Karl Gutzkow
Die Nihilisten
Karl Gutzkow

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Erstes Capitel

Das Recht der freien Selbstbestimmung

In einem traulich eingerichteten Zimmer deckte ein junges Mädchen den vor dem Sofa stehenden runden Tisch mit einer grauglänzenden, buntgemusterten, großen Theetischdecke von Damast. Sie stellte von einer Etagère, auf der sich allerhand buntes Glas und Porzellan befand, auf diese Decke drei goldgeränderte Tassen, ordnete Teller, Zuckerschale, Messer, die sie in kleine zierliche Servietten einschlug, rückte an den Stühlen, legte die Sofakissen in Ordnung und verrichtete somit eine Reihefolge von Handlungen, die wir nicht beschreiben würden, wenn die junge Dame sich auf den Besuch, den sie zum Thee zu erwarten schien, nicht mit einem Ernste und einer Feierlichkeit vorbereitet hätte, die selbst die darauffolgenden Rüstungen der kleinen Lampe, der Theemaschine, der von einer Magd hereingetragenen bezuckerten Bäckereien, des Milchtopfs und welche Vorsorgen alle zu einem behaglichen Theeabende gehören, mit einer so überdachten und fast heroischen Miene verrichtete, daß man eine Fee, die zu geringer Erdenarbeit verurtheilt wurde, zu sehen glauben muß, auch wenn nicht das ernste, schöne, junge Wesen vom Dienstmädchen bei jedem dritten Worte Gnädiges Fräulein! Gnädiges Fräulein! höchst respectvoll wäre angeredet worden.

Das gnädige, junge Fräulein hieß Hertha Wingolf und gehörte nicht dem Adelstande an.

Unbestreitbar aber war sie von der sogenannten »höhern Gesellschaft«.

Wenn Hertha Wingolf zu ihrer Theeabendrüstung einen Stuhl erhob, so geschah dies mit einer Armbewegung, wie wenn Semiramis den Grundstein eines neuen Tempels in Babylon gelegt hätte.

Sie erkundigte sich bei Lisetten, so hieß das Dienstmädchen, nach dem heißen Wasser. Das geschah in einem Ton, mit einem Ausdruck, wie wenn eine isländische Seherin den Priester gefragt hätte: Wie geht es mit dem Geyser oder mit den heißen Schlacken des Hekla?

Sie ließ sich sogar herab, Hertha Wingolf, mit Lisetten von einem Teller mit Wurst und einem mit Schinken zu sprechen, zwei Tellern, die des Geruchs wegen noch beide in der Küche harrten, aber den Preis der Wurst und den Preis des Schinkens notirte sie in ein sauberes Notizbüchelchen das sie inzwischen aus einem Schranke genommen.

Hertha's weiße, zarte, längliche, ganz der Carus'schen »schönen Seele« entsprechende Finger, glänzten wetteifernd mit dem silbernen Crayon, mit dem sie bedächtig die Worte niederschrieb: Ein Viertel Schinken zwei Groschen, ein Viertel Wurst zwei ein halb Groschen!...

Zwei und respective zwei und ein halb Groschen? werden unsere wirthschaftskundigen Leserinnen fragen. Sie werden den Namen einer Stadt zu hören wünschen, wo es so billige Preise gibt. Wo liegt dies Eldorado der erfreulichsten Erübrigungen am Wirthschaftsgelde, die ein stillangelegtes Sparen für gewähltere Toiletten möglich machen?

Wir könnten den Namen der Residenz eines großen deutschen Mittelfürsten nennen; aber man gebe sich über die dortigen Fleischpreise keinen Täuschungen hin! Wir dürfen nicht verschweigen, daß Lisette bei Nennung dieser geringen Summen ganz eigen ihre kleinen braunen Augen zusammendrückte. Innerlich gewiß lacht etwas in unserer Zofe. Das vornehme, in einem seidenen Kleide dahinrauschende junge Mädchen, das sich einbildet, die sämmtlichen in ihrem eleganten Wirthschaftsbüchelchen verzeichneten Preise für Frühstückssemmel, Butter, Kaffee, Essen aus dem Speisehause, Thee, Zucker, Schinken und Wurst entsprächen wirklich den üblichen Preisen des Marktes, der Fleischbank und des Specereikrämers, dies gläubige vornehme Mädchen ist es, das ihr lächerlich vorkommt.

Lisette jedoch, wohlweislich ihr Lachen verbergend, geht in die Küche zurück, nicht ohne die Versicherung, daß Frau von Zabel, eine höhere Beamtenwitwe, bei welcher Hertha Wingolf zur Miethe wohnte, doch nun bald »jeden Augenblick« aus der Stadt zurückkommen müßte.

