, was etwa auf unser eigenes Ebenbild hinaus kommt, doch gerade zum Tod erschrecken können. Der Geisterglaube sagt, wer sich selber sähe, dem winke der Tod. Hertha sah in Frieda sich selbst, sah ihr Ideal der freien Selbstbestimmung, sah im ganzen Ulrichs'schen Hause fessellose Existenz nach natürlichen Bedingungen, sah die Welt der Vorurtheilslosigkeit, von der sie so oft dem Vater und der jungen Mutter gesprochen – und nun – wenigstens sie selber gefiel sich nicht in der Rolle, die sie in dieser Welt mitspielte. Sie kam sich bleiern, schwer vor in dieser luftbeschwingten Beweglichkeit. Sie fand die Uebergänge des Denkens, die Unmittelbarkeit der Gesinnungen für ihre Art viel zu schroff, zu plötzlich. Sie konnte nicht folgen. Wenn der Mensch Andern gegenüber den Schein gewinnt, ein Pedant oder wenigstens ohne Liebenswürdigkeit zu sein, fängt er gewiß an, vor dem Spiegel der Eitelkeit oder – der Selbsterkenntniß ernste Musterungen anzustellen.
Sagen wir aber Alles.
Ein menschliches Herz, das so voll und mächtig schlägt wie das Herz Hertha Wingolf's, begehrt des Ruhms der Zufriedenheit mit sich selbst.
Wenn Hertha nach sechs Wochen ihres Aufenthalts in H. unter den mancherlei Anregungen, die sie suchte und fand, unter der Fülle von bedeutenden Thatsachen, die ihr mit der ganzen erhebenden Kraft, die allem Belehrenden innewohnt, zuströmten, aufrichtig sein wollte über den Eindruck, den ihr Frieda, ihres Freundes Schwester, und das ganze Dasein der Genialität machte, so hätte sie eigentlich sagen müssen: Neid ist's, der dich verzehrt! Neid ist's, wenn dem Kinde Gottes Alles im Spiele zufällt, was du dir mühsam erst und künstlich erwerben mußt! Neid ist diese Scham über dich selbst, über deine Schwerfälligkeit und die bleierne Schwinge deines Wesens!
Und Constantin hatte nicht ohne Ironie an den »guten Uhland«, wie er ihn zur Bezeichnung des »überwundenen Standpunktes« nannte, erinnert, als er Frieda mit Dornröschen verglich. Ja, Frieda war die Naturpoesie und Hertha schien sich die Stubenpoesie.
Es ist ein tiefer Zug der Mißgunst, der sich in die Seele einschleichen kann, wenn man die geborenen Genien gaukeln und auf Blüten wie ein Schmetterling sich schaukeln sieht, Nichts beginnend, in Nichts sich mühend und doch überall Sieger und Herrscher. Der sicherste Instinkt gab Frieda immer die treffendsten Antworten. Alles und jedes durfte sie wagen und es stand gerade ihr. Sie neckte die Gelehrsamkeit und zupfte an langen, erhabenen und feierlichen Zöpfen und wenn sie auch mit irgend einer von ihr nicht gewußten Thatsache übel ankam, selbst der Rückzug des Geständnisses, dumm gewesen zu sein, stand ihr klug und geistreich. Sie wußte in ihrer kurzen, schlagenden, epigrammatischen Art die Lacher so auf ihrer Seite zu behalten, daß sie aus ihren schwarzen Locken, aus ihren schelmischen Augen hervorlugte wie einer jener Elfen, von denen Hertha wußte, daß es Naturgeister und allerdings Geister ohne Seele sind. Hertha stand neben dieser Gaukelei feierlich wie eine Prophetin da, aber sie selbst, sie glaubte nur wie eine Dienerin, wie eine Schleppenträgerin neben ihr zu stehen.
Anfangs machte sie sich wirklich Vorwürfe ob ihrer Eitelkeit, ihres Neides. Dann aber fühlte sie doch, daß ihr Trieb, in allen Dingen nach den letzten Gründen zu forschen, eine unwiderlegliche Berechtigung hatte. Und da Frieda Alles that ohne die letzten Gründe zu fragen und doch immer scheinbar Recht behielt, so fing sie an Frieda erziehen zu wollen.
Da erntete sie denn Spott.
O fall doch nicht über deine lange Schleppe! sagte Frieda einst.
Der Ton war bitter...
Hertha fing an, sich von diesem Wesen geschieden zu fühlen. Es kam nur darauf an, daß sie das Gefühl: Du bist neidisch! in einem bessern Dritten überwand.
Es gibt einen gezogenen und einen zuchtlosen Genius. Hertha klammerte sich an diesen Unterschied; denn sie wollte nicht dem Neide verfallen. Sie behauptete, vor dem Genius die größte Ehrfurcht zu fühlen, aber sie nannte den gezogenen Genius die künstlerische Weihe und Verklärung des rohen Naturtriebes, einen Schöpfer, Gestalter, Verlebendiger.
Von diesem Merkmale hatte Frieda's Genius allerdings Nichts. Frieda's Genius war ein schelmischer Zerzupfer, ein lachender Zerstörer, er war negativ, wie auch der Genius des Bruders, der sich jetzt rüstete, Vorlesungen zu halten und mit einer Kritik aller Rechtsbegriffe im nächsten Semester seine akademische Laufbahn zu beginnen.
Hertha sprach oft zu Constantin: O Freund, könnte doch Frieda einmal eingestehen, daß sie sich irgendwo geirrt hätte! Könnte sie doch der Reue fähig sein! Könnte sie doch einmal auch hören, statt nur zu sprechen! Könnte sie doch irgend ein Werk mit Emsigkeit beginnen und es mit Ergebung bis zu irgend einem fertigen Ziele bringen! Wie klein erscheinen wir Alle gegen sie, aber trotz unsers Ernstes, unsers redlichen Eifers! Wir Thoren, wir lesen ein Buch erst, ehe wir es beurtheilen! Frieda blättert darin und spricht über seinen Inhalt nach drei Seiten. Sie verachtet die Musik. Warum? Weil sie sie nicht gründlich gelernt hat. Sie tanzt nicht. Warum? Weil sie im Tanze ohne Grazie ist, während sie außer der Tanzreihe im gewöhnlichen Leben wie eine Sylphide schwebt. Es ist ein seltsamer Widerspruch in diesem Mädchen und aufrichtig bezeichnet, Constantin, Frieda ist nicht Das, was wir gut nennen!