Hertha Wingolf hatte sich überzeugt, daß ihre Vorbereitungen zu einem Thee à trois mit so viel Umsicht getroffen waren, als man bei einem im Leben »selbständig dastehenden« Wesen erwarten durfte, öffnete nun das Fenster und sah hinaus in die Schatten des Abends, die duftig und schon kühl sich niedersenkten.

Hertha's Wohnung lag vor den Thoren. Es war nicht die elegante Vorstadt der wirklich ansehnlichen und mit zehn bis zwölf an ihren höchsten Spitzen jetzt noch vom Abendsonnenschein vergoldeten Thürmen vor ihr liegenden Residenz, die sie bewohnte; es war eine minder beachtete Gegend, ein Viertel, halb den wirklich Armen, halb den verschämt Armen angehörend. Mancher zu der trostlosen Nothwendigkeit, die man Einschränkung nennt, Gezwungene zog sich hierher zurück. Keine Paläste und keine Hütten; aber behagliche Mittelstockwerke mit mancher gefälligen Einrichtung wie bei Frau von Zabel. Eine freundliche Gartennatur durchzog diesen entlegenem Stadttheil und die rings um die Residenz ausgebreiteten Gartenanlagen durchkreuzten sogar die kleinen Gäßchen und Winkelchen selbst...

Da mußte ein Blick durchs Fenster – es war noch nicht sieben Uhr und schon dunkelte es und die Luft ging octoberhaft herbstlich – ein so beredtsames Schweigen auf den Gärten antreffen, das Ohr ein so heimliches Summen hören, wie es vom Baum zu Busch zog, ein so grüner Friede mußte durch die Natur waltend vernommen werden, daß nur noch das fernher erklingende Abendläuten fehlte, Herzen weich und feierlich zu stimmen.

Die Glocken läuteten dann wirklich. Aber Hertha stand entweder über sentimentaler Naturauffassung überhaupt oder eine auf ihrem Antlitze ruhende Spannung ließ weiche Empfindungen nicht aufkommen. Von Minute zu Minute schien sie unruhiger zu werden. Ein mal nach dem andern nahm sie von ihrer Brust die goldene Uhr und sah danach. Dann schloß sie das Fenster; die Nachtluft war zu kühl. Nun zündete sie die Lampe an. Unruhig ging sie auf und nieder und blieb endlich vor dem, an der Wand hängenden eleganten Bücherborde stehen, nahm davon ein Buch herab, setzte sich in die Sofaecke und begann, um ihrer Empfindungen Herr zu werden, an einer Stelle weiter zu lesen, wo ein hübsch gesticktes Lesezeichen andeutete, daß sie in ihrem Studium – Feuerbach's »Wesen des Christenthums« läßt sich nicht lesen, sondern nur studiren – zuletzt stehen geblieben war.

Während wir die schlanke, edelgebaute Hertha Wingolf in ihrer Sofaecke den Feuerbach lesen lassen, wo von ihrer freien hellen Stirn die mächtigen, schöngeringelten, blonden Locken gerade auf die Stelle niederglitten: »Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom Egoismus befleckte Anschauung; bei ihr schau' ich ein Ding nicht um seiner selbst willen an, sondern nehme es, wie wenn man ein Weib nur um der Sinne Willen liebt. Die praktische Anschauung ist in sich nicht befriedigt, nur die theoretische ist es, sie ist freudenvoll, sie allein ist selig; ihr ist der Gegenstand der Liebe ein Gegenstand der Bewunderung...«, während wir Hertha, sagen wir, über diese Worte nachsinnen lassen, erblicken wir aus dem hohen stattlichen Gebäude, welches in der Residenz seit Jahren das Justizministerium dieses bedeutenden Mittelstaats inne hatte, eine in einen leichten Sommermantel gehüllte Gestalt treten.

Der Portier kennt die Gestalt schon, kennt schon die nächtlichen Ausgänge des Geheimraths, der seit einem halben Jahre die Geschäfte des Ministeriums versorgte und nur noch ohne den Namen des Ministers wirklich der Minister selbst war. Die verhüllte, eilend von der breiten Stiege tretende Gestalt fand die schwere Pforte ihres Hotels rasch aufgezogen, rasch fiel sie hinter ihr zu. Des Geheimraths Gattin war im Theater. Sie schien gewohnt, ihn des Abends, wenn sie von mancher guten Vorstellung heimkam, nicht mehr anzutreffen.