Constantin hörte, da er Hertha mit großer Schonung zu behandeln fortfuhr, solchem Grübeln scheinbar aufmerksam zu.
Er suchte die immer mehr einreißende Trennung beider Charaktere, der Geliebten und der Schwester, zu vermitteln; allein im Grunde war er über Hertha ganz derselben Meinung wie seine Schwester.
Er fand Hertha pedantisch und in ihrem Sichselberaufklärungseifer komisch. Ihm war geschehen, daß er selbst auf Stiftshof eine ganz neue Ordnung der Dinge einführte, daß Aurelia die Trauernde, Gebeugte an ihm einen Antheil nahm, als wäre Baron von Gleichen neu erstanden, ihm war geschehen, daß Hans sich der ganzen Verbindung mit dem »Eigenthum-Diebstahl-Wesen« nicht mehr widersetzte, da Frieda seit der durch Hertha vermittelten Bekanntschaft mit Hans wie Puck mit den schlafenden Freiern des Sommernachtstraumes spielte, aber Hertha und Constantin, diese harmonirten nicht mehr, sie geriethen oft in grellen Widerspruch und Hertha war eigentlich die Einzige, die Constantin's Autorität bestritt.
Wenn an den je nach der Witterung mehr oder minder lebhaften Theeabenden auf Stiftshof die Discussionen im lebhaftesten Gange waren, bewunderte Aurelie die leichte und nachlässige Art, wie Constantin in seinem Lehnsessel saß, mit seinem scharfen, durchdringenden Organ zwischen die Streitenden fuhr und ohne seinen freimüthigen Grundsätzen etwas zu vergeben doch den ganzen Beifall der Aristokratie sich gewinnen konnte; Hertha aber, die, wenn Alles auf den lächelnden, ironischen, scharf pointirend die Worte hineinschleudernden Freund blickte, sich dieses Besitzes doch hätte rühmen sollen, Hertha schauderte tief zusammen, wenn sie ewig und ewig doch nur Sätze, wie diese, hörte:
Man muß ja lachen über die Anstrengungen, die sich's so Viele kosten lassen, fliegen zu lernen! Wer mit den Flügeln des Genius nicht auf die Welt gekommen, der mag alle Vögel im Walde fangen und ihren Flügelmechanismus untersuchen und nachahmen, er kommt doch nur zu Falle! Ich ziehe die fröhliche Unbedeutendheit aller gequälten Bedeutung vor. Und nicht blos unserm geistigen Schaffen im Bereiche der Kunst steht ja überall der Schweiß der Anstrengung auf der Stirn, sondern auch unsern Institutionen. Was ist denn, wenn man aufrichtig sein will, dieser Constitutionalismus anders als die trostloseste Halbheit? Entweder Cato's Republik oder Julius Cäsar Imperator. Was soll die Mitte? Entweder Amerika oder Rußland. Was quälen wir uns mit der Vermittelung von Gegensätzen, die sich gegenseitig erst zu zerstören haben, bis ein Drittes, vielleicht dann meinetwegen Besseres kommt!...
Aehnliches wurde von Constantin täglich ausgesprochen.
An Entgegnungen fehlte es nicht.
Doch behielt Constantin immer Recht, wie jeder, der das Unzulängliche, Halbe im Interesse eines höhern oder bessern Ganzen, das entweder längst da war oder erst noch kommen soll, tadelt.
Nur Hertha widersprach. Sie sagte einst:
Sie leugnen, lieber Ulrichs, den Fortschritt des Menschengeschlechts, wenn Sie ewig nur an die rohe Naturkraft appelliren. Gibt es wol eine schönere Blüte unserer Epoche als die Uebereinkunft? Das Verlöbniß so zu sagen zwischen Recht und Pflicht und Kraft und Schwäche? Beruht nicht unsere ganze Civilisation auf dieser gegenseitigen Mäßigung, auf dem Takte der Zurückhaltung? Wie sich zwei Verlobte durch den Austausch ihrer Ringe gleichsam ihres Ichs entäußern, so sollen wir doch wol eigentlich auch immer in zwei Welten leben, in einer, die uns gehört und in einer, die dem Andern gehört. Wer nichts mit dem Andern austauschen mag, für Herz nicht Geist, für Geist nicht Herz gibt, der steht zuletzt einsam da und ich kann mir denken, daß ein Genius, der kein Mitleid mit der Menschenschwäche hat, zuletzt von irgend einem Felsen tiefverzweifelnd und über sein Alleinsein bejammernswürdig rasend sich hinunterstürzen muß.
Diese Worte würden die feierliche Stille, die ihre Folge war, nicht hervorgebracht haben, wenn nicht in den Kreis der uns schon bekannte Justitiar Dammert eingetreten wäre, der sich die Erlaubniß, an den Abenden seiner Patronin Theil nehmen zu dürfen, selten nehmen ließ.
Er kam von Liederbach, erzählte einiges Abgerissene vom Pfarrhause, brachte Hansen von Landschütz vom alten Planer einige Mittheilungen über die Schulheizung und eine Kirchenreparatur und zuletzt eröffnete sich durch seine dann aphoristischeren Auslassungen der Hinblick auf ein bekanntes Verhältniß, das gewisse Anwesende berührte.
Man brach natürlich ab; selbst Frieda schaukelte sich nicht mehr in ihrem Lehnsessel, sondern sprach von der Rückkehr.