Mit festem sichern Schritte legte die hohe Gestalt des Geheimraths eine Straße nach der andern zurück. Durch die belebtesten Gegenden drängte sich der Dahinschreitende, nicht ohne da und dort rasch von einem Vorübergehenden erkannt und feierlichst begrüßt zu werden. Man zündete schon die Laternen an.

Endlich kam der eilige Wanderer zu jenem Thor, das in die bezeichnete Vorstadt führte. Er schlug den Weg zur Wohnung der Frau von Zabel ein. Ein Blick nach den Fenstern Hertha Wingolf's überzeugte ihn, daß sie daheim war. Rasch zog er die Hausklingel. Die geschlossene Thür öffnete sich. Trotz des Dunkels fand sich der Besuchende zurecht; er kannte die Stiege. Oben leuchtete Lisette. Der Ausruf: Herr Geheimrath! kam von ihr in etwas befremdetem Tone. Mit wenig Schritten war der Besuchende in Hertha Wingolf's Zimmer.

Du bist es? sagte sie erstaunt.

Ja Hertha, ich bin es! sagte der Gast und legte den Mantel ab...

Hertha's Gruß war so gezogen, so langsam, so fragend gekommen, daß man erkennen konnte, wie sie diesen Besuch am wenigsten erwartet hatte.

Geheimrath Wingolf küßte Hertha's Stirn und auch auf die erste Ueberraschung nur mochte ihre Miene einen befremdeten Ausdruck zeigen. Sie sammelte sich. Sie besaß das Taktgefühl eines edeln Herzens und – erblickte sie in den Augen des Gastes nicht eine Thräne? Die Thräne konnte von der herbstlichen Abendluft kommen, vielleicht von innerer Rührung.

Der Besucher war ein Mann, den sie liebte, ihr Vater.

Zwei Menschen standen sich gegenüber, an denen der Schöpfer oder sein Nachahmer, der Künstler, Freude gehabt hätte.

Die Tochter des Vaters Bild. Der Vater, schon den Funfzigen nahe, aber noch von jugendlich fester Haltung seiner hohen Gestalt, von reichem, lockigem, wenn auch ergrautem Haar, von Milde im braunen Auge, voll Ernst im festgeschlossenen Munde. Die Hand, die er seinem Kinde bot, so weich, so warm. So war auch sein Gruß, den Hertha, ihm gleich an Hoheit und Adel, nach kurzer Sammlung herzlich erwiderte.

Der Vater setzte sich. Er sah sich um. Die Zurüstungen des Thees, die er bedauern mußte gestört zu haben, die Tassen, die er nicht gezählt und zur Veranlassung einer Frage genommen, mit Wem Hertha, außer Frau von Zabel, heute zu Dritt sein würde, das Gebäck, der nun von Lisetten hereingebrachte Fleischvorrath, alles Das änderte freilich schon die Stimmung. Aus des Vaters Auge blickte Wehmuth und um seinen Mund spielte bald auch etwas von Ironie.

Einen Gruß von Eugenien! sagte er.

Ein stummes Nicken war der Tochter Dank.

Der Herbst kommt mit Macht! fuhr der Vater das Haupt stützend fort. Die Abende werden lang. Du wirst dich hier einsam fühlen.

Doch nicht! erwiderte Hertha mit eigener Festigkeit und legte den Feuerbach von der Sofalehne, nicht damit ihn der Vater nicht sähe, sondern damit er bequemer säße.

Nun trat eine Pause ein.

Hertha nahm eine vierte Tasse von der Etagère der Frau von Zabel; es war eine eigenthümliche Tasse, eine verwitwete gleichsam, es stand wenigstens darauf: Für den Hausherrn. Herr von Zabel hatte, als er noch dem Staate, seiner Hausfrau und sich selbst lebte, daraus gefrühstückt. Wingolf lehnte die Tasse und ein Couvert ab und da ihm Hertha mit kleinen und unwesentlichen Erkundigungen kam, so sagte er:

Hertha, wann hört die ganze Thorheit auf?

Hertha verstand sogleich, was der Vater unter ganzer Thorheit meinte.

Ihr schönes dunkelblaues Auge verfinsterte sich. Sie schwieg aber und blickte nur nieder...

Ich habe, fuhr der Vater fort, die Richtung, die nach dem Tode deiner Mutter dich überkam, so lange für eine ungefährliche genommen, als du unter meinen Augen lebtest. Zehn Jahre der Selbständigkeit, von deinem elften bis zu deinem einundzwanzigsten, hast du in unserm kleinen Provinzleben die Blume der Wunderwelt, der träumerische Geist des Aparten und Barocken sein dürfen, so lange sich das väterliche Dach darüber wölbte. Jedermann hatte Gefallen an deiner Entwickelung und so wie du warst, so nahm man dich. Daß ich leider dann die »Thorheit« begehen mußte... noch an mein Herz zu glauben...