Constantin beobachtete Hertha, die die Farbe wechselte.
Die Geschwister gingen, begleitet von einigen Freunden aus der Stadt, und Frieda, um von Hans loszukommen, nicht ohne die gewöhnliche Weitläufigkeit, daß er ihre Hand beim Abschiede gleichsam wie in der Falle hielt und von ihr erst all die derben Worte hören wollte, die er auch von Frieda reichlich zu ernten pflegte; er gehörte zu den Menschen, die man scharf anfassen mußte, um ihnen zu gefallen – auch Frieda drängte mehr als gewöhnlich.
Die Dinge aber, die Dammert angeregt hatte, bezogen sich auf Agnes und Eberhard.
Dammert hatte die Nachricht aus Liederbach nicht ganz aussprechen mögen, die jeder schon ahnte, die Nachricht von der an diesem Abend in seiner Gegenwart vollzogenen Verlobung Eberhard's mit Agnes.
Wie Constantin und Frieda fort waren, kam die Nachricht ganz so heraus, wie sie der Sachlage entsprach...
Hertha's Hand zitterte schon, als sie Constantin Gute Nacht sagte. Man sah ihre Aufregung, man wußte, daß sie auf diese Endschaft einer durch sie selbst hervorgebrachten Verwickelung gespannt war; aber daß sie die Kunde von diesem Verlöbniß so erschüttert aufnehmen konnte, das lag in andern Gedankenreihen und Erfahrungen begründet, auf die wir zurückkommen müssen...
Ist es möglich, hatte Hertha eines Tages ausgerufen, daß es so bedeutungslose, so höchst gewöhnlichdenkende Männer geben kann, die etwas sich aneignen, was ein Anderer verschmäht, wie dieser Eberhard Ott!
Es war gerade von dem Gerüchte die Rede gewesen, daß Eberhard Ott die verlassene Braut seines Freundes auszeichne, Liederbach täglich besuche und sich zuletzt wol auch mit Agnes Planer vermählen würde.
Man brachte damals und wieder heute manche Erklärung.
Weil Agnes eine Erbin wäre, ihr Vater vermögend, sagten die Einen und dies sogar in Constantin's Gegenwart. Constantin hätte diese Meinung berichtigen müssen. Er that es nicht. Wahrscheinlich weil er in die Lage hätte kommen können, von einer fremden Lebens- und Herzensauffassung mit nachdrücklicherer Achtung sprechen zu müssen. Anerkennungen dieser Art waren ihm nicht gegeben. Man berichtete auch einst Eberhard, daß Constantin immer nur lächle, immer nur schweige, wenn von seinen Besuchen in Liederbach die Rede wäre. Eberhard schwieg gewiß; er war ja gefaßt auf allgemeine Misdeutung. Daß aber Constantin, der die Wahrheit kannte, auch schwieg, that ihm weh, doch sagte er nur zu einem gemeinschaftlichen Freunde: Diese Menschen werden nur feierlich, wenn sie vom Nichts sprechen.
Man wird das Reich der Fee Mab aus »Romeo und Julie« kennen.
Der ideallose Mercutio, Sinnenmensch und Lebensphilosoph, wird weich, wenn er vom Sonnenstäubchen erzählt, von der Traumwelt, von der kleinen, kitzelnden, poetischen Bagatelle.
In der That, auch Constantin konnte von Märchen, vom Helldunkel auf einer Landschaft, von einem Jagdvergnügen sprechen wie ein gläubiges Kind. Er war der übersättigte geistige Gourmand, der von aller Kunst zuletzt nur die Farbenwirkung, von aller Poesie nur zuletzt das Volkslied, von allen Genüssen des Lebens nur zuletzt die Idylle des Schwarzbrotes anerkennt. Was hätte er nicht zugeben, was aus der Tiefe herauserklären müssen, wenn er Eberhard's Handlungsweise von dem Makel einer gemeinen Speculation hätte befreien wollen! Seinen ganzen gegnerischen Standpunkt hätte er feststellen, und feierlich werden müssen, wie Jean Reps wirklich schon feierlich wurde, wenn von Eberhard die Rede kam. Jean Reps, von Eberhard genährt und gepflegt, war auf Uebergängen begriffen, die er »Krisen« nannte. Oft wiederholte er tiefsinnig und grübelnd Constantin's Wahlspruch: Entweder Republik oder Rußland! Aber Constantin verweigerte jede Anerkennung.
Erst von Aurelien erfuhr Hertha über Liederbach andere Thatsachen, als die sie von Constantin wußte.
Agnesen wurde von Aurelien viel Lob gespendet. Einzelne Charakterzüge jedoch, die von Agnes dabei mit erzählt wurden, ließen sich kaum anders als nach der Auslegung einer Mischung von viel List und Besonnenheit deuten.
Natürlich wandte sich Hertha's Verachtung auch auf Agnes. Unwillig rief sie aus: Da gesellt sich ja die Männernatur der rechten alten Evaart unserer Mitschwestern! Ich kenne sie ja diese stillen sinnigen Mädchen, die sich den Aufschlag ihrer Augen im Spiegel einstudiren! Ich kenne sie ja diese Liebevollen, die ewig erzürnt von fremder Lästerung reden, nur um die Lästerung wiederholen zu können! Ich kenne sie ja bei uns Frauen, diese kleinen Künste der Berechnung, diese spinnenhafte Umstrickung mit Harmlosigkeiten, diese Tücke des Hasses bei scheinbarer Liebe! Glauben Sie mir, Aurelie, diese Agnes hätte noch einen Geringern gewählt, als ein so niedrigdenkender Mann sein muß, wenn sie nur die Genugthuung gewinnen konnte, Constantin zu zeigen, wie leicht sie ihn zu vergessen wüßte!
Aurelie gab in Betreff Agnesens im Allgemeinen Recht und den Bräutigam Eberhard Ott kannte sie nicht.