Vater! erwiderte Hertha auf dies letzte besonders schmerzlich hervorgehobene Wort und ergriff des bewegten Mannes Hand und bat ihn, sich nicht durch eine Erörterung aufzuregen, deren eigentliche Absicht doch, wie er ja wisse, ihr Ziel verfehle, verfehlt hätte und ewig verfehlen würde.

Ich kann dort das Bild deiner Mutter nicht sehen, fuhr der Vater mit einem Blick auf die an der Wand hängenden Büchergärten und was sich darüber an Bildern erhob, fort, ich kann es nicht sehen, ohne nicht den Drang einer Rechtfertigung zu fühlen. Luise sieht so ruhig, so versöhnt auf mich nieder!...

Hertha unterbrach diese Erörterung. Sie wußte, daß ihre verklärte Mutter dem Vater ein Geist war, der auf dieser Erde seine wahre Stätte nicht gefunden und deshalb frühe scheiden wollte. Sie wußte, daß der Vater an diesen Geist nie dachte, ohne nicht etwas zu fühlen, wie wenn ein Beethoven'scher Accord durch die Lüfte zog. Eine elfjährige Ehe war die Harmonie selbst gewesen. Zehn Jahre hatte dann der Vater dem nachklingenden Tone des Glücks noch gelauscht, ihn nur allein aus dem Leben als seinen Führer sich herausgehört. Da kam das äußere Weltglück an Wingolf's Hausespforte, pochte an sein Leben mit Ueberraschungen an, von denen er nie eine Hoffnung haben konnte. Er wird Chef eines ersten Gerichtshofs. Eine Mahnung der Stände wirft der Justiz des Landes Vernachlässigung der Reformen vor. Man ruft, um der öffentlichen Meinung eine Befriedigung zu geben, Wingolf in die Residenz, gibt ihm die Stellung eines Ministers, dessen Rang er ablehnt, weil er die Vorliebe des Souveräns für alte Namen kennt und sich die Stellung eines Aufgedrungenen nicht zu sehr erschweren will. Diese frohe Wendung seines Lebens erfüllt ihn mit gesteigerter Empfänglichkeit für die Schönheit des Daseins. Er wählte eine zweite Gattin. Aus wirklicher Neigung. Er war wie ein aufgegebener Baum, in dem sich wieder mit dem Frühling plötzlich ein Wachsthum regte. Eugenie von Saalfeld wird seine Wahl, die Freundin seiner Tochter. Beide spielend und tändelnd um ihn als Kinder schon. Als beide erwachsene Jungfrauen waren, er nach der Residenz als Minister scheiden soll, da Eugenien von Saalfeld, die eine Waise bei Verwandten an seinem frühern Bestimmungsorte lebte, die Freundin seiner Hertha, noch einmal betrachtet, wagt er ihr das schwere Loos anzutragen, an der Seite eines fast funfzigjährigen Mannes durchs Leben zu gehen. Eugenie, ein blühendes, edles Mädchen erschrickt anfangs, hört aber die wiederholte Bitte und willigt ein, sich aus Scheu und Schamgefühl jedoch der Freundin, der sie Mutter wird, nicht sogleich erklärend. Diese reist mit dem Vater ab. Unterwegs gesteht er der Tochter seine Wahl; sie sinnt und sinnt und an dem Tage, wo Hertha's Freundin, aus der Provinz als des Vaters Gattin von ihm abgeholt, in die neue, prachtvolle amtliche Wohnung der Residenz eintritt, hatte Hertha das väterliche Haus verlassen. Sie ergriff diese Wendung als das Ende einer schon lange in ihr gährenden Krisis. Sie nahm sie als einen Fingerzeig des Schicksals, einem schon längst in ihr unwiderstehlich gewordenen Drange nach Freiheit und Selbständigkeit zu folgen. Durfte es ihr an sich genommen schon peinlich sein, eine Freundin als Gattin ihres Vaters zu begrüßen, hatte sie hier volle Gelegenheit, das Loos der Frauen zu verwünschen, über die der »Zufall«, das »blinde Spiel des Würfels« entscheide, durfte sie ausrufen: Ein Vater, der der Freier meiner Gespielin wird! und dachte sie schon längst mit Ingrimm an Das, was die Menschen Liebe nennen, so hatte sie jetzt ganz der ihr immer nahe gewesene Geist der »Selbstbestimmung« ergriffen, der keinen Zügel mehr dulden mochte. Sie konnte sich das Glück des Vaters an der Seite Eugeniens denken; sie gönnte es ihm; aber sie mochte diese Hingebung eines jungen Mädchens an ein solches Leben der sich bescheidenden Pflicht nicht stören. Sie verließ die Wohnung des Vaters, vertraute sich einer älteren Freundin ihrer Mutter und bezog bei ihr diese kleinen Zimmer, in denen sie sich eine Existenz geordnet hatte ganz nach dem Drange ihres Bedürfnisses. Und litt auch der Vater unter diesem tief aus seiner eigenen Natur kommenden Sinn seiner Tochter, litt er in seinem Innern ebenso sehr wie vor der Gesellschaft – denn kaum in seine neue Würde eingesetzt gab ihm sein Kind ein solches »Aufsehen« – so ertrug er doch seit mehren Monaten schon mit Geduld eine Wendung, die sich bei dem schon früh in dem selbständigen, durch Pensionen und Erzieherinnen zum Eigenwillen gesteigerten Sinne Hertha's nicht ändern ließ.