Eines Abends aber hatte Hertha endlich diesen Eberhard im Ulrichs'schen Hause gesehen. Sie erstaunte nicht wenig, von ihm einen Eindruck zu empfangen, der dem Bilde, das sie sich von ihm entworfen, nicht im mindesten entsprach. Eberhard war ernst und entschieden in seinen Aeußerungen, sein Ton stach fremdartig ab gegen den Ulrichs'schen Tumult, sie konnte den Widerspruch seines Seins und seines Thuns nicht begreifen; sie sah ihn seitwärts und mistrauisch mit langer Prüfung an. Auch Eberhard verrieth ein Interesse, endlich jener vielbesprochenen Hertha Wingolf ansichtig zu werden. In ein Gespräch kamen sie nicht. Eberhard schien in sich gekehrt und gedrückt.
Nachdem hatte ihn Hertha öfter gesehen und wenn sie aufrichtig sein wollte, hatte sie Ursache sich einzugestehen, daß diese kurzen und immer bedeutungsvollen Begegnungen etwas ihre Phantasie in Gefahr brachten. Alles, was sie an Constantin schon irrte und beunruhigte, fehlte bei Eberhard. Und doch war auch Eberhard's Wesen durchgeistigt, seine Stirn die des Denkers, seine Rede gewählt, sein Urtheil nie oberflächlich. Ohne Zweifel fehlte Eberharden Constantin's Esprit, aber sie mistraute ja diesem Esprit schon längst. Eberhard konnte und mußte fühlen, daß er anfing auf Hertha einen Einfluß zu gewinnen.
Und sie mußte von sich selbst gestehen, daß Eberhard sie fast gewonnen hatte. Sie ging bald nur noch zu den Ulrichs, um vielleicht Eberhard zu begegnen. Sie hatte beobachtet, mit welcher Gewissenhaftigkeit er in der Weihnachtszeit auf jedes Glied des Hauses beglückend und bescherend einging, wie sicher er auswich aller wilden Anmuthung der Einfallsucht des Hauses, die sie schon längst aus tiefstem Herzen haßte. Da nie von Agnes die Rede war, nie in ihrer Gegenwart von ihr die Rede sein konnte, so wurde ihr Eberhard ein Mysterium. Er fing an ihre Phantasie zu beherrschen. Und sein Werth steigerte sich, als selbst Frieda vor ihm mit ihrem ganzen Wesen zuweilen Halt machte. Daß Constantin ihr einmal eingestand, Eberhard hätte Frieda geliebt, machte sie staunen. Sie fragte: Wie war es aber möglich, daß er dann eine Agnes wählte? Frieda trat hinzu. Constantin hatte eben eingeräumt: Ott ist sehr respectabel. Frieda gab die nähere Erklärung. Sie erzählte von dem Herbstabend, wo sie der »Unnatur« ein Ende gemacht hätte, weil sie ihrem Constantin hätte den Ort, in den er zurückkehren wollte, nicht verleiden mögen. Da ist denn, fuhr sie, als sie bis zu Agnesens Flucht aus dem Zimmer gekommen war, fort, da ist denn ohne Zweifel Eberhard in den Garten getreten und hat Agnes, wie sich denken läßt, in Thränen gefunden. Still standen dabei die Sterne am Himmel, die Astern blühten, einige Georginen schwankten noch mit verblühenden Kronen. Am Rebenspalier hatte Agnes, ohne Zweifel weinend, gestanden und Eberhard kommt hinzu und sagt: Agnes, warum weinen Sie? Da ist sie denn natürlich vor Schmerz ohnmächtig geworden, ist ihm ans Herz gesunken und da hat denn auch sich sein Auge mit Rührung gefüllt und so nahm er den Ring Constantin's und gab ihn ihr und Agnes blickte fragend auf Eberhard und auf den Ring und weinte schon nicht mehr, im Errathen seiner Gedanken. Wir kennen das. Dann wird sie natürlich auch ihren Ring vom Finger nehmen und wird ihn zweideutig genug an Eberhard geben und so halb gegeben halb genommen, halb Schmerz, halb Trost, halb Kummer, halb Elend wird das ein Verlöbniß – schonender Rücksicht. Eberhard der Aermste konnte nicht anders. Sie werden beide auf ewig unglücklich diese Menschen. Warum? Weil sie nicht die Kraft hatten, es auf einen einzigen Augenblick zu sein. Für diesen einzigen Augenblick sind sie's ewig.
Hertha horchte damals hoch auf. Ihr Herz stand still. Sie hörte Frieda zum ersten male eine Scene des Gefühls eigentlich ohne Spott und nur entsetzlich bitter, ja selbst wie in ihren eigenen Hoffnungen verletzt, schildern. Sie sagte fast unhörbar: Und Sie, Frieda, Sie liebten Eberhard? Frieda, erröthend, schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich hätt' ihn genommen, aber – da wir nicht passen, ist's besser... Frieda warf trotzig die schönen Lippen auf und entfernte sich.
Hertha, allein, wußte nun nicht, wie sie sich sammeln sollte.
Sie vergegenwärtigte sich Alles noch einmal, was sie von Frieda gehört hatte. Die Sterne standen am Himmel, die Astern blühten, Agnes stand weinend und allein im entlaubten Garten am traubenlosen Rebenspalier. Eberhard kommt. Er gibt den Ring Constantin's zagend, sie nimmt ihn weinend, – er voll Mitleid...