Darum staunte Hertha, als der Vater heute von Neuem mit seiner Einsprache kam. Sie hatte seine Unterstützungen, die, wenn auch noch nicht ganz, doch in absteigendem Maße eingehen sollten, doch immer noch angenommen. Es sollte deren von Monat zu Monat weniger werden (daß die Preise für sie so niedrig gestellt wurden, wie wir vorhin an dem Lächeln Lisettens und den beiden Tellern mit Fleisch sahen, beruhte auf einer Verabredung Eugeniens, Ihrer Mutter, mit Frau von Zabel), ja ihr Ideal war eben in ermuthigender Folge jener Wohlfeilheit des Daseins dies geworden, sich ihre Existenz selbst verdanken zu wollen. Aber der Vater wollte heute dagegen Einsprache thun. Er war in der Absicht gekommen, seine Tochter zu fragen, ob es wahr wäre, daß sie in einem ihr befreundeten Hause musikalischen Unterricht zu geben gedächte?

Ja, bei Frau von Reisig, sagte Hertha mit ruhiger Bestimmtheit; ich komme immer mehr zu der Erkenntniß, daß wahres und dauerndes Glück nur durch Das geboten wird, was man sich selbst erwirbt. Das weibliche Geschlecht ist der Paria der Civilisation. Wir haben uns begnügt, uns, wie mir von hundert Freiern geschah, schöne Dinge über unsere Außenseite sagen zu lassen und sind Sklavinnen des Innenlebens geworden, wenn die Fesseln, die wir tragen, auch noch so vergoldet schimmern. Wie sehr wir im Leben ohne Würde dastehen, kann ein Mann kaum fühlen. Man muß jene ganze Kette von Untugenden kennen, die sich tief im Leben der Frauen angelegt hat, um recht zu begreifen, was ich meine. Der Wahn der Eitelkeit ist durch Erziehung und Bildung der Mittelpunkt aller unserer Bestrebungen geworden. Ihm bringen wir stündlich schmachvollste Opfer, ihm huldigen wir mit unserer eigenen Entwürdigung. Man lasse nur den Frauen einmal Raum, ihren Muth, ihre Ausdauer und ihre wahre Hingebung an die Pflicht zu prüfen! Wir sind ein spartanisches Geschlecht, Vater, während die Männer uns für so verweichlicht halten, als sie es jetzt vielleicht selbst sind...

Der Vater schüttelte sein Haupt, doch mehr spottendes Erstaunen als Zorn erfüllte ihn.

Hertha schloß mit der Bitte, ihr zu gestatten, sich eine Existenz selbst zu begründen und mit jenem Unterricht bei den zahlreichen Stiefkindern der reichen und liebevollen Frau von Reisig den Anfang machen zu dürfen.

Der Vater stand auf.

Er war erregt. Er hatte die Absicht gehabt, sich zu mäßigen. Er konnte aber jetzt den Zwang nicht mehr über sich gewinnen; er verbot mit einer Entschiedenheit, die Hertha an ihm trotz aller Güte seines Wesens kannte, jedes Unterfangen dieser Art...

Ich bin dieses Verbot, sagte er, meiner Stellung schuldig. Ich geize nicht nach höhern Auszeichnungen, als die mir schon zu Theil wurden. Ein Bürgerlicher weiß ich, daß ich dem Souverän nur durch die Umstände aufgedrungen bin, und ich erleichtere mir meine Beziehung zu ihm durch den Wunsch, eine gleichsam nur interimistische Stellung einzunehmen. Indessen will ich den Makel, den man an mir findet, nicht noch vermehren. Ich mag nicht, daß mein Familienleben Gründe des Vorwurfs und des Spottes für mich darbietet. Magst du in einer idealen Welt leben, deren Ausschreitungen ich in meiner Stellung sogar gezwungen bin, zu bekämpfen, bis zur Caricatur darf dein Handeln nicht ausarten. Ich verbiete dir diesen Unterricht. Ich lege dir eine Summe hierher, die dir erlauben wird, deine unsinnige Emancipation vielleicht noch bis zu einem Luxus zu treiben, für den ich ja dort auf dem Simse des Kamins die vollständigsten Vorbereitungen antreffe!

Wingolf zeigte mit zitternder Hand auf einen zierlichen Becher zum Einsammeln von Tabacksasche und einige bunte Papierchen zum Anzünden von Cigarren.

Er nahm den Hut, nahm den Mantel und wollte voll Erschütterung gehen...

Hertha hielt ihn jetzt zurück.

Sie hielt ihn zurück nicht mit dem Gefühl einer im Gemüthe um die Kränkung des Vaters besorgten Tochter, sie hielt ihn zurück mit der Entschlossenheit eines Charakters, der bei seinen Auseinandersetzungen einer überredenden Kraft gewiß zu sein glaubt und im äußersten Falle nur noch Alternativen stellt.

Vater, sagte sie, ich bitte, mir zu gestatten, neben den Rechten, die du über mich ausübst, noch eine andere Autorität einzusetzen, die Rechte eines Mannes, den ich liebe...

Du würdest, fuhr sie, da der Vater zusammenfuhr, ohne zu stocken, fort, du würdest mich glücklich machen, wenn du jetzt bliebest, Vater. Ich lernte einen Rechtsgelehrten kennen, der sich für die akademische Laufbahn vorbereitet, den jungen Doctor Constantin Ulrichs. In Gegenwart der Frau von Zabel sah ich ihn seit vierzehn Tagen fast jeden Abend an diesem Tische, den wir nur deshalb wählen, weil das Nebenzimmer ein unbequemes ist. Constantin Ulrichs ist einer der seltensten Menschen, die aus dieser trüben Gegenwart der Zukunft entgegenreifen. Ich liebe ihn, wie wir Frauen Männer lieben sollen, als den Führer und den Halt meines Daseins. Constantin's Vorzug vor den Andern, deren Werbung ich zurückwies, ist der, daß die Welt seiner Anschauungen glücklicherweise die meinige ist und daß ich mich stark, gehoben, mit wunderbaren Schwingen mich getragen fühle, wenn ich in sein Auge blicke, von seinem Geiste die Funken in mir selber elektrisch zucken fühle. Constantin ist der älteste Sohn jener genialen Familie Ulrichs in unserer östlichen Universität. Sein Vater ist selbst ein gefeierter Gelehrter, im Fache der Geologie eine Zierde jener Hochschule. Seine Geschwister tragen den Stempel des Genius. Frieda Ulrichs, seine älteste Schwester, ist die Poesie selbst. Vater, ich sage dir mein Geständniß mit der ganzen Sammlung, die der Ernst eines solchen Gefühls und dein Recht auf mich erfordert und ich bitte dich, entweder jetzt, wo wir Constantin erwarten, zu bleiben oder zu gestatten, daß er dich morgen in der Frühe selbst besucht.