Sie stockte bei allen diesen Gedanken. Sie malte die Scene sich immer neu aus. Sie sah diesen ihr schon so lieben und werthen Eberhard in der ganzen Situation vor sich. Sie sah sein Herz, seine Güte... Seit einem Jahr und länger hatte in ihren Augen keine Thräne gestanden. Sie weinte zum ersten male und über sich weinte sie. Ihr Stolz war durch irgend etwas gedemüthigt, eine Welt war ihr, sie wußte nicht wodurch und wie, zerstört. Das sah sie, es gab eine Tugend in der Schwäche. Es gab eine Entsagung mitten in dem Recht des Besitzes. Es gab eine Welt der Pflichten, die größer als die Welt der Rechte ist. Zwei Ringe, gebunden durch Bestimmung, gefeit durch den Fluch einer fremden Untreue, fesseln zwei andere Menschen, ziehen ihnen den magischen Kreis ewiger Gebundenheit – und der Sklave, der gehorchen soll, der beugt da so ruhig sein Haupt, und diese Ruhe und diese Demuth gibt ihm eine Krone, deren Glanz das Auge des Freien blendet... Eberhard Ott, der Edle, so hinausschreitend, zu einer armen schwachen Mitschwester, so unter den Sternen stehend und nichts mit sich tragend als seine Manneskraft und Mannesfreiheit, und diese Kraft und Freiheit rein verschenkend, rein dahingehend aus Güte einem weinenden Mädchen, das er trösten will, sich verschenkend an ein Lebensloos, dem er sich mit Geduld und gesammelter Treue ewig zu widmen rüstet –!
Hertha konnte dies Bild, fort und fort ausgemalt, nicht mehr von den Augen bannen, sie sah ewig nur Constantin's zurückgegebenen Ring, hörte ewig Eberhard's: »Agnes, weinen Sie nicht!« und immer nur dies milde Männerwort: »Agnes, weinen Sie nicht!«
Sie war damals schon nahe daran, ihrem eigenen Geliebten zuzurufen: »Constantin, Constantin, deine Welt ist falsch! Leb wohl! Unsere Bahnen sind auf immer geschieden!«
So weit war Hertha in ihren Empfindungen gekommen an jenem Abend – es war im Januar – als sie zu Constantin das Gleichniß vom Verlöbniß gesprochen.
Der Justitiar Dammert brachte die Nachricht, daß die Verlobung zwischen Eberhard und Agnes wirklich gefeiert worden.
Es ergriff Hertha bei diesem Worte ein Herzenskrampf. Wenn es eine Liebe gab, so fühlte sie, daß sie Eberhard Ott liebte. Sie dachte nicht daran, ihn sich zu gewinnen, ihn diese Neigung fühlen zu lassen, das schwache Kind in Liederbach aufs Neue in einen Jammer zu stürzen, aus dem es sich schon einmal auf eine für das Geschlecht nicht ganz ehrenvolle Weise gerettet hatte. Aber die Ruhe ihres Herzens war hin. Sie fühlte, daß sie an Constantin nur den Verstand geliebt hatte und ihn schon lange täuschte.
Sie verachtete sich selbst, als sie einige Tage darauf Constantin bat: Geben Sie mir den Ring Agnesens, den Ihnen Eberhard zurückbrachte!
Er erröthete und sagte: Sollen auch wir uns verloben? War das neulich Ihre Meinung?
Ja, antwortete sie, mit einer Verstellung, über deren Ausdauer sie selbst erschrak.
Sie wollte nur den Ring haben, den Agnes an Eberhard zurückgegeben. Sie sah den Reif voll wahnbethörter Eifersucht an. Die alte Jahreszahl 1841 erschreckte sie nicht, Constantin's Name erschreckte sie nicht. Sie sah nur, daß Eberhard diesen Ring an jenem Herbstabend getragen; sie versank bei seinem Anblick in Gedanken, die ihr die Welt in einer andern Gliederung zeigten, als sie eine solche bisher von ihr geträumt hatte.
Ein Monat der schmerzlichsten Pein verrann.
Die Qual einer nur sich selbst gestandenen Liebe ist namenlos. Sogar in seinem traurigen Leid erkannt, verrathen, vielleicht verspottet zu werden, kann Linderung sein einem um Liebe verzweifelnden Herzen. Der festeste Wille hat die Kraft nicht, die Ursache der Leiden an der Wurzel aus dem Herzen zu reißen. Es ist eine Vorstellung, eine Phantasie, was uns quält, man weiß es, es ist ein bloßes Spiel der träumenden Hingebung, die sich in Fesseln schlagen läßt, in Fesseln, die man selbst schmiedet und man kann doch nicht los davon; immer und immer tritt das Bild des hoffnungslosen Glücks vor unser Auge und verwischte es die zerstreuende Welt, doch träten wir abseits und schlössen die Augen und lebten nur mit unserm Bilde, das wir uns selbst beschwören und aus dem Nichts immer wieder neu hervorzaubern müssen. Und wie spottet meist die Wahrheit unserer Träume! Man genießt im Geist alle Seligkeiten des Besitzes, der Erklärung des endlichen Verhältnisses mit dem geliebtesten Wesen und denselben Augenblick schreitet es lachend, kalt und von den Formen der Geselligkeit beherrscht an uns vorüber; es liegt das Unerreichbare in unserm Arme und tausend süße Namen der Zärtlichkeit stammeln wir den höhnenden Winden! Hoffnungslose Liebe zehrt wie ein Siechthum des Geistes, das zuletzt auch dessen leibliche Hülle zerstört. Kommt keine Rettung von innen oder außen, so welken wir hin.
Für Hertha war dieser Zustand um so trüber, als sich mit ihm eine Umwälzung aller ihrer Anschauungen verband.