Es ist im Leben eines Vaters wol einer der heiligsten Momente, wenn sein Kind, das wie in träumerischer Unbekanntschaft mit der Doppelnatur der Menschen aufwuchs, sich plötzlich in die allgemeine Reihe der gleichen Empfindungen aller Herzen stellt und jenen Kreislauf der Jahrtausende, der die zärtlichen Triebe zur Bürgschaft des Menschengeschlechts für sich selbst gemacht hat, in seiner jungen Seele nun auch fortsetzt! Das gleiche Loos des Glückes, der Schmerzen, der Hoffnung und der Täuschung an Alle ausgeworfen und nun auch da – an mein liebes, holdes, jungfräuliches Kind! Sieht dann ein Vater einen Sohn zum ersten male in dem Bann jener Empfindungen, die dem Jüngling selbst einst das Leben gaben, so wird des Vaters Wort eher zum Staunen, ja zum Scherze geneigt sein; das wilde junge Herz bedarf des Zügels und mancher Vater tobt dann wol mit künstlichem Spott oder mit gemachtem Ingrimm gegen die Frauen überhaupt auf, nennt es ein unwürdiges Geschlecht, ein Geschlecht, nicht der Beachtung werth für einen Jüngling, dem die Welt gehöre. Aber eine Tochter! Bringt ein Vaterherz in solche Erfahrung die Neigung einer Tochter, so wird sein künstlicher Humor, all sein erziehender Spott die Waffen strecken, wird sich mit Rührung und oft mit Schmerz der Nachricht gefangen geben, daß ein so an die Penaten des Hauses gebunden geschienener Geist, eine so stille traumselige Unschuld, die bisher nur ihren Aeltern gehörte, nun auch von jenem Baum im Paradiese erfahren haben soll und von den Aepfeln der Erkenntniß, die oft ein ganzes Dasein vergiften! Der Gedanke, ein unbekanntes, wer weiß mit welchen Fügungen der Zukunft bedrohtes fremdes Leben so an sein geliebtes reines Kind herantreten zu sehen, die zarte, nur ihm bisher gehörende Unschuldswange von eines fremden Mannes Hauch und Kuß berührt zu wissen und sein Kind nun hintaumeln zu sehen mit blinder Leidenschaft in ein unter allen Umständen fernes räthselhaftes Schicksal, das kann ihm selbst jene edlere, ja tiefe Eifersucht wecken, die der Mensch in allen Dingen weit mehr sich eingestehen darf, als man so obenhin einzuräumen pflegt, wenn die Eifersucht nur auf das Gute geht und Das, was unsers Werthes Bürgschaft ist. Und mehr als dies, für einen Augenblick kann ein solches Geständniß einem liebenden Vater die Fassung rauben.

Wingolf's Erschütterung mußte aber noch größer sein.

Denn naht sich den weiblichen Lippen das Geständniß der Liebe ohnehin so langsam, wie eine Schnecke nicht ganz ihr Gehäuse verläßt, so wird es doch vollends vor einem Vater nur ausgesprochen werden fast wie eine Schuld, wie ein Verbotenes und ganz Unsagbares. Der Vater wird das Geständniß hervorlocken müssen und in früherer Zeit war Hertha doch oft erröthet, wenn Wingolf scherzend von einer möglicherweise in ihr aufgetauchten Neigung sprach oder ernsthaft berichten mußte von einer ihr deutlich gezeigten Bewerbung. Daß nun dasselbe Kind sich ihm jetzt so gegenüber stellen konnte, so in einer einzigen ruhigen Rede die Empfindungen bloßlegen, die die Bedingungen ihrer ganzen Zukunft werden mußten, das hätte er sich niemals möglich gedacht. Er konnte wol nicht in Zorn aufwallen; dieses ruhige Bekenntniß, von der festen Willenskraft seines Kindes gegeben, diese sichere Andeutung einer demnächst ihm in Aussicht stehenden Bewerbung, dieses klare Zeugniß für sich selbst, vorgetragen von den jugendlichen Lippen unter einer erblaßten, nicht sich röthenden Färbung der Wangen, unter einem ruhigen Aufschlag der tiefblauen Augen, die klar und stolz in das Angesicht des Vaters blickten, entwaffnete, übermannte ihn. Ohne ein Wort zu erwidern, wandte er sich zum Gehen. Man hörte nebenan die Fragen und unruhigen Erkundigungen der eben lärmend angekommenen Frau von Zabel. Er sagte nur: Gute Nacht, Hertha! wandte sich, ergriff den Drücker der Thür und schied von einer Tochter, die nichts weiter that, der Wirkung ihres Geständnisses sich zu versichern. Sie hatte gesagt, was sie sagen mußte. Die Art, wie man es aufnahm, kümmerte sie nicht.

Der Vater ging.

Constantin Ulrichs! Der Name klang ihm nun – wie doch – ? im Ohre; es war ein Wort wie eine neu entdeckte Insel im fernsten stillen Ocean.

Constantin Ulrichs! Ein solches Wesen also existirte...

Wie der Vater einige Schritte durch die Bosketts der Anlagen zurückgelegt hatte, hörte er hinter sich die Klänge einer Beethoven'schen Sonate auf dem Piano. Er stand still. Das konnte nur Hertha sein, die ihm diese Töne nachsandte. Sie mußte doch mehr ergriffen gewesen sein, als sie zeigte, dachte er zu seinem Trost. Daß Hertha statt der ohne Zweifel eben eintretenden, ohne Zweifel sie mit hundert Fragen bestürmenden Frau von Zabel zu antworten, sich doch still an den offenen Flügel setzte, doch vielleicht in sich erbebend die mächtigen Accorde der Sonate pathétique anschlug, das versöhnte etwas sein Gemüth und Thränen im Auge schritt er weiter.