Der stolze, herausfordernde Sinn der freien Selbstbestimmung war im Erlöschen. Gebrochen war diese schlanke Pappel, deren Laub wol zitternd bewegt im Winde bebt, deren Stamm aber einst nur Sturm entwurzeln konnte. Das war Alles hin. Was ihr früher den Muth gegeben, sich gegen die Ansprüche der Sitte und Meinung zu rüsten, hielt nicht Stand mehr. Zaghaft wurde die Haltung, scheu das gesprochene Wort und elegisch das geschriebene. Hertha schloß ihre Bücher, ihr Piano verstummte; die Gegenstände der Selbstbelehrung, die sie um sich zu verbreiten pflegte, standen ohne Ueberredung da. Alles war ohne Bedeutung und werthlos. Der belebende Hauch, der von Constantin schon lange nicht mehr wehte, konnte jetzt nur noch aus einer Gegend kommen, die für sie dem Tode gleich war, dem Tode, den sie gesäet hatte; denn um ihretwillen hatte ja Eberhard eine Ehe – der Pflicht zu schließen! Daß sie Constantin den Zustand ihres Herzens verschwieg, daß sie nicht weiter ging, als diesem zuweilen heftig zu widersprechen und mit Ergebung sich in die Auffassungen der Andern zu fügen, das war schon ein Theil ihres Leides. Denn sie, sie, die nie die Wahrheit umgangen, sie, Hertha Wingolf, heuchelte! Von den lichten Bezirken der Wahrheit konnte sie abirren und so hindämmern in dem süßschmerzlichen Lebenszwielichte eines überwundenen hoffnungslosen Mädchenherzens!
Oft trieb es Hertha von dieser Ergebung empor. Oft rief es in ihr: Diesen Zustand der Feigheit erträgst du nicht! Ueberwunden wardst auch du von dem Gifte, das alles Frauenthum verdorben hat, von dieser eingestandenen Leere und Ohnmacht des Herzens? Thorheit! Thorheit! rief sie.
Aber sie sah Eberhard, redete mit ihm, vernahm den sichern und festen Gang, mit dem er durchs Leben schritt und sie hätte seine Hand halten, an ihn sich klammern, ihm folgen mögen, willenlos, hinhörend nur seinen Befehlen, dienend und ergeben in jedes Loos, das nur der geliebte Mann über sie auswerfen würde. Seine Welt war schon längst die ihrige. Sein Sein und sein Wollen umschwebte sie mit dem leichtbeschwingten Fluge eines nie endenden, bis ins Kleinste gehenden Interesses. Sie hatte sogar Anwandlungen, in Liederbach wie eine Parze aufzutreten, unerbittlich zerschneidend das Band, das die nun stolz ihr Haupt erhebende »Evatochter« um Eberhard gesponnen. Nicht mehr rief es dann in ihr: Wie unglücklich würde sie sein und wie unglücklich sind wir Frauen alle! Nein, ihr Ruf war schon: Wie unglücklich seid ihr Männer! Titanen und so duldsam unsere elenden Fesseln tragend! Zu den Sternen sollte euer Flug gehen und wir nur halten ihn nieder!
Daß Eberhard heiter und ergeben schien, ließ ihn ihr jetzt nicht mehr gering erscheinen. Hertha sah in seinen Mienen nur den Widerglanz jener Ergebung, die das Dasein zwar keineswegs ganz so nimmt wie es einmal ist, aber in der Hauptsache doch nur wie eine Wallfahrt durch seine Finsternisse, wie ein mühevolles Durchwinden durch seine Schwierigkeiten. Die Stoiker hatten auch schon Eberhard's Maxime: Wir leben nicht um uns, sondern wir leben um der Andern Willen.
Im endenden Winter, in den letzten Tagen des Februar war Hertha nahe daran, sich einst Eberhard zu verrathen.
Daß Agnesens Verlobter von dem Werthe, den er für Hertha gewonnen, eine Ahnung hatte, ließ sich bei seiner prüfenden Beobachtung erwarten und Agnes, die auf Stiftshof Hertha zuweilen begegnete, kannte das Glück, das sie erobert hatte, gewiß in seiner ganzen Bedeutung und hütete es mit der ihr eigenen bedächtigen List, die Hertha oft bitter belächelte.
Agnes, doch ein gefälliges und sicher praktisches Wesen, hatte sich ein großes Glück gewonnen, sie liebte Eberhard mit der Eifersucht, die ein Künstler für sein eignes Werk empfindet. Je weniger sie zwar annehmen konnte, daß Eberhard, ohne den Auftrag Constantin's ihr begegnend, seine Wahl auf sie gerichtet haben würde, desto ämsiger schien sie nun bemüht, auch jeder Reue in Eberhard's Herzen vorzubeugen und es bahnte sich dadurch jene vortreffliche Rücksichtsnahme und Achtung an, die in der Ehe oft ein bindenderer Kitt zu werden bestimmt ist, als die Liebe, diese allerdings höher thronende Empfindung, die aber Launen hat wie eine Königin. Agnes liebte Eberhard. Dieser schätzte sie. Warum sollte ein solcher Bund nicht Bestand haben?
An einem jener letzten Februartage wurde Hans von Landschützens Geburtstag gefeiert.
Eine große Gesellschaft war zu Tisch geladen. Man hatte aus allen Treibhäusern Spenden gebracht und den Junker wie ein Opferlamm umringt und geschmückt.
Und was nicht an lebendigen Blumen ihm gestreut wurde, kam ihm an gestickten. Auf neuen Teppichen wandelte sein heute ganz besonders glanzvoll gefirnißter Fuß, der zu seinen kolossalen obern Dimensionen klein und zierlich war. Cigarrentaschen und Notizenbücher und selbst Bequemlichkeiten für seine alte Antipathie, die Eisenbahnen, hatte man ihm verehrt und die heiterangeregte Gesellschaft brachte bis nach vier Uhr Nachmittags an einer ländlich um Eins beginnenden köstlichen Tafel zu.
Auch Constantin war zugegen und herrschte natürlich auch hier, da sein helles Organ überall vernommen wurde und ihm der Stiftshof ohnehin schon ganz unterthänig war.
Frieda saß Hansen gegenüber.
Aurelie hatte Eberhard zu Hertha setzen wollen, aber da Agnes einer leichten Unpäßlichkeit wegen fehlte, so entstand in den Anordnungen eine Störung und Eberhard kam an ihre eigne Seite.
Nach dem Mahle nahm man Hüte und Shawls und begab sich in den umfangreichen Park, der mit einigen immergrünen Bosketts schon einen Eindruck des ersehnten Wiedererwachens der Natur gab.
In der ausgelassensten Laune war Frieda. Nicht immer gleich in ihren Stimmungen und oft bis zur Unart dann verdrießlich hatte sie heute einen glänzenden Tag. Die Erzählung ihrer Befreiung des Geisbocks an Ort und Stelle unterhielt Alle.
Nur Eberhard und Hertha gingen abseits.
Ein Vergleich von Sonst und Jetzt lag nahe.
Es war offenkundig, daß Hans von Landschütz sich von Frieda Ulrichs hatte wie verzaubern lassen. Hans strich durch den Park wie Falstaff, den die in Elfen verkleideten lustigen Weiber von Windsor zwickten und neckten. Mit der linken Hand seinen langen rothen Kinnbart streichelnd, war er mit der Rechten immer nur damit beschäftigt, das Kind Gottes von zuweitgehenden Thorheiten abzuhalten. Den Herren entriß sie die Cigarren, um mit der Asche den kleinen Sandsteingöttern, die hier und da in den Bosketts versteckt standen, Schnurrbärte zu malen. Vor einem hübschgeformten kleinen Amor stillstehend, den Frieda bemalt hatte, sagte Eberhard:
Diesen Glücklichen ist doch Alles Zopf! Selbst Amor!
Alles, was sich, ehe es handelt, besinnt! sagte Hertha.
Wir Alle sind ihnen Zopf, fuhr Eberhard fort und bediente sich der Freiheit des Scherzes, die ihm Hertha schon eingeräumt hatte.
Hertha sprach aus, was sie mit schweren Kämpfen des Herzens seither über denjenigen Geist in Erfahrung gebracht, den sie früher bewundert hatte.
Ich kenne ihn jetzt ganz, diesen Dünkel des Nihilismus! sagte sie. Ich kenne sie ganz, diese sichere Eingebung des Augenblicks, die nicht selten herrliche, reizende Poesie ist. O diese Glücklichen, denen jeder Weg offen steht, die jedes Eigenthum, jeden geschlossenen Raum wie den ihrigen betrachten und betreten dürfen! Aber doch hasse ich ihre Zuversicht. Ja, ich will ihnen pedantisch erscheinen, ich muß es. Es ist doch nur die Einsprache unsers Herzens, die uns den schwerfälligen Gang, den sie verspotten, gibt und auf unser Empfinden denk' ich, sind wir berechtigter stolz zu sein als auf unser Denken.
Eberhard übersah den Riß, der zwischen Constantin und Hertha schon ausgebrochen sein mußte. Was sie eben sagte, paßte für Constantin so gut wie für Frieda...
Das Gewissen! fuhr Hertha erregter fort. Sie nennen ihn den ächzenden Hemmschuh aller unserer Bewegungen! Es ist ein erdiger Stoff, der, als der Schöpfer unser Dasein aus Flammen erschuf, gerade uns zugemischt wurde!
Liebe Freundin, fiel Eberhard ruhiger ein. Der Prüfstein des Menschen ist die That. Erst an dem bewältigten Stoff des Lebens, erst an dem vollendeten Formgebilde der Geschichte zeigt sich der wahre Menschenwerth. Unser nächstes Wandeln und Gehen thut es allein nicht. Ob wir schweben mit Schmetterlingsflügeln oder dahinschreiten im Faltenwurf einer vestalischen Jungfrau, sorgsam hütend das Licht, das angezündet an der ewig brennenden Lampe des Ideals wir mit uns heimtragen wollen an des Hauses Pforte, nicht auf unser Schreiten kommt es an, sondern auf unser Stillstehen. Da wo Einer Halt macht oder auf ein Halt hört, da erst bewährt sich seine eigentliche Kraft. Glauben Sie mir, liebe Freundin, wir gerathen in diese Unterscheidungen unserer Wesenheiten nur durch den lauen Frieden der Zeit, nicht den gegenwärtigen von heute, sondern durch das Verfahrene der ganzen Epoche. Erfaßte uns das Leben mit großen menschenbezwingenden Aufgaben, hätten wir unser Dasein Alle in Masse immerhin als ein großes Räthsel, aber doch in diesseitiger Bestimmung zu lösen, wir luxurirten nicht so mit diesen schimmernden Blasen von Charakterverschiedenheit und privater Selbstbespiegelung. Im Alterthum und Mittelalter war das nicht. Zöge nur ein rechter Windstoß durch die Welt, es würde jeder nach seinem Hut greifen, um diesen Hut oder den Kopf dazu sich zu halten! Hätten wir wirklich eine Sphinx vor den Thoren, die uns nach dem Amüsement der theoretischen Lösung ihrer Räthsel unmittelbar darauf praktisch auffräße, wir würden in der Art, wie sich bei solcher Noth jeder zu helfen suchte, bald erkennen, was eigentlich groß oder klein, was eigentlich an ihm zu hassen und was zu lieben ist.
Hertha war schon lange gewohnt, von Eberhard nur entgegenzunehmen. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, zur Liebe gehöre der Gegensatz; es ist ein Irrthum, wenn man in Fragen des Gemüths von der Anziehung der Pole spricht. Eine Reibung kann Flammen hervorbringen, prasselnde, schöne Flammen, aber auch langsam verzehrende. Glückliche Liebe will den stillen Frieden der gleichen Stimmung; sie will mit ihrem Theuersten keinen Kampf; der gleiche Accord aus beiden Seelen widerhallend, ein Leben um das andere, ein Pulsschlag von mir und einer von dir und wir Beide athmend in Einem...
Emporgerichtet hatte Eberhard immer die noch schwankende Weltauffassung seiner Freundin. Trost hatte ihre bange Seele immer von ihm heimgetragen.
Weiter aber als bis zur Erhebung des Willens und zur gestärkten Kraft des Widerstandes gegen Das, was sie haßten, waren sie nicht gekommen.