Eben im Begriff zum Stadtthor einzulenken, bemerkte er am Eingang der Promenade zwei junge Männer im lebhaften Gespräch. Sie schienen in einem Wortwechsel begriffen, dessen Ausbrüche sie nur milderten, wenn in den einsamen Gängen Schritte hörbar wurden.

War der Name Hertha oder Constantin an sein Ohr gedrungen oder welcher Anlaß war es, daß Wingolf stillstand, den Mantel vor die Augen zog und die Streitenden an sich vorüberließ, ja sogar ihnen folgte?

Der Eine war hoch und schlank, unruhig, aufgeregt, der Andere von kleiner Statur und nicht minder in Bewegung. Jener machte dem Kleinen Vorwürfe, ja seine Oberherrschaft über diesen ging so weit, daß dieser sogar sich gefallen ließ, von ihm gedrängt, selbst gerüttelt zu werden.

Wingolf, staunend, hörte Vorwürfe, hörte Bezeichnungen, die er hätte deutlicher verstehen können, wäre er ihnen näher geblieben. Der Kleine lachte trotz der Mißhandlung und machte oft wunderliche Sprünge. Zuletzt standen Beide still. Der Größere benutzte das Licht einer Laterne, zog sein Portemonnaie und gab dem Kleinern Geld.

Wingolf hatte die Physiognomien deutlich übersehen. Der größere war ein junger Mann von geistvollem Gesichtsausdruck, mit dunklem Bart um Lippe und Kinn, der Kleine schien bartlos, war blaß und von einer beweglichen unedlen Physiognomie.

Nachdem der Letztere einige Geldstücke empfangen, begleitete er den unwilligen und aufgeregten Geber in die jenseits des Fahrwegs beginnenden Häuserreihen.

Vor Herthas's Hause hielten sie in der That an. Der Kleinere erhielt noch mit der Hand ein ziemlich derbes Andenken von dem aufgeregten Größern, der die Klingel zog und verschwand. Wingolf wartete auf den vor ihm vorbeischießenden Gefährten eines Mannes, der also ohne Zweifel Constantin Ulrichs gewesen war...

Dieser hüpfte mehr, als er ging, an ihm vorüber, pfiff, trällerte. Das empfangene Geld schien ihn lustig zu stimmen. Wingolf konnte nicht umhin, ihm zu folgen. Er war im Stadtthore fast dicht an ihm, dann schlug er eine andere Richtung ein, als die seinige hätte sein müssen... Dennoch begleitete er ihn noch eine Strecke. Erst als der Kleine in einem übel berufenen Viertel verschwand, gab er die ihn unwillkürlich ziehende Absicht, wenigstens die Gesichtszüge dieses Gefährten, der sich so leichten Sinnes von Constantin Ulrichs mit Geld ausstatten und dann mißhandeln ließ, genauer ins Auge zu fassen. Es war nicht möglich gewesen. Er bestieg einen Miethwagen und fuhr in seine Wohnung.

Eugenie, Wingolf's junge Gattin, war noch im Theater. Gewöhnlich wenn sie zurückkam und noch ein einsames Lämpchen an einem Fenster, das in den Hof ging, brennen sah, wußte sie, daß schwierige Arbeiten angekommen und der zärtliche Gatte ihr lieber erst am nächsten Morgen gehörte.

So heute. Wingolf fand heimgekehrt verwickelte und verdrießliche Aufträge.

Es war damals jene vormärzliche Zeit, wo die Feinde der Ordnung nicht wie jetzt in den Handwerkstätten aufgesucht wurden, sondern mehr unter den Studirenden, unter den Gelehrten. Eine Reihe von verdächtigen Namen lag vor dem neuen Verweser der Justiz. Es waren Namen, die er wegen einiger neuentdeckter Dinge in Anklagestand versetzen sollte. Die Verdachtsgründe beruhten auf Thatsachen, die actenmäßig neben ihm aufgeschichtet lagen.

Wingolf las. Ganz hingegeben der schwierigen Aufgabe schüttelte er oft den Kopf. Endlich stieß er – erstaunend und betroffen genug – auf einen Namen, den hier zu finden, zu seinem Kummer noch eine neue Verwickelung brachte.

Auch der Doctor der Rechte Constantin Ulrichs stand auf dem Verzeichniß...

Bis tief in die Nacht las Wingolf die Vergehen, deren sich ein Mann schuldig gezeigt haben sollte, der, nach Hertha's schwerlich je zu beugendem Charakter zu schließen, früher oder später bestimmt war, sein Sohn zu werden.


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