Heute wagte Hertha noch dieses Wort:
Sie haben einst Frieda geliebt. Warum entzogen Sie sich diesem Gefühl?
Aus Stolz, sagte Eberhard. Naturen wie Frieda können dann nur dauernd fesseln, wenn sie Herrscherinnen sind. Zur Magd erniedrigt ahnen sie, daß bald die Grazie sie fliehen würde. Wenn Frieda sich ergeben müßte, dann sänke sie wie Phaethon aus der Sonnenbahn. Sie wissen das sehr gut, diese Naturen. Sie wählen auch deshalb entweder nur das Unbedeutende oder Das, was ihnen durch Dinge imponirt, die man sich nicht künstlich geben kann, Geld, Gut, Rang, Ehre. Wird nicht Frieda Ulrichs einst die Baronin von Landschütz werden und noch in weiterer Welt einst Aufsehen machen?
Aurelie kam eben mit Constantin. Das überraschende Wort war somit abgebrochen...
Die Gesellschaft kehrte in den Saal zurück, hörte noch etwas Musik und trank noch den Thee.
Dann trennte man sich.
Hertha blieb stumm, in sich gekehrt den ganzen Abend.
Constantin bewies ihr dann und wann eine Aufmerksamkeit; sie hörte nur mit halbem Ohr.
Eberhard war zeitiger gegangen...
Auf ihrem Zimmer allein, öffnete sie endlich das Schreibbureau und stand sinnend wie über einem Testament.
Sie wollte an Constantin ein Bild ihres Herzens entwerfen und von ihm auf ewig Abschied nehmen...
Es war still um sie her. Ihre Brust hob sich von den schweren Athemzügen.
Schon hatte sie begonnen das Papier zurechtzulegen, schon hatte sie einige Zeilen voll Wehmuth, aber von Buchstaben zu Buchstaben entschlossener, niedergeschrieben, als man plötzlich ein heftiges Ziehen der Glocke am Hofthor vernahm.
Lebhafte Rufe draußen machten sich hörbar.
Es wurde im Hause unruhig. Allerlei Fragen, dann die Fußtritte eines Mannes. Zuletzt auf der Stiege, die zu ihr selbst führte. Hertha mußte aus einem Heraufstürmenden Constantin erkennen.
Er nur war es, der ohne Antwort abzuwarten hereintreten konnte.
Sie sprang auf und hörte die Anrede: Hertha! Hertha! Eine neue Welt! In Frankreich ist der Thron gestürzt! Die Republik ist ausgerufen, in Deutschland lodert der Aufruhr! Was sagen Sie! Glauben Sie's? Glauben Sie's?...
Hertha blickte aus einer fremden Welt auf.
Und die Welt, von der Constantin sprach, war nicht minder geisterhaft... Constantin zeigte sich von einer Erregung, die sie nie an ihm gesehen. Er stand wie im Feuer der Leidenschaft. Sein Auge blitzte, seine Hand zitterte. Ein Strom von Worten, von Thatsachen, von Berichten entquoll seinem Munde. Nie hatte ihn Hertha so gesehen. Es war, als wäre Eberhard's Wort von dem entscheidenden Windstoße der Zeiten in Erfüllung gegangen. Constantin umschlang die zaghaft Staunende, drückte sie ans Herz, bedeckte ihre Hand mit tausend Küssen.
Hertha! Hertha! rief er. Eine neue Welt! Die Republik in Frankreich!...
Hertha bebte zusammen, sah die Wonne des jungen, wie aus einer langen Ohnmacht sich mit Kraft erhebenden Mannes.
Das Feuer seines Geistes erwärmte sein Herz. Nie hatte sie an ihm so viel Zärtlichkeit, nie so viel Inbrunst der Empfindung gekannt. Er lachte, weinte, lag vor ihr auf den Knieen, besiegelte durch eine Hingebung voll Kindlichkeit und Begeisterung den Bund, den Hertha eben hatte lösen wollen...
Sie taumelte besinnungslos. Sie staunte nur.
Aurelie erschien dann.
Auch Bruder Hans kam.
Alles war erstarrt, rathlos, sogar berauscht vor Entzücken, vor Wonne, einen solchen Augenblick der Geschichte miterleben zu dürfen. Endlich, so spät es war, Hertha sollte noch in die Stadt, sollte noch zu dem versammelten Freundeskreise kommen; Alles dränge sich zum Ulrichs'schen Hause, hieß es; da läse man Zeitungen, Briefe, da spräche man Hoffnungen, Befürchtungen, Pläne und Entwürfe durch. Auch in der Residenz wären schon Unruhen ausgebrochen.
Hans von Landschütz erhielt mitten in dem Wirrwarr von seinem Schwager Reisig eine Depesche, die für Hertha bestimmt war. Der Fürst hatte ihren Vater, den bürgerlichen, aber doch immer nur zurückgesetzt gewesenen Minister zum Chef des Ministeriums ernannt, die Zügel des Ganzen in Wingolf's Hand gegeben und am Balkon des Schlosses diesen seinen jetzigen ersten Rath unter dem Jubel des Volks öffentlich umarmt.
Hertha kam zu keiner Besinnung mehr; sie zerriß ihren Brief, schloß das Schreibbureau und folgte in die wildbewegte Universitätsstadt...
Schon am Tage darauf reiste Constantin in die Residenz.
Hertha folgte mit einem spätern Zuge.
Davon, daß sie und Constantin ferner hätten getrennt durchs Leben gehen müssen, war keine Rede mehr.
Die Zeit – war zu groß für kleine persönliche Unterscheidungen.
Constantin und Hertha mußten in der Residenz wie die berufenen und legitimen Erben des 24. Februar auftreten.
In Constantin wehte längst etwas wie von einem Mirabeau und in Hertha flammte die Erinnerung an die ihr wohlbekannte französische Revolution so auf, daß sie sich in der fieberhaftesten Erregung nur fühlte wie eine Charlotte Corday oder eine Manon Jeanne Roland de la Platière.